Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 56: Gefühlschaos und ein längst überfälliges Geständnis --------------------------------------------------------------- Er konnte die unzähligen Blicke in seinem Rücken spüren, als er durch eine der vielen kleinen Seitenstraßen Baden-Badens ging. Männer und Frauen jeden Alters starrten ihm hinterher, selbst Kinder stellten für kurze Zeit ihr Spielen ein und betrachteten den Mann mit den seltsamen, silbernen Haaren. Der Bestatter konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Es war doch immer wieder amüsant, wie sehr sich die Menschen von reinen Äußerlichkeiten beeinflussen ließen und dabei die Schönheit einer Seele vollkommen ignorierten. Dabei war das doch schlussendlich genau das, worauf es ankam. Der Totengräber streckte während des Gehens seine Sinne aus, tastete nach der Energie des fremden Shinigami. Weit weg konnte er nicht mehr sein und das war ein Glücksfall. Denn die Frage, was ein deutscher Shinigami davon hatte ihn zu beobachten und anschließend nicht einmal versuchte ihn festzunehmen, brannte dem ehemaligen Schnitter wirklich auf der Zunge. Er mochte es nicht, wenn ihm jemand ins Handwerk pfuschte. Von daher würde er dieses Risiko auf keinen Fall eingehen. Nein, er war zu weit gekommen, um sich jetzt erwischen zu lassen. Von Sekunde zu Sekunde wurde die Signatur, die er an der Villa der von Weizsäckers gespürt hatte, stärker und als er schlussendlich vor einem kleinen Café stehen blieb, schrillten seine inneren Instinkte wie eine Alarmglocke. „Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben“, giggelte er fast lautlos und öffnete ohne jegliche Eile die Tür. Eine kleine Klingel kündigte den bereits Anwesenden sein Erscheinen an, sogleich wandte sich ein junger Bursche mit rotem Haar ihm zu; wahrscheinlich, um ihn zu begrüßen. Doch jegliches Wort blieb unausgesprochen, als er die mysteriöse Gestalt vor sich ausmachte. Die langen silbernen Haare, die schwarze Kleidung und zuletzt das Gesicht, das er nur halb ausmachen konnte, aber von einer deutlich sichtbaren Narbe bedeckt wurde. Es war typisch für die Menschen, dass sie sich unterbewusst vor etwas fürchteten, das sie nicht komplett erfassen konnten. Der junge Kellner besann sich jedoch noch rechtzeitig und grüßte ihn mit nur einer Sekunde Verzögerung, indem er ihm leicht mit dem Kopf zunickte. Der Bestatter warf ihm sein breitestes Grinsen entgegen und ließ anschließend seinen Blick durch den kleinen Laden wandern. Es war nur ein einziger Raum und er war auch nicht sonderlich groß, aber dennoch waren die Sitzplätze so angeordnet, dass sie vom Eingang aus nicht alle einsehbar waren. „Ein guter Ort, wenn man ungestört bleiben möchte. Hehe, oder nicht gefunden werden will.“ Er setzte sich langsam in Bewegung, stets darauf bedacht keine unnötigen hektischen Geräusche zu verursachen. Freude wallte in ihm auf, als er sich vorstellte wie sich in wenigen Sekunden das Gesicht des Shinigami vor Entsetzen verzerren würde, wenn er ihn plötzlich vor sich stehen sah. Sicherlich rechnete derjenige nicht damit, dass der Totengräber ihn so leicht ausfindig machen konnte. Nicht jeder Shinigami war in der Lage dazu sich Energiesignaturen so genau einzuprägen und noch weniger konnten diese dann präzise verfolgen. Seine Augen fanden die Sitznische, in der sich die Energie am stärksten konzentrierte. Ein Rascheln ertönte, als würde sich jemand von seinem Platz erheben. Sein Grinsen wurde breiter. „Zu spät, Kleiner“, dachte er und legte seine rechte Hand um das Polster der Sitzecke. Doch wie ging noch mal das Sprichwort? Erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt. Denn als er einen weiteren Schritt nach vorne trat und seinem Gegenüber nun endlich ins Gesicht sehen konnte, war es keine Freude, die sich in seinem Gesicht abzeichnete. Nein, ganz im Gegenteil. Als er nach vier Monaten das erste Mal wieder in Carinas Gesicht sah, wusste er für einige lange Sekunden nicht, was er genau fühlen sollte. Das erste Gefühl war definitiv Überraschung. Wer konnte es ihm verübeln? Mit jedem – wirklich jedem! – hatte er gerechnet, aber nicht mit Carina. Danach folgte eine Mischung aus Verwirrung – Was zum Teufel machte sie hier? – und seltsamerweise auch Freude. Er freute sich sie zu sehen, was auch dieses komische Kribbeln in seinem Bauch erklären musste. Irgendwie war das sogar das Gefühl, was ihn am meisten verwirrte. Als Letztes kam dann die Wut. Als er sich daran erinnerte, wie sie ihn damals einfach hatte stehen lassen. Wie sie ohne ein Wort sang- und klanglos verschwunden war. Mit verengten Augen konzentrierte er sich nun auf ihren Gesichtsausdruck. Er sah das pure Entsetzen in jedem einzelnen ihrer Züge, nicht zuletzt in ihren marineblauen Augen, die er so mochte. Sie sah aus, als würde sie dem Teufel persönlich gegenüberstehen… Das war nicht wahr! Das war einfach nicht wahr!! So ein verdammtes Pech konnte nicht einmal sie, der gottverdammte Pechvogel, haben. Und doch stand Cedric hier. Hier, genau vor ihr. Gleichwohl war der einzige Gedanke, der Carina durch den Kopf ging: „Gott sei Dank hab ich den Mantel an…“ Sie schluckte einmal gut vernehmlich und ließ sich langsam wieder auf ihren Platz zurücksinken. Ob das nun daran lag, dass sie Abstand zu ihm gewinnen wollte oder weil ihre Beine sich plötzlich dazu entschieden hatten die Form von Wackelpudding anzunehmen, konnte sie nicht genau sagen. Vielleicht war es auch beides. Ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen, als auch er sich auf dem Platz ihr gegenüber niederließ. Verflucht, wie hatte er sie denn nur gefunden? Hatte er… hatte er etwa ihre Energiesignatur zurückverfolgt? Grell hatte sie mehr als nur einmal gewarnt, dass dies möglich war und dennoch war sie das Risiko am heutigen Tag sogar zweimal eingegangen. Einmal durch sich selbst und dann durch Grell, als sich dieser von London nach Baden-Baden teleportiert hatte. „Das war dumm von mir. Und jetzt bekomme ich auch direkt die Quittung…“ Angespanntes, beinahe greifbares Schweigen herrschte zwischen den beiden Todesgöttern. Carina entwickelte aufgrund seines stechenden Blickes plötzlich ein sehr großes Interesse an einer Blumenvase im hinteren Teil des Raumes. Doch anscheinend wurde es dem Bestatter bereits nach wenigen Sekunden zu blöd. Er brach das Schweigen. „Carina.“ Er sagte es ganz schlicht, es war nicht mehr als eine simple Feststellung. Dennoch vibrierte beim Klang seiner Stimme jeder Muskel im Körper der jungen Frau. Eine unglaubliche Sehnsucht ergriff aus heiterem Himmel Besitz von ihr. Sie hatte seine Stimme so vermisst… Die Blondine atmete versucht ruhig aus, schluckte einmal zum Befeuchten ihrer trockenen Kehle und antwortete dann in ein- und demselben Tonfall wie ihr Gegenüber zuvor. „Cedric.“ Ihre verwandelten Augen richteten sich nun auf sein Gesicht, auf einen Punkt oberhalb seiner Augenbrauen. Wenn sie ihm direkt in die Augen schaute, so befürchtete sie zumindest, würde sie ihre kontrollierte Maske verlieren. Und das war etwas, was sie sich momentan auf keinen Fall leisten konnte. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen. Nicht nach der Art und Weise, wie du gegangen bist“, sagte er, was die Schnitterin irritiert die Augenbrauen zusammenziehen ließ. Da war ein Unterton in seiner Stimme, den sie nicht gleich zuordnen konnte. Doch nach wenigen Sekunden dämmerte es ihr. „Er ist wütend? Wieso?“ Normalerweise war er durch fast nichts aus der Ruhe zu bringen. Lediglich, wenn man ihm in seine Pläne hineinpfuschte. Warum war er also über ihr Verschwinden erzürnt? Carina versuchte ihm zu antworten, die richtigen Worte zu finden, aber sein plötzliches Auftauchen hatte sie vollkommen aus dem Konzept gebracht. Ihr Schweigen schien dem Totengräber nicht zu gefallen. Ebenso wenig wie ihr ausweichender Blick, der immer mal wieder zum Fenster huschte, damit sie nicht in sein Gesicht schauen musste. „Sieh mich an, Carina!“ Seine Stimme war gefährlich leise und trotz ihrer soeben erst gefassten Vorsätze folgte die 19-Jährige seinem Befehl umgehend. Ein Zwicken machte sich in ihrer Brust bemerkbar, als sie in seine klaren gelbgrünen Augen sah. Diese Augen, denen sie von der ersten Sekunde an verfallen gewesen war. „Ich verlange eine Erklärung“, stellte er fest, doch sein Befehlston bewirkte bei Carina lediglich, dass sie in eine Art Trotz verfiel. „Du willst wissen, wieso ich ohne ein Wort gegangen bin? Ganz einfach, weil ich nicht glaubte, dass es zwischen uns noch irgendetwas zu klären gab“, antwortete sie eine Spur zu scharf für jemanden, der Gleichgültigkeit vorzuspielen versuchte. Seine rechte Augenbraue zuckte kurz in die Höhe. „So? Und was war dann das kleine Stelldichein zuvor? Ein Abschiedsgruß?“ Carinas Wangen röteten sich schwach. Großartig, er stellte natürlich mal wieder genau die richtigen Fragen. Ein wenig hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Sozusagen?“, antwortete sie, obwohl es sich vielmehr nach einer Frage anhörte. Die junge Frau konnte ihm ansehen, dass er ihr kein Wort glaubte und so versuchte sie schnell das Thema zu wechseln. „Sei doch froh, dass ich gegangen bin. Jetzt kannst du in aller Ruhe mit deinen widerlichen Experimenten weitermachen.“ Etwas flackerte kurz in seinen Augen, als sie das Wort „widerlich“ aussprach. Hatte sie ihn etwa damit verletzt? Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen, doch Carina war fest entschlossen jetzt nicht nachzugeben. „Was denn, es stimmt doch!“ Sie wollte nicht, dass er verletzt war. Aber es war nun einmal die Wahrheit. Außerdem hatte auch er ihr mit der Wahrheit mehr als nur einmal wehgetan. „Ist das der Grund warum du gegangen bist?“, fragte er, woraufhin die Blondine blinzelte. „Wovon sprichst du bitteschön? War es nicht von Anfang an klar, dass ich irgendwann gehen würde? Ich bin lediglich geblieben, um bei deinem kleinen Versteckspielchen mitzumachen. Wirklich, du bist hier der Letzte, der einen Grund hat zornig zu sein, Cedric“, zischte sie und ließ ihre Maske nun endgültig fallen. Jetzt war sie wirklich froh, dass diese Sitznische kaum einsehbar war. Rüberglotzende Leute konnte sie jetzt echt nicht gebrauchen. Der Undertaker stützte seine Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf die verschränkten Finger. Seine Pupillen fixierten die ihren mit einer Intensität, der sie nicht ausweichen konnte. Nicht einmal, wenn sie gewollt hätte. „Und warum bist du so zornig, Carina?“, fragte er und Angesprochene erstarrte. Sie hatte gewusst, dass ihre fehlende Maske ihr das Genick brechen würde. Denn jetzt stellte er ihr Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Oder vielmehr nicht beantworten wollte. Der Silberhaarige wartete ein paar Sekunden, bis ihm schlussendlich die Geduld ausging. „Schön, wenn du mir diese Frage nicht beantworten möchtest, wie wäre es denn dann mit dieser: Warum warst du am Anwesen der von Weizsäckers? Oder noch besser, warum hast du mir hinterher spioniert?“ Carina presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Ich habe dir nicht hinterher spioniert“, brachte sie hervor, ihre Gedanken rasten. Sie musste sich irgendeine Ausrede einfallen lassen und zwar schnell! „Ach, dann soll ich also glauben, dass es ein Zufall ist, dass wir beide gleichzeitig in Baden-Baden sind? Halte mich bitte nicht für einfältig, Carina.“ „Ich habe nicht behauptet, dass es ein Zufall ist. Ich habe lediglich gesagt, dass ich dir nicht hinterher spioniert habe.“ Sie stockte und schaute erneut hektisch aus dem Fenster, um sich innerlich zu sortieren. Leugnen hatte in dieser Hinsicht keinen Zweck. Nicht einmal der letzte Trottel auf Erden würde glauben, dass dieses Zusammentreffen ein Zufall war. „Ich habe dich gesucht, deswegen bin ich hier.“ „…und wieso?“, kam es nach wenigen Sekunden Stille vom Bestatter, denn diese Antwort hatte er schier nicht erwartet. Die Hände der 19-Jährigen krallten sich von außen in ihre Manteltaschen und dann kam ihr endlich die rettende Idee. Sie schloss die Augen und atmete einmal tief durch. „Konzentrier dich! Wenn du ihn glaubhaft belügen willst, dann musst du jetzt ruhig bleiben.“ Mit diesem Gedanken öffnete sie ihre blauen Augen, hob den Kopf und holte im gleichen Moment die lange Kette mit den Medaillons aus ihrer Tasche. Seine Augen weiteten sich, als er auf das goldene Schmuckstück in ihrer Hand starrte. „Ich wollte dir das zurückgeben.“ Sie streckte ihren Arm aus und hielt ihm die Kette direkt vors Gesicht. „Hier, nimm.“ Langsam ergriff er seinen selbsternannten Schatz und ließ die Medaillons über seine langgliedrigen Finger wandern. „Woher hast du das?“, fragte er leise, riss seinen Blick jedoch nicht von den Anhängern los. Sie zuckte mit den Schultern. „Lange Geschichte. Der Earl gab sie mir, als wir uns zufällig über den Weg liefen. Er wollte dich damit eigentlich anlocken, was allerdings nicht so gut funktioniert hat. Also hat er sie nicht mehr benötigt und sie mir überlassen.“ „Warum hast du sie mir zurückgebracht? Warum hast du sie nicht dem Rat übergeben?“ Erneut zuckte sie träge und auch ein wenig hilflos mit den Schultern. „Weil sie dir gehört und… und ich weiß, dass sie dir ganz schön wichtig ist.“ Wieder warf sie einen Blick aus dem Fenster, hinter dem sich bereits die einbrechende Dunkelheit abzeichnete. „Immerhin ist ja ihr Name dort eingraviert“, flüsterte sie verbittert und bohrte gleichzeitig die Fingernägel in ihre Handinnenflächen. Carina konnte spüren, dass er sie ansah, doch gerade war seine bloße Anwesenheit einfach unerträglich. „Jetzt weißt du wieso ich hier war. Gibt es sonst noch etwas oder kann ich jetzt endlich gehen?“ „Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du beim Anwesen der von Weizsäckers warst.“ „Das war tatsächlich ein Zufall. Ich hatte vermutet, dass du Diederich von Weizsäcker kennst, weil er mal in England gelebt hat. Aber da du mit ihm in ein Gespräch verwickelt warst, wäre es wohl kaum der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch mit mir gewesen, oder irre ich mich da?“ Jedes Wort war wahr, deswegen fielen ihr diese Aussagen auch nicht sonderlich schwer. „Nein, wohl nicht“, antwortete er, klang aber für Carinas Verhältnisse immer noch viel zu misstrauisch. Irgendetwas schien ihn zu stören. „Na dann…“, begann sie zögernd und machte Anstalten sich von ihrem Platz zu erheben. „Ich stelle mir gerade eine ganz andere Frage“, sagte der Bestatter plötzlich, was die Seelensammlerin in ihrer Haltung erstarren ließ. „Die da wäre?“, fragte sie mit müder Stimme und hoffte inständig, dass dies die letzte Frage für den heutigen Abend wäre. Möglicherweise würde dieser stechende Schmerz in ihrer Brust ein wenig nachlassen, wenn sie ihn wenigstens nicht mehr direkt vor Augen hatte. Wenn sie schlief und nicht mehr an ihn denken musste. Oder an Claudia und Vincent Phantomhive. „Warum hast du eigentlich die ganze Zeit deinen Mantel an?“ Carina blinzelte und als die Worte ihr Gehirn erreichten, rutschte ihr das Herz mit atomarer Geschwindigkeit in die Hose. Gleich darauf kam es jedoch ebenso schnell wieder nach oben, um dort mit doppelter Kraft gegen ihren Brustkorb zu hämmern. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Mir ist kalt“, brachte sie hervor, doch es war zu schnell, zu unüberlegt und ihre Stimme war definitiv eine Oktave höher als sonst. Die Augen des Undertakers verengten sich. „Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin, Carina.“ „Wenn du wüsstest“, dachte sie. „Mal sehen. Du trägst einen Mantel in einem Café, obwohl es hier erstens alles andere als kalt ist und du zweitens gerade erst etwas Warmes getrunken hast. Kann es sein, dass du möglichst schnell verschwinden willst, sollte es denn nötig werden?“ Sie schwieg, erneut hatte der Silberhaarige es schlichtweg geschafft ihr komplett die Sprache zu verschlagen. „Außerdem starrst du ständig aus dem Fenster. Fast schon so, als wärst du auf der Flucht.“ Sein Blick wurde eindringlicher. „Bist du auf der Flucht, Carina?“ Das dürfte doch wohl nicht wahr sein. Obwohl er ihre ausweichenden Blicke aus dem Fenster falsch gedeutet hatte, lag er doch im Ganzen vollkommen richtig. War das noch zu fassen? „Ich… also…“, stammelte sie zusammenhanglos und wusste dabei gar nicht, was sie überhaupt sagen wollte. „Ich war lange genug im Dispatch um zu wissen, dass sie dich wohl kaum einfach nach Deutschland haben gehen lassen“, fuhr er fort und sein Tonfall suggerierte, dass ihm die nachfolgenden Worte überhaupt nicht gefielen. „Sag mir bitte nicht, dass du ohne Erlaubnis hierhergekommen bist.“ Für einen sehr kurzen Moment lagen ihr die schnippischen Worte „Gut, dann sag ich es eben nicht“ auf der Zunge, allerdings war Carina der Auffassung, dass diese Antwort wohl nicht sonderlich gut angekommen wäre. Also schwieg sie, was seine Frage auch so beantwortete. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“, seufzte er freudlos und rieb sich mit seiner linken Hand über die Stirn. Seltsamerweise machte seine Betroffenheit sie wieder wütend. Er liebte diese Claudia, schön! Aber dann sollte er bitte nicht so tun, als würde sie ihm auch irgendetwas bedeuten. „Ist doch nicht dein Problem, oder?“, zischte sie und verschränkte die Arme abwehrend vor der Brust. Sie wusste, dass sie sich kindisch verhielt, aber es war ihr momentan herzlich egal. Hauptsache, er würde sie endlich gehen lassen. „Dass du dir damit ein Disziplinarverfahren eingehandelt hast, ist allerdings dein Problem. Aber mich interessiert es, warum du dir meinetwegen solch einen Ärger einhandelst. Du hast den Shinigami nicht einmal meinen Aufenthaltsort verraten, sonst hätten sie mich ziemlich schnell am Weston College gefunden. Warum nicht?“ „Wir hatten immerhin einen Deal, erinnerst du dich? Ich habe mich nur daran gehalten“, erwiderte sie kühl, doch so leicht gab sich der Totengräber nicht zufrieden. Er spürte, dass da noch mehr dahinter steckte und dieses Mal würde er sich nicht eher abwimmeln lassen, bis er eine ehrliche Antwort von ihr bekommen hatte. „Du stiehlst dich mitten in der Nacht davon, hast mich aber nicht an die Shinigami verraten. Du nimmst ein Disziplinarverfahren auf deine Schultern um mir meine Medaillons zurückzubringen, bist aber aus einem mir unerklärlichen Grund wütend auf mich. Warum?“ Kalter Schweiß stand ihr inzwischen auf der Stirn. Pochende Kopfschmerzen gesellten sich zu ihrem wild schlagenden Herz dazu. Die 19-Jährige hatte mittlerweile das Gefühl, als würde sich eine Schlinge immer enger und enger um ihren Hals zuziehen, mit jedem weiteren Wort, das Cedric sagte. Sie spürte die Wahrheit – die ehrliche Antwort, die er von ihr hören wollte – bereits auf ihrer Zunge, aber sie brachte es einfach nicht über sich. Schon so oft hatte sie es ihm sagen wollen, doch jedes Mal hatte sie im entscheidenden Moment den Schwanz eingezogen und den Mund gehalten. Dabei drängte alles in ihr sie dazu, die Worte endlich auszusprechen. Es endlich hinter sich zu bringen. Anscheinend war die Geduld des Bestatters nun endgültig aufgebraucht, denn seine Stimme wurde lauter und vor allen Dingen schneidender. „Warum, Carina? Sag es mir endlich!“ Es war zu viel. Es war einfach zu viel. Noch während er sprach hatte Carina das Gefühl, dass sich ihre Zunge plötzlich löste und der Knoten in ihrem Hals platzte. Ihr Mund reagierte wesentlich schneller als ihr Gehirn. „Weil ich dich liebe, du Idiot!“, schrie – nicht sagte, schrie – sie ihm entgegen und jegliche Gespräche im Raum verstummten schlagartig. Tom, der gerade zufällig an ihrer Sitznische vorbeigegangen war, blieb wie vom Donner gerührt stehen. Er sprach vielleicht nicht sonderlich gut Englisch, aber diesen Satz hatte sogar er verstanden. Man konnte nicht genau sagen, wer von den Beiden entsetzter aussah. Cedrics Augen waren gigantisch groß geworden, doch in dem Punkt stand Carina ihm in nichts nach. Sein Mund war leicht geöffnet, doch der Shinigami schien das Atmen komplett eingestellt zu haben. Er starrte sie lediglich entgeistert an. Die Blondine blinzelte einmal. Dann ein zweites Mal. Und schließlich wurde ihr bewusst, was sie ihm da gerade an den Kopf geworfen hatte. Um Gottes Willen, was hatte sie getan? Der klägliche Rest Farbe, der in ihr Gesicht zurückgekehrt war, verschwand erneut. Sie hatte es ihm tatsächlich gesagt. Die drei magischen Worte. Etwas von dem sie immer gedacht hatte, dass es sie mit Freude erfüllen würde. Doch das tat es nicht. Ganz im Gegenteil. Es schenkte ihr keinerlei Art der Befreiung, es tat einfach nur noch mehr weh. Zu wissen, dass er ihre Gefühle nicht erwiderte. Ihr Körper handelte fast wie von alleine, als sie aufsprang und seine derzeitige Schockstarre sogleich für sich ausnutzte. Der Bestatter konnte gar nicht so schnell reagieren. Bis er ihre Bewegung registriert hatte, war sie bereits aus seiner Sichtweite verschwunden und keine Sekunde später hörte er die Türklingel, als sie aus dem Café rannte. Schlagartig war er wieder in der Realität angekommen. Sein Kopf flog herum, seine Augen – die bis eben noch vor lauter Überraschung geweitet gewesen waren – verengten sich. Er ignorierte Tom, der ihn vorwurfsvoll anstarrte, erhob sich nun ebenfalls flink von seinem Platz und rannte der jungen Frau hinterher. Noch einmal würde er sie nicht einfach so gehen lassen. Carina hatte inzwischen die Straße auf der das Café lag verlassen und eilte kopflos durch die dunkle Stadt. Die frische Luft tat gut und sorgte dafür, dass sie wieder etwas besser atmen konnte. Doch das Chaos in ihr beseitigte sie nicht. „Was hab ich getan? Was hab ich nur getan? Wieso zum Teufel habe ich es ihm bloß gesagt?“ Schon öfters hatte sie sich über sich selbst geärgert, aber dieser Moment übertraf alle bisherigen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? „Carina.“ Es benötigte all ihre Selbstbeherrschung, sie verbat ihrem Körper sich nach seiner Stimme umzudrehen. Der Totengräber würde sie in wenigen Sekunden eingeholt haben, wegzulaufen war eigentlich vollkommen sinnlos. Und doch blieb sie nicht stehen. „Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen?“ „Carina!“ Seine Stimme wurde lauter und sorgte dafür, dass sich ein altbekanntes Brennen in ihren Augenwinkeln bemerkbar machte. Nur zu gerne hätte sie es auf ihre Schwangerschaftshormone geschoben, aber das stimmte nicht. Allein er schaffte es, dass sie ihre komplette Maske fallen ließ. Obwohl die 19-Jährige es geahnt hatte, kam es doch unerwartet, als sich von hinten eine Hand um ihren linken Unterarm legte und sie herum wirbelte. Im nächsten Moment wurde ihr Rücken gegen eine Wand gedrückt, jeweils eine Hand lag links und rechts neben ihrem Kopf. Seine Arme schnitten ihr jegliche Fluchtmöglichkeit ab. Der Silberhaarige hatte sie in eine kleine Gasse gezogen, um sie herum herrschte Totenstille. Kein Wunder, um diese Uhrzeit hielt sich niemand mit klarem Verstand in solchen Seitenstraßen auf. Trotz der Tatsache, dass sie ihrer eigenen Stimme nicht vertraute, erwiderte die Schnitterin ein zittriges „Lass mich in Frieden.“ Es klang brüchig und hauchdünn, dennoch war sie froh noch nicht in Tränen ausgebrochen zu sein. Was aber wohl auch daran lag, dass sie stur zu Boden starrte. Ihr Gegenüber gab ein Geräusch von sich, eine Mischung aus einem Schnauben und einem Knurren. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich nach so einer Ansage einfach so gehen lasse?“ Er konnte sehen, wie sich ihr Kiefer verhärtete. „Vergiss einfach, was ich gesagt habe“, antwortete sie, woraufhin ihm vor Fassungslosigkeit leicht der Mund aufklappte. „Das ist jetzt nicht dein Ernst? Du verkündest mir, dass du mich…dass du…“, er atmete einmal tief durch, weil er es immer noch kaum fassen konnte, „dass du mich liebst und erwartest jetzt, dass ich das einfach so vergesse?“ Carina schwieg und starrte immer noch konzentriert nach unten, während ihre Augen im Schatten lagen. Gereizt schob er seine rechte Hand unter ihr Kinn und zwang sie somit ihm direkt ins Gesicht zu sehen. „Antworte mir, Carina.“ Er schaute in ihre glasigen Augen und wusste sofort, dass sie sich selbst davon abhielt den Tränen freien Lauf zu lassen. Es war wie ein Stich, der ihn direkt in die Brust traf. Er mochte den Anblick nicht. Sie sollte nicht so unglücklich gucken. Nicht wegen ihm. „…Wie lange schon?“, fragte er schließlich. Carina verstand seine Frage auf Anhieb. „Was spielt das für eine Rolle?“, fragte sie schwach, doch er erlaubte ihr keine Ausflüchte mehr. „Wie lange schon, Carina?“ Ein Zittern fuhr durch ihren Körper, ihr Atem bildete eine kleine sichtbare Wolke in der Luft. Die erste Träne quoll über und hinterließ eine feuchte Spur auf ihrer Wange. „Schon die ganze Zeit, du Vollidiot“, flüsterte sie, während die zweite Träne über ihre andere Wange kullerte. Entsetzen zeichnete sich nun ganz offenkundig in seinem Gesicht ab. Er hatte gewusst, dass sie ihn attraktiv fand und auch, dass sie ihn begehrte. Andersrum war es immerhin ganz genauso. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie tiefer gehende Gefühle für ihn hegte. Und diese Gefühle waren aufrichtig, das konnte er mit nur einem Blick in ihre Augen sehen. „Wieso ist mir das nicht früher aufgefallen?“ So manche ihrer Handlungen ergaben nun viel mehr Sinn. Er dachte daran, wie zornig sie damals geworden war, als er sie nach dem Sex auf dem Schreibtisch einfach hatte stehen lassen. Mit welchem Blick sie ihn angesehen hatte, als er sie geschlagen hatte und ihre anschließende Distanziertheit. Und ihre verhaltenen Reaktionen, als er über Claudia gesprochen hatte. Ein erneuter Stich fuhr durch seine Brust. Er hatte Carina wirklich alles erzählt. Wie sehr er Claudia liebte, wie sehr ihr Tod ihn getroffen hatte und wie weit er gehen würde, um sie von den Toten zurückzuholen. All das hatte er einer Frau erzählt, die in zu diesem Zeitpunkt bereits… Er fühlte sich wie der letzte Trottel. Zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit wusste er tatsächlich nicht, was er jetzt zu tun hatte. Carina schien die ganze Situation mehr als nur unangenehm zu sein, dennoch wusste sie anscheinend genau, was er tun sollte. „Was soll das Ganze hier noch, Cedric? Wir wissen doch beide ganz genau, dass du Claudia liebst.“ „Und nicht mich“, fügte sie gedanklich hinzu. Obwohl ihr Gesicht von Tränenspuren gezeichnet war, sah sie ihn mit dem gleichen entschlossenen Ausdruck an, den er immer schon bemerkenswert an ihr gefunden hatte. „Warum machst du es uns beiden also nicht leichter und lässt mich endlich gehen? Dann kann ich nach London zurückkehren und wir müssen uns nie wiedersehen.“ Er starrte sie an, unfähig auch nur ein einziges Wort darauf zu erwidern. Sie hatte recht mit allem, was sie gesagt hatte und dennoch… dennoch war da irgendetwas in ihm, das ihn daran hinderte ihren Worten Folge zu leisten und einfach so zu verschwinden. Das gleiche Irgendetwas, das dafür gesorgt hatte, dass er die letzten vier Monate jeden Tag an sie gedacht und sich gefragt hatte, was sie wohl machte und wie es ihr ging. Gefühle deuten und verstehen zu können war immer schon so eine komplizierte Sache für ihn gewesen. Bei anderen Menschen fiel es dem Shinigami teilweise recht leicht, aber wenn es um ihn ging blickte er manchmal einfach selbst nicht durch. Und so war es auch jetzt. Er wusste nicht, was er wollte. Er wusste lediglich, was er nicht wollte. Er wollte nicht, dass sie weinte. Und er wollte nicht, dass sie sich nie wiedersahen. „Warum sagt er denn jetzt nichts mehr?“, fragte sich währenddessen Carina, die immer noch mit dem Rücken zur Wand stand. Dass er sie ausschließlich schweigend anstarrte, machte sie nervös. „Cedric, was-“, begann sie erneut, konnte ihren Satz allerdings nicht mehr beenden. Plötzlich neigte der silberhaarige Bestatter seinen Kopf nach vorne und küsste sie aus heiterem Himmel mitten auf den Mund. Sie keuchte vor lauter Überraschung auf, ihr ganzer Körper versteifte sich aufgrund der unerwarteten Berührung. Sie blinzelte und für einen ganz, ganz kurzen Moment war sie sogar versucht den Kuss zu erwidern. Doch noch im gleichen Augenblick spürte sie wieder einen sanften Stupser an ihrem Bauch, der sie mit sofortiger Wirkung wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte. Die 19-Jährige riss ihre Hand so schnell nach oben, dass der Undertaker es nicht kommen sah. Sein Kopf wurde zur Seite weggeschleudert, als Carina ihm mit der flachen Hand eine schallende Ohrfeige verpasste. Und zwar eine, die sich gewaschen hatte. Beinahe sofort rötete sich die getroffene Stelle und auch die Kälte seiner Hand linderte den Schmerz nicht, als er sie sich auf die Wange presste. „Du… du Arschloch!“ Carina war so zornig, sie konnte im ersten Moment kaum sprechen. Die Tränen liefen ihr nun ununterbrochen über das Gesicht, doch dieses Mal waren es Tränen der Wut. „Wieso hast du das getan?“, brüllte sie so laut, dass in ein paar Häusern die Straße runter die Fenster geöffnet wurden. Anscheinend wusste der Bestatter selbst nicht so genau, warum er sie geküsst hatte. Seine Antwort kam jedenfalls recht zögerlich, was bei ihm an und für sich schon ziemlich untypisch war. „Weil ich es so wollte. Ich schätze… ich wollte, dass du aufhörst so unglücklich zu sein.“ „Ja, das ist dir ja hervorragend gelungen“, zischte sie und wischte sich erfolglos über die tränennassen Wangen. Ein Schluchzen entfuhr ihrer Kehle. „Du hast überhaupt nichts kapiert, oder? Ich will nicht nur die zweite Wahl sein. Ich will mich nicht mit einer Frau messen, die nicht einmal mehr am Leben ist. Du hast mehr als nur einmal gezeigt, wie weit du für sie zu gehen bereit bist, Cedric. Ich weiß das alles längst. Und es macht mich kaputt.“ Sie stieß ein bitteres Lachen hervor. „Es macht mich kaputt und das Einzige, was ich dagegen unternehmen kann ist, dass ich mich von dir fern halte. Vielleicht hört es dann irgendwann auf wehzutun. Aber das du versuchst dein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem du mich küsst, ist wirklich das Allerletzte, Cedric.“ „Das hat nichts mit meinem schlechten Gewissen zu tun“, erwiderte der Silberhaarige ernst, während eben genanntes Gewissen aufgrund ihres sichtbaren Schmerzes noch schwerer wurde. Das war nicht der Grund gewesen, warum er sie geküsst hatte. Die Wahrheit war: Er wusste den Grund selbst nicht so genau. Es war mehr ein Instinkt gewesen. Ein innerer Impuls, dem er sich nicht hatte entziehen können. „Es ist mir scheißegal, warum du es getan hast. Ich will, dass du gehst. Mach deine Experimente, hol von mir aus deine Claudia zurück. Aber lass mich endlich in Ruhe. Du hast schon genug Schaden angerichtet, es reicht.“ Ihre Tränen waren nun endlich versiegt, doch es brachte ihr keine Erleichterung. Sie fühlte sich leer, wie eine hohle Puppe. Carina konnte sehen, wie sich seine Miene ein wenig verfinsterte. Sie verstand nicht wieso. Überhaupt war es ihr ein Rätsel, warum er sich plötzlich so für ihre Gefühle interessierte. Damals, als er sie wegen ihrem Angriff auf seine Bizarre Doll geschlagen hatte, war ihre Gefühlswelt für ihn unwichtig gewesen. Warum also allem Anschein nach jetzt nicht mehr? „Warum frage ich mich das überhaupt? Es spielt doch jetzt ohnehin keine Rolle mehr…“ Sie hielt seinem Blick stand und versuchte das Brennen in ihrer Kehle zu ignorieren. Wahrscheinlich würde sie sich nachher, wenn sie wieder im Hotelzimmer war, übergeben. Mehrere lange Sekunden vergingen, schließlich kam wieder Bewegung in den Körper des Silberhaarigen. Er schloss die Augen und senkte leicht den Kopf, fast schon ein wenig reumütig. „Es tut mir leid“, murmelte er, verpasste ihrem vernarbten Herzen dadurch einen weiteren Schnitt. Carina versuchte angestrengt nicht zu blinzeln, als seine Form langsam verblasste und er bereits im nächsten Moment vollkommen verschwunden war. Sie hingegen blieb allein in der Gasse zurück. Allein mit ihrem Schmerz, allein mit ihrem Kummer. Allein mit dem Kind, das niemals einen Vater haben würde. Allein… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)