24 Farben der Liebe von Evilsmile (Adventskalender 2015) ================================================================================ 21. Türchen: Gold ----------------- Kräftig kicke ich den Kieselstein, der auf dem Pflaster liegt, weg. Obwohl er nichts dafür kann, dass mein Leben so hoffnungslos geworden ist. So hoffnungslos, dass es nicht mal mehr lohnt, darüber zu sprechen. Gleich werde ich etwas tun, woran mich keiner hindern wird, weil keiner weiß, was ich vorhabe. Von den wenigen Menschen, die ich noch nicht aus meinem Leben vertreiben konnte. Sie wissen nicht einmal, wie ich mich fühle. Denn niemand spielt so gut Theater wie ich. Regelmäßig ist meine Atmung und sind meine Schritte, auch wenn mein Herz sich fast überschlägt. Hundert Male in Gedanken, doch jetzt in real gehe ich den Weg, der mir Erlösung von meinen Qualen verschaffen wird. Außer der Arbeit bringt mich sonst nichts aus meiner versifften Wohnung. Leute mit Einkaufstüten kreuzen meinen Weg. Die meisten sind damit beschäftigt, die letzten Besorgungen für Weihnachten zu erledigen – drei Tage vorher prügeln sie sich um die letzten Waren und stehen Stunden an den Warteschlangen der Kassen an. Solche Probleme habe ich nicht. Weihnachten wird dieses Jahr ohne mich stattfinden müssen. Kalt und grau ist es heute, und wolkenverhangen. Genau das Wetter, das meiner Gefühlslage entspricht. In mir drin ist immer Winter, egal ob es Herbst oder Sommer ist. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Die Jahreszeit ist meiner inneren Uhr gleichgültig. Dann bin ich auch schon an meinem Ziel angelangt: Der Bahnhof, der zu dieser Zeit ganz verlassen ist. Hier ist es noch kühler und trister als in der restlichen Stadt. Die Uhr am Bahnsteig ist stehengeblieben. Zeit hat sowieso keine Bedeutung mehr für mich. Weit und breit niemand zu sehen. Gut – das bedeutet, keine Augenzeugen. Sicher bin ich nicht der Erste, der sich hier vor einen fahrenden Zug wirft. Den Regional-Express, der hier nie anhält, sondern zur nächstgrößeren Stadt weiter fährt. Weil dieses kleine Kaff zu bedeutungslos dafür ist. Entfernt höre ich ein Geräusch, das lauter wird. Der Zug. Mein kostenloser Erlöser. Ohne Fahrschein ins Jenseits. Schnell und schmerzlos. Ich muss lachen. Ein letztes Mal lachen in diesem Leben; das Lachen kommt von tief drinnen aus mir heraus, ohne dass ich lachen will. Meine Situation ist ja auch nur noch zum Lachen. Zwei Stricke sind gerissen. Höhenangst hindert mich vor einem Sturz von einem Gebäude. Das Kabel meines Föhns ist zu kurz, als dass er bis zur Badewanne reichen würde. Und für Schlaftabletten fehlt mir das Geld – deswegen muss ich mich eben vor einen Zug werfen. Tränen gesellen sich zu meinem Lachen hinzu. Während ich vor Kälte in meiner dünnen Jacke zittere. Der Zug kommt näher. Seine dreieckig angeordneten Lichter glimmen mich böse an. „Versuche es“, teilt er mir mit. „Traust dich eh nicht.“ Denkste. Verzweifelt mag ich sein, doch ich habe keine Furcht. Und was danach kommt, ist mir im Moment ziemlich egal. Es ist besser als das, was ich jetzt habe. Ich will mich nicht fallen lassen, sondern aktiv hinein rennen und von ihm erfasst und mitten entzwei gerissen werden, sodass es keine Chance auf Rettung gibt. Sondern das Ende kommt. Jetzt… Energisch werde ich an der Taille gepackt. Zu Boden geworfen. Nicht auf die Schienen – sondern auf den kalten Asphalt. Ich reiße die Augen auf, verfolge ich in der Horizontalen mit, wie der Zug ohrenbetäubend und zentimeterknapp an mir vorbei rauscht. Mir wird schwindlig dabei, und vom Fahrtwind tränen mir die Augen. Ich lebe, wird mir bewusst. Erst als er vorbei ist, wage ich, nachzuschauen, wer auf mir liegt. Ein schmächtiger Kerl mit dunklen Haaren, blauen Augen und Lippen-Piercing rappelt sich langsam hoch. Ein halbes Kiddie! „Du blöder W…“, schreie ich ihn an, komme auf die Beine und schmeiße ihm ein vulgäres Schimpfwort nach dem anderen entgegen, während ich auf ihn einschlage. Ich bin so wütend wie noch nie. Lasse jahrelang aufgestaute Wut an ihm aus, indem ich meine Fäuste in seinem Fleisch versenke. Und Wut darüber, dass er meinen Plan vereitelt hat. Jetzt, wo ich mich doch endlich getraut habe! Wer weiß, wann ich je wieder den Mut dazu aufbringe! Dieser Idiot! Irgendwann bin ich erschöpft und meine Knöchel schmerzen, bluten sogar. „Hast du das gebraucht?“, fragt er. Seine Stimme ist angenehm, kühl und klar wie ein Bergsee. Noch immer den Kopf gesenkt, fixiere ich mit tränenverschleierten Blick die Spitzen meiner Turnschuhe. „Ich brauche noch viel mehr“, murmele ich. „Aber nicht heute.“ „Das glaube ich aber auch. Aber überlege dir eines. Wenn du es tust, dann gewinnen doch sie. Sie werden dann bemitleidet um ihren Verlust. Und der Böse bist du, wie kannst du ihnen das antun…“ „So habe ich das noch nie gesehen“, sage ich beschämt und wende mich ab, um nach Hause zu gehen. Ich weiß, was ich tue, wenn ich zuhause bin: Seit vielen Jahren wieder die Acrylfarben hervor kramen, die bereits Staub angesetzt hatten, und eine Leinwand in die Staffelei spannen. Malen. Fast dachte ich, es verlernt zu haben. Doch dem ist nicht so. Regelrecht kann ich spüren, wie sich in mir ein dickes Knotengewirr löst; Faden um Faden, für jeden Strich, den ich male. Nicht mehr ich führe den Pinsel, sondern er mich. Ein Bild, das gemalt werden will, um jeden Preis. Mitternacht ist es, als ich fertig bin. Mich verblüfft selbst, was ich gemalt habe: Einen wolkenbedeckten Himmel an einem Wintertag, durch dessen kleine Risse sich hier und da ein goldener Sonnenstrahl zwängt und in unterschiedlichen Winkeln auf die Erde herab scheint. Und diese Wolken betrachtet ein junger Mann, der mir den Rücken zudreht. Vielleicht hat er blaue Augen und ein Lippen-Piercing. Vielleicht gibt es ihn gar nicht wirklich, sondern er ist ein Engel, ein Weihnachtsengel, der Lebensmüde wie mich vor dem Suizid bewahrt. Vielleicht aber auch nicht? Wer kann das schon mit Sicherheit sagen? Was ich jedoch ganz sicher weiß, ist, dass ich ab heute öfter einen Spaziergang unternehmen werde. In der Hoffnung, meinem Schutzengel wieder zu begegnen und ihm dafür zu danken, dass er mich inspiriert hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)