Mörderische Goldgier von Anmiwin ("Geliebter Blutsbruder"- Teil II) ================================================================================ Kapitel 30: Belagerung ---------------------- Ich hatte nun unsere kleine Kammer erreicht, und während ich ganz leise an unser Lager trat, in dessen Fellen Winnetou weiterhin tief und fest schlief, mit einem entspannten, ja, fast schon seligen Ausdruck in seinem schönen Gesicht, da überkam mich mit einem Male ein solch grässliches Gefühl der Angst um ihn, dass mir fast übel wurde. Was wäre, wenn das Scheusal namens Thomson tatsächlich darauf spekuliert hatte, dass ihm und seinen Kiowas der Großteil unserer Gefährten folgen würde? Wenn er nun auf den Gedanken kam, auf einem Umweg zur Festung zurückzukehren, um diese, auf welche Art und Weise auch immer, mit seinen indianischen „Freunden“ zu überfallen? Was wäre, wenn ich dann abermals nicht in der Lage sein würde, meinen geliebten Freund zu beschützen? In einem solchen Fall käme Winnetou mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr mit dem Leben davon, aber selbst wenn – allein die Vorstellung, ihn ein weiteres Mal solch unmenschlichen Qualen ausgesetzt zu sehen wie vor knapp zwei Wochen im Zelt der Kiowas, verstärkte die bohrende Angst in mir so sehr, dass es mir fast die Luft abschnürte. Ich wurde richtiggehend überwältigt von solch einer Flut von verstörenden Gefühlen, dass mir sogar ein zittriges Aufschluchzen herausrutschte, welches ich sofort, die Hände vor den Mund schlagend, zu unterdrücken versuchte. In dieser Stellung verharrte ich und sah dabei angespannt auf meinen Blutsbruder hinab – hatte ihn das leise Geräusch aufgeweckt? In früheren Zeiten wäre er sofort aufgesprungen und hätte im nächsten Moment hellwach an meiner Seite gestanden, aber mir fiel schon seit einigen Monaten auf, dass er in meiner Gegenwart viel tiefer schlief als sonst, und jetzt natürlich erst recht, wo sein Körper sich erst einmal von den furchtbaren Strapazen erholen musste. Trotzdem verweilte ich noch in meiner erstarrten Haltung, denn ich wollte erst einmal sichergehen, dass ich wirklich nicht seinen Schlaf gestört hatte – und während ich noch so da stand, legte sich auf einmal eine Hand auf meine Schulter. Obwohl ich nun wahrlich kein ängstliches Naturell besitze, fuhr mir doch ein ordentlicher Schreck durch die Glieder, und daher hatte ich für einen Augenblick auch die größte Mühe, jetzt nicht auch noch einen unbedachten Laut der Überraschung von mir zu geben. Abrupt drehte ich mich um und gewahrte zu meiner Erleichterung unseren Walter Hendrick vor mir, der mich besorgt musterte. „Charlie – was ist mit dir?“, fragte er so leise wie möglich, doch mit einer deutlichen Unruhe in der Stimme. Erst wollte ich abwinken und ihm dadurch bedeuten, dass alles in Ordnung wäre, besann mich dann aber eines Besseren und gab ihm daher ein Zeichen, mir nach draußen zu folgen, wo ich ihm alles erklären konnte, ohne dass die Gefahr bestand, Winnetou dadurch doch noch aus seinen Träumen zu reißen. Also gingen wir nach draußen und entfernten uns ein Stück, bevor ich den Freund über die Ereignisse in den letzten Stunden sowie unsere Planung für die kommenden Tage in Kenntnis setzte. Ich tat das in aller Ausführlichkeit und ließ nichts aus, denn ich wusste genau, dass ich dem Doktor vollkommen vertrauen konnte; zudem hatte er mehrfach bewiesen, dass er gerade in gefährlichen Situationen einen kühlen Kopf behielt und stets ruhig und überlegt zu handeln pflegte. Auch jetzt hörte er mir erst konzentriert zu, bevor er für einige Momente in sich ging und über die neue Situation nachdachte. Wenige Augenblicke später sah er mir nachdenklich ins Gesicht, bevor er mit einem gewissen Ernst in der Stimme zu sprechen begann. „Du vermutest also, dass wir hier überfallen werden könnten, gerade weil sich im Augenblick nur wenige Männer zum Schutz in der Festung befinden?“ „Richtig!“, antwortete ich. „Natürlich bin ich mir da nicht sicher, aber der plötzliche Aufbruch der Indsmen kommt mir, vor allem nach dieser relativ kurzen Zeit, doch recht seltsam vor. Winnetou hatte schon vermutet, dass die Kiowas ihrem Häuptling zum größten Teil nur sehr ungern gefolgt sind, deshalb gingen wir von einem Zeitraum zwischen drei, maximal vier Wochen aus, in dem die Rothäute hier alles absuchen werden – recht lustlos, wie wir ja festgestellt hatten , um nach außen hin den Schein zu waren – um dann ohne Ergebnis das Weite zu suchen. Was Thomson hingegen anbelangt, sind wir....“ Hier unterbrach mich Hendrick und bewies mir mit seinen nun folgenden Worten, dass er in den letzten Tagen offensichtlich doch so einiges von all unseren Besprechungen mitbekommen hatte, obwohl er eigentlich nie daran teilgenommen hatte – sein Platz war fast immer bei Winnetou gewesen. „Ich kann mir, ehrlich gesagt, überhaupt nicht vorstellen, dass dieser Erzschurke freiwillig das Feld räumt, ohne zumindest einen oder auch mehrere Versuche zu wagen, an Winnetous Nuggets zu gelangen!“, meinte er, mich damit in meiner Vermutung bestätigend, und fragte dann: „Aber alleine wird er solch ein für ihn wohl sehr gefährliches Unternehmen auf keinen Fall durchführen, dazu ist der Kerl einfach viel zu feige, oder siehst du das anders?“ „Nein, da stimme ich dir vollkommen zu“, bestätigte ich ihn, bevor er fortfuhr: „Also müssen wir uns wohl in der Tat darauf einstellen, dass es hier zu einem wie auch immer gearteten Kampf kommt, und das zu einem Zeitpunkt, wo nur – wie viele genau? Zwei Pelzjäger und drei Apatschen? - hier sind? Und natürlich deine Wenigkeit, die ja mindestens fünf Männer aufwiegt – und ich bin schließlich auch noch da – nun ja, es ist natürlich wenig genug, aber vielleicht könnten wir die Angreifer solange in Schach halten, bis unsere Leute wieder zurück sind?“ „Langsam, Walter, langsam!“, versuchte ich den übereifrigen Doktor abzubremsen. „Noch wissen wir ja gar nicht, ob meine Vermutung sich bewahrheiten wird, das bleibt ...“ Doch ich wurde jetzt ein weiteres Mal von dem Arzt unterbrochen, als er einwarf: „Du weißt doch wohl selbst am besten, dass dein Bauchgefühl immer recht hat, da machen wir uns mal nichts vor! Und je früher wir uns auf eine solch unbefriedigende Situation einstellen und vorbereiten, desto besser können wir reagieren, richtig?“ „Richtig!“ erwiderte ich. „Du hast recht, wir sollten jetzt wirklich vom Schlimmsten ausgehen. Aber sag einmal – was soll das heißen, du bist auch noch da? Du willst doch nicht ernsthaft in einen möglichen Kampf eingreifen?“ „Wenn ich dazu gezwungen werde – natürlich!“, sagte Walter mit fester Stimme. „In den letzten Monaten habe ich einiges gelernt bei den Mescaleros, unter anderem auch, eine Waffe leidlich zu bedienen. Und bevor ich zulasse, dass irgend so ein Dreckskerl unserem Winnetou nochmals ein Leid zufügt, werde ich meine neu erworbenen Künste an demjenigen sehr gerne ausprobieren, darauf kannst du dich verlassen!“ Gerührt sah ich Walter an. Ich wusste ja, dass er einiges auf sich nehmen würde und es auch schon getan hatte, um Winnetou und mir in so vielen Situationen zu helfen, aber dass er sogar sein Leben für uns, vor allem für Winnetou, einsetzen würde, machte mich wirklich für einen Augenblick sprachlos. Bevor ich aber darauf eingehen konnte, begann er erneut zu sprechen, denn er hatte noch etwas auf dem Herzen. „Charlie – ist dir eigentlich bewusst, dass für Winnetou ein erneuter Kampf zu diesem Zeitpunkt lebensgefährlich werden wird? Und dass wir ihn, wenn es wirklich hart auf hart kommt, wahrscheinlich gar nicht daran hindern werden können, vor allem, wenn er weiß, dass du dich in einem so ungleichen Gefecht in die größte Gefahr begibst?“ Ich nickte schweigend, bedrückt, denn genau diese Gedanken waren mir vorhin auch schon durch den Kopf gegangen, und mir war klar, dass keine Macht der Erde meinen Blutsbruder davon abhalten könnte, mich zu beschützen. Hendrick war aber noch nicht fertig: „Charlie – sollten wir das hier alles doch irgendwie überstehen, dann müssen wir unbedingt dafür Sorge tragen, dass dein Freund in den nächsten Monaten nicht mehr solchen Gefahren ausgesetzt wird! Sein Körper musste jetzt zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit die größten Strapazen über sich ergehen lassen, Strapazen, die dann auch das Herz aufs Äußerste belastet haben. Ein drittes Mal wird er eine solche Überbelastung vielleicht sogar nicht überleben, aber es ist fast sicher, dass sein Herzmuskel dadurch dauerhaft geschwächt werden wird – und das würde bei seiner Lebensweise eine ständige Todesgefahr bedeuten! Er muss sich jetzt einfach erst einmal gründlich auskurieren, und das über einen langen Zeitraum, also mindestens ein halbes Jahr lang – besser wäre aber noch eine Erholung über ein volles Jahr und noch darüber hinaus!“ Walter hatte mich, seitdem er hier in der Festung erschienen war, schon mehrmals darauf hingewiesen, dass mein Freund im Anschluss an dieses Abenteuer dringend eine längere Ruhephase benötigen würde, aber in dieser Deutlichkeit hatte er mir die möglichen schwerwiegenden Folgen für Winnetou noch nie so nahegebracht. Wahrscheinlich hatte er mich bisher schonen wollen, wohl auch, weil er davon ausgegangen war, dass die unmittelbare Gefahr für Winnetou hier, in diesem gesicherten Tal, gebannt gewesen sei. Jetzt aber stand zu erwarten, dass es erneut zu einer heftigen Auseinandersetzung kommen würde, und nun wollte Walter mich dazu bringen, alles dafür zu tun, dass mein geliebter Freund diesen Kämpfen fernblieb. Fast schon verzweifelt sah ich zu Boden. Wie, um alles in der Welt, sollte ich das denn nur anstellen? Winnetou würde niemals sein Leben schonen, wenn meines in Gefahr wäre! Ich begann, ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich meinen Blutsbruder vielleicht sogar mit Gewalt daran hindern sollte – und wenn das die einzige Möglichkeit wäre, ihn nicht in Lebensgefahr zu bringen, dann würde ich diesen Weg auch ohne Umschweife wählen, dessen war ich mir sicher! Aber wie sollte es danach weiter gehen – vorausgesetzt natürlich, dass wir die kommende Zeit überhaupt überlebten? Mein Freund war das Oberhaupt aller Apatschen, er hatte eine ungeheure Verantwortung zu tragen, gerade in diesen turbulenten Zeiten, und das erforderte oftmals seine ganze Kraft und vollsten Einsatz. Es war uns gelungen, ihn in dem letzten halben Jahr von seinen Pflichten fernzuhalten, um seine Schussverletzung gründlich auskurieren zu lassen, aber das war nur möglich gewesen, weil Winnetou immer noch alle Entscheidungen selbst treffen konnte und im übrigen in seinen drei Jugendfreunden, Til Lata, Entschah-koh sowie Yato Ka, überaus fähige Unterhäuptlinge besaß, die ihn in dieser Zeit und nach seinen Anweisungen hervorragend vertraten und ihn ansonsten unterstützten, wo es nur möglich war. Jetzt aber war die Zeit gekommen, in der er sich unbedingt wieder selbst bei den verschiedenen Apatschenvölkern sehen lassen musste, und teils auch bei den weiter entfernt beheimateten und befreundeten Stämmen, um die guten Beziehungen zwischen den einzelnen Völkern und Stämmen zu vertiefen, Streitigkeiten zu schlichten oder sogar schon begonnene Fehden zu beenden. Würde er jetzt wieder nur seine Vertreter, so fähig diese auch waren, dorthin entsenden, so konnte das bedeuten, dass die Unruhe in einigen Gebieten zunahm und man dadurch auch den Weißen, vornehmlich umherziehenden Tramps, ein leichtes Spiel bot. Ich wusste, ich würde ihn von seinen Aufgaben nicht abhalten können, wollte es auch gar nicht, da ich genau wusste, dass Winnetou der Einzige war, dem es überhaupt gelingen konnte, einen dauerhaften Frieden im Süden und im Mittleren Westen zwischen Indianern und Weißen herzustellen. Aber jeder Ritt, jede längere Reise würde in seinem jetzigen Zustand ein erneutes Risiko für seine Gesundheit bedeuten, vor allem dann, wenn unvorhergesehene Schwierigkeiten auftauchten, so wie jetzt erst wieder mit unserer Begegnung mit den Goldsuchern geschehen. Winnetou würde es niemals fertigbringen, Menschen in Not sich selbst zu überlassen – und somit konnte man fast sicher annehmen, dass auf einer dieser Reisen mit einer nicht ausreichend auskurierten Verletzung sein Leben erneut in große Gefahr geraten würde. Wie sollte ich ihn davor nur bewahren können? Sicher, ich würde ihn natürlich auf jedem Ritt begleiten und ihn schonen und schützen, so gut es nur irgend ging, aber würde das reichen? Und wenn er einmal sein Amt als Häuptling wieder aufgenommen hatte, dann würde er auch wieder mit Feuereifer ans Werk gehen, und nichts und niemand konnte ihn dann noch daran hindern, weit über die Pflichterfüllung hinaus zu agieren und daher mehr Reisen zu unternehmen, als eigentlich nötig wären. Wieder einmal zogen Gedanken, Bilder vor meinem inneren Auge auf, Überlegungen, die ich schon des Öfteren angestellt hatte, eine Möglichkeit, die sich geradezu anbot, meinen Freund aus dem Gefahrenbereich herauszubringen... aber war das machbar? Weiter konnte ich nicht mehr darüber nachdenken, denn der Doktor hatte meine teils wohl sehr unglücklich wirkende Mine bemerkt, und er wusste genau, welche Art von Problemen mein Innerstes beherrschten, zumindest kannte er die naheliegenden, und lustigerweise kam er auch auf fast den gleichen Gedanken wie ich: „Charlie – sollte es wirklich zu einem Kampf kommen, dann werde ich alles dafür tun, dass dein Freund nicht daran teilnimmt!“ „Und wie willst du das anstellen?“, fragte ich ihn. „Indem ich dafür sorge, dass er gar nicht teilnehmen kann!“, behauptete er mit großer Überzeugung. „Aha“, meinte ich. „Und wie soll das gehen?“ „Ganz einfach! Ich werde, sobald abzusehen ist, dass es ernst wird, ihm ein starkes Schlafmittel verabreichen, so dass er mindestens einen ganzen Tag verschlafen wird!“ Erstaunt sah ich den Arzt an. Das war natürlich auch eine Möglichkeit – doch gleich darauf kamen mir einige Bedenken. „Könnte das nicht für Winnetous geschwächten Körper gefährlich werden, mein Freund?“ „Nicht, wenn ich die gesamte Zeit über bei ihm bleibe und seinen Zustand überwache! Sollte es zu irgendwelchen Problemen kommen, habe ich immer noch die Möglichkeit, darauf schnell zu reagieren.“ Er sagte das mit einer solchen Überzeugung in der Stimme, dass ich annehmen musste, dass er sich über diese Möglichkeit schon des Öfteren Gedanken gemacht haben musste. Trotzdem war ich mir nicht sicher, wie Winnetou darauf wohl reagieren würde: „Und was machst du, wenn Winnetou damit überhaupt nicht einverstanden ist und dich dafür zur Rechenschaft zieht?“, bohrte ich weiter. „Er muss es doch gar nicht erfahren“, antwortete Walter. „Zumindest vorher nicht, und wenn er es nachher herausfindet – wovon ich bei ihm sowieso ausgehe – so werde ich die Verantwortung auf mich nehmen und ihm die Gründe für mein Handeln erläutern, wobei ich ihm deutlich mache, dass du nichts davon wusstest!“ „Hm....“ So richtig überzeugt war ich von der Sache nicht, aber es war allemal besser, als meinen Freund in die Gefahr rennen zu lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihn daran zu hindern. „Das hat übrigens auch den großen Vorteil, dass er während eines Kampfes nicht alleine ist, sondern sich relativ geschützt in der Kammer befindet, wo ich jedem Feind, der es wagt, seine Nase durch den Eingang zu schieben, eine Kugel in den Kopf jagen werde!“ Hendrick entwickelte mit einem Male einen Mut und eine Kampfeslust, dass ich nur darüber staunen konnte. Aber er hatte recht, besser würden wir Winnetou nicht schützen können. Jetzt musste ich mir aber über den eigentlichen Kampf – sofern es überhaupt dazu kommen sollte – Gedanken machen. Vielleicht würde es uns gelingen, einen Angriff von Thomson nebst seinen Kumpanen und roten Freunden außerhalb der Festung abzuwehren? Vielleicht war es sogar möglich, dem elenden Verbrecher selbst eine Falle zu stellen? Oder noch besser – vielleicht würde es sogar möglich sein, einen der zurückgebliebenen Apatschen die Spur unserer Gefährten verfolgen zu lassen, so dass diese über alles informiert wurden und sofort den Rückweg antraten? In diesem Moment bewies mir Walter, dass er sich zum Teil schon die gleichen Gedanken machte wie ich, denn er fragte mich jetzt: „Sag einmal, Charlie – wäre es nicht möglich, dass du selbst oder einer der anderen Zurückgebliebenen so schnell wie möglich hinter den Unsrigen her reitest und diese wieder zurückholen würdest?“ „Darüber habe ich gerade eben auch nachgedacht, mein Freund“, antwortete ich. „Aber es herrscht tiefste Dunkelheit, und die Spuren und auch die zurückgelassenen Zeichen jetzt zu erkennen ist unglaublich schwierig und hält lange auf. Bis ich oder einer der anderen unsere Leute eingeholt und zurückgebracht haben würde, wäre viel zu viel Zeit vergangen, in der hier alles Mögliche geschehen könnte! Nein, wir benötigen jeden Mann, der fähig ist, gegen einen solch grimmigen Feind zu kämpfen – und die Butterfields sind weder für einen solchen Kampf geeignet noch für diesen gefährlichen Botendienst!“ Ich bemerkte den vielsagenden Blick des Doktors und unterband dessen Vorhaben dann auch sogleich: „Und du wirst hier ebenfalls dringend gebraucht! Nicht nur allein für Winnetou – es wird im Falle einer Auseinandersetzung mit Sicherheit nicht ohne Verletzungen abgehen, und da kann ich es nicht zulassen, dass ausgerechnet du dann irgendwo da draußen umherirrst!“ Hendrick nickte, hatte aber noch eine letzte Frage: „Rechnest du mit einem Überfall – wenn er denn überhaupt geschehen wird – schon heute Nacht?“ „Nein, eigentlich nicht“, entgegnete ich. „Dazu ist die Zeit viel zu kurz gewesen, die seit dem Aufbruch von Thomson und den Kiowas verstrichen ist.“ „Nun, dann wäre es doch besser, wenn wir uns jetzt etwas Schlaf holen würden, denn so wie es aussieht, könnte es damit in nächster Zeit nicht allzu weit her sein!“ „Da hast du vollkommen recht!“, stimmte ich ihm zu. „Morgen werde ich die übrigen Männer informieren, und dann werden wir weitersehen!“ Somit wünschten wir uns eine Gute Nacht und begaben uns dann zu unseren Schlafplätzen – meiner befand sich natürlich an der Seite Winnetous, während Hendrick in der Kammer direkt nebenan schlief, um im Notfall sofort an der Seite meines Freundes sein zu können. Leise betrat ich den kleinen Raum und betrachtete abermals das schöne Gesicht des tief schlafenden Apatschen. Würde es mir gelingen, ihn aus allem herauszuhalten? Ich war fest entschlossen, ihm nichts von der drohenden Gefahr zu sagen, und da er ja noch nicht aufstehen durfte, bestand durchaus die Chance, dass er davon auch anderweitig nichts mitbekommen würde – zumindest solange, bis es richtig ernst wurde. Allerdings – Winnetou hatte schon so oft bewiesen, dass er meine Gedanken förmlich lesen konnte, also wie um alles in der Welt sollte ich jetzt verhindern, dass er mir auf dem ersten Blick ansah, dass mich so ernste Dinge beschäftigten? Doch jetzt wurde ich mit einem Mal von einer solch großen Müdigkeit übermannt, dass ich beschloss, mich sofort zur Ruhe zu legen und mich mit diesen ganzen unangenehmen Dingen erst am nächsten Morgen wieder zu befassen. So leise wie möglich entkleidete ich mich und legte mich dann vorsichtig an die Seite meines geliebten Blutsbruder. Seine tiefe, regelmäßige Atmung, sein unverwechselbarer Duft und natürlich erst recht seine Nähe, seine Wärme ließen meinen Geist ganz schnell zur Ruhe kommen und sorgten dafür, dass ich mich in kürzester Zeit wohl und entspannt fühlte. Doch jetzt begann mein Freund sich leise zu regen. Er murmelte etwas Unverständliches und drehte sich dann tief aufatmend halb auf die Seite, direkt in meine Richtung, während seine Hand unmittelbar vor mir unruhig suchend umher tastete. Sofort ergriff ich sie, drückte sie an meine Brust und strich mit meiner anderen Hand immer wieder sanft über seinen Handrücken. Das bewirkte, dass er, weiterhin tief schlafend, noch näher und enger an mich heran rückte, bis sein Kopf meine Schulter erreichte und er sich mit einem wohligen Seufzer darauf niederließ. Ich wagte nicht die geringste Bewegung, nur meine Hand streichelte weiterhin ruhig und sanft die seinige. Nach wenigen Minuten war ich mir aber sicher, dass er nicht erwacht war und drehte mich nun auch etwas in seine Richtung. Dadurch kam mein Mund seiner Stirn ganz nahe, und nun konnte ich mich in keinster Weise mehr dem Drang erwehren, ihm einen vorsichtigen Kuss darauf zu drücken. Kurz wartete ich ab, ob er darauf reagierte, doch außer einem leisen, tief in der Kehle sitzenden Brummen kam keine Reaktion. Alles andere um mich herum vergessend, wiederholte ich meine Liebkosungen noch mehrere Male, bis mir irgendwann die Augen zufielen und ich mit dem Mund an seiner Stirn einschlief. Am nächsten Morgen war ich allerdings noch vor Sonnenaufgang munter, denn die nagende Unruhe in mir ließ mich einfach nicht mehr schlafen. Winnetou hingegen lag noch in den schönsten Träumen, zumindest sah er so aus, wenn ich mir sein tiefenentspanntes, fast schon lächelndes Antlitz so betrachtete. Wie sehr wünschte ich mir, dass nichts und niemand mehr seinen Frieden stören könnte! Entschlossen wandte ich mich dem Ausgang zu und warf einen Blick über das Tal, welches teilweise noch im Dunkeln lag. Soweit ich es erkennen konnte, war außer dem Pelzjäger, der Wache hielt, ein Mann namens Pete Muller, noch niemand auf den Beinen. Sollte ich abwarten, bis sie alle endlich erwacht waren, oder die Apatschen und den anderen Pelzjäger lieber jetzt direkt aus dem Schlaf reißen, damit sie schnellstmöglich über die drohende Gefahr informiert waren? Würde ich damit nicht völlig überstürzt handeln? Immerhin beruhte das alles ja nur auf eine bloße Vermutung, einer Ahnung meinerseits, und wurde durch keinen einzigen Beweis gestützt! Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn ich erst einmal einen vorsichtigen Rundgang außerhalb der Festung unternahm, um mich davon zu überzeugen, dass noch keine unmittelbare Gefahr bestand? Unschlüssig stand ich so eine ganze Zeit lang vor unserer Kammer, als ich mit einem Mal ein Geräusch hinter mir vernahm. Ich drehte mich schnell um und gewahrte zu meinem Schrecken – Winnetou! Er war doch tatsächlich aufgestanden und und leise hinter mich getreten, und das alles, obgleich er dafür noch gar nicht stark genug war! Schon hatte ich einige zürnende Worte auf den Lippen und machte gleichzeitig Anstalten, ihn sofort zu seinem Lager zurückzutragen, da legte er mir die Hände auf die Schultern und sah mich mit seinem unnachahmlichen Blick ernst an. „Mein Bruder trägt die Last der Sorge in seinem Herzen – will er sich seinem Blutsbruder nicht anvertrauen?“ Mein Herz wurde mir schwer bei seinen Worten, denn genau das hatte ich ja unbedingt vermeiden wollen, um ihn erst gar nicht in Gefahr zu bringen! Gleichzeitig aber war ich unendlich gerührt über seine tiefe Liebe zu mir, die ihn, ohne darüber nachzudenken, aus dem Bett getrieben hatte, obwohl er dazu eigentlich noch gar nicht in der Lage war. Darum antwortete ich jetzt auch schnell: „Ich werde meinem Bruder alles berichten, aber erst, wenn du dich wieder hingelegt hast, und zwar so schnell wie möglich! Wie kannst du nur so ein Risiko eingehen? Du weißt doch, dass du deinen Kreislauf im Augenblick auf keinen Fall belasten darfst, und erst recht nicht die gebrochene Rippe!“ Jetzt hatte sich doch etwas Ärger in meine Stimme geschlichen, aber es war mir wirklich unmöglich, ihn zurückzuhalten – ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, meinen geliebten Freund ständig in Gefahr zu wissen! Winnetous schönes Antlitz wies mit einem Mal einen ungewohnt erstaunten Ausdruck auf, denn einen solchen Ton kannte er von mir gar nicht, zumindest nicht ihm gegenüber. Doch dann musste er in meinen Augen die übergroße Sorge um ihn erkannt haben, denn sofort wurden seine Züge wieder ganz weich, der Ausdruck seiner Augen ganz mild, und mit einem leisen, aber herzlichen Lächeln schlang er seine Arme um mich, lehnte seine Stirn an meine und versuchte, mich zu beruhigen: „Mein so überaus vorsichtiger Bruder kann wirklich beruhigt sein – Winnetou wird sich nur in soweit belasten, wie sein Körper es auch verkraften kann, und diesen kennt er nun mal sehr gut!“ Allein seine Berührung, der weiche, aber doch so sichere Klang seiner Stimme, und nicht zuletzt sein liebevolles Lächeln bewirkten, dass sofort aller Trübsal verflog und ich mich augenblicklich beruhigte. Trotzdem hatte ich nicht vor, seinen Ungehorsam gegen die ärztlichen Anordnungen gutzuheißen. „Das mag ja sein“, erwiderte ich daher, während ich meinen Freund ohne Umschweife in meine Arme hob und ihn wieder zurück auf sein Lager trug. „Aber ich habe in letzter Zeit in dieser Hinsicht zu viel Schreckliches erlebt, habe zu große Ängste und Sorgen um dich ausstehen müssen, als dass ich jetzt gegen die Anweisungen unseres Doktors handeln möchte!“ Und mit diesen Worten legte ich ihn behutsam wieder auf die weichen Bärenfelle zurück, die unsere Bettstatt ausmachten. „Vertraut mein Bruder Scharlih meinem Urteil nicht mehr?“, wollte Winnetou in diesem Moment wissen, und mich durchfuhr sogleich ein kleiner Schreck, denn ich mochte natürlich auf keinen Fall so von ihm verstanden werden. Doch dann sah ich ihm ins Gesicht und entdeckte tatsächlich ein äußerst verschmitztes Lächeln darin, und seine Augen blitzen voller Vergnügen. Ihm schien es ja wirklich richtig gut zu gehen! Doch seine Miene wurde sogleich wieder ernst, fragend sah er mich an und da bedurfte es keiner weiteren Aufforderung mehr von ihm – ich begann zu erzählen, allerdings nur von den Ereignissen des gestrigen Abends, also dem Aufbruch der Kiowas samt den beiden weißen Halunken und der Verfolgung durch unsere Leute. Von meinen Vermutungen bezüglich einer Täuschung und eines geplanten Überfalls auf die Festung sagte ich nichts, fühlte mich aber unter Winnetous bohrenden Blicken zunehmend unwohl. Ahnte er etwas? Ich hatte ihm eigentlich noch nie etwas verschweigen können, und erst recht hatte ich ihn noch nie belogen, doch genau so fühlte es sich in diesem Moment für mich an. Als ich geendet hatte, wagte ich zuerst gar nicht, ihm in die Augen zu schauen, aus Sorge, die meinen könnten verraten, dass das noch nicht alles gewesen war – und als ich es dann doch, allerdings sehr zögerlich tat, sah er mich auch mit einem nahezu undurchdringlichen Blick an, in dem ich gar nichts lesen konnte. Nun aber legte er seine Hände auf meine Wangen, zog mich noch näher zu sich heran und sagte leise: „Ich bitte meinen Bruder, sich keine Sorgen mehr zu machen – dieser weiße Kojote namens Thomson wird uns nicht entgehen!“ Das waren zwar sehr tröstende Worte, aber sie sagten nun einmal gar nichts darüber aus, ob er mir meine Geschichte zur Gänze abnahm. Doch das erschien mir mit einem Mal auch nicht mehr so wichtig – wichtig war für mich nur, dass mein geliebter Freund jetzt ganz nah bei mir war, mit einem sich langsam bessernden Gesundheitszustand bei mir war, und sich im Augenblick in Sicherheit befand, auch wenn diese zur Zeit eher trügerisch war. Ein überwältigendes Gefühl der tiefsten Liebe zu ihm überkam mich jetzt, so heftig, dass ich ihn ohne Umschweife fest in meine Arme zog, und er erwiderte diese Umarmung auch sofort mit der gleichen Intensität. Kurze Zeit darauf begann es in den anderen „Wohnstuben“ lebendig zu werden, und noch ein wenig später herrschte wieder reges Treiben im Tal. Mit der üblichen morgendlichen Routine wurden die Pferde versorgt, das Frühstück hergerichtet, und eben wollte man die Wachen einteilen, als ich mit meinen Befürchtungen und Vermutungen dazwischen platzte und alle Sorglosigkeit mit einem Schlag beendete. Die drei Apatschen stimmten mir ebenso wie die beiden Pelzjäger sofort bei, dass es sich bei dem plötzlichen Aufbruch der Kiowas durchaus um eine Täuschung handeln könnte. Ihnen allen fiel jetzt erst auf, wie wenig geschützt die Festung nun war, nachdem der Großteil unserer Männer zur Verfolgung der feindlichen Rothäute aufgebrochen war – aber konnten die Feinde das überhaupt wissen? Thomson hatte doch eigentlich nur Kenntnis über die Anwesenheit von Winnetou, Emery, Sam, den zehn Apatschen samt Tsain-tonkee, die zehn Butterfields und mir selbst. War es denn möglich, dass man uns in den letzten Tagen sogar ausgespäht hatte? Nein, sagte ich mir, dass konnte gar nicht sein, denn unsere Kundschafter waren äußerst fähige Männer, von denen sich niemand so leicht entdecken ließ. Aber vielleicht war den Kiowas von früheren Zeiten her bekannt, wie viele Männer die Festung ansonsten beherbergte; zudem war es natürlich auch möglich, dass die Feinde sich so ungefähr die Anzahl der Leute ausmalen konnten, die das Tal in der Regel bewohnten. Und wenn die ganze Aktion tatsächlich eine Falle darstellen sollte, dann hatte man mit Sicherheit auch die Verfolger beobachtet, die wir ausgesandt hatten, und daraus konnten Thomson und seine Leute durchaus die richtigen Schlüsse ziehen, was die ungefähre Anzahl der in der Festung Verbliebenen anbelangte. Es war also dringend nötig, dass wir jetzt besonders auf der Hut waren und unsere Umgebung aufs Schärfste überwachten. Da wir annehmen mussten, dass im Falle der Richtigkeit meiner Befürchtungen unsere Festung schon umstellt und sorgfältig beobachtet wurde, konnten diese Aufgabe natürlich nur unsere besten Späher übernehmen. Im Normalfall hätten wir alle, ohne auch nur nachzudenken, Winnetou mit der Kundschafterrolle betraut, aber da das ja nun einmal überhaupt nicht möglich war, einigten wir uns auf die drei Apatschen, die ja schon von Natur aus für derlei Aufgaben besonders befähigt waren. Den allerersten Rundgang wollte aber ich jetzt zuerst übernehmen, und da so etwas, je nach Lage, Stunden dauern konnte, besprach ich mich mit dem Doktor über unsere Verhaltensweise Winnetou gegenüber, der ja nun einmal nichts von der drohenden Gefahr mitbekommen durfte. Bisher hatte ich meinen Freund tagsüber immer nur für gerade mal einige Minuten verlassen, und nun musste ihm meine Abwesenheit für eine längere Zeit glaubhaft erklärt werden – ich hatte allerdings keine Ahnung, wie wir das anstellen sollten. Schon jetzt war ich zum ersten Mal überhaupt mehr als eine halbe Stunde von ihm getrennt, und ich hatte ihm gegenüber das vorhin damit begründet, dass ich aufgrund der neuen Situation und der nun sehr geringen Anzahl an Männern die Neueinteilung der Posten überwachen wollte – was ja auch durchaus der Wahrheit entsprach. Winnetou hatte dazu nur genickt, und ich hoffte jetzt inständig, dass er zwischenzeitlich wieder eingeschlafen war, was bei ihm noch sehr häufig und auch über längere Zeit der Fall war. Wir einigten uns darauf, dass Hendrick bis zu meiner Rückkehr bei meinem Freund bleiben und ihn irgendwie ablenken musste, sollte dieser zwischenzeitlich wieder erwachen, bevor ich zurückgekehrt war. Dann war es auch schon soweit – ich hatte schnell einige Vorbereitungen getroffen und machte mich nun auf, zum ersten Mal seit elf Tagen die Festung wieder zu verlassen. Schon auf dem Weg durch den Tunnel war ich äußerst vorsichtig, doch der Posten, der draußen den Eingangsbereich überwachte, gab mir zu verstehen, dass die Luft rein war. Ich traute dem Frieden aber nicht so recht und machte mich daran, die ganze Umgebung in immer größer werdenden Halbkreisen zu erkunden. Das ging natürlich nur sehr langsam und war äußerst mühselig, denn ich musste ja gleichzeitig darauf achten, nicht selbst von eventuellen Spähern entdeckt zu werden, während ich mit äußerster Vorsicht jedes Dickicht, jedes Gebüsch und natürlich den naheliegenden Wald Schritt für Schritt durchkämmte. Und dann, am späten Vormittag, wurden meine Bemühungen tatsächlich von Erfolg gekrönt! Ich schob gerade meinen Kopf langsam und so geräuschlos wie möglich durch eine Gruppe eng stehender Haselnusssträucher, als ich mich noch so gerade eben zurückhalten konnte, nicht erschrocken zurückzuzucken – genau vor mir, keine zwei Schritte entfernt, kauerte ein Indianer, zweifelsfrei ein Kiowa, vor dem mir gegenüberliegenden Gebüsch. Er hatte seinen Kopf, soweit ich das von hinten erkennen konnte, zwischen die Zweige gesteckt und beobachtete offenbar ein großes Felsmassiv, welches sich dem anschloss, in dem sich unsere Festung verbarg. Doch weil dieses Massiv so weitläufig war, befand sich dieser Teil hier noch in einiger Entfernung, wahrscheinlich sogar außer Hörweite, wenn ich mich nicht völlig täuschte. Also hatte ich Recht gehabt! Es waren nicht alle Kiowas fortgeritten, und ich konnte darauf wetten, dass sich nicht nur dieser eine hier in der Gegend befand! Die Art, wie die Rothaut vor mir auf das Felsmassiv starrte, ließ mich vermuten, dass er den Eingang unserer Festung hier ganz in der Nähe wähnte, und damit lag er zu unserem Glück völlig daneben. Es war allerdings nicht auszuschließen, dass sich noch mehr Spione hier in der Gegend befanden, und wenn einer davon sich zufällig dem Tunnel näherte... Es half nichts, ich musste zurück, um das zu überprüfen, obwohl ich sehr gerne noch weiter die unmittelbare Umgebung hier abgesucht hätte. Also schlich ich langsam und sehr, sehr vorsichtig wieder zurück, diesmal auf dem direkten Weg, ohne allerdings zu versäumen, die ganze Strecke entlang nach weiteren Kundschaftern Ausschau zu halten. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte niemand weiteren entdecken, und somit erreichte ich unbehelligt wieder meine Ausgangsposition. Auch hier suchte ich nochmals fast jeden einzelnen Baum ab, konnte aber trotz genauester Suche kein feindliches Wesen mehr ausmachen. Es war schon fast Mittag, als ich das kleine Rund unseres Tals betrat, nicht ohne vorher den Wachposten am Ausgang des Tunnels über den feindlichen Spion zu informieren und ihn genauestens über seine Verhaltensweisen hinsichtlich der neuen Situation zu instruieren. Man hatte mich schon sehnlichst erwartet und war darüber hinaus schon fast in Sorge geraten. Meine Neuigkeiten trugen dann auch nicht gerade dazu bei, diese zu zerstreuen, aber es half nichts, wir mussten uns der Gefahr stellen, ob wir wollten oder nicht. Ich bat die Männer, einen Moment noch auf mich zu warten, bevor wir unser weiteres Vorgehen besprachen, doch zuerst wollte ich nach Winnetou sehen und sprang schnell die wenigen Stufen hinauf, die zu unserer Kammer führten. Leise betrat ich den Raum und fand zu meiner Erleichterung meinen Freund tief schlafend vor, während Walter Hendrick daneben saß und seinen Schlaf bewachte. Auch er sah sehr erleichtert aus, als er mich bemerkte und gab mir durch Handzeichen zu verstehen, dass es dem Apatschen gut ging. Ich bedeutete ihm, mit mir für einige Zeit an die Feuerstelle zu kommen, damit ich ihn dort zugleich mit den anderen Gefährten über meine neuesten Entdeckungen in Kenntnis setzen konnte, und Walter folgte mir sogleich. Unten angekommen fasste ich knapp das Ergebnis meiner Erkundigungen zusammen, woraufhin wir alles weitere besprachen. Meine Gefährten waren zwar alle sichtlich erschrocken über die Nähe der Feinde, hatten damit aber doch schon irgendwie gerechnet. Es dauerte daher auch nicht lange, bis wir uns darauf geeinigt hatten, von nun an ständig eine Wache direkt am Tunnelausgang zu postieren, während ein weiterer Späher – dass sollte immer ein Apatsche übernehmen – den ganzen Bereich und einen kleinen Umkreis drumherum immer im Auge behalten sollte, damit wir so noch rechtzeitig erfuhren, wenn die Feinde doch noch den Zugang zur Festung entdecken sollten. Ich selbst wollte mich vor allen Dingen oben an den Steilwänden der Festung umsehen und jeden Tag dort mindestens zwei Kontrollgänge durchführen, jeweils morgens und abends. Es war zwar äußerst schwierig und sehr gefährlich, dort hinaufzugelangen, und unter anderen Umständen hätte ich das auch nur von außen gewagt, aber das war wegen der hohen Entdeckungsgefahr nun mal einfach nicht mehr möglich. Trotzdem durften wir gerade diesen Bereich nicht außer Acht lassen, denn die Erinnerung an den damaligen Überfall, der dort oben auf den Höhen seinen Anfang genommen hatte und der für uns und unsere Gefährten so blutig, teils sogar tödlich, ausgegangen war, trieb mich dazu, hier ein besonderes Augenmerk draufzulegen. Aus diesem Grund nahm ich diese gefährliche Aufgabe auch gleich in Angriff. Ich suchte mir eine Stelle, an der ich zumindest halbwegs sicher heraufklettern konnte, die aber gleichzeitig so geschützt lag, dass mich ein eventueller Beobachter von oben nur schwerlich entdecken konnte. Da ich den damaligen Überfall noch recht anschaulich vor Augen hatte, fand ich auch bald den Ort, an dem die Pawnees ihren Weg zu uns herunter gefunden hatten. Zu meiner Zufriedenheit war diese Stelle wirklich sehr gut für mein Vorhaben geeignet, auch weil sie in den vergangenen Jahren mit dichten Buschwerk fast zugewachsen war und man mich daher allerhöchstens von der direkt gegenüberliegenden Seite des Felsmassivs hätte sehen können, und dieses verbleibende Restrisiko konnte ich getrost eingehen. Es dauerte nicht lange, so war ich sicher oben angelangt, obwohl die Kletterei nun wahrlich alles andere als ein Spaziergang war und außerdem oftmals die hohe Gefahr eines Absturzes barg. Es war aber glücklicherweise alles gut gegangen, und nun begab ich mich sofort in den Schutz des Dickichts, welches dicht und recht hoch rings auf dem mit spitzen Felsen übersäten und teils äußerst schmalen Felsgrat wuchs. Dadurch vor feindlichen Blicken geschützt, begab ich mich nun auf einen Rundgang entlang des Grates, bis ich das Tal einmal umrundet hatte. Ich fand aber weder einen feindlichen Kundschafter noch die Spuren eines solchen Spähers, und konnte daher hoffen, dass unsere Festung auch von dieser Höhe aus noch nicht entdeckt worden war. Zur Sicherheit ging ich aber nochmal an verschiedenen Stellen ein kurzes Stück den Berg zur anderen Seite herunter, fand aber auch hier nichts Auffälliges. Nach einiger Zeit kam ich auch wieder heil unten an und machte mich sofort auf dem Weg zu meinem Blutsbruder, um zu erfahren, ob er wegen meines langen Ausbleibens nicht vielleicht schon Verdacht geschöpft hatte, aber vor allem auch, um mich nach seinem Zustand zu erkundigen. Als ich in unserer Kammer eintraf, fand ich den Apatschen alleine vor, doch der Doktor war ganz in der Nähe. Da Winnetou schon seit Längerem wieder erwacht war, hatte der feinfühlige Hendrick ihn nach einem gewissen Zeitraum nicht mit seiner ständigen Anwesenheit belästigen wollen und war deshalb in seinen eigenen Schlafbereich übergewechselt, von wo aus er aber im Notfall sehr schnell zur Stelle sein konnte. Die wundervollen, samtig-schwarzen Augen meines Freundes blickten mir schon erwartungsvoll entgegen, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich nun regelrecht zu durchleuchten versuchten, als ich mich neben seinem Lager niederließ, seine Rechte in meine beiden Hände nahm und ihm einen liebevollen Kuss zur Begrüßung auf die Stirn drückte. Ich wusste, was er fragen wollte, ich wusste aber auch, dass er diese Frage nicht aussprechen würde, da er sicher davon ausging, dass ich erriet, was er von mir wollte und ihm auf die unausgesprochene Frage antworten würde. Das tat ich dann auch, indem ich von meinen ausgedehnten Rundgängen berichtete und sie damit begründete, dass es im Augenblick ja auch einen erhöhten Sicherheitsbedarf gab, da wir nun mal nur noch sehr wenige Männer in der Festung waren, die diese auch im Ernstfall verteidigen konnten. Das war natürlich nur die halbe Wahrheit - dass ich großes Unheil vermutete und die Kiowas doch hier in der Nähe wusste, verschwieg ich ihm abermals. Winnetou hörte sich meine Erklärungen ruhig und wortlos an, wandte seine Augen danach aber nicht von mir ab, und unter seinen forschenden Blicken fühlte ich mich fast schon durchschaut. Also versuchte ich es mit einem Ablenkungsmanöver. Mit einem breitem Lächeln im Gesicht beugte ich mich über ihn und begann, seine herrlichen Lippen mit innigen Küssen zu verwöhnen. Ganz kurz erhaschte ich noch den etwas erstaunten und überraschten Ausdruck in seinem Gesicht, bevor er mich fest in seine Arme zog und meine Liebkosungen mit einer fast schon heftigen Intensität erwiderte. Der restliche Tag verging ohne Störungen. Obwohl wir wirklich äußerst scharf aufpassten und mehrere Male die unmittelbare Umgebung der Festung absuchten, konnten wir hier keinen der feindlichen Späher entdecken. Wir hofften sehr, dass der Eingang unseres Tales weiterhin unbemerkt geblieben war und wir uns dadurch immer noch in Sicherheit befanden – vor allem für meinen geliebten Freund wünschte ich es mir sehr. Ich wusste: Je länger es uns gelingen würde, unentdeckt zu bleiben, um so größer wurde die Chance, dass der Großteil der Festungsbewohner, der zur Verfolgung der Kiowas ausgezogen war, zurückkehren würde und uns dadurch doch einiges an Möglichkeiten gegeben war, die Feinde letztendlich zu überwältigen. Wir waren nur wenige Leute, daher bestand wohl kaum Gefahr, aus einer unbedachten Situation heraus die Aufmerksamkeit der Belagerer zu erwecken – dachte ich. Wie hatte ich dabei nur die Butterfields vergessen können? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)