Mörderische Goldgier von Anmiwin ("Geliebter Blutsbruder"- Teil II) ================================================================================ Kapitel 20: Wer anderen eine Grube gräbt.... (zwei Tage zuvor) --------------------------------------------------------------- Zwei Tage zuvor: Wir folgten den nun voraus reitenden Kundschaftern der Kiowas in ausreichendem Abstand, wobei wir hofften, dass diese zumindest einmal eine kurze Rast einlegen würden, da wir sie, wenn möglich, unbedingt noch einmal beschleichen wollten. Wir hielten das für nötig, denn wir mussten schließlich herausbekommen, mit wie vielen Kriegern sie den Angriff in der Schlucht durchzuführen gedachten. Am frühen Nachmittag hatten wir dann tatsächlich das Glück auf unserer Seite. Nicht nur, dass die Kundschafter weder die abweichende Fährte der Butterfields noch unsere durch das Bachbett führende Spur bemerkt hatten, nein, sie hatten auch die Stelle entdeckt, an der unsere Freunde ihren vermeintlichen Ritt zu dem Berg des Goldes angetreten hatten. Dort berieten sich die Späher einige Augenblicke lang, woraufhin einer von ihnen zu unserem Schrecken der Fährte ein Stück weit folgte. Er kehrte glücklicherweise aber kurz darauf wieder um und winkte seinem Begleiter, den Weg zur Schlucht weiter zu verfolgen. Doch nicht lange danach verließen die beiden diesen direkten Weg und ritten eine Zeit lang in westlicher Richtung in einen Wald hinein, um sich anschließend aber wieder nach Norden zu wenden. Etwas überrascht folgten wir ihnen natürlich weiterhin, und kurze Zeit später erreichten wir schließlich eine Lichtung inmitten des Waldes. Dort lagerte eine große Schar Kiowas, die mindestens sechzig Krieger zählte. Offensichtlich handelte es sich hier um den Haupttrupp der Rothäute, und das war für uns natürlich sehr günstig, denn jetzt würden wir hoffentlich mehr über die Pläne und das Vorgehen, was den Überfall auf uns betraf, erfahren! Winnetou und ich ließen unsere Blicke über die Indianer schweifen, aber einen Häuptling konnten wir unter ihnen nicht ausmachen. Gar nicht weit von uns allerdings saßen drei offensichtlich ranghöhere Krieger, zu denen sich jetzt auch die beiden Kundschafter gesellten, denen wir die ganze Zeit über gefolgt waren. Wir konnten also getrost davon ausgehen, dass man dort die vergangenen und auch kommenden Ereignisse besprechen würde, also schlichen mein Freund und ich uns so vorsichtig wie möglich und so weit es nur irgendwie ging an die Männer heran. Als wir so nahe herangekommen waren, dass wir jedes Wort verstehen konnten, und dabei unter dem dicht belaubten Geäst einer Trauerweide verborgen lagen, mussten wir zu unserem Bedauern feststellen, dass man schon mitten im Gespräch war und wir vielleicht sogar für uns Wichtiges verpasst haben könnten. Im Augenblick war jedoch die Rede davon, was mit den Goldsuchern geschehen sollte, sobald sie in der Schlucht eingeschlossen worden sein würden. Der Wortführer der Krieger sprach sich dafür aus, nur ja kein Federlesens um die jungen Männer zu machen; man sollte sie einfach abschlachten und ihnen alles rauben, was sie bei sich trugen, und eben nicht nur das Gold. Das würden der Häuptling und sein fremder Kampfgenosse auch stets so halten, und wenn dieser Häuptling hier wäre, würde sein Befehl jedenfalls genauso lauten. Als ich diese Worte hörte, war meine Neugier natürlich geweckt. Wer war denn nun der Häuptling der Kiowa-Schar? Und vor allem, wer war dieser unbekannte Kampfgenosse? Ich sah kurz zu Winnetou herüber, der meinen Blick sofort erwiderte, aber im gleichen Moment den Kopf schüttelte, um mir mitzuteilen, dass auch er nicht mehr wusste als ich. Aber schon wurde weiter gesprochen, und da wurde es für uns richtig interessant. Die Krieger unterhielten sich nämlich jetzt über ihr weiteres Vorgehen und nun erfuhren wir, dass unsere List bis hierhin besser gelungen war, als wir zu hoffen gewagt hatten. Man hatte uns alles geglaubt: Unser fingiertes Gespräch am gestrigen Abend, den Ritt zu dem angeblichen Fundort des Goldes, die vermeintliche Tatsache, dass nur Greenhorns später die Schlucht durchqueren würden und derer man mit Leichtigkeit habhaft werden konnte. Jeden Krieger, den man für diesen Angriff zu viel einsetzte, empfanden die Rothäute als ein Zeichen der Feigheit, also wollten die Kiowas nur mit der allernötigsten Anzahl von Kämpfern antreten, und mehr als zwanzig sollten es deshalb auf keinen Fall werden - eine Tatsache, der wir natürlich besondere Bedeutung beimaßen. Die restlichen vierzig Rothäute wollten derweil den Weg weiter nach Norden zu ihrem uns unbekannten Häuptling antreten, der dort irgendwo am San-Juan-River lagerte und seine Krieger mit der zu erwartenden reichlichen Beute wahrscheinlich sehnsüchtig erwartete; dort sollten die zwanzig Männer, die den Überfall durchführen wollten, auch später wieder mit ihnen zusammentreffen. Mein Freund und ich hörten noch eine kleine Weile den weiteren Gesprächen zu, aber nichts davon war mehr für uns von Belang. Also zogen wir uns langsam, dafür aber völlig geräuschlos aus dieser unmittelbaren Gefahrenzone zurück und waren kurz darauf wieder bei unseren Pferden angelangt, die wir in ausreichender Entfernung an die Bäume gebunden hatten. Schnell nahmen wir sie an den Zügeln und schritten mit den Tieren einen großen Teil des Weges entlang, auf dem wir den feindlichen Spähern bis zu ihrem jetzigen Lager gefolgt waren. Nun suchten wir schweigend nach einem günstigen Platz, an dem wir uns kurz besprechen konnten, und bald darauf war auch schon ein geeigneter Ort gefunden, der sich in einem schwer zugänglichen und dichten Gesträuch befand. Es dauerte dann auch nicht lange, und unser weiterer Plan stand fest. In aller Eile saßen wir wieder auf und ritten, so schnell es ging, hinter den Gefährten her, die wir auch kurz vor der besagten Schlucht wieder einholten. Wir besprachen mit ihnen sofort alles Notwendige, und dann wurde es auch schon höchste Zeit, mit unserem Vorhaben zu beginnen, damit die geplante Falle felsenfest stand, bevor die Kiowas die Schlucht erreichen würden. Wir hofften allerdings, dass sie noch eine gewisse Zeit an dem Lagerplatz bleiben würden, an dem wir sie vorhin belauscht hatten, da sie ja im Glauben waren, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis die Butterfields vom vermeintlichen Berg des Goldes zurückkehrten. Winnetou und ich übernahmen nun zuerst eine der wichtigsten Aufgaben des Unternehmens, und zwar das genaue Auskundschaften des Eingangsbereiches und der direkten Umgebung des kleinen Tales, um dieses Gebiet intensiv auf die Durchführbarkeit unseres Planes zu überprüfen. Obwohl das Gelände gerade hier äußerst unübersichtlich erschien, fanden wir doch bald einen sehr brauchbaren schmalen Schleichweg, der sich kurz hinter dem Taleingang kreuz und quer durch die Wand der kleinen Schlucht schlängelte und wir uns somit auch kurze Zeit später, diesem Weg folgend, außerhalb des Tales wiederfanden. Zufrieden kehrten wir daraufhin schnell zu den Unsrigen zurück. Zeitgleich mit uns traf auch Tsain-tonkee wieder bei unseren Gefährten ein, der die Butterfields sicher in der besagten Grotte untergebracht und sie nun dem Schutz des anderen Apatschen und der Obhut des Doktors anvertraut hatte. Wir hofften sehr, dass die Greenhorns sich über die doch recht lange Zeit hin ruhig verhalten und nicht die Geduld verlieren würden. Aber mittlerweile hatte der Doktor unsere Schützlinge auch über den Ernst der Lage aufgeklärt, da sie sich jetzt ja nicht mehr in der unmittelbaren Nähe der Feinde aufhielten und somit sich und uns auch nicht mehr durch dumme Fehler in Gefahr bringen konnten. Eigentlich wäre es uns lieber gewesen, wenn sich Tsain-tonkee weiterhin als Schutz bei der Familie aufhalten würde, aber Winnetou wollte auf keinen Fall auf einen seiner besten Männer verzichten, sollte es hier zu einem Kampf kommen. Auch der hintere Talausgang war inzwischen ausgiebig begutachtet worden, denn jeder unserer Männer musste wissen, wo genau sein Platz war. Hier konnten wir aber nur Mutmaßungen anstellen, da es sich nicht sicher sagen ließ, wo genau die Kiowas sich verschanzen wollten, um die Goldsucher in der Schlucht einzuschließen, und dementsprechend mussten unsere Gefährten sich ja dort platzieren. Darum blieb Tsain-tonkee auch mit drei weiteren Apatschen in dem unmittelbaren Gelände rund um den Ausgang versteckt, während wir anderen wieder das Tal, welches sich insgesamt über eine Länge von gerade einmal wenigen hundert Metern erstreckte, nochmals in die rückwärtige Richtung durchritten und es durch den Eingang wieder verließen. Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, begann das Warten. Nach unseren Berechnungen hatten wir noch ein, zwei Stunden Zeit, bis unsere Feinde hier erscheinen würden, um dann ihrerseits mit ihren Planungen zu beginnen. Wir zogen uns darum ein ganzes Stück weit in die Richtung zurück, aus der sie glaubten, dass wir von dort kommen mussten, und versteckten die Pferde tief zwischen den Bäumen. Wieder trennten Winnetou und ich uns von der Gesellschaft und verbargen uns nicht weit von der Stelle, an der die Kiowas vorbeikommen würden, damit wir ihre Ankunft beobachten konnten. Ab jetzt blieb uns nichts mehr zu tun, und so saßen wir eng beieinander, um uns für die kommenden schicksalsträchtigen Stunden zu wappnen. Selbst in solch hochkonzentrierten Augenblicken war es für mich jedes Mal wie eine Wohltat, wenn ich die Wärme meines Freundes so nah bei mir spüren konnte. In diesen Momenten wurde mir immer wieder überdeutlich bewusst, wie sehr ich ihn liebte, dass ich ihn zum Leben brauchte wie die Luft zum Atmen; dass einfach nichts wichtiger war auf dieser Welt als das Glück, die Gesundheit und das Leben meines geliebten Blutsbruders. Unwillkürlich schmiegte ich mich etwas dichter an ihn heran, um seinem warmen und lebendigen Körper noch näher zu sein, und obwohl er all seine Sinne auf die Ankunft und die zu erwartende Auseinandersetzung mit den Kiowas ausgerichtet hatte, ergriff er sofort die Gelegenheit, auch meine Nähe zu suchen, drückte mich an sich und ergriff meine Hand. Worte waren wie immer überflüssig, wir waren einfach nur froh und dankbar, einander zu haben und miteinander leben zu dürfen. Und dann wurde es wirklich ernst – sie kamen. Leise, fast unhörbar ritten die uns feindlich gesonnenen Indianer, kaum zehn Schritte entfernt, an uns vorüber, und nur ab und zu konnte man einen Huftritt oder ein leises Schnauben ihrer Pferde vernehmen. Wir zählten zwanzig Krieger und waren daraufhin fast schon erleichtert, denn wir waren uns sicher, dass wir es ohne große Schwierigkeiten mit diesen wenigen Leuten würden aufnehmen können. Schnell kehrten wir daraufhin zu unseren Leuten zurück. Eine gute Stunde warteten wir noch, bis wir uns sagen konnten, dass die Kiowas ihre Positionen an beiden Taleingängen bezogen hatten, wobei wir inständig hofften, dass sie Tsain-tonkee und seine Männer am hinteren Ausgang nicht entdeckt hatten. Emery, Sam und ich nutzten die Zwischenzeit, um unsere verbliebenen sechs indianischen Gefährten samt Winnetou mit den geborgten Kleidungsstücken der Butterfields auszustatten, denn wir mussten ja die Rolle der zehn angehenden Goldsucher übernehmen. Dabei hatte ich größte Mühe, das lange und dichte Haar meines Freundes unter einem Cowboy-Hut zu verstauen, denn seine glänzende Haarpracht hätte ihn ja unweigerlich verraten. Ich hatte ihn noch nie mit einem Hut auf dem Kopf gesehen und musste über diesen ungewohnten Anblick dann auch unwillkürlich breit lächeln. Er sah das, musterte mich einen langen Moment mit seinen herrlichen Augensternen, drehte sich dann um und flüsterte einem seiner Krieger einige Worte zu. Dieser übergab ihm daraufhin einen Gegenstand, den ich nicht sehen konnte. Winnetou drehte sich nun wieder zu mir, und ehe ich mich versah, hatte er mir die Adlerfeder des anderen Apatschen ins Haar gesteckt. Jetzt war es an ihm, ein herzliches Lächeln sehen zu lassen, und auch die anderen Anwesenden konnten sich ein Lachen teilweise nur mühsam verkneifen, während mein Grinsen nur noch breiter wurde. Dass mein ansonsten so ernster und in sich gekehrter Blutsbruder seit einigen Monaten immer öfter etwas von seinem feinsinnigen, sonst in seinem tiefsten Innersten verborgenen Humor durchblitzen ließ, und dann auch noch in einer jetzt so ernsten Situation, erfreute mich wirklich sehr und machte die leise Veränderung seines Wesens deutlich, die in ihm seit seiner Begegnung mit dem Jenseits vorgegangen war. Aber schnell wurden wir alle wieder ernst, denn jetzt galt es, höchste Konzentration zu wahren, um ja keinen Fehler bei unseren bevorstehenden Aufgaben zu machen. Wir saßen auf, und dann ritten wir hinein in ein nicht gerade ungefährliches Abenteuer. Ab jetzt schlüpften wir in die Rolle der unbefangenen Goldsucher, die sich aufgrund ihres gerade gehobenen Schatzes in einem Zustand voller Euphorie und in einem wahren Rausch der Glückseligkeit befinden mussten und deshalb ihrer Umgebung überhaupt keine Aufmerksamkeit widmeten. Wir lachten und scherzten und unterhielten uns so laut, wie es nur ging, wobei wir drei Weißen den Hauptpart übernahmen, da die zurückhaltenden Apatschen so einen Rollentausch nicht ohne weiteres vornehmen konnten, das ging ihnen einfach gegen die Natur. Zwischendurch ließen wir aber unauffällig unsere Blicke schweifen, um zu sehen, wo genau sich die Feinde verschanzt hatten. Alle konnten wir nicht entdecken, wobei wir natürlich davon ausgehen mussten, dass sich eine Hälfte der Krieger am hinteren Schluchtausgang verborgen hielt, aber Winnetou und ich konnten mindestens vier der Kiowas ausmachen, die sich zwischen den Felsen versteckt hielten, zum Glück so weit entfernt, dass ihnen der Schwindel mit unserer Verkleidung nicht auffallen konnte. Und dann ritten wir hinein in das Tal, welches uns, oder besser gesagt, den Butterfields, zur Todesfalle werden sollte, und gaben uns dabei so unbefangen wir nur irgend möglich. Doch kaum waren wir an einer Stelle angelangt, an der wir den Blicken der Feinde verborgen sein mussten, war unsere scheinbare Gelassenheit wie weggeblasen, und wir begaben uns schnellstmöglich auf unsere vorher besprochenen Positionen. Die sechs Apatschen warfen sofort ihre überflüssigen, geborgten Kleidungsstücke von sich, schlichen sich, tief geduckt und jede Deckung ausnutzend, ein kurzes Stück zurück in Richtung Eingang und schnellten dann den kleinen Schleichweg hinauf, den Winnetou und ich vor ein paar Stunden entdeckt hatten. Auf diesem Weg gelangten sie aus der Schlucht hinaus und würden somit in kürzester Zeit in den Rücken der Kiowas kommen, die den Taleingang besetzt hielten. Winnetou und Emery hatten derweil ihre Pferde sowie die der restlichen Apatschen hinter einigen Bäumen, zwischen denen teils mannshohe Felsblöcke lagen, in Sicherheit gebracht und schlichen sich jetzt, bewaffnet mit ihren Gewehren und Revolvern, wieder zurück in die Nähe des Eingangs an einen vorher ausgemachten Ort, wo sie vor feindlichen Kugeln und Pfeilen sicher waren, selber aber eine sehr gute Schussposition haben würden. Währenddessen begaben Sam und ich uns in Windeseile zum hinteren Ausgang der Schlucht, denn auch dort gab es einen solchen Platz, der für unsere Zwecke wie geschaffen war. Ich hatte mir diese Seite des Tales erbeten, denn Tsain-tonkee und seine drei Apatschen waren in der Minderheit und könnten eventuell Unterstützung durch meinen Henrystutzen gut gebrauchen. Kurz bevor wir unser Ziel erreichten, versteckten auch wir unsere Pferde an einem sicheren Ort. Wir brauchten nicht lange zu warten. Von vorne und von hinten erklang plötzlich das Kriegsgeschrei der Kiowas, und kurz darauf erschienen auch schon verwegen aussehende, bis an die Zähne bewaffnete Krieger, die weiterhin unentwegt brüllten, wahrscheinlich weil sie mit diesem nervtötenden Geschrei die vermeintlichen Greenhorns von vornherein in Angst und Schrecken versetzen wollten. Kaum aber hatten sie Sam und mich und unsere auf sie gerichteten Gewehre entdeckt, verstummte der Lärm augenblicklich, während sich in den Gesichtern der zehn feindlichen Krieger, die sich vielleicht noch dreißig Schritte vor uns befanden, der Ausdruck der Überlegenheit in Überraschung, gefolgt von leiser Besorgnis, verwandelte. Auch vom vorderen Taleingang konnte man das plötzliche Abbrechen des Kriegsgeschreis vernehmen, so dass wir davon ausgingen, dass sich Winnetou und Emery im Augenblick in der gleichen Position wie wir befanden. Gerade als sich die Überraschung der Kiowas zu legen begann, ertönte hinter ihnen der nicht minder gefährlich klingende Kriegsruf der Apatschen, und sofort darauf erschien Tsain-tonkee nebst seinen ihn begleitenden Apatschen im Rücken der Feinde, und vom vorderen Ende des Tales antworteten sofort und ebenso laut die dort bereitstehenden sechs Mescaleros, die sich jetzt auch unmittelbar hinter den Kiowas befanden. Die vor uns stehenden Krieger erstarrten, als sie wider Erwarten nun auch von hinten bedroht wurden. Ein, zwei Sekunden lang herrschte Totenstille, die ich auch bewusst abwartete, denn ich wusste, dass Winnetou beginnen würde. Und dann ertönte auch schon seine sonore Stimme durch das ganze Tal; er brauchte sie gar nicht sonderlich anzustrengen, um klar und deutlich damit auch bis zu zu uns durchzudringen. „Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apatschen! Er befindet sich hier mit seinen Kriegern und einigen der berühmtesten Westmänner, denen man jenseits des Red Rivers begegnen kann. Wenn die feigen Hunde der Kiowas sich nicht sofort ergeben, werden sie den Untergang der Sonne nicht mehr erleben!“ Jetzt zeichnete sich in den meisten Gesichtern der Feinde deutliches Entsetzen ab, und hier und da war auch ein überraschtes „Uff uff! Winnetou!“ zu hören. Wieder ertönte die Stimme meines Freundes: „Wir geben den Kriegern der Kiowas zwei Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Danach werden nur noch unsere Waffen sprechen!“ Wir duckten uns jetzt tief hinter dem Felsen, wo wir Schutz gesucht hatten, und ich wusste, dass Winnetou an der anderen Seite ebenso reagierte. Unsere Gewehre allerdings hielten wir, für unsere Gegner gut sichtbar, weiterhin im Anschlag. Die vor uns befindlichen Indianer benötigten einige Sekunden, bis sie ihre Fassung wiedererlangt hatten, dann drängten sie sich zusammen, um diese unvorhergesehene Wendung des Geschehens zu besprechen. Kurz darauf machte einer von ihnen, in dem ich einen der offensichtlich höher gestellten Krieger erkannte, die wir vor wenigen Stunden belauscht hatten, den schwachen Versuch, Zeit zu gewinnen, indem er laut rief: „Hier spricht Howahkan, der Unterhäuptling der Kiowas! Der Häuptling der Apatschen mag mich anhören! Um zu einer Entscheidung gelangen zu können, müssen wir uns erst mit den Kriegern besprechen, die sich am anderen Ausgang des Tales befinden!“ Ich hatte das vorausgesehen und antwortete jetzt an Winnetous Stelle: „Howahkan mag sich nicht wie ein Kind benehmen! Oder denkt er vielleicht, die tapferen Krieger der Apatschen sowie Sam Hawkens oder Old Shatterhand hätten kein Hirn im Kopf?“ Von dem Unterhäuptling kam jetzt ein überraschtes Keuchen: „Old Shatterhand? Uff!“ „Ja, hier spricht Old Shatterhand!“, antwortete ich. Winnetou hatte bei seiner ersten Ansprache sehr klug gehandelt, da er weder die genaue Anzahl seiner Apatschen noch die der vorhandenen Westmänner genannt hatte. Da wir uns den Kiowas so entschlossen und furchtlos entgegen gestellt hatten, mussten diese fast schon davon überzeugt sein, dass sich in ihrer unmittelbaren Nähe eine weitaus größere Anzahl an Gegnern befand, als es tatsächlich der Fall war. Um meinem Gegenüber keine Zeit zum Nachdenken zu lassen, sprach ich schnell weiter: „Ja, Old Shatterhand! Und der Unterhäuptling der Kiowas mag bedenken, dass nicht nur viele andere berühmte und tapfere rote und weiße Männer ihre Gewehre auf seine Krieger gerichtet haben, sondern auch, dass er nur noch eine Minute hat, um sich zu entscheiden!“ Ich hoffte, dass meine Stimme ebenso gut für Winnetou zu hören war, so dass er über das Geschehen hier auch im Bilde war; und ebenso hoffte ich, dass auch meine Andeutungen die Kiowas dazu verleiteten, an eine große Anzahl von furchtlosen Gegnern zu glauben. Anscheinend hatte ich wirklich einen der stellvertretenden Anführer vor mir; und bei Winnetou und seinen Männern musste ein zweiter stehen, denn nach kurzem Zögern rief Howahkan laut einige Worte in der Mundart der Kiowas seinen am Taleingang stehenden Kriegern zu, und einer von ihnen antwortete kurz darauf ebenso laut. Am Tonfall der beiden meinte ich herauszuhören, dass sie die ganze Situation doch friedlich zu beenden gedachten, aber Winnetou, der im Gegensatz zu mir und zum Pech unserer Feinde der Sprache der Kiowas mächtig war, belehrte mich eines Besseren. Ich hörte ihn einen scharfen Warnruf in Apachi ausstoßen und reagierte sofort, keine Sekunde zu früh. Die feindlichen Krieger hatten sich nämlich blitzschnell zu Boden fallen lassen, und zwar so, dass fünf von ihnen Sam und mich ins Visier nahmen und die anderen fünf auf die vier Apatschen hinter ihnen anlegten. Wären wir jetzt nicht auf der Hut gewesen, wären wir wahrscheinlich in sehr große Bedrängnis geraten. Aufgrund von Winnetous Warnung aber schossen wir sofort, noch ehe die Kiowas den Boden erreicht hatten. Auf der anderen Talseite erklangen ebenfalls Schüsse, und ich hoffte von ganzem Herzen, dass es auch Winnetou gelungen war, mit seinen Männern die Oberhand zu behalten. Wir hatten zuvor abgesprochen, dass wir, sollte es zu Kampfhandlungen kommen, die Gegner möglichst nur verwundeten, und das hielten wir auch so gut es ging ein. Innerhalb kürzester Zeit lagen die meisten Kiowas am Boden, und die wenigen, die nicht verletzt waren, knieten mit erhobenen Händen vor uns und baten um Gnade. Sofort machten sich Sam und zwei der Apatschen daran, alle Gegner zu entwaffnen, natürlich auch die Verletzten, während Tsain-tonkee, der dritte Apatsche und ich sie weiterhin mit größtmöglicher Aufmerksamkeit in Schach hielten. Die Sorge um meinen Blutsbruder verleitete mich dazu, zwischendurch mit lauter Stimme seinen Namen zu rufen, und wie sehr war ich erleichtert, als ich sofort darauf seine Antwort vernahm! Mit wenigen Worten versicherten wir uns gegenseitig, dass bei dem anderen alles in Ordnung war, und jetzt fühlte ich mich, als würde eine riesige Last von mir abfallen. Ich erinnerte mich an mein ungutes Gefühl, welches mich die ganze Reise über begleitet und mich ständig vor einer Gefahr für Winnetou gewarnt hatte. War diese Gefahr jetzt vorüber? Die Feinde waren besiegt, hüben wie drüben lagen sie gefesselt und entwaffnet vor uns. Der Ship Rock war ganz in unserer Nähe, schon morgen würden wir, wenn die alte Karte des Indianers Recht behielt, die Bonanza unserer Schützlinge ausheben können. Danach sollte es nach Farmington gehen, wo das Gold umgetauscht und einige Einkäufe für die Mescaleros getätigt werden sollten, wobei Winnetou dafür sein eigenes Gold verwenden würde, welches er ebenfalls am Ship Rock aus seinem eigenen Finding-Hole bergen wollte. Im Anschluss daran würden wir die Butterfields nach Hause geleiten, um dann selber wieder zum Pueblo der Mescaleros zurückzukehren. Was sollte uns ab jetzt also noch großartig passieren? Zumindest bis Farmington waren wir von nun an auf jeden Fall in Sicherheit, da wir die Kiowas ohne Pferde und Waffen aus der Gefangenschaft entlassen wollten, so dass sie uns nicht folgen konnten. Da der Rückweg uns anschließend in einem großen Umweg über Carlsbad führen würde, wo unsere Schützlinge beheimatet waren, kamen wir dadurch auch nicht mehr in die Nähe der Jagdgründe der Kiowas, so dass uns von dort wohl auch keine Gefahr mehr drohen würde. Eigentlich hätte ich mich jetzt also völlig entspannen können, und mir war auch ein großer Stein vom Herzen gefallen – aber: ganz tief in mir blieb ein leise nagendes Gefühl der Unruhe zurück. Ich beschloss, dem vorerst keine Bedeutung mehr beizumessen, denn jetzt musste meine gesamte Konzentration der Unterwerfung der Kiowas gelten. Diese waren mittlerweile alle gefesselt worden. Diejenigen, die aufgrund ihrer Verletzungen nicht mehr laufen konnten, wurden von uns halb getragen, halb mitgeschleift, als wir uns zur Talmitte begaben, um dort mit Winnetou und seinen Männern zusammenzutreffen. Zufrieden sahen wir uns kurz in die Augen, dann übernahm mein Freund wieder das Wort und richtete es an Howahkan, der zwar einen Schulterdurchschuss erlitten hatte, trotzdem aber noch Herr seiner Sinne war und weiterhin die Rolle des Anführers inne hatte. Winnetou machte ihm unmissverständlich klar, dass die Kiowas auf verlorenem Posten standen und nur auf unsere Gnade hoffen durften, wenn sie sämtliche Pferde und fast alle Waffen, mit Ausnahme einiger Messer, abgeben würden. Nach einigem Zögern stimmte der Unterhäuptling letztendlich zu. Er wäre vielleicht sogar bereit gewesen, freiwillig in den Tod zu gehen, um sich und seinen Kriegern die Schande zu ersparen, vor seinem Volk als Unterlegener zu erscheinen, doch Winnetou gelang es, ihn davon zu überzeugen, dass darunter auch die Frauen und Kinder unserer Gegner ein Leben lang zu leiden hätten. Außerdem mochte sich Howahkan sagen, dass es nicht unbedingt als Schande gelten musste, von Winnetou und Old Shatterhand besiegt zu werden. Somit machten sich die geschlagenen Krieger, nachdem ihre Verwundeten auch mit unserer Hilfe versorgt worden waren, zum Talausgang davon. Eigentlich hätten sie die umgekehrte Richtung nehmen müssen, aber da wir die restlichen vierzig Kiowas, die mein Freund und ich am Mittag belauscht hatten, in nicht allzu weiter Entfernung wussten, schickten wir sie auf einem sehr großen Umweg zurück zu den Ihrigen, die sich dann mittlerweile alle am San-Juan-River befinden mussten, wenn die Unterlegenen bei ihnen ankamen. Dadurch würde sich für uns ein Vorsprung von mindestens drei Tagen ergeben, ehe die feindlichen Krieger in der Lage sein würden, uns zu folgen. Dann aber würden die allermeisten Spuren schon verwischt sein, so dass wir sicher sein durften, von ihnen ab jetzt nicht mehr belästigt zu werden. Winnetou wollte jetzt sofort mit Tsain-tonkee aufbrechen, um die Butterfields mitsamt dem Doktor zurück zu unserer Gesellschaft zu holen, damit wir sie in Sicherheit wussten, noch bevor es Nacht wurde. Ich aber bestand darauf, ihn zu begleiten, da wir zu dritt noch besser für den Schutz der teils übermütigen Jünglinge sorgen konnten, zumal man nie wissen konnte, was den unachtsamen Herrschaften als nächstes einfiel. Zumindest war das die Begründung, die ich meinem Freund lieferte - in Wirklichkeit aber hätte ich es einfach nicht ertragen können, ihn auch nur für wenige Stunden allein zu lassen und somit im Notfall keine Möglichkeit zu haben, ihn zu schützen oder ihm beizustehen. Er stimmte auch sofort zu, und ich war mir sicher, dass er meine wahren Beweggründe längst durchschaut hatte, zumindest deutete sein inniger Blick so etwas an. Ich hatte das Gefühl, dass er mit seinem Blick in diesem kleinen, aber doch gefühlt ewigen Moment förmlich meine Seele streichelte! Wir brachen also schnell auf und kamen dank unserer schnelle Pferde – auch Tsain-tonkee war sehr gut beritten – dann auch eher als gedacht ans Ziel, wo wir von den Butterfields und auch von Walter Hendrick schon sehnsüchtig erwartet wurden. Natürlich wollten alle sofort über sämtliche Geschehnisse der vergangenen Stunden unterrichtet werden, doch mir fiel auf, dass unser fürsorglicher Arzt, bevor er auch nur eine Frage stellte, uns drei erst einmal intensiv musterte, um festzustellen, ob wir auch wirklich unverletzt waren. Da er auf dem ersten Blick nichts entdecken konnte, fragte er mich dann auch sogleich aus, aber ihm ging es im Gegensatz zu den anderen vornehmlich um unsere Gesundheit. Ich beruhigte ihn dahingehend sofort, und nachdem dann die Neugier unserer Schützlinge in wenigen Sätzen zumindest halbwegs gestillt war, machten wir uns schnellstmöglich wieder auf den Rückweg, und auch hier blieben wir zum Glück unbehelligt. Das Lager der Kiowas, welches wir am Mittag belauscht hatten, lag ja auch in einiger Entfernung von uns; außerdem nahmen wir an, dass diese sich mittlerweile wahrscheinlich schon zu ihrer Hauptschar mit dem uns unbekannten Häuptling am San Juan-River aufgemacht hatten. Die Nacht verbrachten wir in dem Tal, dass uns am heutigen Tag eigentlich den Tod hätte bringen sollen, aber hier waren wir am sichersten, da wir für die Bewachung der Eingänge nur jeweils eine Person benötigten. Unsere Schützlinge benahmen sich an diesem Abend richtiggehend ausgelassen, einerseits aus der übergroßen Erleichterung heraus, dass sie den Weg bis hierher so gut wie unbeschadet überstanden hatten; sogar ein echter Indianer-Überfall war von uns ohne Verlust von Gesundheit oder Leben abgewehrt worden! Andererseits drang ihnen immer mehr ins Bewusstsein, dass der morgige Tag ihnen wahrscheinlich den größten Reichtum bescheren würde, den sie sich überhaupt vorstellen konnten, und allein der Gedanke daran ließ ihre Vorfreude förmlich überkochen. Mehrfach und letztendlich ernsthaft und in aller Deutlichkeit mussten wir die jungen Männer ermahnen, endlich Ruhe zu geben, denn wir alle konnten nach den Ereignissen der letzten Tage wirklich eine ordentliche Mütze voll Schlaf gut gebrauchen; und nach einer deutlichen Ansage von Emery hielten sie sich dann auch endlich an die Abmachung. Auch heute Abend hatte der Doktor das Lager für Winnetou und mich, so weit wie es eben ging, abseits von den Gefährten hergerichtet, und somit war es uns sogar möglich, uns ganz dicht beieinander zu legen, die Wärme des anderen zu spüren, uns mit den Händen zu berühren. Wir genossen diese kostbaren Momente mit allen Sinnen, und kurz darauf war ich auch schon wieder bereit, weiter zu gehen, denn der Wunsch, meinem Freund abermals das höchste Glück zuteil werden zu lassen, brannte so heiß in mir! Dann aber bemerkte ich, dass Winnetou unter den sanften Liebkosungen meiner Hände auf seinem Oberkörper tatsächlich schon eingeschlafen war. Die Ereignisse der vergangenen Tage, die Anspannung, der fehlende Schlaf und wahrscheinlich auch seine Rückenverletzung forderten nun doch ihren Tribut. Unter anderen Umständen hätte er diesem Ruhebedürfnis mit Sicherheit nicht so einfach nachgegeben, und es war wohl jetzt nur seinem übergroßen Vertrauen zu mir geschuldet, dass mein Freund es sich erlaubte, seine Wachsamkeit, die er auch im Schlaf, zumindest im Unterbewusstsein, beizubehalten pflegte, nun aufgab und sich vollkommen meiner Fürsorge und meinem Schutz anvertraute. Ganz still lag ich so nah wie möglich bei ihm, sein Kopf ruhte in meinem Arm, sanft streichelte ich über seine Stirn, vergrub meine Finger in seinem wundervollen Haar, und in Gedanken versprach ich ihm, über ihn zu wachen und ihn zu schützen, solange ich lebte. Eigentlich hätte auch Winnetou für zwei Stunden in der Nacht wachen müssen, aber da er entgegen seiner sonstigen Gewohnheit von alleine nicht erwachte, hütete ich mich davor, ihn aus dem Schlaf zu reißen, als meine Zeit um war. Stattdessen teilte ich mir mit Emery seinen Part, zusätzlich zu unseren Wachen, womit der Engländer auch mehr als einverstanden war. Auch er war der Ansicht, dass dem Apatschen-Häuptling diese zusätzliche Ruhe nur gut tun konnte. Der Schlaf hatte meinem Freund tatsächlich äußerst wohlgetan, was man ihm am nächsten Morgen deutlich ansehen konnte. Wir hatten ihn auch jetzt nicht geweckt, sondern so leise wie möglich schon einmal alles zur Abreise vorbereitet, bis er dann irgendwann von alleine die Augen aufschlug. Selbst unsere übermütigen Heißsporne schlichen fast auf Zehenspitzen durch das Lager, denn auf Winnetou hatten sie schon von Anfang an immer besondere Rücksicht genommen, da sie ihn fast schon verehrten. Außerdem war ihnen wohl bewusst, wie viel sie dem Apatschen-Häuptling verdankten, und dass er für sie mehr als nur seine Gesundheit riskiert hatte. So ganz einverstanden war Winnetou natürlich nicht mit meiner Handlungsweise, aber der Doktor sprang sofort für mich in die Bresche und erklärte meinem Freund in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, dass ich genau richtig gehandelt hätte und diese längere Pause seiner Meinung nach sehr wichtig gewesen sei. Immer wenn Hendrick in solch gestrenger Art und Weise zu ihm sprach, hielt Winnetou sich mit seiner Meinung und seinem Willen merklich zurück. Er hatte nun mal größte Hochachtung vor dem Arzt und fügte sich diesem deshalb auch jetzt ohne Weiteres. Ganz früh am Morgen war unser Spähfuchs Tsain-tonkee wieder einmal zu einem Kundschafter-Ritt aufgebrochen. Er wollte die Spuren der besiegten Kiowas eine Weile verfolgen, um sicherzugehen, dass sie wirklich auf direktem Weg zu den Ihrigen zurückkehrten und nicht etwa doch auf die hinterlistige Idee kamen, uns nochmals hinterrücks aufzulauern. Jetzt eben, als ich Winnetou ein zartes Stück Büffelfleisch vorgesetzt hatte und sorgsam darauf achtete, dass er in Ruhe sein Frühstück genoss, kehrte der Apatsche wieder zurück. Er berichtete, dass es überhaupt keinen Grund zur Sorge gab, da die uns feindlich gesonnenen Rothäute unbeirrt ihrem Ziel entgegen ziehen würden, wie er aus ihren Spuren ohne Schwierigkeiten hatte ersehen können. Zufrieden nickte ich Tsain-tonkee zu und wollte ihn gerade mit einem kurzen Dank entlassen, da ergriff Winnetou das Wort. „Mein roter Bruder mag sich noch einen Augenblick zu uns setzen!“, bat er den etwas überrascht dreinblickenden jungen Krieger, der dem Wunsch meines Freundes dann aber sofort nachkam. Dieser sah Tsain-tonkee freundlich an und begann: „Winnetou denkt schon seit einigen Tagen über etwas nach, wollte aber abwarten, bis er mit dem Rat der Alten darüber sprechen konnte. Jetzt aber hat er endgültig Klarheit über sein Vorhaben, Tsain-tonkee aufgrund seiner herausragenden Fähigkeiten zu seinem Unterhäuptling zu machen; und er ist sich sicher, dass auch die Ältesten unseres Volkes seinem Vorschlag zustimmen, wenn Winnetou ihnen von den Taten und der großen Umsicht seines jungen Bruders berichten wird!“ Es war köstlich, jetzt das Gesicht des jungen Apatschen zu beobachten. Er, der sonst immer so beherrschte und ernst dreinschauende Mann, dem man selten eine Gefühlsregung ansehen konnte, hatte auf einmal seine Mimik nicht mehr unter Kontrolle. Deutlich konnte man eine Mischung aus Überraschung und großer Freude in seinen Gesichtszügen erkennen, allerdings nur kurz, dann gewann er seine Beherrschung wieder, nur das Leuchten in seinen Augen verriet das Glück, dass er wegen der Worte Winnetous empfand. Ich konnte meinem Blutsbruder in dieser Sache nur zustimmen. Tsain-tonkee hatte sich nicht nur auf dieser Reise, sondern auch schon vor Monaten während des Kampfes mit den Geiern bewährt, und es war nur recht und billig, dass er nun einen höheren Rang unter den Kriegern der Mescaleros einnahm. Sichtlich bewegt dankte er nun seinem Häuptling, voller Ehrerbietung, und verließ uns dann, wobei mir sein Gang beim genaueren Hinsehen regelrecht beschwingt vorkam. Winnetou sah ihm lächelnd hinterher, dann aber wandte er sich mir zu und schaute mich mit einem ernsten Ausdruck in seinen wunderschönen Augen an. „Winnetou hat gestern einen Fehler gemacht, mein Bruder“, begann er. Erstaunt schüttelte ich den Kopf. „Aber nein! Wie kommst du darauf? Und welchen Fehler meinst du?“ Ich wusste ja, dass mein Freund über sich selber viel strenger urteilte als über jeden anderen, aber das wolle ich ihm jetzt schnell wieder ausreden, denn in meinen Augen hatte er in den letzten Tagen mehr als umsichtig und klug gehandelt. Er antwortete: „Ich habe es unterlassen, die feindlichen Krieger zu fragen, welchem Kiowa-Stamm sie nun genau angehören. Sie trugen keine Stammesabzeichen, und deshalb kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wirklich zu den hier ansässigen Apsarokee-Kiowas gehören. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist hoch, eben weil der der Hauptteil des Stammes am San-Juan-River lagert, wie wir gestern ja erlauschen konnten. Allerdings besteht noch die Möglichkeit, dass es sich hier um einen der umherstreifenden Kiowa-Stämme handelt.“ „Hm!“, meinte ich. „Das ist richtig, aber würde es einen großen Unterschied machen, ob es sich nun um den einen oder den anderen Stamm handelt?“ Mein Freund zuckte mit den Schultern. „Winnetou ist sich da selber etwas unsicher. Aber zwei Dinge beunruhigen mich doch: Einerseits die fehlenden Stammesabzeichen – es fühlt sich für mich so an, als ob die roten Männer absichtlich nicht erkannt werden wollten, und wenn dem so ist, warum? Warum machen sie darum ein solches Geheimnis? Und zum Zweiten: Sollte es sich tatsächlich um einen umherziehenden Stamm handeln, würde das bedeuten, dass die hier an der Grenze ansässigen Apsarokee-Kiowas uns wahrscheinlich immer noch beobachten; und vielleicht planen auch sie einen Überfall?“ Sinnend sah ich zu Boden und dachte über Winnetous Worte nach. Was er da vorgebracht hatte, konnte ich nicht entkräften, ich konnte seinen leisen Befürchtungen nicht viel entgegensetzen. Allerdings glaubte ich nicht, dass uns jetzt noch Gefahr drohte, und das sagte ich ihm nun auch: „Vielleicht sieht mein Bruder im Augenblick zu schwarz. Er mag bedenken, dass wir uns ab jetzt mit jeder Meile, die wir Richtung Ship Rock reiten, von dem Grenzgebiet der Kiowas entfernen, so dass die Gefahr eines erneuten Überfalls immer geringer wird. Unser Ziel ist außerdem nicht mehr weit entfernt, und spätestens in Farmington befinden wir uns dann endgültig in Sicherheit!“ Er nickte und entgegnete: „Du hast wahrscheinlich recht, Scharlih. Trotzdem sollten wir unsere vielen Sicherheitsvorkehrungen weiter bestehen lassen.“ „Natürlich!“, bestätigte ich ihn sofort. „Wir werden jetzt auf keinen Fall nachlässig werden! Aber mein Gefühl sagt mir, dass wir die größte Gefahr nun hinter uns haben!“ Glaubte ich das wirklich? Wenn ich genau in mich hineinhorchte, musste ich mir eingestehen, dass sich meine diffuse Unruhe immer noch nicht gelegt hatte. Da ich dieses Gefühl aber schon die ganze Zeit über mit mir herumtrug, wir aber meiner Meinung nach die größte Gefahr seit gestern überstanden hatten, wollte ich mich dadurch einfach nicht weiter beirren lassen. Hätte ich es doch nur getan! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)