Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 47: Das Lügengerüst --------------------------- Grell war mit seinen Nerven am Ende. Nein, noch schlimmer, er war vollkommen fertig mit der Welt. Eigentlich war er der festen Überzeugung gewesen, dass sich sein Nervenkarussell wieder beruhigen würde, sobald er Carina gefunden hatte. Doch da hatte er sich in mehr als nur einer Hinsicht getäuscht. Zuerst einmal war da die Tatsache, dass schlussendlich nicht er sie, sondern sie ihn gefunden hatte. Bei seiner Nachtschicht hatte er plötzlich gespürt, dass ein anderer Shinigami ganz in der Nähe war und das hatte ihn sofort stutzig gemacht. Er wusste immerhin durch den Dienstplan ganz genau, dass er diese Nacht allein in London unterwegs sein würde und wenn er sich bei einem sicher sein konnte, dann war es der Dienstplan. Immerhin wurde er von William erstellt und der Aufsichtsbeamte machte keine Fehler. Jedenfalls nicht im Büro. Also war er losgestürmt, immerhin hätte es sich ja auch um diesen gutaussehenden, silberhaarigen Deserteur handeln können. Dem Rothaarigen war fast das Herz stehen geblieben, als er anstatt dessen seine Schülerin auf der Straße hockend vorgefunden hatte. Und wie sie aussah. Als wäre sie unter eine fahrende Kutsche geraten. Was hatte dieser Mistkerl ihr nur angetan? Nur zu gerne hätte er Antworten auf all seine Fragen erhalten, doch momentan gab es Wichtigeres. Carina stand anscheinend gerade kurz vor einem Nervenzusammenbrach und brachte kein Wort über die Lippen, während sie von Schluchzern geschüttelt in seinen Armen lag. Zuerst musste er ihr helfen, seine Fragen konnten auch noch ein wenig länger warten. Seine Arme legten sich fest um ihren zitternden Körper. „Ich werde dich nach Hause bringen, Carina“, flüsterte er, war sich dabei nicht einmal sicher, ob sie ihn in ihrem Zustand überhaupt hören konnte. Im nächsten Moment befanden sie sich bereits in der Welt der Shinigami und Grell rannte los. Carina sagte kein Wort. Nicht, während er sie ins Institut trug. Nicht, während sie in der Krankenstation ankamen und Grell die gesamte Ärzteschaft zusammenstauchte, damit sie schnellstmöglich behandelt wurde. Nicht einmal dann, als eine freundliche Krankenschwester ihr die Bluse auszog und Grell daraufhin einen Tobsuchtsanfall bekam, als er ihre übrigen Verletzungen sah. Ihr Kopf war plötzlich leer, kein Gedanke konnte sich festigen. Es war, als hätte jemand die Fäden durchgeschnitten, die ihren Geist mit ihrem Körper verbanden. Sie fühlte sich einfach nur unglaublich hohl. Erst, als eine brünette Ärztin ihr sanft eine Hand auf die Schulter legte, schaute sie auf. Die Shinigami sah aus, als würden ihr die folgenden Worte besonders schwer fallen. „Ich muss Sie das leider fragen, aber…gibt es noch andere Verletzungen, die wir uns vielleicht ansehen müssen?“ Während Carina nicht verstand, was die Frau ihr damit sagen wollte, wurde Grell bleich wie ein Bettlaken. „Ich…ich verstehe nicht“, murmelte die 18-Jährige und musste gleich darauf schlucken, als sie ihre eigene Stimme vernahm. Sie klang zerbrechlich und schwach, beinahe wie aus Glas. Die Ärztin räusperte sich und wirkte mit einem Mal ein wenig verlegen. „Hat…hat er Sie angefasst?“, fragte sie vorsichtig und Carina versteifte sich, als sie verstand. „Nein, er hat mich nicht vergewaltigt“, flüsterte sie und hörte Grell gleich darauf einen tonnenschweren, erleichterten Seufzer ausstoßen. Und es stimmte ja auch. Er hatte nie etwas getan, was sie nicht selbst auch gewollt hätte. Jedenfalls nicht in sexueller Hinsicht… Erschrocken schlug die Blondine die Augen auf, als vor der Tür plötzlich Gepolter zu hören war. Wann zur Hölle war sie bitteschön eingeschlafen? Noch ein wenig verwirrt schaute sie sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, momentan schien sie die einzige Patientin auf der Krankenstation zu sein. Alles im Raum war in weißer Farbe gehalten und über allem lag dieser sterile Krankenhausgeruch, den sie noch nie hatte ausstehen können. Selbst die Bettwäsche fühlte sich schwer und steif an. Ihr Blick glitt erneut zur Tür, als zum zweiten Mal etwas dahinter ertönte. „Auf keinen Fall“, hörte sie Grell wütend fauchen. „Du wirst da jetzt nicht reingehen, William. Sie braucht Ruhe. Hast du eigentlich eine Ahnung, was sie durchgemacht hat?“ „Genau darum geht es mir ja, Sutcliff. Ich muss meinen Vorgesetzten einen ausführlichen Bericht erstatten und dafür brauche ich wohl oder übel ihre Aussage. Also gehen Sie jemand anderem auf die Nerven und lassen mich durch!“ „Das kannst du vergessen“, lautete die gezischte Antwort ihres Mentors, was Carina ein gerührtes Schmunzeln auf die Lippen trieb. Grell musste sie wirklich gern haben, wenn er sich für sie mit William anlegte. Bevor der Rothaarige allerdings Ärger mit seinem Schwarm bekommen konnte, griff sie dann doch lieber ein. „Grell“, krächzte sie, immer noch war ihre Stimme nicht die Alte. „Es ist in Ordnung. Lass ihn bitte herein.“ Kurz herrschte Stille auf dem Flur und Carina konnte die Szene schon bildlich vor sich sehen. Wie Grell zerknirscht die Zähne aneinander rieb und William ihm einen triumphierenden Blick zuwarf. Dann öffnete sich die Tür und die beiden Shinigami traten nacheinander ein. „Bist du dir auch wirklich sicher, Carina?“, fragte der Langhaarige vorsichtig, während der Aufsichtsbeamte ein Klemmbrett aufklappte und seinen Kugelschreiber klicken ließ. Carina nickte. Sie hatte sich ihre Antworten bereits im Vorfeld zurechtgelegt und wusste daher ganz genau, was sie antworten würde. Sie musste nicht einmal spielen, dass sie komplett durch den Wind war. Denn momentan war sie wirklich mit ihren Nerven total am Ende. „Also“, begann der Schwarzhaarige und rückte sich in altbekannter Manier seine Brille zurecht, „erzählen Sie mir alles, was seit dem Versinken der Campania passiert ist. Und versuchen Sie bitte nichts auszulassen. Jedes noch so kleine Detail könnte für die Ergreifung Ihres Entführers wichtig sein.“ Carina atmete zittrig aus. Hoffentlich würde er ihr ihre Lügen abkaufen, denn sonst hatte sie ein verdammt großes Problem. Niemals würde sie Cedric verraten, das konnte sie nicht. Es war nie eine Option gewesen. Grell, der ihren angespannten Gesichtsausdruck missverstand, zeterte sofort wieder los. „Siehst du denn nicht, wie fertig sie das alles macht, William? Lass uns die Befragung bitte auf später verschieben.“ „Nein“, antwortete Carina und atmete erneut tief ein. „Ich will das hinter mich bringen.“ Und dann begann sie mit ihren Ausführungen. Sie wusste, dass es immer glaubwürdiger war, so nahe wie möglich an der Wahrheit dran zu bleiben und genau das versuchte sie auch. „Du weißt sicherlich noch, wie ich versucht habe nach deiner Hand zu greifen, oder?“ Grell nickte. „Jedenfalls kam ich wieder zu mir, als das Schiff schon längst unter Wasser war. Ich habe versucht so schnell wie möglich die Oberfläche zu erreichen, aber plötzlich hat dieser…dieser Deserteur mich am Knöchel gepackt. Ich hab mich gewehrt, aber er war viel stärker als ich. Dann hab ich das Bewusstsein verloren.“ Vor sich konnte sie Williams schnelles Schreiben auf dem Papier hören, doch davon konnte Carina sich jetzt nicht ablenken lassen. „Keine Ahnung wie lange ich bewusstlos war, aber als ich wieder zu mir kam, war ich definitiv nicht mehr in der Nähe der Campania, geschweige denn auf dem Nordatlantik.“ „Können Sie ihre Umgebung näher beschreiben?“, fragte William sachlich und ohne von seinem Klemmbrett aufzusehen. Die 18-Jährige machte eine Kunstpause und ließ sich ein paar Sekunden Zeit. Sollte der Schwarzhaarige ruhig glauben, dass sie über seine Frage ernsthaft nachdachte. „Es war dunkel und kalt, aber jedes Wort hat nachgehallt. Fast so, als wäre ich in einer Fabrik oder Lagerhalle. Die Wände in dem kleinen Raum, in dem ich mich befand, waren auch ziemlich kahl und trostlos.“ William nickte, notierte sich die Informationen und forderte sie stumm auf fortzufahren. „Ich konnte mich nicht einmal frei bewegen, weil dieser Mistkerl meine Hände mit Eisenketten an einen Haken, der in der Wand eingelassen war, gefesselt hatte. Um ehrlich zu sein“, sagte sie und gab sich alle Mühe bei ihren nächsten Worten beschämt auszusehen, „habe ich Panik bekommen. Meine Death Scythe war weit und breit nicht zu sehen und mir ist relativ schnell klar geworden, dass dieser Typ mich entführt haben musste. Ich…ich habe versucht mich von den Fesseln zu befreien, aber da war nichts zu machen. Mein Körper war zusätzlich auch noch von dem ganzen Spektakel auf der Campania geschwächt. Und dann kam er zu mir ins Zimmer. Mit seinem überheblich großen Grinsen und diesen stechenden, phosphoreszierenden Augen…“ „Das kann ich mir nur allzu gut vorstellen“, fuhr Grell dazwischen und seufzte theatralisch. „Auch wenn der Kerl ein Verräter sein mag, sein Aussehen ist wahrlich nicht zu verachten.“ William verdrehte genervt die Augen, während Carina dem Rothaarigen gedanklich zustimmen musste. „Nun ja, jedenfalls schien er ziemlich stolz auf seine umherwandelnden Leichen zu sein. Er hat mich ausgefragt, wollte eine ganze Menge wissen. Informationen über den Dispatch. Aber ich hab sie ihm natürlich nicht gegeben“, fügte sie schnell hinzu, als Williams linkes Auge gefährlich anfing zu zucken. „Immerhin wusste ich nicht, was er noch mit mir vorhatte und ich dachte diese Informationen wären das Einzige, was ihn davon abhalten würde mich umzubringen. Natürlich war er aufgrund meiner Verschwiegenheit nicht sonderlich begeistert, aber dennoch wollte sein Grinsen nicht eine Sekunde abbrechen. Er war sich ziemlich sicher, dass ich mit der Zeit schon mit der Sprache rausrücken würde und solange ich das nicht täte, könnte er mich immerhin als Trumpfkarte behalten.“ „Trumpfkarte?“, fragte Grell irritiert und Carina nickte. „Ja. Falls ihr ihn gefunden hättet, hätte er versucht euch mit mir zu erpressen.“ Grell schluckte, als ihm bewusst wurde, dass dieser Plan in seinem Fall bestens funktioniert hätte. „Nun, in diesem einen Punkt hat er sich gewaltig geirrt. Bis zum Schluss habe ich nicht ein Wort über unsere internen Angelegenheit verloren.“ Ihr Ton klang nun grimmig und William seufzte erleichtert auf. „War ja klar, dass er sich darum am meisten Sorgen macht“, dachte die Schnitterin und schaffte es nur mit Mühe und Not nicht die Augen nach oben zu rollen. „Und was ist dann passiert?“, fragte William, nun sogar in einem etwas freundlicheren Ton, und Carina fuhr fort. „Nicht viel, um ganz ehrlich zu sein. Ich habe relativ schnell jegliches Zeitgefühl verloren. In dem Raum gab es keine Fenster, ich wusste also nie welche Tages- oder Nachtzeit gerade war. Schon seltsam, dass irgendwann einfach alles an einem vorbeizieht, als wäre man selbst gar nicht mehr anwesend. Es war ein einziger Albtraum.“ Carina wandte den Blick zur Bettdecke und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Einerseits war sie erleichtert, dass die Beiden ihr anscheinend glaubten und andererseits hatte sie gleichzeitig ein unglaublich schlechtes Gewissen, dass sie Grell solche Lügen auftischen und den Undertaker so schlecht darstellen musste. „Jedes Mal, wenn er mir etwas zu Essen brachte, fragte er mich das Gleiche und ich gab ihm keine Antwort. Das ging einige Zeit lang so und dann kamen ganz plötzlich andere Leute, die mich versorgten.“ Sie holte tief Luft. „Zuerst habe ich mir dabei nichts gedacht, doch dann ist mir die feine Narbe auf der Stirn eines Mannes aufgefallen.“ Grells Atem stockte und er starrte sie entsetzt an. „Du…d-du meinst doch nicht etwa…“ Carina nickte. „Doch, genau das meine ich. Das waren seine widerlichen Puppen oder wie er sie nennt, seine Bizarre Dolls. Und sie konnten plötzlich sprechen, Grell. Sie haben sich viel menschlicher verhalten, als die Exemplare auf der Campania. Mit anderen Worten: Sie haben sich weiterentwickelt.“ Das Schweigen, das jetzt herrschte, war angespannt und unglaublich laut. William, der die umherwandelnden Leichen zwar nie selbst zu Gesicht bekommen hatte, dafür aber von Grell und Ronald hinreichend darüber aufgeklärt worden war, wirkte beunruhigt und zornig zugleich. „Eine Schande für unseren Dispatch. Wie kann ein einzelner Shinigami nur solch einen immensen Schaden anrichten? Ich sehe es bereits vor mir, die anderen Länder werden sich das Maul über unsere Unfähigkeit zerreißen.“ Er rückte sich seine Brille störrig zurecht, während der Kugelschreiber in seiner Hand gefährlich wackelte. „Gut, die Sache mit diesen Puppen ist schlimm“, begann Grell und schaute seine Schülerin neugierig an, „aber Carina, kannst du mir mal sagen, wie du da bitteschön rausgekommen bist? Diese Sahneschnitte wird wohl kaum zugelassen haben, dass du einfach so aus seinem Versteck herausspazierst bist, oder?“ Für einen Moment lagen Carina die Worte „Um ehrlich zu sein doch“ auf der Zunge, doch sie schüttelte lediglich den Kopf. „Ich weiß nicht mehr genau, ob es gestern oder heute war, aber die letzte Doll, die mich aufsuchte, trug meine Death Scythe bei sich. Ich schätze der Undertaker wollte mich damit einschüchtern, immerhin hätte ich dadurch getötet werden können. Es war leichtsinnig, aber ich hab die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Während die Leiche sich gebückt hat, um das Tablett vor mir abzustellen, hab ich ihr die Beine weggetreten. Der schwarzhaarige Mann ist gestürzt und hat mein Katana dabei fallen lassen. Sie mögen sich zwar weiterentwickelt haben, aber so schnell wie ein Shinigami sind diese Dinger dann doch nicht. Bis er wieder auf den Beinen war, hatte ich meine Klinge bereits gezogen und die Fesseln durchtrennt. Das war wohl wirklich das erste Mal, dass ich mich über den Slogan „Eine Death Scythe durchschneidet alles“ richtig gefreut habe.“ Ein humorloses Lachen entfuhr ihr. „Der Rest war relativ einfach. Ich hab dem Typen den Kopf abgetrennt und wie auf der Campania hat das bestens funktioniert. Ich bin aus dem Raum gestürmt und durch das erste Fenster, das ich gefunden habe, herausgestürzt. Und dann hast du mich gefunden, Grell.“ „Können Sie das Gebäude von außen beschreiben? Oder noch besser, die Position?“ „Leider nicht. Es ist mir ein bisschen peinlich, aber in dem Moment hab ich einfach nicht darüber nachgedacht. Mein einziger Gedanke war, dass ich so schnell wie möglich weg von diesem Ort musste, damit er mich nicht doch noch in seine Finger bekommt. Ich bin gerannt und gerannt und hab mich nicht einmal umgedreht. Aber zwei Dinge kann ich sagen. Es war auf jeden Fall in nördlicher Richtung von London, die Entfernung würde ich sagen beträgt ca. 30-40 Kilometer. Tut mir leid, aber genauer kann ich es wirklich nicht sagen.“ „In deiner Situation wäre wohl jeder in Panik geraten und hätte nicht noch solche Überlegungen angestellt“, sagte Grell und warf William einen mahnenden Blick zu. Carina ging es schon schlecht genug, da musste der schwarzhaarige Aufsichtsbeamte sie nicht noch wegen solcher Kleinigkeiten zusammenstauchen. William nickte, wenn auch ein wenig enttäuscht. Sein Stift kratzte noch kurz über das Papier, dann erhob er sich. „Vielen Dank, dass Sie sich so schnell für eine Aussage zur Verfügung gestellt haben.“ Carina nickte und hatte plötzlich Tränen in den Augen, als die folgenden Worte wieder der Wahrheit entsprachen. „Schon gut, ich…ich will das alles einfach nur vergessen.“ Ihre Stimme brach und Grell, der mittlerweile wesentlich besser im Trösten geworden war als vor 3 Jahren, legte ihr sanft und beruhigend eine Hand auf den Rücken. William, dem die ganze Situation ein wenig unangenehm zu sein schien, rückte sich zum dritten Mal mithilfe des Klemmbrettes seine Brille zurecht und erwiderte dann mit monotoner Stimme: „Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen und melden sich dann wieder bei mir zurück, wenn Sie ihren Dienst wieder aufnehmen möchten. Ich werde solange für eine Vertretung sorgen.“ „Danke“, murmelte Carina, beinahe schon ein wenig überrascht über das nette Angebot und sah ihrem Vorgesetzten dabei zu, wie er eiligen Schrittes den Krankenflügel verließ. Ihr taten zwar die Shinigami leid, die nun in der vollkommen falschen Richtung nach dem Bestatter suchen mussten, aber darauf konnte sie momentan einfach keine Rücksicht nehmen. Er hatte seinen Teil des Deals erfüllt und sie ihren. Grell zog schweigend einen Stuhl an das Bett heran und setzte sich. Plötzlich schien er ungewöhnlich ernst zu sein. „Da gibt es doch noch etwas, was du nicht erzählt hast, Carina“, meinte er und die Blondine erstarrte. „Was meinst du?“, erwiderte sie eine Spur zu hastig und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Verflucht, hatte er etwas gemerkt? „Diese Verletzungen wirst du dir wohl kaum selbst zugefügt haben, oder?“, schnaubte Grell humorlos, was die Shinigami innerlich aufatmen ließ. „Ich habe die ganzen Blutergüsse und Schrammen gesehen. War es dieser Mistkerl? Hat er dich verprügelt, weil du ihm keine Informationen geben wolltest?“ Es wäre für Carina ein Leichtes gewesen an dieser Stelle einfach mit „Ja“ zu antworten, doch das konnte sie nicht. Es käme ihr wie ein Verbrechen vor, wenn sie Cedric beschuldigte ihr diese Wunden beigebracht zu haben, wo er genau diese doch so fürsorglich versorgt hatte. Sie senkte den Kopf und starrte auf ihre Hände, die sich nach wie vor in die Bettdecke krallten. Ihr schlechtes Gewissen gegenüber Grell wog mittlerweile bereits so schwer, sie konnte ihn kaum noch ansehen. Er hatte sich riesige Sorgen gemacht, hatte sie bis zum Schluss gesucht und was bekam er als Dank? Einen Haufen Lügen. „Ich möchte nicht darüber sprechen. Bitte versteh das, Grell“, meinte sie, ihre Stimme eine Mischung aus verborgenen Emotionen. Der Rothaarige nickte seufzend und entschloss vorerst nicht genauer nachzuhaken. Vielleicht würde die junge Frau irgendwann, wenn sie den ersten Schock einigermaßen verdaut hatte, von selbst zu ihm kommen. „Hast du vielleicht Hunger? Ich könnte dir was zu Essen holen.“ Carina lächelte. „Ja, das wäre super. Vielen Dank, Grell“, antwortete sie und legte in das Danke so viel Gefühl wie sie konnte, damit ihr Mentor wusste, dass sie ihm nicht nur für das Essen dankte. Anscheinend hatte der feminine Reaper verstanden, denn er schenkte ihr gleich darauf grinsend ein Zwickern und ging zum Ausgang. Er streckte seine Hand bereits nach der Türklinke aus, da passierte es. Ohne jegliche Vorwarnung schwang die Tür mit ordentlicher Kraft auf, was unweigerlich dazu führte, dass Grell die hölzerne Konstruktion heftig ins Gesicht gedonnert bekam und gleich darauf zwischen ihr und der Wand eingeklemmt wurde. Carina klappte vor Entsetzen der Mund auf. Nicht nur, weil Grell nun mit blutender Nase und plattgedrücktem Gesicht langsam an der Wand hinabrutschte, sondern auch aufgrund der schwarzhaarigen Frau, die schweratmend im Türrahmen stand. „Alice“, stammelte sie und konnte gar nicht so schnell reagieren, da stand ihre beste Freundin bereits vor ihr und riss sie – genauso wie Grell einige Stunden zuvor – in ihre Arme. „Du dumme Kuh! H-hast du eigentlich eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe? I-ich dachte wirklich, d-dass du tot bist.“ Die Schuld in ihrem Magen wurde schwerer, als sie die Tränen sah, die die Wangen der Schwarzhaarigen hinunter rannen. Vorsichtig erwiderte sie die Umarmung und strich ihrer Freundin sanft über den Rücken. „Es tut mir leid, Alice. Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen um mich machen musst.“ „Ach was“, schluchzte die 20-Jährige und wischte sich schnell über die Wangen. „Du kannst ja nichts dafür. Wenn ich diesen Typen jemals in die Finger bekomme, der dir das angetan hat, dann gnade ihm Gott.“ Carina entfuhr abrupt ein Prusten, gleichzeitig betete sie für Cedric, dass er Alice niemals begegnen würde. Denn eins stand fest, die lebhafte Schwarzhaarige konnte im wütenden Zustand bedrohlicher sein als so mancher Dämon. „Dir gnade lieber auch gleich Gott“, ertönte ein wütendes Fauchen, woraufhin sich die beiden Frauen synchron umdrehten. Grell stand mittlerweile wieder und hielt sich mit zorniger Miene seine blutende Nase. „Ach, du bist auch hier? Hab dich gar nicht gesehen“, erwiderte Alice spöttisch, was Carina seufzen ließ. Hier hatte sich wirklich gar nichts verändert. „Aber genau das könnte es sein, was mir helfen wird ihn zu vergessen“, dachte sie und lachte, als sie Grells nächsten Satz hörte. „Wie kannst du es nur wagen das Gesicht einer Jungfrau zu verletzen?“ Seine langen Fingernägel tippten ungeduldig auf der Balustrade des Balkons herum, während seine gelbgrünen Augen Johann Agares beobachteten, der mit ein paar Schülern über den Unterricht sprach. Ausnahmsweise jedoch verspürte er beim Anblick seines Meisterwerks, der bisherigen Krönung seiner Schöpfung, keinen Stolz. Momentan befanden sich seine Gedanken ganz woanders, wobei mit „momentan“ die Zeitspanne von 2 Tagen gemeint war. Denn so lange war es inzwischen her, dass Carina sang- und klanglos verschwunden war. Ihm war direkt am nächsten Morgen – als er alleine im Bett aufgewacht war – klar gewesen, dass sie nicht wiederkommen würde. Aus dem ganz einfachen Grund, dass ihre Death Scythe nicht mehr am Schrank stand und ihre Dienstkleidung verschwunden war. Erst in diesem Moment hatte der Bestatter begriffen, was ihr seltsames Verhalten am Abend zuvor bedeutet hatte. Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte. Die Tatsache, dass er ihr kleines Spielchen nicht durchschaut hatte oder der Fakt, dass sie wie bereits vor 3 Jahren einfach ohne ein Wort zu sagen gegangen war. Am allermeisten überraschte ihn aber wohl die Tatsache, dass er sich überhaupt ärgerte. Er mochte dieses Gefühl nicht sonderlich. Es vertrieb jegliches Lachen von seinem Gesicht und sorgte dafür, dass sich seine sonst so gute Laune im Keller befand. Ein Seufzen kroch aus seiner Kehle und kopfschüttelnd machte der Silberhaarige sich auf den Weg zu der Wohnung des Direktors, in der noch einige Dokumente seiner Aufmerksamkeit bedürften. Die Stille, die nun dort herrschte, passte ihm nicht so recht in den Kram und als er sich an den Schreibtisch setzte, fiel sein Blick automatisch auf die leichten Risse im Holz, die Carina und er bei ihrem kleinen Tête-à-Tête hinterlassen hatten. Erneut nahmen seine Gedanken überhand. „Warum ist sie wieder auf diese Art und Weise verschwunden? Hatte sie Angst ich würde sie nicht gehen lassen? Oder steckt etwas anderes dahinter? Habe…habe ich vielleicht etwas falsch gemacht?“ Zugegeben, er war vielleicht nicht der beste Gastgeber gewesen, aber eigentlich hatte er sich doch recht freundliche verhalten. Und für seinen Hieb hatte er sich immerhin entschuldigt und es mehr als nur ernst gemeint. Warum also kam er sich trotzdem wie der letzte Idiot vor? „Es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich ihr über den Weg laufe“, dachte er sich. Immerhin war sie ein Shinigami, früher oder später würden sie sich sicherlich noch einmal begegnen. Und wenn es dann soweit war, dann schuldete sie ihm ein paar Antworten. Und die würde er auch bekommen, so viel stand fest. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)