Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 53: Die Abreise ----------------------- Der nächste Morgen kam dann doch schneller, als Carina vermutet hatte. Um 09:00 Uhr stand sie auf, stellte sich unter die Dusche und wusch sich ausgiebig. Anschließend gönnte sie sich zwei Brötchen und eine Tasse Kakao. Nach all den Jahren mochte sie immer noch nicht den herben Geschmack von Kaffee. Es konnten 90 % Milch und nur 10 % Kaffee in der Tasse sein, trotzdem mochte sie das Heißgetränk nicht. Was das anging, passte sie wirklich nicht in das Bild einer Deutschen. Dann ging sie gedanklich noch einmal nach und nach alle Sachen durch, die sie mitnehmen würde. Das Kommunikationsgerät, Wechselkleidung, ihre Death Scythe, die gesamten Ersparnisse der letzten Jahre. Dazu noch einige Erinnerungsfotos, die jeweils Grell und Alice mit ihr zusammen zeigten. Das alles packte sie in eine schwarze, kleine Tasche, die sie holen würde, sobald sie ihre Mission im Institut entgegen genommen hatte. Schlussendlich landete ihr Blick auf den goldenen Medaillons des Undertakers. Natürlich hatte Carina inzwischen mehr als genug Zeit gehabt, um sich die einzelnen Memorial lockets genauer anzusehen. Es waren sieben an der Zahl und auf jedem einzelnen stand ein Name plus das dazugehörige Sterbedatum. Einige von ihnen waren bereits sehr alt. So alt, dass normale Menschen bestimmt davon ausgegangen waren, dass sie Erbstücke waren. Undertaker hätte sie als normaler Mensch unmöglich gekannt haben können. Aber Carina wusste es besser. Das hier waren Namen von Männern und Frauen, die ihm irgendwann in seiner Vergangenheit einmal nahe gestanden hatten, auf die eine oder andere Weise. Und natürlich hing der wichtigste Name genau in der Mitte. Das Medaillon von Claudia P. sah von außen aus genauso aus, wie die anderen Anhänger. Doch Carina konnte die besondere Feinarbeit erkennen, die der Totengräber hier wieder einmal unter Beweis gestellt hatte. Die schwungvolle Eingravierung des Namens und des Sterbedatums. Die Locke rabenschwarzen Haares, die kunstfertig in eine perfekte 8 gelegt worden war. Waagerecht also das Symbol für Unendlichkeit. Und Carina wusste, was in diesem Zusammenhang bedeutete. „Unendliche Liebe. Für immer vereint…“ Wenn Cedric es tatsächlich schaffen würde sie zurückzuholen, dann wären sie das vermutlich tatsächlich. Die Blondine fluchte innerlich. Wäre das hier ein scheiß Liebesfilm, dann wäre es vielleicht romantisch und die Frauen würden tonnenweise vor dem Fernseher anfangen in ihre Taschentücher zu schluchzen, während alle männlichen Personen im Raum genervt mit dem Kopf schüttelten. Aber das war es nicht. Wenn das hier ein Film wäre, würde das Genre Drama viel besser passen. Ein Seufzen glitt über ihre Lippen und sie packte die Kette tief nach unten in die Tasche. Momentan wollte sie sich mit diesen Gedanken wirklich nicht befassen. Zurzeit gab es wichtigere Dinge. „So. Ich glaube das war’s dann“, murmelte sie sich selbst zu und zog den Reißverschluss glatt zu. Kurz bevor die Standuhr in ihrem Schlafzimmer 12:00 Uhr schlug, stand Grell vor ihrer Tür. Er wirkte aufgeregt und mindestens genauso nervös wie sie selbst. Seltsamerweise sorgte seine offensichtliche Panik dafür, dass sie selbst etwas ruhiger wurde. „Lass mich raten. Du hast auch nicht sonderlich gut geschlafen?“, fragte sie ihn, woraufhin er lediglich schnaubte. „Was dachtest du denn? Du stürzt dich in ein gefährliches Abenteuer und ich schlafe durch? Also bitte…“ Jetzt war es an Carina zu schnauben. „Abenteuer würde ich das ja jetzt nicht nennen. Eher ein ziemlich dämliches Wagnis, was mich höchstwahrscheinlich den Kopf kosten wird.“ „Hach, du immer mit deiner negativen Einstellung. So kann es ja nur schief gehen. Denke positiv!“ „Würde ich ja gerne, aber die letzten Jahre haben es nie sonderlich positiv mit mir gemeint, oder etwa nicht?“ Darauf wusste selbst Grell nichts mehr zu erwidern. Carina seufzte. „Nun ja, außer in einer Sache vielleicht.“ Grell runzelte die Stirn. „In welcher?“, fragte er interessiert und nippte an seinem Kaffee, den Carina ihm beim Eintreten vor die Nase gestellt hatte. Sie lächelte. „Ich habe dich und Alice kennengelernt“, antworte sie, was zur Folge hatte, dass der Rothaarige sie anstrahlte wie eine Hundert Watt Birne. Mehrere Momente schwiegen sie, während Grell seinen Kaffee austrank und Carina ihren Gedanken nachhing. Automatisch schaute sie auf die Uhr. „Es wird Zeit. Ich sollte rüber gehen und meine Aufträge abholen“, meinte sie schließlich und dieses Mal war es ein mehr als nur unangenehmes Schweigen, das sich nun über den Raum legte. Grell schluckte, sein Gesicht plötzliche eine Spur blasser. Die drei Shinigami hatten sich dazu entschieden, dass sie sich nacheinander voneinander verabschiedeten. Falls jemand Alice und Grell zusammen mit Carina sah, kurz bevor sie von der Bildfläche verschwand, konnte das ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die 19-Jährige hatte gewusst, dass ihr der Abschied schwer fallen würde, aber mit dem plötzlich stechenden Schmerz in ihrer Brust hatte sie nicht gerechnet. Ohne dass sie es wollte, kullerten aus heiterem Himmel dicke Tränen über ihre Wangen. Grell starrte sie schockiert an, während die Schwangere sich sofort über die Augen wischte. „Entschuldige, das sind die Hormone“, schluchzte sie, als die Tränen nicht versiegen wollten. Doch auch der Rothaarige konnte nun nicht mehr an sich halten. Sein Make-up verlief ein wenig, als er nun ebenfalls mit bebender Unterlippe die salzigen Tropfen nicht mehr zurückhalten konnte. „Jetzt hast du’s geschafft, ich heule“, schniefte er und Carina musste trotz ihrer nassen Wangen anfangen zu lachen. Sie ging die zwei Schritte zu ihm hinüber und schloss ihren besten Freund in die Arme. „Danke, Grell. Danke für alles“, flüsterte sie und drückte ihn fester, als er die Umarmung erwiderte. „Versprich mir, dass du auf dich aufpasst. Dass du auf euch aufpasst. Sonst werde ich keine Nacht mehr ruhig schlafen können.“ „Ich verspreche es“, antwortete sie und hob den Kopf. „Ich werde dich jeden Tag anrufen, in Ordnung? Dann weißt du, wie es um uns steht und musst dir keine Gedanken machen.“ Er nickte und löste die Umarmung, wirkte aber verständlicherweise immer noch besorgt. Carina lächelte verschmitzt. „Keine Sorge, ich werde schon nicht zulassen, dass deinem Patenkind etwas passiert.“ Seine Augen weiteten sich. „W-was?“, stotterte er und schaute sie bestürzt an. „D-du willst, dass ich der Patenonkel werde? I-ich?“ Seine offensichtliche Fassungslosigkeit brachte die Blondine zum Lachen. „Natürlich du“, bejahte sie seine Frage. „Ich könnte mir keinen besseren Patenonkel für mein Baby vorstellen als dich.“ Sie lachte erneut, als sie sein Gesicht sah. „Warum weinst du denn jetzt schon wieder?“ „Weil du blöde Kuh mich mit so etwas total glücklich machst. Weil ich niemals gedacht habe, dass mich irgendjemand zum Patenonkel eines Kindes machen würde. Und weil du gehst. Ich hasse es. Manchmal hasse ich unsere Regeln und Gesetze.“ „Ich weiß“, wisperte Carina. „Ich weiß…“ „Aber lass mich raten“, sagte Grell plötzlich, „wenn ich Patenonkel werde, dann darf ich mich sicher mit der kleinen Nervensäge herumärgern, die Patentante werden wird, richtig?“ Carina grinste unschuldig. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen“, lautete ihre Antwort, woraufhin der Rothaarige aufstöhnte. „Ich wusste, irgendeinen Haken musste es an der Sache geben.“ „Jetzt stell dich mal nicht so an. Ich weiß genau, dass du sie mittlerweile gar nicht mehr so schrecklich findest wie zu Anfang.“ „Möglich, aber gar nicht mehr so schrecklich bedeutet noch lange nicht gut.“ Sie seufzte. „Bitte schlagt euch nicht die Köpfe ein, während ich weg bin.“ Grell nickte und schaute auf die Uhr. „Du musst jetzt los.“ „Ja“, murmelte sie schwermütig und öffnete die Wohnungstür. Die beiden Schnitter traten hinaus und sahen sich noch ein letztes Mal an. Carina lächelte. „Wir sehen uns, Grell“, sagte sie, als würden sie sich schon bald nach getaner Arbeit wieder treffen. Er erwiderte ihr Lächeln. „Ja. Bis später, Carina.“ Tief durchatmend drehte die junge Frau sich um und ging in Richtung Institut, wobei sie sich dazu zwingen musste sich nicht nach ihrem besten Freund umzudrehen. Wenn sie auch nur für eine Sekunde zurückblicken würde, dann würde das alles um das Hundertfache schwerer machen, das wusste sie. Also hielt sie ihren Blick stur geradeaus und beschleunigte ihre Schritte, das erneute Brennen in ihren Augenwinkeln ignorierend. Als sie nach nervenaufreibenden Minuten endlich am Institut angekommen war, ging sie zielgerichtet nach vorne zur Rezeption und sah in das – ihr zugeteilte – Postkörbchen. Diese Prozedur lief seit Ende ihrer Ausbildung immer gleich ab. Morgens holte sie sich hier ihre Aufträge ab, am Abend desselben Tages legte sie ihren Bericht in genau das gleiche Fach, nur um am nächsten Tag dann ihre neuen Aufträge daraus entnehmen zu können. Ein ermüdender Vorgang, wenn man es mal genau betrachtete. Die Frau, die zurzeit an der Rezeption saß, schenkte ihr ein freundliches Nicken, das Carina erwiderte. Wenn sie nur wüsste, dass es das allerletzte Mal war, dass Carina dieses Kästchen leerte… Mit betont normal großen Schritten verließ sie den weitläufigen Gebäudekomplex wieder und ging den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie ihre Wohnungstür mit etwas zittrigen Fingern aufschloss, erwartete sie bereits Alice. Die Schwarzhaarige saß an ihrem Esstisch und hatte lässig die Beine übereinander geschlagen, wobei nur ihr immer wieder wippender linker Fuß verritt, dass sie nervös war. Sie sah auf und stieß erleichtert die angehaltene Luft in ihrer Lunge aus. „Da bist du ja. Und, hat alles soweit geklappt?“ Carina nickte. „Mich hat außer der Rezeptionistin keiner gesehen, es lief wie am Schnürchen. Aber das ist ja auch der Teil des Plans, der noch am einfachsten war. Die schwierigen Teile kommen erst noch.“ „Stimmt auffallend“, meinte Alice und schaute auf ihre blassgoldene Armbanduhr. Ein trauriger Glanz erschien in ihren Augen. „Du musst los, sonst verpasst du noch die Fähre.“ Carina nahm die gepackte schwarze Tasche hoch, hängte sie sich über die rechte Schulter und blieb dann unschlüssig vor ihrer besten Freundin stehen. Dieser Abschied fiel ihr seltsamerweise noch schwerer als der von Grell. Es erinnerte sie daran, dass sie schon mal eine Freundin zurückgelassen hatte und es jetzt wieder tun musste. Nur, dass es dieses Mal aus freien Stücken heraus passierte. „Ich will das hier gar nicht schwerer machen als es ist, aber ich möchte dich noch etwas fragen“, begann sie und die Schwarzhaarige hob eine Augenbraue hoch, als Zeichen dafür, dass sie zuhörte. „Ich habe Grell gerade eben schon gesagt, dass er Patenonkel wird und…also, ich würde mich freuen, wenn du der Gegenpart dazu wärst“, endete sie, seltsamerweise ein wenig peinlich berührt. „Patentante? Ich?“, verblüfft schaute Alice ihre Freundin an. Man konnte ihr ansehen, dass sie damit nicht gerechnet hatte. „Bist du dir auch ganz sicher, Carina? Ich meine…das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe.“ Angesprochene lächelte. „Ich bin mir sicher. Wenn mir irgendwann etwas zustoßen sollte und…und Cedric das Kind nicht will“, sie nahm einen tiefen Atemzug, „dann könnte ich mir keine zwei besseren Menschen vorstellen, die sich statt meiner um es kümmern. Ich vertraue euch, voll und ganz.“ Alice grinste. „Du meinst Shinigami“, sagte sie, nickte dann aber gleich im Anschluss. „Es würde mich freuen die Patentante von deinem Baby zu werden.“ Carina strahlte sie an, Erleichterung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. „Aber lass mich raten. Grell hat geheult, oder?“ „Natürlich hat er. Ich aber auch und wenn wir uns jetzt nicht verabschieden, dann fange ich wieder an.“ Die beiden Frauen schlossen die Arme umeinander und ließen sich nicht sofort wieder los. „Danke, Alice. Danke für alles“, wiederholte die 19-Jährige die Worte, die sie zuvor bereits an Grell gerichtet hatte. Alice schob sie ein wenig von sich weg, die Augen verdächtig glitzernd. „Ich hab das alles gern gemacht, Carina. Du bist meine beste Freundin und dafür sollte ich dir danken. Danke, dass du mich aus dieser Langeweile herausgeholt hast. Wahrscheinlich wäre ich schon längst wahnsinnig geworden ohne dich.“ „Kann ich nur zurückgeben“, erwiderte die Schnitterin und drückte die Schultern ihrer Freundin noch einmal fest. „Ich melde mich bei dir, versprochen. Es wird schon alles gut gehen.“ Alice nickte und ging vor zur Wohnungstür. „Bis dann, Carina“, sagte sie so optimistisch wie es ihr möglich war und zwinkerte ihr einmal kurz zu. „Ja. Bis dann, Alice.“ Die schwarzhaarige Shinigami trat über die Schwelle und somit auch aus Carinas Blickfeld hinaus. Mehrere Sekunden lang blieb sie selbst noch in ihrer Wohnung stehen, prägte sich das Bild ein und versuchte innerlich loszulassen. Das hier war das letzte Mal, dass sie an diesem Ort sein würde. An diesem Ort, der seit dem Ende ihrer Ausbildung ihr Zuhause gewesen war. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie Grell damals zusammen mit ihr die Wand im Schlafzimmer rot angestrichen hatte. Nur, um anschließend über den Eimer mit der restlichen roten Farbe zu stolpern, sodass sie danach noch einen neuen Teppich kaufen gehen mussten. Oder, als Alice und Grell ihr beim Möbelstellen geholfen hatten und die beiden Streithähne sich natürlich darüber gezankt hatten, wo nun welches Möbelstück stand und wo nicht. Auch, wenn das Leben als Shinigami hier nicht das Beste gewesen war, sie würde diese Wohnung doch irgendwie vermissen. Mit einem nervösen Flattern in der Brust ging sie auf die Wohnungstür zu, schloss sie hinter sich und atmete noch einmal tief durch. „Auf geht’s“, murmelte sie und schloss die Augen, um bereits im nächsten Moment auf den Straßen Londons zu stehen. Es war ein warmer Sommertag und die Sonne strahlte unablässig vom Himmel herab, ohne dass auch nur die geringste Wolke sie daran hinderte. Carina blinzelte, musste sich zuerst an das grelle Licht gewöhnen. Sie war relativ nahe am Hafen ausgekommen, konnte von weitem sogar schon ihre Fähre sehen. Einige Leute tummelten sich bereits am Steg und so mischte sich die 19-Jährige unbemerkt unter die Menschentraube. Es dauerte wenige Minuten, dann konnte sie sich problemlos ein Ticket kaufen und sich anschließend unter einem falschen Namen auf die Passagierliste eintragen lassen. „Bitte hier entlang, Miss“, führte sie kurze Zeit später ein Schiffsjunge, vermutlich 15 oder 16 Jahre alt, durch die Flure des ersten Unterdecks. Er hatte ihr ganz gentlemanlike die Tasche abgenommen und führte sie nun zu ihrer kleinen Kabine, die für so eine kurze Überfahrt allerdings vollkommen ausreichte. „Kann sich sonst noch etwas für sie tun, Miss?“, fragte er höflich und schaute Carina freundlich lächelnd in die Augen, die nun wieder marineblau waren. „Nein, das wär’s soweit. Vielen Dank.“ Er nickte kurz und verschwand dann wieder in Richtung Deck. Ein schweres Seufzen entfuhr Carina, als sie aufs Bett sank. Bis jetzt lief alles genau nach Plan und so langsam fiel auch ein großer Teil der ersten Anspannung von ihr ab. Dennoch, so richtig aufatmen würde sie erst, wenn sie endlich wieder in Deutschland war. „Kaum zu fassen. Ich kehre tatsächlich zurück, nach so langer Zeit. Und trotzdem komme ich nicht nach Hause. Nicht wirklich jedenfalls.“ Selbst, wenn sie statt Baden-Baden ihren Heimatort aufsuchen würde, dort würde nichts auf sie warten. Ihr Zuhause in Deutschland lag nach wie vor im 21. Jahrhundert. Die Blondine wusste nicht einmal, wo ihre Vorfahren zur jetzigen Zeit lebten, denn mit ihrem Stammbaum hatte sie sich nie wirklich genauer beschäftigt. Aber es interessierte sie auch nicht. Wenn sie jemanden aus ihrer Familie sehen wollte, dann waren es ihre Eltern. „Dann könnte ich mich bei ihnen entschuldigen. Ihnen sagen, dass ich sie liebe. Wieder mit ihnen sprechen.“ Seit sie schwanger war, dachte sie wieder vermehrt über ihre eigene Familie nach. Sie würde ihrem Kind niemals Großeltern bieten können. Noch eine Tatsache, die sie mehr als alles andere bedauerte. Sicherlich hätten ihre Eltern ihr Baby von vorne bis hinten verhätschelt. Das Schwanken der Fähre riss Carina aus ihren Gedanken. Scheinbar hatten sie sich soeben in Bewegung gesetzt. Neugierung begab sie sich ein weiteres Mal an Deck und tatsächlich, das kleine Passagierschiff verließ nach und nach den Hafen Londons. Sie hoffte, dass diese Schiffsfahrt besser wurde als die Letzte, denn ansonsten wäre das auf jeden Fall ihre letzte Seereise. Mehrere Minuten lang blieb die Seelensammlerin lediglich genau dort stehen, wo sie war und beobachtete, wie die Hauptstadt Englands immer kleiner und kleiner wurde. Irgendwie würde sie auch London vermissen, da war sie sich sicher. Ihre Hand wanderte sanft über ihren Bauch. „Jetzt heißt es nur noch du und ich“, flüsterte sie und versuchte nicht an Alice und Grell zu denken, die in der Shinigami Welt nun mit ziemlicher Sicherheit auf glühenden Kohlen saßen und auf eine Rückmeldung von ihr warteten. Plötzlich ergriff sie tief in ihrer Magengegend eine Welle der Übelkeit. Die Blondine schaffte es gerade noch an die Reling zu stürzen und sich im nächsten Moment keuchend darüber zu lehnen, als sie ihr Frühstück spuckend wieder von sich gab. „Das ist nicht dein Ernst“, ächzte sie und verblieb mit hängendem Kopf über dem Geländer, nicht einmal sicher mit wem sie hier überhaupt genau sprach. 11 Wochen hatte sie nicht ein einziges Mal Morgenübelkeit gehabt und kaum hatte sie ihr sicheres Heim verlassen, da ging es los? Das war doch ein schlechter Witz! Sie stöhnte, als sie das Brennen in ihrer Kehle spürte, das von der Magensäure verursacht wurde. „Wenn das dabei bleibt, dann wird das hier eine sehr unangenehme Überfahrt…“ Schlussendlich wurde es dann doch gar nicht so schlimm. Zwar ergriff sie noch das ein oder andere Mal der Brechreiz – dem sie dann auch immer beinahe sofort nachgeben musste – aber es hielt sich in Grenzen. Die Fahrt verlief ruhig und ohne Komplikationen, sodass die junge Frau bereits nach etwas mehr als 30 Stunden deutschen Boden betreten konnte. Hamburg war bereits jetzt – im Jahre 1889 – mehr als imposant und verströmte den typischen Großstadtflair. Den Hafen konnte man keinesfalls mit dem Londons vergleichen. Dieser hier war mindestens doppelt so groß, Schiffe liefen an allen Ecken und Enden aus oder kamen wieder zurück. Die Luft roch leicht salzig und Carina konnte einige Fischhändler sehen, die sich am Rande niedergelassen hatten und ihre Ware anpriesen. Bedauerlich, dass sie im 21. Jahrhundert nie selbst in Hamburg gewesen war. Sicherlich hatte diese Hansestadt in etwas mehr als 120 Jahren noch einiges mehr zu bieten. Doch sie war nicht hier, um eine Besichtigungstour zu machen, geschweige denn Urlaub. Sie musste sich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Zum Beispiel ihren Zug zu bekommen. Keine halbe Stunde später bewunderte sie die Dampflokomotive, die im Hauptbahnhof von Hamburg bereit dazu war loszufahren. „Wow“, flüsterte sie und freute sich nun doch ein wenig auf die Fahrt. Die Züge in der Neuzeit hatten sie nie sonderlich beeindruckt, aber dieser hier sah großartig aus und erinnerte sie total an den Hogwarts Express aus Harry Potter. Auch die kleinen, in sich abgeschlossenen Abteile vermittelten ihr ein Gefühl der Sicherheit. Hier waren nicht wie in 120 Jahren alle Plätze direkt nebeneinander, die Menschen standen nicht dicht aneinander gedrängt und bekamen Platzangst oder unangenehme Gerüche in die Nase. Carina teilte sich ihr Abteil mit einer älteren, klein gedrungenen Frau und einer jungen Mutter mit ihrem 2-jährigen Sohn. Schnell erfuhr sie von der 55-Jährigen, dass diese seit einem Jahr Witwe war und sich nun in Baden-Baden von dem ganzen Stress und dem Verlust ihres Mannes erholen wollte. „Und Liebes? Was führt sie nach Baden-Baden?“ Die Schnitterin zögerte kurz, ehe sie diplomatisch antwortete. „Es geht um eine Familienangelegenheit.“ Streng genommen war das nicht einmal gelogen und Carina war froh, als die ältere Dame nicht genauer nachfragte. Viel interessierter fand sie ohnehin die junge Frau mit ihrem Kind. Der kleine, schwarzhaarige Junge saß auf dem Schoß seiner Mutter und spielte mit einem kleinen Stoffteddy, der an einigen Stellen schon arg mitgenommen aussah. Er japste freudig und schüttelte sein Kuscheltier immer wieder auf und ab, während seine Mutter lächelnd dabei zusah und sanft mit ihren Bein auf und ab wippte. Carina lächelte, ihr gefiel dieses Bild. Wenn alles gut ging, dann konnte sie so etwas vielleicht auch haben. Bereits jetzt stellte sie sich vor wie es wäre, wenn sie ihr Baby endlich im Arm halten konnte. Was es werden würde und wie es aussah. Doch leider musste sie sich diesbezüglich noch einige Zeit lang gedulden. Die Zugfahrt verlief ebenso glatt wie die Überfahrt mit dem Schiff. Zwar quengelte der Junge ab und zu und die ältere Dame konnte manchmal einfach nicht ihren mehr als nur gesprächigen Mund halten, aber alles in allem war Carina erleichtert, dass sie immer noch unentdeckt geblieben war. Mitten in der Nacht schlich sie sich stets auf den Flur vor dem Abteil, um mit Alice und Grell zu sprechen. Die Beiden waren jedes Mal äußerst erleichtert ihre Stimme zu hören und berichteten ihrerseits, was in der Welt der Shinigami vor sich ging. Ihr erneutes Verschwinden hatte für einen ziemlichen Tumult unter den Todesgöttern gesorgt und vor allem William war außer sich gewesen. Alice berichtete ihr, dass Grell seine Rolle hervorragend gespielt hatte und vor allen Anwesenden ebenfalls einen Tobsuchtsanfall mit anschließendem Heulkrampf vom allerfeinsten bekommen hatte. Und wenn Alice das schon zugab, dann war Carina sich sicher, dass niemand die Maskerade durchschaut hatte. Jedenfalls suchten nun alle verfügbaren Kräfte, die nicht mit dem Einsammeln von Seelen beschäftigt waren, nach ihr. Grell sagte ihr allerdings, dass sie sich zurzeit vollkommen auf England konzentrierten und sie sich daher noch überhaupt keine Sorgen machen musste. „Bleib bitte dennoch vorsichtig. Ich würde es nicht ausschließen, dass sie die Suche nach dir in der nächsten Woche oder der darauffolgenden auch auf andere Länder ausweiten. Halte dich also so gut es geht bedeckt.“ Carina nickte, ehe ihr einfiel, dass Grell sie ja überhaupt nicht sehen konnte. „Ja, das mache ich. Morgen kommt der Zug in Baden-Baden an. Sobald ich eine Pension gefunden habe, melde ich mich wieder bei euch.“ „Gut. Sei vorsichtig.“ Die Blondine lächelte, denn ihre beiden Freunde sagten diese Worte immer am Abschluss eines jeden Gespräches. „Du auch. Bis morgen“, gab sie die entsprechende Antwort und legte mit einem leisen Piepsen der Tastatur auf. Lautlos begab sie sich wieder in ihr Abteil, wo ihre Mitreisende bereits friedlich vor sich hin schlummerten. Die Schwangere setzte sich an ihren Platz am Fenster und schaute der Landschaft draußen dabei zu, wie sie rasch vorbeizog. Morgen. Morgen schon würde sie ihr Ziel erreichen und erst dann ging der richtig schwere Part los. Sie konnte nicht leugnen, dass sie gleichzeitig nervös und auf eine seltsame Art und Weise auch aufgeregt war. Wenn alles gut ging, dann würde sie Cedric wiedersehen. Etwas, von dem sie nicht geglaubt hatte, dass es noch einmal passieren würde. Jedenfalls nicht, als sie ihn damals am Weston College zurückgelassen hatte. Noch immer konnte sie das Bild vor ihrem inneren Auge sehen, wie er mit nacktem Oberkörper friedlich schlafend im Bett lag, die Decke bis zur Hüfte hochgezogen und die Haare etwas wirr auf dem Kissen verteilt. Ja, Carina hatte wirklich gedacht, dass dies die letzte Erinnerung an ihn sein würde. Wie sehr sie sich da mal wieder getäuscht hatte. Müde schloss sie ihre Augen und ließ sich von dem sanften Ruckeln des Zuges in den Schlaf wiegen. Die nächsten Tage würden anstrengend werden, da konnte sie sich ruhig noch ein paar Stunden Frieden gönnen… „Liebes. Wachen Sie auf Liebes, der Zug fährt gerade in den Hauptbahnhof ein.“ Carina wurde abrupt aus ihren Träumen herausgerissen, die sie in der gleichen Sekunde wieder vergaß, und richtete sich ruckartig auf. Noch immer leicht verschlafen schaut sie verwirrt zu der alten Dame hinauf, die sie freundlich lächelnd anschaute. „Sie haben aber einen festen Schlaf meine Liebe, dass muss ich Ihnen lassen. Das war jetzt schon mein dritter Versuch Sie aufzuwecken, so langsam machte ich mir schon Sorgen.“ Die Blondine begann nervös zu lachen. „Ja, ich habe einen sehr festen Schlaf. Verzeihen Sie bitte.“ Gott, also hatte sie tatsächlich auch so einen schrecklich tiefen Schlaf wie Grell und der Bestatter. Schien wohl wirklich eine Shinigamisache zu sein. Schnell stand sie auf und versuchte die blonden, etwas zerzausten Haare zu einer halbwegs annehmbaren Frisur zu richten. Die Mutter und ihr kleiner Sohn hatten das Abteil bereits verlassen und auch die Witwe verabschiedete sich nun, wünschte ihr alles Gute und verschwand gleich darauf in den Flur. Carina hingegen blieb noch einige Minuten sitzen, denn sie wollte nicht mitten in das Gedränge hineinlaufen. Ihre Augen richteten sich auf den Bahngleis, der nun voller Menschen war. Mütter mit ihren Kindern, die laut jauchzend ihren Vater begrüßten. Liebespaare, die einander in die Arme fielen und sich küssten, als hätten sie sich Jahrzehnte nicht gesehen. Ein deutscher Schäferhund, der quer durch die Menge rannte und freudig sein Herrschen begrüßte. Wie schön wäre es, wenn auch jemand für sie dort stehen und auf ihre Rückkehr warten würde… Seufzend erhob die Schnitterin sich von ihrem Platz, nahm die schwarze Tasche von der oberen Ablage herunter und begab sich nun auch zu den Ausgangstüren, die ins Freie führten. Es dauerte keine zwei Stunden, da hatte sie bereits eine Pension gefunden und ein recht nett aussehendes Einzelzimmer bezogen. Die Wände waren in einem warmen Beige gestrichen, der Boden mit einem angenehm weichen, dunkelblauen Teppich belegt. Neben einem Bett befanden sich noch ein Schreibtisch samt Stuhl, ein Kleiderschrank und ein in die Wand eingelassener Safe im Zimmer. Pro Etage gab es ein Badezimmer, Essen gab es dreimal täglich im Speisesaal. Da sie die meiste Zeit sowieso außer Haus sein würde, reichte Carina das vollkommen aus. Sie ließ ihre Tasche auf das Bett fallen und erledigte nun Punkt für Punkt ihre innerlich zurechtgelegte Liste. Als erstes räumte sie ihre Sachen in die dafür vorgesehenen Schränke ein. Anschließend wusch sie sich ausgiebig im Bad, um den Dreck der doch recht langen Zugfahrt von sich abzubekommen. Schlussendlich rief sie nacheinander Alice und Grell an und versicherte ihnen, dass es ihr gut ging und sie heil in Baden-Baden angekommen war. Als auch das erledigt war, ließ die 19-Jährige sich kurz aufs Bett fallen und dachte nach. Es war nun kurz nach 12:00 Uhr mittags, sie hatte also noch genug Zeit um die Stadt ein wenig zu erkunden und sich schon mal nach ungewöhnlichen Ereignissen bzw. einem silberhaarigen Mann umzuhören. „Na gut“, meinte sie optimistischer als sie sich eigentlich bei der ganzen Sache fühlte, legte eine Hand auf ihren Bauch und sprang mit Schwung vom Bett auf. „Dann wollen wir mal deinen Papa suchen gehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)