Raftel (2) von sakemaki (The Rainbow Prism) ================================================================================ Kapitel 35: 35 - Blutmond ------------------------- Während über die Strohhutbande aktuell die unheilvolle Nacht voller Negativschlagzeilen hereinbrach, begann auf Grund der Zeitverschiebung auf der anderen Seite des Planeten gerade ein frischer neuer Tag. Warm schienen die Sonnenstrahlen durch das schmale Küchenfenster des Leuchtturms und tauchten das aufgeräumte Innere in ein gelbes Licht der behaglichen Harmonie. Mit müden Augen blinzelte Takeru gegen die aufkommende Helligkeit an. Die letzte Nacht war viel zu lang gewesen. Taiyoko hatte keine Ruhe in ihren eigenen vier Wänden finden können, bevor nicht wieder alle Gegenstände am altbekannten Platz gestanden hatten. Ein wahrer Putzfimmel hatte sie übermannt, was wohl ihre Art der Stressbewältigung war. Mit harten Gesichtszügen und einer zickigen Stimme lief sie unkoordiniert durch das Wohnhaus, nahm dies und jenes in die Hand und setzte es zugleich planlos irgendwo wieder ab. Einem aufgeschrecktem Huhn gleich wandelte sie ein angerichtetes Chaos in ein eigens kreiertes Chaos um. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich etwas abreagiert hatte. Erst dann nahm sie Takerus Hilfesangebot an. Es bedurfte einiges an Geduld und Feingefühl, die kleine Kratzbürste zu beruhigen und ihre Arbeitswut in geregelte Bahnen zu lenken. Ein geordnetes System brauchte zuvor einen geordneten Ablauf. Also begann man bei Taiyokos Zimmer, ging über zum Bad, wirbelte durch die Küchenzeile und verblieb im Wohnbereich. Das Schlafzimmer hatte gar nicht mal soviel abbekommen und musste wenig aufgeräumt werden. Insgesamt war das Endergebnis zufriedenstellend. Zu Zeiten seiner Kindheit erinnerte Takeru sich noch wage daran, dass der Leuchtturm und das angrenzende Wärterhäuschen sehr verfallen war. Da konnte man sich hier oben an der Klippenkante, weit ab vom Schuss und der Stadt, hervorragend verstecken. Eine tolle Ausgangsbasis für unzählige Kinderbandenkriege war dieser Ort gewesen, bis irgendwann umherziehendes Volk den Turm für sich in Besitz genommen und die abenteuerlustigen Kinder vertrieben hatten. Oh, wie wütend er doch über den Verlust des tollen Spielplatzes gewesen war. Da hatte er doch tatsächlich den Mut gehabt, sich als junger Grundschulbengel mit der Bande anzulegen. Leider hatte es ihm nicht zum Sieg über den Turm gereicht, sondern einen Schädelbasisbruch, drei gebrochene Rippen und viel zu viele großflächige Hämatome eingebracht. Aus Kinderaugen heraus musste man feststellen, dass ausschließlich der Stärkere immer alles bekam. Vielleicht war es eines von vielen Schlüsselerlebnissen, die ihn auf die schiefe Bahn gebracht hatten. Wer wüsste das heutzutage schon? Kaum war die Niederlage über den Turm überwunden, zog überraschend eine hochschwangere Frau in dieses ungewöhnliche Domizil ein. Damit war das Ende des Spielplatzes endgültig besiegelt. Dass sich später einmal die Wege so kreuzen würden, wie sie es jetzt taten, und er nun wieder mitten hier im Wohnhaus stehen würde, hätte Takeru niemals zu träumen gewagt. Die sanierte Version dieses alten Gebäudes samt Inhalt war im fremd. Etwas Fehl am Platze hatte er neben dem zuvor einsamen Putzteufel gestanden, später allerlei Gegenstände vom Dreck bereinigt und es dann Taiyoko in die Hand gedrückt. Sollte sie es doch gleich einordnen, wusste sie doch am Besten, wo es hinkam. Was ihm nicht mehr brauchbar schien, nahm gleich seinen Weg in die Mülltonne. Beim Aufräumen hatten sie sich beide gegenseitig auf die Füße getreten und im Wege gestanden. Herrje, dieses Leuchtturmhäuschen war aber auch wirklich winzig. Aus Kinderaugen war es ihm viel größer in Erinnerung geblieben. Es mochte wohl auch daran liegen, dass damals die Möblierung fehlte. Der größte Raum war das Wohn- und Esszimmer, wo sich die Küchenzeile hineinquetschte. Daneben lagen Taiyokos Zimmer und das elterliche Schlafzimmer. Allerdings mussten die Wände erst später eingezogen worden sein. Die neuen Wände wiesen eine andere Tischlerhandschrift auf, als die übrigen Gebäudeteile. Durch eine schmale Tür am Ende der Küchenzeile gelangte man in einen kleinen Anbau, der das Bad und die Waschküche beherbergte. Über ihren Köpfen war der Kriechboden unter dem relativ flachen Satteldach. Doch obgleich das Haus klein war, hatte es doch sehr viele Pluspunkte. Es wirkte so schön gemütlich und geborgen. Und die Veranda war einmalig. Takeru mochte das Haus auf Anhieb. Es fiel ihm gar nicht schwer, die kleine Behausung auf Vordermann zu bringen. So ging über die ganze Aufräumaktion hinweg langsam die Sonne am Horizont unter und die Nacht beendete den Tag bis die Sterne wild um die Wette funkelten. Und das war angesichts der Sommerzeit eine sehr vorgerückte Stunde. Gelegentlich warf Takeru einen prüfenden Blick durch die Fenster, musterte misstrauisch die nähere Umgebung und hoffte darauf, dass hier keine ungebetenen Gäste aufkreuzen würden. Die letzten Tage hatten seine körperliche Fitness hart mitgenommen. Er fühlte sich immer noch angeschlagen und nicht ausgeruht genug, sich in den nächsten Kampf zu stürzen. Da wäre ihm eine geruhsame Nacht mit viel Schlaf zum Energieaufladen mehr als recht. Doch irgendwie wurde daraus weniger, als er es sich erhofft hatte. Als sie tagsüber durch das halbzerstörte Loguetown streiften und sich erst einmal mit dem Nötigsten für eine Weiterreise eindeckten, hatte Taiyoko die clevere Idee, zwei volle Einkaufstüten mit Lebensmitteln zu kaufen. So weit so gut. Kaum war der Leuchtturm blitzblank aufgeräumt, verwandelte sie mit ihren nicht vorhandenen Kochkünsten die Küchenzeile in ein erneutes Schlachtfeld. Und die Köchin war ja so starrköpfig. Es bedurfte wiederholt viel Einfühlungsvermögen und Streit zugleich, bis sie zuließ, dass Takeru zwischendurch auch einmal den Kochlöffeln mitschwingen durfte und aus dem Topfinhalt noch eine einigermaßen essbare Pampe wurde. Es schmeckte zuletzt besser, als es aussah. Takeru schob mühsam den alptraumhaften Gedanken beiseite, dass das Küchenchaos auch wieder gesäubert in die Schränke verschwinden müsste. Schon wieder Aufräumen! Also drehte man dem Unheil den Rücken zu, schob die Fernsehschnecke auf die korrekte Position vor dem Sofa und zappte mit der Fernbedienung in der einen Hand und dem Essensteller in der anderen Hand durch das Nachtprogramm, was alles zeigte, was man noch nie in seinem Leben hatte sehen wollen. Zum Schluss blieb man bei einem Film hängen, der irgendwo im Horror-Splatterpunk-Genre anzusiedeln und extrem schlecht war. Die Story war dünn, es metzelte von einer Szene zur nächsten und das Blut floss wie aus Wasserhähnen. Der Streifen war derart missraten und billig produziert, dass er fast schon wieder komisch war und nahe am Kultstatus nagte. Taiyoko konnte sich erstaunlicher Weise scheckig darüber lachen, während Takeru kurz vor dem Einnicken war. Den Film hatte er früher in irgendeinem schäbigen Kino am anderen Ende der Welt auf einer Mission ertragen müssen. Mord und Totschlag hatte er schon zu oft durch seine eigenen Hände verursacht. Da bedurfte es keinen Film, der ihm einen Spiegel seines Lebens vorhielt. Plötzlich verstummte das Gezappel und Gekichere an seiner Seite. Er zuckte aus dem dämmrigen Schlaf hoch, als ihr Gewicht gegen seine Seite fiel. Ihr Kopf bettete sich gegen seinen Oberarm und lange Atemzüge eines gesunden Schlafes zogen durch ihre Nase. Da war die kleine Kratzbürste doch tatsächlich eingeschlafen. Und nun machte sie es sich auch noch unbewusst im Schlaf bequem, indem sie sich einmal rappelte und sich dabei an seinen Arm klammerte wie an eine Bettdecke. Na, so ging das aber nicht. Dabei wollte er ihr doch in den frühen Morgenstunden noch eine kleine Überraschung präsentieren. Er lächelte amüsiert über ihre verbogene Körperhaltung, befreite sich aus ihren Fängen und dachte über die kommenden Aktivitäten der noch verbleibenden Nachtstunden nach. Die Uhr über der Küchenzeile zeigte Viertel vor Drei an. Vielleicht sollte man tatsächlich noch ein wenig ruhen, um sich in gut zwei Stunden zum Spektakel aus den Betten zu quälen? Spektakel wäre sicherlich eine etwas übertriebene Beschreibung für ein kleines Wunder, aber die Kratzbürste wäre garantiert begeistert und extrem sauer, würde sie es verpassen. Er genoss eben gerade die Zeitspanne, wie sie so friedlich da lag und schlief. Sie stellte weder unangenehme Fragen über ihn, noch heckte sie Blödsinn aus. So holte er also ihre Bettdecke aus ihrem Zimmer und deckte sie zu. Ihr Wecker würde zur richtigen Zeit das Startsignal geben. Es hatte in den tiefsten Nachtstunden, die sie beide verschliefen, heftigst geregnet. Der erste Anflug einer Morgendämmerung kämpfte sich durch die Wolkendecke und mischte sich mit dem kräftigen Leuchten des Vollmondes. Das Licht tauchte die nass glänzenden Kiefern und Kartoffelrosenbüsche in ein unheimliche Szene. Alles wirkte noch düsterer, noch schwärzer, noch hellhöriger. Auch der feuchte Sandweg vom Turm hinab zur Stadt vermochte noch dunkler zu sein, als er es in einer gewöhnlichen Nacht tat. Große Regenpfützen reihten sich aneinander wie eine Miniaturseenlandschaft. Kein Lüftchen regte sich, und so waren die Pfützen so glatt gebügelt wie das Sonntagstischtuch zum Familienessen. Und kalt war es geworden. Es machte sich körperlich besonders dann bemerkbar, wenn man gerade noch unter einer warmen Decke geschlummert hatte und mitten aus dem Tiefschlaf gerissen worden war. Taiyokos Laune war mehr als im Eimer. Da hatte man endlich mal wieder vernünftigen Schlaf unter dem heimischen Dach gefunden, schon wurde man brutal um jenen gebracht. Nur widerwillig hatte Takeru sie wach bekommen und war im ersten Moment schlaftrunken verwirrt, als er zu ihr sagte: „Wir müssten mal nach Pikadon schauen...!“ Dabei hatte er so komisch gegrinst und sich in Geheimniskrämerei geübt. Kein Wort hatte sie aus ihm rausbekommen. Da half weder pubertäres Gezicke, noch kleinkindhaftes Gebettel mit Kulleraugen. Idiot! Es war wohl nichts Gefährliches passiert, was sie zuerst geglaubt hatte. Bei einem Notfall hätte er ganz anders reagiert. Sie hatte sich zwar noch mit einer Sommerjacke bewaffnet, doch das Zittern und Gähnen der Übermüdung hörte den halben Weg lang nicht auf. Und wehe dir, Takeru, dein Grund für das Aufwecken wäre nicht lohnenswert! Grummelnd stapfte sie ihm hinterher, nachdem sie noch schnell eine heiße Tasse Tee in die Hände gedrückt bekommen hatte. Also konnte der nächtliche Ausflug wohl nicht lange dauern oder weit sein, wenn sie eine später geleerte Tasse mit sich herumtragen sollte. Zumindest hoffte sie das. Trotzdem maulte sie ihm die ersten Wegmeter die Ohren voll, weil es doch so kalt, nass und matschig wäre. Außerdem wäre ja die Sonne noch nicht mal vier Handbreit über dem Horizont gestiegen, da bräuchte man eh noch nicht aufstehen. „Vier Handbreit? Da ist ja der halbe Tag schon gelaufen“, foppte er sie und bog aus dem Kiefernwald heraus. Ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: „Hat er dir denn gesagt, wo er ist?“ Damit meinte er Pikadon. Sie schüttelte den Kopf. Das Einhorn hatte nur verlauten lassen, dass es in der Nähe des Leuchtturms die Gegend durchstreifen und grasen wollte. Und da sich das Verdauungssystem von Einhorn und Pferd nicht sonderlich unterschied, würde er wohl die ganze Nacht unterwegs sein, Gräser zupfen und weite Entfernungen zurücklegen. Beide sahen sich um. Rechter und linker Hand von ihnen erstreckte sich das harte Hafergras im Schatten des Kiefernwaldes. Nur wenige hundert Meter vor ihnen lagen schon die ersten Häuser von Loguetown. In der Stille der Nacht schlief die Stadt vor sich her. Nur ganz wenige Lichter entzündeten sich allmählich in den Fenstern. Sie entschieden sich dafür, einen Trampelpfad über den Kiefernhügel hinweg in nördliche Richtung zunehmen, weil sich dort ein großes Areal mit Weideland in einer flachen Talsenke anschloss. Nach Süden würden sie nur am Sandstrand ankommen, wo es für Einhörner nichts zu fressen gab. Im Gänsemarsch folgte sie seinen großen Schritten und musste sich mühen. Die nassen Grashalme klatschen gegen die Hosenbeine und durchtränkten sie mit Regenwasser. Taiyoko redet zwar kein Wort mehr, aber die schlechte Stimmung hatte sie beibehalten. Sie fühlte sich dreckig und das nicht nur wegen des feuchten Hosenstoffes. Der Schlaf juckte in den Augen und ihre Haarsträhnen standen wie elektrisiert in alle Himmelsrichtungen ab. Die Teetasse hatte sie geleert und in die Jackentasche gestopft. Nun baumelte es bei jedem Schritt dumpf schmerzend gegen ihren Oberschenkel. Zu allem Überfluss meldete sich auch noch ein anderes Bedürfnis. „Ich muss mal“, schnauzte sie schärfer als gewollt Takerus Rücken an, der genau vor ihr ging, machte auf dem Absatz kehrt und entschwand hinter dem nächsten Gehölz. Welch selten blöde Idee, nachts mit nassen Klamotten durch den Wald zu latschen. Man war hier nahe des Meeres und der Stürme. Die Bäume waren allesamt gedrungen klein geblieben und extrem windschief. Die Kieferäste peitschten ihr ins Gesicht und der Strandhafer pikste und schnitt in die Haut ein. Und die nächtliche Frische fror einem sprichwörtlich den Allerwertesten ab. Der Stoff klebte auf der Haut und gab auch nicht sonderlich nach, als sie sich niederhockte. Sie fluchte kurz auf und wünschte sich wieder unter ihre warme Decke zurück. Oder noch besser: In die heiße Badewanne. Wenn die Sommerferien vorbei wären, würde sie im Internat wohnen. Das lag auf der anderen Seite der Insel in nordwestlicher Himmelsrichtung. Weit weg vom Leuchtturm, den sie nicht mochte. Ihr Zuhause lag für junge Teenager einfach zu weit vom Alltagsgeschehen einer mittelgroßen Stadt weg. Bis zur Stadtmitte und somit zur Schule hatte sie je nach Tagesform eine gute halbe Stunde strammen Fußmarsch einzuplanen. Der Hinweg war ja noch recht nett, denn es ging bergab, aber der Rückweg … Gerade zur Winterzeit, wenn Eis und Schneewind über das Ostkap kreuzten, war es wahrlich kein Spaziergang. Da blickte sie neidisch den Schulkameraden hinterher, die im Stadtkern in Gassen und Straßen abbogen, nur um gleich wieder in den nächsten Hauseingängen zu verschwinden. Nur sehr wenige Kinder wohnten nicht im Zentrum von Loguetown, so wie beispielsweise ihre beste Freundin Elaine. Aber diese wohnte in der genau entgegengesetzten Richtung, wo sich die kleine Siedlung wettergeschützt vor der Stadt erstreckte. Dort gab es Buchenwälder, Gemüsegärten und fette Weiden. Ein ganz anderes Bild als hier, obwohl es Luftlinie sicherlich nur gut fünfzehn Kilometer bis dorthin maß. „Was ist? Bis du in den Busch gefallen?“ kam es da neckisch vom Wegrand, wo sich Takeru artig wartend mit dem Rücken zu ihr platziert hatte. Sie schreckte auf, hatte sie doch ihren Gedanken nachgehangen und war körperlich ganz in der Prozedur eingespannt, eine nasse Hose wieder über die zitternde Haut nach oben zu ziehen. „Ich kann halt nicht im Stehen pinkeln, so wie du, Arschloch!“, keifte sie genervt und fing sich ein ebenso Neckisches „Warum eigentlich nicht ?“ ein. Sein Grinsen konnte sie nicht sehen, nur seinen Rücken, aber an der Stimmlage war es deutlich heraushören. Schnell rupfte sie ihre Kleidung nach verrichteter Notdurft wieder zurecht und gesellte sich zurück. Sie schlotterte vor Kälte. „Herrje Kind, hättest du keine dickere Jacke anziehen können?“, tadelte er sie leise und schloss mit einem schnellen Ruck den Reißverschluss ihrer dünnen Sommerjacke bis hoch zu ihrer Nasenspitze. „Selber Kind“, maulte sie zurück. Sie mochte es gar nicht leiden, wenn er sie „Kind“ nannte, nur um sie aufzuziehen und sich selbst eine Stufe höher zu stellen. Kind! Pff! Dabei war er selber gar nicht mal so viel älter als sie selber. Das hatte sie gerade erst kürzlich durch geschickte Nervtöterei herausgefunden. Ihr Begleiter war nämlich ein Sommerkind und würde, wenn alle guten Geister es wollten, im nächsten Monat seinen 19. Geburtstag feiern. Wobei Taiyoko nur lästernd hinzufügte, dass solche Leute wie Takeru sowieso nicht zu feiern bräuchten, weil sie eh keine Freunde hätten. Und überhaupt war Takeru noch nicht einmal sein richtiger Name, sondern lediglich ein Deckname, wie üblicherweise alle Agenten der Cipher Pol 0 solch einen Decknamen hatte. Leider war es ihr bis dato nicht gelungen, seine wahre Identität aufzudecken. Aber sie würde hartnäckig am Ball bleiben. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort, bis ein einfaches Holzgatter den Weg versperrte. Dahinter erstreckte sich eine Weide, dessen Größe nicht zu schätzen war, da die Umzäunung in der Ferne gänzlich von der grauen Umgebung verschluckt wurde. Die nahen Häuser Loguetowns waren nicht mehr zu sehen, und deren Straßenlampenschein erreichten diesen Ort nicht. Allein der Mond musste reichen, diesem abgelegenen Ort Licht zu spenden. Ein lauer Luftzug strich über die Gräser und durch die Kiefern. Es rauschte sanft. Endlich riss die Wolkendecke vollständig auf. Groß und rund hing die silberne Scheibe des Mondes beruhigend über der harmonischen Idylle. Sie leuchtete die Weite der Senke aus. Eine tiefere Ruhe gab es wohl gerade nirgends auf Erden außer hier. Wäre es nicht so nass und kühl, so wäre es wohl eine perfekte Sommernacht gewesen. Weiter hinten auf der Wiese konnte man nun auch dessen Bewohner ausmachen. Nur die Rücken ragten wie kleine Berge in den Himmel. Die Hälse waren gesenkt, und die Mäuler fuhr über das Gras wie Staubsauger. Je näher man den Tieren kam, desto lauter waren Rupf- und Kaugeräusche zu hören. Als sie sich langsam den Pferden genähert hatten, rissen diese ruckartig ihre Köpfe in die Höhe, verharrten im Kauen und blickten mit ihren großen dunklen Augen neugierig zu ihnen herüber. Pferde können nicht gut sehen, was vor ihren Hufen liegt, daher waren ihre Ohren wie kleine Satelittenschüsseln zu ihnen gedreht und vernahmen jeden noch so leisesten Ton. In der Pferdeherde mochte man wohl so ziemlich jedes Ross zu entdecken, was die Züchterhand jemals zusammen gekreuzt hatte. Große, kräftige Kaltblüter standen in Eintracht neben kleinen, dicken Ponys. Unzählige Warmblüter aller Kaliber grasten zwischen ihnen. Auch die breite Palette an Fellfarben war ebenso vertreten wie die Fellabzeichen der Vierbeiner. Die Herde zählte sicherlich an die hundert Tiere. Doch das fahle Licht schränkte eine genaue Schätzung zu sehr ein. „Also, wenn er hier ist, wäre das mal eine perfekte Tarnung“ dachte Takeru laut vor sich her und schob mit der Hand einen allzu neugierigen Ponykopf beiseite, der sich längst angeschickt hatte, den Inhalt seiner Jackentasche genaustens zu untersuchen. „Blödes Vieh!“, schimpfte er noch ärgerlich hinterher, als ein Ratschen ankündigte, dass der Ponykopf sein Maul nicht aus der Tasche bekommen hatte, ohne den Stoff anzureißen. Taiyoko kicherte und strich einer gescheckten Stute durch die Mähne. Sie musste Takeru zustimmen, dass man hier das Einhorn wie die Nadel im Heuhaufen suchen müsste, wenn es denn überhaupt hier wäre. Zu zweit umrundeten sie ein Pferd nach dem anderen, um einen Überblick über die Herde zu erhalten. Das Mädchen fand mittlerweile die Nachtwanderung gar nicht mehr so blöde, wie zu Beginn. Es gab viele Pferde zu beobachten, die sie auf Anhieb mochte, und Pikadon würde sie mit etwas Glück auch ausfindig machen können. Sie vergaß die regennasse Hose, das Zähneklappern und die vor Kälte blaugefärbten Lippen. Auch die Müdigkeit, die jeden Schritt immer schwerfälliger machte, wurde vom Bewusstsein ignoriert. Es hatte etwas märchenhaftes an sich, im Vollmondschein wie eine Fee durch die Herde zu wandeln. Der Schlafmangel beflügelte ihre Fantasie und so verwandelte sich die buntgemischte Pferdeherde in Fabelwesen aller Art. Und so schob sie es zunächst auch auf eine Einbildung, als sie sich noch einmal umblickte und ihre Augen am Mond hängen blieben. Dennoch platzte es aus ihr heraus: „Der Mond sieht komisch aus. War der vorhin nicht rund?“ Keine Frage, der Mond hatte seine Kugelform sicherlich nicht vernachlässigt, aber er verdunkelte sich zusehends und nahm eine rote Farbe an. Zudem wirkte er unnatürlich groß, als hätte er sich an ihre Welt herangeschlichen und seinen Abstand verringert. „Das ist ein Blutmond“, klärte Takeru sie auf und ergänzte in knappen Sätzen, dass sich bei einer Mondfinsternis der Mond nur dann rötlich färben würde, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel zu den Gestirnen stünde. Die Lichtbrechung würde diesen magischen Effekt zaubern. Ein kleines Naturwunder. Plötzlich ertönte ein fröhliches Schnauben. Eines der Tiere löste sich aus der Dunkelheit heraus und trabte freudig auf die beiden zu. Es war tatsächlich Pikadon. Dort, wo einst sein Horn prangte, war ein hässlicher, kleiner Stumpen verblieben. Ein zauberhafter Lichtschimmer umhüllte diesen Frevel. Es war ein Licht so rein wie der Glanz des Mondes. Und jetzt begannen bei Taiyoko die Groschen zu fallen. Mit der flachen Hand schlug sie sich gegen die Stirn. Natürlich! Als das Einhorn damals sein Horn verlor, hatte es geheißen, bei einem Blutmond würde es wieder nachwachsen. Jedoch hatte sie weder gewusst, was ein Blutmond war, noch wo es so etwas gäbe. Ungeplant hatten sie ein unverschämtes Glück gehabt, ausgerechnet hier und heute zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein. Während der Mond sich stetig immer weiter verdunkelte, wurde das Leuchten auf Pikadons Stirn immer heller und größer. Es wuchs zu einem gleißenden Lichtkegel heran, bis es die ungefähre Länge des alten Horns hatte. Als dann der Mond vollends in Dunkelrot getaucht war, verschwand die Transparenz, und der Lichtschein wurde plastischer, bis sich in einem grellen Aufblitzen plötzlich ein neues Horn formte. Es war nur ein Vorgang von wenigen Minuten und scheinbar von den übrigen Pferden unbemerkt verlaufen, denn sie grasten nach wie vor ruhig und gelassen vor sich her. Doch Taiyoko und Takeru starrten wie gebannt auf das kleine Wunder vor ihren Augen. Ihr Einhorn war wieder komplett. Fröhlich umarmte das Mädchen ihren vierbeinigen Freund, kuschelte sich an seine Hals und vergrub ihr Gesicht in seiner wallenden Mähne. Sie konnte sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Auch Takeru unterdrückte nur schwer ein langes Gähnen. „Nur deswegen habt ihr beide mich gesucht? Das wäre doch gar nicht nötig gewesen“, ertönte die freundliche Bronzestimme des Einhorns und es beschloss, die beiden Nachtschwärmer nach hause zu bringen. Kaum hatte Taiyoko mit Hilfe eines kräftigen Schubsers seitens Takerus den weißen Rücken erklommen, fiel sie schon vorn über und schlief tief und fest ein. Das kurze dunkle Wiehern klang da schon fast wie ein kleiner Lacher, als sich Pikadon in Bewegung setzte und ein halbschlafender Takeru nebenher torkelte. „Nimm mal ein bisschen Haltung an, Ninja!“ tadelte das Tier amüsiert. „Du kannst mich mal ...“, grummelte es nur zurück. Der Rest des Weges war Schweigen. Erst vor der Haustür fand man gegenseitig wieder Worte für einander, als Takeru das Mädchen vor sich auf den Arm nahm, um es ins Haus zu tragen. „Wie werden morgen auf jeden Fall aufbrechen. Ist das OK für dich?“ Nachdem Zoro von seiner Tochter das Wadôichimonji wieder einkassiert hatte, war sich Takeru nicht mehr so hundertprozentig sicher, ob das Einhorn nun weiterhin ihr Tragetier bleiben würde. Nach ihrer Flucht von der Feuerinsel hatte es hoch oben in den Wolken die Information gegeben, dass Einhorn würde das Mädchen nur deshalb als Herrin bezeichnen und ihr als Reittier dienen, weil sie eben dieses Schwert bei sich hätte. Ohne das Einhorn als ultraschnelles Transportmittel wären beide aufgeschmissen. Alle neuen Reisepläne müssten sorgfältigst geplant werden, um nicht vom unbekannten Feind geschnappt zu werden. Über den Regenbogen hingegen waren Routen jederzeit spontan änderbar. Ein großzügiges Nicken ließ Takeru viele Steine vom Herzen fallen, dass eine Abreise weiterhin problemlos wäre. Er teilte Zoros Meinung, dass es dringend Zeit war, den Aufenthaltsort zu wechseln. Sie waren zeitlich längst überfällig und schon länger an diesem Ort geblieben, als es ihm selbst beliebte. Mit diesen Planungen in seinem Kopf lud er Taiyoko in ihrem Bett ab, befreite sie noch von Schuhen und Jacke und bezog sein eigenes Nachtlager auf dem Sofa. Der blaue Himmel und ein paar flauschige Wattewolken spiegelten sich in den Pfützen der vergangenen Nacht wider. Die Sonne hangelte sich an den Baumwipfeln entlang und konnte noch nicht von ihnen loslassen. Takeru fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht und knetete darin herum, auf dass die Müdigkeit weichen würde, doch der erhoffte Effekt blieb aus. Selbst das vorausgegangene Duschbad hatte nichts an seinem Zustand geändert, sich vitaler zu fühlen. Also stützte er sich wieder mit beiden Händen auf der Küchenzeile ab, guckte nach draußen und ließ noch für ein paar Minuten die Seele baumeln. Es war einfach ein zu schönes Bild dort draußen mit all den Farben und dem weichen Sonnenlicht. Noch einmal gähnte er herzhaft, drehte sich wenig galant um und erblickte sich dann selbst im Garderobenspiegel, welcher genau schräg gegenüber der Küchenzeile an der Tür zum Bad hing. Es zeigte ihn splitterfasernackt nur mit einem Handtuch um die Hüften geschwungen, tropfnassen Haare und einem hässlichen, quadratischen Loch in seiner Brust. Auch wenn es nicht schmerzte, so war es ein verdammt komisches Gefühl gewesen, als der Wasserstrahl einfach so durch ihn hindurchfloss wie Wasser in einem Rohr. Er fühlte sich unvollständig und ziemlich gefangen in seiner misslichen Lage, dass sein wichtigstes Körperteil nicht in ihm war, sondern irgendwo auf der Grandline auf der Thousand Sunny umherschipperte. Wenigstens kam sein Herz so ein wenig in der Weltgeschichte rum, versuchte er sich durch eine große Portion Eigensarkasmus zu trösten. Ansonsten wirkte der Mensch im Spiegel doch sehr zertrümmert und abgeflauscht. Über die dunklen Augenränder und die großflächig vernarben Haut einer alten Brandverletzung brauchte man gar nicht erst zu reden. Wenigstens sah man das Cipher Pol Zero Tattoo, welches sein linkes Schulterblatt zierte, von dieser Position aus nicht. Jeder aus der Einheit war damals so gebrandmarkt worden, ob es einem nun passte oder nicht. Er hasste das Tattoo, aber es war nun mal für die Ewigkeit gestochen und würde ihn zeit seines Lebens an seine brutalen Missionen erinnern. Allein der Gedanke daran machte ihm nicht nur schlechte Laune, sondern brachten die Galle zum Kochen, den Puls zum Rasen und dem nächtlichen Schlaf Albträume. Plötzlich flog die Tür zu Taiyokos Zimmer auf, und mit der Ruhe und Harmonie war es an diesem Tagesanfang schlagartig vorbei. Entgegen der üblichen Gewohnheiten, kam sie hellwach und mit viel Elan angerauscht. Für seinen Geschmack hatte sie viel zu viel Energie an diesem jungfräulichen Morgen gepachtet und artetet fast in Stress aus. „Wieso bist`n du so wach?“ muffelte er sie an und konnte die übersprudelnde Lebensquelle nach den wenigen Stunden des Schlafes so rein gar nicht nachvollziehen. „Kann man da auch durchfassen?“ machte sie hingegen eine ganz andere spannende Entdeckung, ging etwas in die Knie und blinzelte durch das Loch, welches wie ein Tunnel durch Takerus Brustkorb führte. Ein ausgestreckter Finger näherte sich ihm und unterstrich die Idee, dass einmal auszuprobieren. „Wie fühlt sich das an? Merkt man das?!“ bohrte sie fragend weiter ohne Rücksicht. „Nein!“, muffelte er in gleicher Tonlage weiter. „Was „Nein!“? Nein, zum Durchfassen? Oder Nein, weil man das nicht merkt?“ Argh, dieses Kind hatte viel zu viel gute Laune und Forscherdrang, und es war ihm wirklich nicht danach, nun ihr neues Forschungsobjekt zu sein. Mit einer geschickten Seitwärtsdrehung beförderte er sich selbst von der Küchenzeile weg hinüber zum aufgebauten Wäscheständer. Wenigstens war die Wäsche schon trocken, Er schnappte sich sein T-Shirt und entzog sich so der Neugier Taiyokos, die nun ein wenig schmollend durch die Badezimmertür verschwand. Es war wirklich höchste Zeit, dass sie weiterzogen. Sonst würde ihnen hier vielleicht sogar noch die Decke auf den Kopf fallen. Oder im schlimmsten Falle würde der Feind wieder aufkreuzen. Da gab es so einige namentlich aufzuzählen, die Jagd auf das Mädchen oder ihn machen würden. Immerhin hatte Blackbeard dazu aufgerufen, ihm einen Zwielichtwandler zu bringen, obgleich er nicht abzuschätzen vermochte, ob seine Gabe auf den Blues bekannt wäre. Als er seine Hose hochzog, bemerkte er, dass ein Teil der Hosennaht am Beinstoff aufgerissen war. Es konnte nur in der letzten Nacht passiert sein, als er sich mit Pikadon durch das Unterholz geschlagen hatte, weil ihm der Weg am Kürzesten schien. Nun guckte ihn sein Knie durch das Loch an. Er seufzte. Man müsste sich vielleicht dringend mal irgendwo neu ausrüsten. Bei Taiyokos Flucht aus dem Dampfer heraus ins Meer hatte er so gut wie seine komplette Ausrüstung verloren. Noch so eine Sache, die ihn nicht befriedigte. Die letzten Tage waren beide mehr als mittel- und ruhelos gereist. Gelegenheit zum Kauf neuer Waffen oder Kleidung hatte es nicht gegeben. Nun aber hatte sie die Erlaubnis von Zoro bekommen gehabt, die Haushaltskasse an sich zu nehmen, welche die Plünderung des Turms unbeschadet überstanden hatte. Damit ließ sich doch etwas anfangen. Damit stand für Takeru die Marschroute fest: Insel-Hopping in kurzen Zeitsequenzen. Es gab so viel zu sehen auf der Welt, wovon man nur gehört hatte. Pikadon würde einige Kilometer an Boden abzulaufen haben. Es blieb nur zu hoffen, dass das Einhorn den Spaß tatsächlich mitmachen würde. Andernfalls müsste man sich auf einen Sturz vom Regenbogen und einem harten Aufschlag auf einem der Blues gefasst machen. Er konnte nur hoffen, dass die beiden anderen seine Idee ebenso gut fanden wie er selbst. Und das würde er gleich mal beim Frühstück abklären. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)