Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 55: ...und die folgenschwere Entscheidung ------------------------------------------------- Unruhig tigerte Carina in ihrem Hotelzimmer umher. Seit sie Grell kontaktiert hatte, war nun bereits eine ganze Stunde vergangen. Und mit jeder weiteren Sekunde schwand ihre Geduld dahin. „Was treibt er? Wie lange kann es bitteschön dauern sich fertig zu machen, in die Bibliothek zu gehen und sich dieses verfluchte Stammbuch unbemerkt zu schnappen?“ Wie sie Grell kannte lag das Problem noch nicht mal bei der Beschaffung des Buches, sondern eher beim perfekten Anziehen und Schminken. „Ich muss wissen, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege. Ich muss wissen, ob das seine Verbindung zur Familie Phantomhive ist. Denn wenn es stimmt, dann… dann ändert das alles.“ Ein Teil von ihr hoffte, dass sie sich dieses eine Mal irrte. Dass sie Unrecht hatte, denn der bloße Gedanke kam ihr schier unerträglich vor. Doch ein anderer Teil war sich bewusst, dass dieses fehlende Puzzleteil nur allzu gut passen würde. Zumindest würde es so einiges erklären. „Bitte lass es nicht stimmen. Ich will nicht, dass er… dass er mit ihr…“ Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren dunklen Gedanken. „Carina?“, ertönte von draußen Grells Stimme und keine Sekunde später riss die 19-Jährige die Tür auf. „Na endlich“, sagte sie und schloss den Rothaarigen erleichtert in die Arme. Es tat gut ihn zu sehen. Natürlich hatten sie immer mal wieder über das Kommunikationsgerät gesprochen, aber das war einfach nicht dasselbe. „Du siehst gut aus“, sagte Grell, sobald er sich wieder von ihr gelöst hatte. Seine Augen wanderten scannend über ihren Körper und blieben gleich darauf verzückt auf ihrer kleinen Wölbung liegen. „Mensch, man sieht ja tatsächlich schon was“, quietschte er vergnügt und tänzelte ein wenig auf der Stelle hin und her. „Hab ich doch gesagt“, lachte Carina, kein bisschen verwundert über die Reaktion ihres selbsternannten großen Bruders. „Steht dir gut“, zwinkerte er ihr zu, woraufhin sich die Wangen der Blondine schwach röteten. „Na ja, fragt sich wie lange noch. Bald bin ich einfach nur noch dick.“ Der Reaper schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du wirst nicht dick, du bist nur schwanger. Das ist ja wohl was vollkommen anderes. Und ich bin mir sehr sicher, der Babybauch wird dir wunderbar stehen.“ „Wir werden sehen“, antwortete sie und wurde nun wieder ernst. „Hast du es bekommen?“ Er nickte und zog einen ziemlich dicken Wälzer aus seiner Tasche hervor. „Ja, hab ich. Es wird auch niemand mitbekommen, wenn ich es heute noch zurückbringe. Aber sag mal, wozu brauchst du es?“ Carina zögerte kurz, dann erzählte sie ihm aber doch von dem Gespräch, das sie in der Villa von Weizsäcker mitangehört hatte. Grell unterbrach sie bereits nach der Hälfte. „Und du hast dich ihm nicht gezeigt? Verdammt Carina, da suchst du ihn die ganze Zeit wie verrückt und dann lässt du die Gelegenheit verstreichen endlich mit ihm zu sprechen?“ „Weil es erstens nicht der richtige Zeitpunkt war und ich zweitens noch etwas nachprüfen muss. Etwas, was mir nur der Stammbaum der Familie Phantomhive beantworten kann.“ Sie nahm das Buch von ihm entgegen und setzte sich aufs Bett. Dennoch, als der Stammbaum nun endlich auf ihrem Schoß lag und nur darauf wartete geöffnet zu werden, zögerte die Schnitterin. Das entging auch Grell nicht. „Was hast du, Carina? Ich dachte, du hast es so eilig?“ „Ja, das stimmt auch. Aber ich…“, sie schluckte einmal gut hörbar, „ich hab Angst vor dem, was dort möglicherweise drin steht“, antwortete sie schließlich kleinlaut. Die Stammbäume, die die Shinigami besaßen, waren nicht unbedingt wie die Stammbäume der Menschen. Sie zeigten den Schnittern immer die Wahrheit, ganz egal ob die Bücher der Menschen nun etwas anderes sagten. Ihre Finger umklammerten den Einband fester, ihre Augen waren verunsichert zu Boden gerichtet. Sie hatte Angst vor dieser Wahrheit… Das Bett sank ein wenig weiter ein, als sich Grell nun neben sie setzte und sanft einen Arm um ihre Schultern legte. „Ganz gleich, was da auch drin stehen mag und wie sich das auf deine Zukunft auswirkt, ich werde dich unterstützen. Und die Nervensäge sicher auch.“ Carina hob den Kopf und lächelte ihn dankbar an. „Danke, Grell“, murmelte sie und richtete ihren Blick wieder auf das Buch, als er ihr aufmunternd zunickte. Sie schlug den Band auf und suchte sogleich im Inhaltsverzeichnis nach den passenden Jahreszahlen. Was hatte Cedric noch einmal gesagt? Claudia war am 13. Juli 1866 im Alter von 36 Jahren gestorben. Das bedeutete sie musste im Jahre 1830 geboren worden sein. Mit wild pochendem Herzen schlug sie das entsprechende Kapitel auf und suchte die Seiten langsam und mit scharfem Blick ab. Und tatsächlich, bereits nach einigen Sekunden stach ihr der Name ins Auge und sprang ihr förmlich ins Gesicht. „Claudia Phantomhive… geboren am 05. April 1830… gestorben am 13. Juli 1866… also doch.“ Jetzt wurde ihr so einiges klarer. Warum Claudia den Job ihres Vaters übernommen hatte und warum sie dadurch wiederum mit dem Bestatter in Kontakt gekommen war. Sie war einer der Wachhunde der Königin gewesen und Undertaker ihr Informant. Die 19-Jährige konnte sicht noch genau an seine Worte erinnern, damals in der Küche des Bestattungsunternehmens. Als sie ihn gefragt hatte warum er die Königin nicht mochte. „Ich habe etwas Wichtiges verloren und sie ist nicht ganz unschuldig daran.“ Auch das machte nun endlich Sinn. Vermutlich war die Phantomhive bei einem ihrer Aufträge als Wachhund der Königin ums Leben gekommen. Oder die Königin hatte sogar selbst ihre Finger im Spiel gehabt. Nach allem, was die Schnitterin in der Welt der Shinigamis über sie gehört hatte, würde es sie nicht großartig wundern… Automatisch wanderte Carinas Blick ein Stückchen weiter nach unten und sogleich erblickte sie den Namen, den sie dort schon erwartet hatte. „Vincent Phantomhive… geboren am 13. Juni 1851… gestorben am 14. Dezember 1885. Er war also tatsächlich ihr Sohn.“ Bisher hatte sie mit jedem ihrer Gedanken ins Schwarze getroffen. Doch ein Gedanke blieb noch, der bestätigt werden musste. Der Gedanke, der ihr die meiste Furcht bereitete. Ihre Augen glitten wieder zu dem Kästchen mit dem Namen Claudia Phantomhive zurück und dann wandte sie ihren Blick ganz langsam nach rechts, wo ein weiteres kleines Kästchen den Namen des Mannes verriet, der der biologische Vater von Vincent Phantomhive war. Ein zittriger Atemzug entfuhr ihr, dann hielt sie ganz automatisch die Luft an, als eine Welle der Gefühle sie überschwemmte. Ihr Gehirn und ihr Herz schienen sich nicht recht entscheiden zu können, welche Emotion am stärksten ausgeprägt war. Schmerz? Kummer? Eifersucht? Oder vielleicht doch das blanke Entsetzen? „Cedric K. Rosewell… geboren am 25. März 1035… gestorben am 28. Januar 1064“, las sie mit tauben Lippen vor und bemerkte nicht einmal, wie ihr langsam das Buch aus den Händen glitt und mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufschlug. Ihre Augen schlossen sich bestürzt, während sie wieder nach Luft schnappte. „Also doch… also doch!“ Wie aus weiter Entfernung hörte sie Grell ihren Namen sagen, doch es kümmerte Carina nicht. Die gerade gewonnene Erkenntnis raubte ihr beinahe den Verstand. Sie hatte es geahnt, genau in dem Augenblick, als sie ihn hatte weinen sehen, aber… aber die Tatsache, dass es stimmte, dass sie verdammt noch mal Recht gehabt hatte, versetzte ihr dennoch einen Schock. „Er war sein Sohn. Vincent Phantomhive war sein Sohn.“ Ohne es zu merken hatte die Blondine es laut ausgesprochen, denn nun verstummte auch Grell und schaute sie mit großen Augen an. Ja, die Bücher der Shinigami sagten immer die Wahrheit. Claudia Phantomhive mochte mit einem anderen Mann verheiratet gewesen sein, aber ihr Erstgeborener war eindeutig der Sohn ihres Geliebten gewesen. „Und er wusste es. Cedric wusste es.“ Natürlich, Grell hatte doch erwähnt, dass von diesen Kindern eine minimal andere Aura ausging. Der Bestatter musste gespürt haben, dass der Junge sein Sohn war. Wahrscheinlich war es für ihn damals ebenfalls ein Schock gewesen. Sicherlich hatte er damals erst herausgefunden, dass er als Shinigami zeugungsfähig war. Aber warum hatte er daraus verdammt noch mal denn nicht den Schluss ziehen können, dass auch weibliche Shinigami dazu in der Lage waren? Mit Sicherheit war er davon ausgegangen, dass es mit einer menschlichen Frau möglich wäre. Dass sie als Mensch Leben schenken konnte. Selbst in Carinas Ohren klang es irgendwo logisch. Aber warum nur hatte er nicht weiter gedacht? Hatte er das Ganze vielleicht einfach schlichtweg verdrängt, um nicht mehr an seinen Sohn denken zu müssen, der im Alter von gerade einmal 34 Jahren gestorben war? Sie könnte es ihm nicht einmal verübeln. Zuerst verlor er die Frau, die er über alles liebte und dann starb nicht einmal 20 Jahre später ihr gemeinsames Kind. Es musste ihm beinahe den Verstand geraubt haben… Dennoch. Hätte er auch nur einen Gedanken daran verschwendet, nur einen… Dann wäre sie jetzt nicht in dieser Situation! In dieser verdammt ausweglosen Situation… Ein leichtes Stupsen an ihrem Bauch riss sie aus ihren finsteren Gedanken, die ihr noch im gleichen Augenblick leid taten. „Entschuldige… Du kannst nichts dafür“, dachte sie und streichelte sanft über die Schwellung. Nein, sie liebte ihr Baby. Mittlerweile wollte sie ihre Schwangerschaft gar nicht mehr ungeschehen machen. Ein verzweifelter Laut entfuhr ihren Lippen, als sie sich rückwärts auf das Bett sinken ließ, den Kopf in ihren Händen vergraben. Erst ganz langsam wurde ihr das ganze Ausmaß dieser Erkenntnis bewusst. Wenn Vincent sein Sohn war, dann war Ciel sein Enkel. Um Gottes Willen… „Ach du Scheiße“, kam es nun von Grell, der mittlerweile das Buch aufgehoben und selbst eingehend studiert hatte. Anscheinend hatte auch er die Situation begriffen. Carina, die nicht mehr die Kraft dazu hatte sich den Stammbaum noch ein weiteres Mal anzusehen, fragte mit brüchiger Stimme: „Ist das zweite Kind von Claudia auch von ihm?“ Es raschelte, als Grell ein paar Seiten weiterblätterte. „Nein“, schüttelte er schließlich den Kopf. „Francis Midford, geborene Phantomhive, ist die Tochter von Claudia Phantomhive und ihrem Ehemann Edward. Sie ist mit Alexis Leon Midford verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder, Edward und Elizabeth Midford.“ Carina registrierte zwar was er sagte, doch es bewirkte nichts in ihrem Inneren. Keine Freude, keine Erleichterung. Momentan war da nur wieder diese unglaubliche Leere, die sich am besten mit dem Gefühl beschreiben ließ, das sie verspürt hatte, als sie den Bestatter verlassen hatte und in die Welt der Shinigami zurückgekehrt war. Ja, genauso traurig und hilflos fühlte sie sich jetzt ebenfalls. Und da war auch wieder diese Eifersucht auf Claudia Phantomhive, für die sie sich selbst am liebsten geohrfeigt hätte. Er hatte ein Kind mit ihr gehabt. Sogar das hatte sie ihr vorweggenommen. Carina verabscheute sich selbst für diese Art von Gedanken, aber ihr Herz kam nicht mit den neuesten Informationen parat. Eine Hoffnung, von der sie noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie hegte, zerbrach irgendwo in ihrem Inneren. Alles hätte sie irgendwie überwinden können, aber nicht das! „Du hast es geahnt, nicht wahr?“, fragte Grell mit ungewöhnlich sanfter Stimme, während er eine Hand auf ihre rechte Schulter legte. „Ja“, flüsterte sie. „Ich habe gesehen, wie er um seinen Sohn geweint hat, Grell. Der Schmerz über seinen Verlust bringt ihn innerlich immer noch fast um, ich konnte es in seinen Augen sehen.“ Der Rothaarige wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. „Nun ja, das ist verständlich“, sagte er zögerlich, da er nicht wusste wie die Blondine darauf reagieren würde. Ihre verwandelten blauen Augen wandten sich ihm wieder zu. „Ja, ich weiß. Glaube bitte nicht, dass ich ihn dafür verurteile.“ „Das tue ich nicht“, antwortete Grell und meinte es ehrlich. „Aber das macht deine Situation auch nicht gerade leichter. Willst… willst du es ihm jetzt überhaupt noch sagen?“ Und genau das war der springende Punkt. „Wie könnte ich?“, murmelte sie mit schwacher Stimme. „Jetzt, wo ich weiß, was er durchmachen musste? Wie sehr er unter dem Verlust leidet? Er hat bereits ein Kind verloren und dieses Kind hier“, sie legte sich eine Hand auf den Bauch, „wird ein Mensch sein, also genauso sterblich wie Vincent Phantomhive. Irgendwann, egal wie lange es auch dauern wird, wird auch unser Kind sterben. Wie könnte ich es ihm zumuten, dass er das noch einmal durchmachen muss? Wie könnte ich ihm das antun?“ Sie selbst verdrängte den Gedanken daran ja bereits mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, weil allein schon die Vorstellung unerträglich war. Kinder sollten einfach nicht vor ihren Eltern sterben, das war nicht richtig! „Und außerdem… wer sagt mir denn nicht, dass er nur wegen des Kindes bei mir bleiben würde? Was, wenn er deswegen seine Pläne aufgibt und es mir dann irgendwann zum Vorwurf macht? Das… das könnte ich einfach nicht ertragen. Ich will nicht, dass er mich irgendwann hasst.“ Der kümmerliche Rest ihrer Stimme brach und zwei dicke, runde Tränen kullerten ihr die Wangen hinab. „Och Süße“, klagte Grell, der nun ebenfalls den Tränen nahe war. „Bitte nicht weinen. Ich habe doch schon gesagt, dass ich dir beistehen werde, egal wie du dich entscheidest. Und wenn du es ihm nicht sagen willst, dann ist das auch in Ordnung. Ich werde euch an seiner Stelle beschützen, mach dir keine Sorgen.“ Er nahm sie in die Arme und Carina – froh, dass er da war – vergrub ihren Kopf in seinem Hemd und weinte. Es war befreiend den Tränen endlich freien Lauf zu lassen, fühlte sich fast ein wenig so an, als würden ihre ganzen Ängste und die ganze Trauer mit der salzigen Flüssigkeit aus ihrem Körper geschwemmt und dadurch ein wenig abgemildert werden. Als sie sich 10 Minuten später endlich ein wenig beruhigt hatte, brannten ihr die Augen und die Wangen. Ihr Kopf fühlte sich an, als stünde er kurz vor der Explosion. „Vielleicht solltest du etwas schlafen. Zu viel Aufregung ist gar nicht gut für dich“, schlug Grell beunruhigt vor und schielte versucht unauffällig auf seine Uhr. Carina lächelte. „Na los, geh schon“, sagte sie, woraufhin der Reaper sie überrascht ansah. „Deine nächste Schicht fängt doch bald an, oder etwa nicht? Geh lieber, nachher fragt sich ansonsten noch jemand, warum du zu spät gekommen bist.“ Angesprochener seufzte. „Ich lasse dich aber nur äußerst ungern jetzt allein, nur das du’s weißt.“ Die 19-Jährige ließ sich ein weiteres Mal von ihm umarmen, während sie nickte. „Ja, ich weiß. Mach dir keine Sorgen, ich werde mich ausruhen. Versprochen. Und… könntest du Alice bitte alles erzählen?“ Denn momentan hatte sie wirklich nicht die Kraft all das, was heute passiert war, noch einmal in Worte zu fassen. „Ich kümmere mich darum“, antwortete er und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, obwohl ihm selbst überhaupt nicht danach zumute war. Die Schnitterin nickte ihm noch ein weiteres Mal zu, bevor der Shinigami die Augen schloss und im nächsten Moment verschwunden war. Die plötzliche Stille war mehr als nur unangenehm. Ein schwerer Seufzer entfuhr der werdenden Mutter, als sie sich wieder mit dem Rücken voran auf’s Bett fallen ließ. Ihr Blick galt der Decke, während sie versuchte sich zu entspannen und etwas zu schlafen. Doch bereits nach 20 Minuten gab sie diesen Versuch auf. Ihr gingen einfach viel zu viele Gedanken durch den Kopf und die Aufregung der letzten Stunden schickte immer noch Adrenalin durch ihren Körper. Sie hatte gerade eine Entscheidung getroffen, die ihr ganzes Leben und auch das ihres Kindes beeinflussen würde. Wie sollte sie da jetzt schlafen? Außerdem war ihr kalt und sie fühlte sich wie erschlagen. Aber sie hatte die Wahrheit wissen wollen. Möglicherweise wäre es schlauer gewesen, wenn sie sich zuvor die Frage gestellt hätte, ob sie die Wahrheit überhaupt ertragen konnte. „Vielleicht sollte ich mich ein wenig ablenken“, murmelte sie und dachte an das kleine Café, das sich direkt um die Ecke befand. Dort hatte sie in den letzten Tagen öfters vorbeigeschaut, wenn sie eine Pause von der erfolglosen Suche gebraucht hatte. Der Laden war nicht sonderlich groß, hatte aber richtig schöne Sitznischen, in denen man unbeobachtet seine Zeit totschlagen konnte. Der rothaarige Kellner – ein 15-jähriger Junge namens Tom – war unglaublich offenherzig und freundlich. Und nicht zuletzt machte dieses Café den besten Kakao mit Sahne, den Carina jemals getrunken hatte. Ja, vielleicht würde ihr diese kleine Ablenkung gut tun. Und eine große Menge flüssiger Schokolade sowieso! „Ich sollte dennoch vorsichtig sein. Grells Teleportation hat Energie freigesetzt, wenn auch nur in geringer Menge. Nicht, dass mir ein deutscher Shinigami über den Weg läuft.“ Sie zog sich ihren Mantel über, der eine weit ausgeschnittene Kapuze besaß, die sie sich im Notfall ebenfalls überziehen konnte. Vorsichtshalber steckte sie sich auch die wichtigsten Dinge, die sie bei sich im Zimmer hatte, in ihre Manteltaschen. Falls ein Shinigami in ihrem Hotelzimmer auftauchen sollte, dann würde er zumindest nichts von Bedeutung dort vorfinden. Carina verließ das Hotel dieses Mal durch den Vordereingang. Sie versuchte sich an einem Lächeln gegenüber der Frau des Hotelbesitzers, was allerdings ziemlich schief ausfiel. Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichte sie dann auch schon das gewünschte Ziel. Die Türglocke läutete einmal leise, als sie eintrat und sofort drehte sich ein roter Haarschopf nach ihr um. Toms Gesicht, das mit unzähligen Sommersprossen übersäht war, verzog sich zu einem Lächeln. „Schönen guten Tag, Miss. Dasselbe wie die letzten Tage?“ Carina musste grinsen und dieses Mal war es sogar echt. Mit seiner unbekümmerten, lockeren Art erinnerte er sie ein wenig an Alice. „Ja, das wäre super. Mit extra viel Sahne, bitte.“ Er lachte. „Sie hatten wohl einen anstrengenden Tag, was?“ „Kann man wohl so sagen“, seufzte sie und setzte sich in eine der leeren Sitznischen, die vom Eingang her nicht einsehbar war. Den Mantel behielt sie zur Sicherheit an. Falls sie schnell weg musste… „Außerdem bin ich gerade echt nicht dafür in Stimmung, dass mich jeder anstarrt wie ein Tier im Zoo.“ Eine Schwangerschaft war ja schön und gut, aber musste ihr deswegen denn wirklich jeder hinterher schauen? Wenn sie noch in ihrer Zeit wäre, dann hätte sie es vielleicht nicht gestört. Ganz im Gegenteil, wahrscheinlich hätte die 19-Jährige es sogar genossen. Doch hier im 19. Jahrhundert war es einfach viel zu auffällig. Vor allem dann, wenn man auf der Flucht war. Dann wirkte es eher wie ein großes Signalfeuer. „Jetzt hab ich ganz vergessen Grell zu fragen, was er eigentlich für einen Plan hatte wo ich in Zukunft leben soll. Beziehungsweise, ob es überhaupt klappen könnte, er musste da doch noch irgendwas nachprüfen.“ Nachdenklich massierte sie sich die Stirn, wodurch die Kopfschmerzen etwas abgemildert wurden. Noch so eine Sache, über die sie sich Gedanken machen musste. Die Schnitterin sehnte sich den Tag herbei, an dem sie sich über nichts mehr Sorgen machen musste. Der Tag, an dem sie ein neues Zuhause hatte, ihr Kind auf der Welt war und sie einfach nur die glückliche Mutter von nebenan sein konnte. War das denn wirklich zu viel verlangt? Hasste Gott die Shinigami wirklich so sehr, dass er ihnen nicht das kleinste Quäntchen Glück gönnte? Gab es überhaupt einen Gott? Komischerweise erinnerte sie sich plötzlich an einen ihrer ersten Gedanken, den sie kurz nach ihrem Eintreffen in diesem Jahrhundert gedacht hatte. „Wenn es einen Gott gibt ist er ein verdammtes Arschloch.“ Ja, vermutlich hatte sie damals damit gar nicht so falsch gelegen. Doch zu jenem Zeitpunkt war sie ein Mensch gewesen, somit lag ihre Pechsträhne wohl nicht an ihrem Wesen. „Nein, ich bin einfach nur ein gottverdammter Pechvogel“, dachte die Seelensammlerin sarkastisch, schaute jedoch im nächsten Moment überrascht auf, als eine dampfende Tasse direkt vor ihrer Nase abgestellt wurde. „Mit extra viel Sahne“, grinste der Junge ihr entgegen, woraufhin Carina sich etwas entspannte. „Danke, das hab ich jetzt auch wirklich nötig“, gestand sie und kramte in ihrer Manteltasche nach ein paar Münzen, die sie dem angehenden Kellner in die Hand drückte. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Miss? Sie sehen ein wenig blass aus.“ „Nein, nein, mir geht es gut. Ich hatte nur ein wenig Stress heute, das ist alles.“ Sie lächelte ihn nun ihrerseits an, woraufhin sich die Miene des Rothaarigen aufhellte und er wieder hinter der Theke verschwand. „Mit diesem sonnigen Gemüt besteht er seine Ausbildung sicherlich mit Bravour und wird übernommen. Wenigstens einer in diesem Raum, bei dem alles glatt läuft.“ Carina nahm die heiße Tasse vorsichtig in die Hand und betrachtete für einen Moment nur die Sahne auf der Oberfläche, die durch die Hitze bereits ein wenig verlaufen war und dem Kakao eine schaumige Note gab. Das Kakaopulver, das noch über die Sahne drübergestreut worden war, gab dem ganzen Bild den letzten Schliff. Erwartungsvoll nahm sie einen langsamen Schluck und genoss gleich darauf das intensive Aroma der flüssigen Schokolade auf ihrer Zunge. „Die erste gute Idee, die ich heute hatte“, dachte sie seufzend und schlürfte die Sahne vorsichtig vom Getränk herunter. 5 selige Minuten später setzte sie die nun leere Tasse auf den Tisch und tupfte sich mit einer dunkelblauen Serviette den Mund ab. Nun war ihr beinahe schon ein bisschen zu heiß in dem Mantel, aber sie würde ohnehin nicht mehr lange bleiben. „Am besten haue ich mich jetzt gleich ein wenig ins Bett und überlege dann morgen zusammen mit Grell und Alice, wie es jetzt weitergeht. Wenn ich schon einmal in Deutschland bin, dann könnte ich ja auch eine kleine Rundreise machen. Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Jetzt war sie immerhin noch am Anfang ihrer Schwangerschaft. Im letzten Drittel würde reisen schwierig werden und nach der Geburt hatte sie sicherlich ganz andere Sachen im Kopf. Die Vorstellung, dass sie die ihr bekannten Städte so lange vor ihrer eigenen Zeit besuchen konnte, hatte durchaus einen gewissen Reiz. Das Läuten der Türglocke, als ein weiterer Gast das Café betrat, riss die Shinigami aus ihren Gedanken. Sie schüttelte müde den Kopf. Grell hatte Recht, sie musste sich dringend ausruhen und diese ganzen Gedanken auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, bevor sie noch gänzlich verrückt wurde. Außerdem wurde es draußen schon fast dunkel… Langsam erhob sie sich von ihrem Sitzplatz und ließ einmal den Kopf kreisen, um ihren verspannten Nacken etwas zu bewegen. Schritte ertönten hinter ihr im Gang und in der festen Erwartung, dass es Tom war, der sich von ihr verabschieden wollte, drehte Carina sich lächelnd um. Das Lächeln gefror ihr sogleich auf den Lippen. Lange, schwarze Fingernägel hatten sich auf das Polster der Sitzecke gelegt, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Der dazugehörige Körper befand sich noch außerhalb des Blickfeldes der Nische, konnte sie somit noch nicht einsehen. Auch Carina konnte die Person noch nicht sehen, aber das musste sie auch gar nicht. Diese filigranen Hände würde sie unter Tausenden wiedererkennen. Doch für jegliche Reaktionen ihrerseits war es bereits zu spät. Schon im nächsten Augenblick trat der silberhaarige Bestatter in ihre Sichtweite und sie somit automatisch in seine. Plötzlich war es wie in einem dieser lächerlichen Filme, wo alles in Zeitlupe ablief. Die Schnitterin konnte sehen, wie er ihr langsam sein Gesicht zuwandte und wie sich seine Augen noch in derselben Sekunde entsetzt weiteten. Definitiv hatte er nicht damit gerechnet sie hier anzutreffen, so viel stand fest. Ebenso stand fest, dass sein Gesichtsausdruck ihren perfekt widerspiegelte. Auch ihre Augen waren groß geworden, ihre Hände hatten sich an der Tischkante versteift, ihr ganzer Körper hatte aus heiterem Himmel jegliche Regung eingestellt. Sie öffnete den Mund, doch kein Wort verließ ihre Lippen. Es hatte ihr glatt die Sprache verschlagen. Dann endete die Zeitlupe und somit auch die Zeit, die sie gehabt hätte, um sich irgendetwas Sinnvolles einfallen zu lassen. Irgendetwas, was sie hätte tun oder sagen sollen. Doch ihr Kopf war leer, vollständig leer. Sie sah ihn lediglich an. Beobachtete, wie er den Moment der Überraschung schließlich halbwegs überwand und sich seine phosphoreszierenden Augen anschließend unheilvoll verengten. Verdammt, das war gar nicht gut… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)