Raftel (2) von sakemaki (The Rainbow Prism) ================================================================================ Kapitel 8: 8 - Fahrgemeinschaft ------------------------------- Der Becher rollte von der linken Tischseite zur rechten Tischseite. Ein Schubser mit der Hand und er rollte wieder zurück nach links. Und wieder nach rechts und nach links. Unzählige Male hatte der Becher dieses Prozedur gerade schon über sich ergehen lassen müssen. Aus zwei großen runden Augen starrten zwei kleine dunkle Pupillen gelangweilt auf das bewegte Trinkgefäß und folgten seinem vorgegebenen Weg über die Tischplatte. Die Rollbewegung lärmte ratschend und wetteiferte mit dem Klappern von Kannen und Töpfen aus der Kombüse um die Wette. Über allem hing ein frischer Geruch eines deftigen Brunches, welcher nur darauf wartete, auf Platten und in Terrinen seine Weg auf den großen Esstisch im Speisesaal der Sunny zu finden. Nachdem die Mannschaft ungewöhnlich spät aus den Betten gekommen war, hatte Sanji kurzum beschlossen, einfach das Frühstück ausfallen zu lassen und gleich mit einer umfangreicheren Mahlzeit in den Tag zu starten. Der weitere Tagesplan war noch nicht mit der Crew diskutiert worden. So hatte der Koch sich in Bezug auf die heutige Speisekarte auch noch keine weiteren Gedanken gemacht. Nun stand er hier in der Kombüse in den letzten Zügen seiner Kochzubereitungen, füllt Essen in Schüsseln um, richtete Platten an und ließ sich empfindlich von dem ratschenden Geräusch eines rollenden Bechers nerven. „Luffy, wenn der Becher noch einmal rollt, dann schieb' ich ihn dir dahin, wo du ihn ganz genau beobachten kannst!“ brüllte es aus der Küche über den Tresen dem Kapitän mehr als frostig entgegen. „Verschwende deine Energie fürs Tischdecken oder verpiss' dich!“, kam es da noch als ernsten Nachdruck hinterher. Tatsächlich hörte das Rollen auf, aber wohl weniger aus Respekt, denn mehr aus akuter Antriebslosigkeit. Luffy hatte seinen Kopf auf die Tischplatte neben den Becher gelegt und starrte nun durch seinen transparenten Boden wie durch ein Fernglas. Die Aussichten waren jedoch eher trübe. Und der Wunschtraum von bunten Kaleidoskopbildern erfüllte sich ebenso wenig. „Mir ist langweilig. Ich habe Hunger!“, erklang der Versuch einer Erklärung, die bei Sanji jedoch wenig Gehör fand. Dieser Satz war schon lange überaltert. Stattdessen tauchte der Blondschopf am Tisch auf und stellte einen Stapel Teller und eine Handvoll Besteck vor die Nase seines Chefs. Dieser trollte sich nun doch ein wenig, indem er den Kopf hoch hob und den Tisch aus seiner mehr liegenden als sitzenden Position heraus bestückte, was ihm nur deshalb gelang, da er Gummiarme hatte. Nein, der Smutje wollte sich nicht über diesen Umgang mit seinem teuren Essgeschirr in Rage äußern. Daher zog er es vor, seine Zigarette in einem Zug auf zu rauchen, sogleich eine Neue anzuzünden und die ersten Speisen an den Tisch zu schleppen. Es kam ihm gerade recht, dass Usopp und Chopper ihre Köpfe durch die Tür schoben. Dicht gefolgt von Franky und Brook. Ohne Vorwarnung hatten sie umgehend Schüsseln, Becher, Kannen und Servietten in den Händen, die sie kommentarlos zu verteilen hätten. Auch wenn es keine feste Sitzordnung am Esstisch gab, so hatte doch über die letzten Jahre jeder seinen Stammplatz gefunden. Und so fiel es sogleich auf, dass Usopp Zoros Platz beim Becherverteilen ausließ. Fragende Augen blickten ihn an. „Der ist heute früh schon los“, meinte der Kanonier achselzuckend. „Ach was...“ kam es eher unbeachtet, als interessiert, aus der Runde zurück, und damit war das Notiz nehmen über das fehlende Crewmitglied schon erledigt. Eine Besonderheit dieser Mannschaft war es, jedem Nakama ein gewisses Maß an freier Hand zu lassen über das, was es tat oder noch zu tun gedachte. Niemand war sich hier gegenseitig Rechenschaft schuldig. Ein jeder konnte seine Entscheidungen für sich treffen, was akzeptiert wurde, solange es die Crew nicht gefährdete. Es war eine Situation, die sich jahrelang als Optimum erwiesen hatte. Aber wenn der Strohhutjunge in die Runde seiner Mannschaft blickt und die letzten Jahre Revue passieren ließ, so begann dort irgendetwas im Getriebe zu haken. Es mochte erst nur eine Prise Sand sein, die die Abläufe zum Knarren brachten, doch Luffy konnte es in seinem Innersten nicht leugnen, dass ihm etwas nicht so recht passte. Er wusste selbst nicht recht, warum es ihm genau in diesem Moment übel aufstieß und er sich darüber den Kopf zerbrach. Missmutig nagte er an einem Schokoladencroissant, was sonst nicht seine Art war, und versuchte sich stillschweigend darin, was auch nicht seine Art war, diesen Gedanken zu formen, um hinter sein Geheimnis zu kommen. Da spukte ein Gespenst in seinem Kopf herum und wollte sich nicht fangen lassen. Dieser blöden Gedankengeist muss doch zu packen sein. Nachdenklich führte er seinen Becher zum Mund. Dabei versenkte er den Inhalt seiner Tasse mit dermaßen Schwung in seiner Kehle, dass er es umgehend wieder hervor prustete. „Bäh, da is' ja heißer Kaffee drin! Heiß!“ folgte die Beschwerde umgehend krakeelend. „Ja, ich habe mich auch schon gewundert, warum du nicht wie sonst die Kakaokanne gegriffen hast...“ entgegnete Nami verwundert. „Ist etwas?“ „Na, unser Herr Kapitän scheint sich mit ernsthaften Gedanken zu beschäftigen“, amüsierte sich Robin feststellend über Luffys Kaffee-Verirrung. Wenn ihr Kapitän über eine Sache nachdachte, die im sehr wichtig schien, so konnte man es nicht nur an seinem Gesicht ablesen. Man sah auch förmlich das Arbeiten der Kopfmühlenräder. „Oh je, hoffentlich denkt er nicht zulange. Sonst müssen wir es wieder ausbaden“, höhnte Franky aufheizend dazwischen. „Ruhe, ich hab's gleich ...“, konterte Luffy, griff zu der großen Schweinekeule und biss herzhaft hinein. Mit Weizenanteil im Essen wie bei so einem Croissant konnte man einfach nicht nachdenken. Eiweiß war da doch viel besser. Auch wenn der Anteil an Fleisch in Luffy-Portionen gerechnet nicht annähernd viel war, so lohnte es sich, auf dem einen Knochenende noch ein Weilchen herum zu lutschen und ihn wie den Becher auf dem Tisch zuvor von einer Backe in die andere zu schieben. Das andere Ende hing ihm im Mundwinkel. Wo war er nochmal stehen geblieben? Ach ja, die letzten vergangenen Jahre, der Eigensinn der Mannschaft und die stets abgeänderte Reiseroute. Er durchdachte im Schnelldurchlauf die letzten Abenteuer. Aus einer Mannschaft, in der jeder handeln durfte, wie er wollte, war nun eine Mannschaft geworden, in der tatsächlich jeder nur noch machte, was er wollte. Aus dem gegenseitigem Respekt für die Träume und Belange jedes Einzelnen war ein Selbstläufer geworden, bei dem immer mehr das Nehmen, als das Geben im Vordergrund stand. Dabei schien das innerhalb der Bande noch nicht einmal störend zu sein. Wenn er es sich so selbst einmal recht überlegte, und das tat er eben ganz intensiv, dann war er gar nicht mehr so direkt auf dem Weg ein Piratenkönig zu werden und Raftel zu finden, sondern die Sunny war zu einer Art Familientaxi mutiert. Eine kostenlose Fahrgemeinschaft mit Vollpension. Der Knochen der Keule in Luffys Mund verlor den salzigen Geschmack von gepökeltem Fleisch. Das nachdenkliche Herumkauen begann. Doch der Knochen leistete noch erbitterten Widerstand gegen den mahlenden Kieferknochen des Piraten. Luffy war nur noch damit beschäftigt, seine lieben Freunde überall hin zu kutschen. Da war an erster Stelle sein Mitstreiter der ersten Stunden, der boshaft gesagt, mehr in Loguetown wohnte, als auf der Sunny. Vermutlich lag es an Zoros absoluter Loyalität gegenüber seinem Captain, dass sich der Gummijunge auf dessen Forderung hatte eingelassen. Ohne den Hanyô wäre die Reise schon früher zu ende gewesen, als es allen lieb gewesen wäre. Also blieb Luffy dazumal nichts anders übrig als zuzustimmen: Entweder reiste die Crew öfters mal nach Loguetown oder die Strohhutbande hätte sich einen anderen Hanyô suchen müssen, was angesichts der Ausrottungsstrategien der Weltregierung ein schwieriges Unterfang gewesen wäre. Man hätte es auch Erpressung nennen können. Aber auch Usopp nahm das Sunny-Taxi gern in Anspruch, wenn seine liebste Kaya anrief. Chopper hatte auf diese Art und Weise schon einige Ärztekongresse besuchen können, Nami hingegen lieber Shopping-Tempel, und für Brook war das Piratenschiff ein prima Tourbus-Ersatz. Doch auch Franky nutze oft die Gelegenheit, mal ein Werkzeug von A nach B zu transportieren. Und wie ewig lange hatten sie für Sanji so eine bescheuerte Gewürzinsel gesucht, die winzig und auf keiner Seekarte verzeichnet war? Nun denn, Robin suchte eh alle Porneglyphen auf der Welt. Da war ihr die Reihenfolge der Fahrten egal. Der Knochen war gar nicht so hart, wie er vorgab. Er wechselte noch einmal die Backe, war aber kurz davor seinen Widerstand aufzugeben. Natürlich war er als Kapitän dabei nicht ganz unschuldig. Stets gab er nach, wenn mal wieder irgendetwas dringendes zu erledigen wäre. Zugegeben: Der Spaß stand im Vordergrund, aber voran brachte es ihn nicht. Vielleicht war er auch von seiner eigentlichen Reiseroute abgekommen, da es Raftel nicht mehr zu suchen, sondern nur noch zu finden gab. Zoro wusste den Weg und er müsste nur folgen. Doch wäre dann nicht auch mit einem Schlag der große Traum erfüllt? Was wäre dann der nächste Traum? Er würde dem wohl nicht auf die Schliche kommen, wenn alles weiterlaufen würde wie bisher. Es sollte sich wohl etwas ändern. Es musste sich etwas ändern. Keine Umwege mehr! In Luffys Mundhöhle krachte der Knochen und gab sein Innerstes preis. Seine Zungenspitze nippte am Knochenmark. Aber viel mehr Geschmack war dort auch nicht zu naschen. Er spuckte den Knochen vor sich auf den Teller. Zeit, ein Statement abzuliefern. „So, Leute! Wenn wir Marijoa hinter uns haben, segeln wir zur Neuen Welt! Und dann endlich nach Raftel!“ Essensgeräusche verstummten schlagartig, erstaunte Blicke starrten ihn an. Die Gedankengänge ihres Anführers hatten nicht dessen Hirn verlassen, um sich der Crew mitzuteilen. Diese tappte nun über die Hintergründe dieses plötzlichen Gefühlsausbruchs im Befehlston absolut im Dunkeln und wusste nicht so recht, ob die Ansage ab sofort galt oder gar ernst gemeint war. „Siehst du, wir müssen wieder irgendetwas ausbaden“, flüsterte Franky in die Runde. „Kommt einer mit?“ fügte Luffy noch hinzu und hatte sich längst zum Gehen erhoben, während er sich die Taschen mit den letzten Fleischkeulen füllt. Der Gummijunge hatte es entschlossen eilig. Über den erstaunt blickenden Crew-Köpfen formten sich glühende Fragezeichen, bis nacheinander eben diese wie Seifenblasen wieder zerplatzten. Klar, die Besatzung war ja nicht komplett, und Luffys Idee war gar nicht mal so verkehrt. Wenn sie weitersegeln wollten, musste sie Zoro erst wieder einsammeln. Der fehlende Orientierungssinn des Schwertkämpfers war seit je her eine Katastrophe. So hatte es sich ergeben, dass dieser meist eh lieber an Bord blieb und die Schiffswache übernahm. Sanji nannte Zoros Wachdienst aufziehend eher „ein Schiff be-pennen, als ein Schiff be-wachen“, aber das berührte diesen nicht im Geringsten. Was sollte er zudem auch auf einer Insel bei chronischem Geldmangel? Obgleich ihm das mit dem Finanzloch niemand mehr so recht abnahm, seit er urplötzlich vor einigen Jahren seine ausstehenden Schulden bei der Navigatorin beglichen hatte. Wie er das zu Wege gebracht hatte, blieb lange ein Geheimnis, bis Usopp und Chopper sich bei Franky verquatschte, der schon lange eine Ahnung hatte. Es geschah nämlich eines Tages, dass Tashigi grummelig in seiner Werkstatt auftauchte, sich suchend umsah und sich dann nach einige Seilen und alte Jutesäcken erkundigte. Der Zimmermann konnte sich da erst keinen Reim drauf machen, bis Tashigi wütend vor sich her murmelte, dass es nun Schluss wäre mit ausstehenden Schulden, während sie ihre Beute in einen der Säcke stopfte. Auf Heller und Pfennig hätte sie sich die Summe von Nami quittieren lassen. Schriftlich, damit die selbsternannte Kassenwartin nicht noch spontan etwas an den Zahlen drehen könnte. Anschließend verließ sie Werkstatt wieder und ward samt Zoro, Usopp und Chopper für die nächsten zwei Tage und Nächte nicht mehr gesehen. Zurück kehrte die Gruppe mit einem Jutesack voll Geld. Mysteriös! Wenn Zoro an das dumm blickende Gesicht der Navigatorin dachte, als er den Bündel Scheine vor sie auf den Tisch warf, dann huschte immer noch ein Grinsen über sein Gesicht. Hätte die Sunny an einer Insel geankert, so hätte der Funke einer Chance bestanden, dass Zoro das Schiff auf seinen Irrwegen einmal zufällig erwischt hätte. Doch hier auf einer Halbinsel sah es bedeutend anders aus. Einmal auf die Redline geraten, und Zoro wäre im wahrsten Sinne des Wortes verloren. Auch dass diese Gegend hier seine Heimat wäre, würde nicht bedeuten, dass er in irgend einer Form den Rückweg finden würde. Es sollte noch hinzukommen, dass er niemanden seiner Freunde in Kenntnis darüber gesetzt hatte, wann er überhaupt wieder zurück auf dem Schiff zu sein gedenke. Es schien also unausweichlich, ihn suchen zu gehen. „Müssen wir wirklich ALLE losgehen, um EINEN zurückzuholen?“, unterbrach Franky die Aufbruchpläne des Strohhutjungen, denn er war wenig bereit, seine Arbeiten zu unterbrechen. Der Rasen auf dem Schiffsdeck stand schon wieder knöchelhoch und schrie nach der Sense. Einige Stellen am Schiffsrumpf mussten noch dringend geteert werden, damit kein Seewasser sich in das wertvoll Adamholz fraß. Und die Werkstatt brauchte auch ein neues Ordnungssystem, wenn beim nächsten Seegang nicht wieder alles scheppernd aus den Regalen und Fächern fallen sollte. Auch Sanji hatte wenig im Sinn, den Marimo suchen zu müssen beim Anblick des wüsten Chaos im Speisesaal und in der Küche. Das Großreinemachen würde seine Zeit beanspruchen, und sogleich machte er sich an die Arbeit. Chopper hatte sich müde in sein Arztzimmer zurückgezogen und mischte unterschiedliche wässrige Lösungen mit Auszügen aus Heilkräutern. Man könne den Mischprozess nicht unterbrechen, andernfalls wäre die ganze tagelange Arbeit für die Katz gewesen und die Medizin wirkungslos, erklärte er. Brook war zunächst unschlüssig, schloss sich aber dennoch der Meinung des Schiffsbauers an, dass nicht die komplette Mannschaft losziehen müsste. Stattdessen schnappte er sich seine Geige, ging an Deck und beobachtete musizierend die offenen See nach weiteren Schiffen. Und so machte sich eine illustre vierköpfige Gesellschaft auf den Weg nach Shimotsuki. Luffy stiefelte voran und hatte seinen Fleischvorrat schon fast aufgebraucht, noch ehe die Mole endete und sie den kleinen Hafen erreichten. Usopp konnte darüber nur den Kopf schütteln und überlegte fieberhaft, in welchem Seitenfach seiner unerschöpflichen Tasche er sein Lunchpaket so bunkern könnte, dass es Luffy auf gar keinen Fall finden könnte. Nami beachtete die beiden nicht, denn schon längst hatte sie die näherer Umgebung in Augenschein genommen. Sie hatte einige Kartenausschnitte auf einem Klemmbrett befestigt und machte fleißig Notizen über den vor ihr liegenden Küstenverlauf. Schnell flog ihr Bleistift über die Karten und ebenso schnell radierte sie fälsche Angaben wieder aus. Robin beobachtete sie geheimnisvoll lächelnd in ihrer üblichen Art und erwähnte der Navigatorin gegenüber ein Porneglyph, welches hier ganz in der Nähe zu finden wäre. Die Sonne hatte bereits ihren Tageshöhepunkt überschritten und verwöhnte die kleine Gruppe mit viel zu vielen ihrer Strahlen. Sie brannte gnadenlos fröhlich vom Himmel herunter und trieb die Piraten schnell voran über den kopfsteingepflasterten Weg hinein in den schattigen Wald. Die Stimmung war gut, und sie hofften, dass die Suche sich begrenzt halten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)