Zeitlose Zerstörung von Varlet ================================================================================ Kapitel 11: Erdbeermuffin ------------------------- Immer wieder warf Jodie ihm verstohlene Blicke zu. Eigentlich sollte Shuichi noch im Krankenhaus bleiben und sich erholen. Die Verletzung heilte langsam und unter normalen Umständen war ein längerer Krankenhausaufenthalt unumgänglich. Eigentlich. Normalerweise. Wenn es um Shuichi Akai ging, gab es keine Standardisierungen. Kein eigentlich. Kein normalerweise. Akai war kein typischer Patient. Er hasste es im Krankenhaus unnötig rumzuliegen und Zeit zu vergeuden. Arbeiten im Krankenhaus war ebenso unmöglich, da andauernd irgendwelche Schwestern oder Besucher in sein Zimmer strömten. Nur im Büro hatte er die Ruhe, die er brauchte, wenn er sich konzentrieren musste. Außerdem war dort die Gefahr Zivilisten versehentlich einzuweihen gar nicht vorhanden. Glücklicherweise konnte man sich auf eigene Verantwortung selbst entlassen. Nichtsdestotrotz bemerkte der junge FBI Agent den besorgten, aber auch den tadelnden Blick von Jodie. Aber so war er nun einmal. Und gerade in Situationen wo es um die Organisation ging, konnten sie sich nicht zu viel Zeit lassen. Shuichi erinnerte sich noch an Jodies geschockten Blick als er im Büro auftauchte. Es war wahrlich eine Überraschung für sie. Dabei kannte Jodie ihn besser als jeder Andere. Sie hätte es wissen müssen. Dennoch bemerkte er, dass sie sich veränderte. Sie versuchte ihm, soweit es ging, aus dem Weg zu gehen. Ein einfaches Unterfangen wenn man bedachte, dass sie sich das Büro teilten und fast ständig aufeinander rumhockten. Shuichi kannte Jodie natürlich genau so gut, wie sie ihn, wenn nicht sogar besser. Er ahnte, dass sie sich für das, was passierte, schuldig fühlte. Auch wenn sie nichts dafür konnte. Immerhin war er es, der sie anrief. Und auch er war es, der das Gespräch mit ihr fortsetzte, obwohl er schon aus der Gasse hätte heraus fahren können. Es war nicht ihre Schuld. Wenn, dann sollte sie ihm die Schuld geben. Er war es, der nicht sofort los fuhr. Er war es auch, der im Wagen saß und seinen Angreifer nicht bemerkte. Er. Nicht sie. Unglücklicherweise zählten für Jodie dabei nicht die Fakten. Fakt war, er wurde angeschossen. Fakt war, dass er nicht sofort von der Stelle weg fuhr. Fakt war leider auch, dass er in jenem Augenblick mit ihr telefonierte. Akai wusste, dass er ihr Zeit lassen musste. Irgendwann würde sie wieder die alte werden und sich keine Vorwürfe mehr machen. Er war auch die Art von Person, die andere gerne tröstete oder gut zuredete. Er war der harte Agent mit dem weichen Kern, den er nie an die Oberfläche ließ. Es war einfach nicht seine Art. Selbst wenn er wollte, so konnte er nicht zu ihr rüber, sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles gut war. Jodie musste ihren eigenen Weg finden. Er konnte ihr nur einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben. „Was ist?“, fragte er schließlich. Jodie wandte ihren Blick ab. Sie fühlte sich ertappt und merkte anschließend, wie albern ihre Reaktion doch war. Vor allem aber durfte sie keine Schwäche zeigen. Sofort sah sie wieder zu ihm. „Nichts. Hab nur nachgedacht“, antwortete sie. „Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“ „Mhmm?“ Jodie sah ihn überrascht an. „Muss ich zu einem Schluss gekommen sein?“ „Wäre wünschenswert.“ Aber sie konnte ihm doch nicht die Wahrheit sagen. Shuichi hätte sie lediglich angesehen, den Kopf geschüttelt und ihr gesagt, dass sie sich keine Gedanken machen sollte. „Ich frage mich, was die Organisation hier macht. Und ob es nicht eine einmalige Geschichte war. Was macht uns so sicher, dass sie nun weiterhin hier agieren und nicht in Japan? Nur weil Gin hier ist…“ „Gin wurde nicht ohne Grund hierher beordert. Es würde mich wundern, wenn sie ihn jetzt wieder abziehen würde. Mein Gefühl sagt mir, dass da mehr ist. Wir müssen nur tief genug graben und sie wieder aufspüren“, gab der Agent von sich. „Mein Kontakt am Flughafen und James Kontakte zu den anderen Büros haben bestätigt, dass niemand, der so aussah wie Gin, das Land verlassen hat.“ „Und wenn er sich wie Vermouth verkleidet?“, warf Jodie ein. „Nein. Ausgeschlossen. Gin würde sich nie auf so etwas einlassen. Das wäre ihm viel zu albern. Nein…“ Akai schüttelte wissend den Kopf. „…Gin würde direkt am Flughafen in die Kameras gucken, grinsen und anschließend nach Japan fliegen. Er würde es genießen, uns wieder an der Nase herum geführt zu haben.“ Jodie seufzte leise auf. „Das heißt, sie haben noch irgendwas vor. Der Sternenhimmel hat uns auch nicht weiter gebracht. Das Gemälde ist weg.“ Akai nickte. „Und wir haben ihre Spur verloren. Vorerst.“ Dann aber grinste er. „Sie werden schon sehr bald wieder auf der Bildfläche erscheinen. Da bin ich mir ganz sicher.“ Shuichi blickte in seine Kaffeetasse. Schwarz. Wie die Nacht. Wie die Organisation. Ja, er würde sie vernichten. Auslöschen. Ihrer gerechten Strafe zuführen. „Ich werde mich heute mal in ein paar Bars umsehen und einige meiner Kontakte ansprechen. Vielleicht haben sie Gin gesehen.“ „Nein“, kam es sofort von Jodie. „Das kannst du nicht machen, Shu. Deine Schulter ist immer noch verletzt. Was, wenn du wirklich auf ihn trittst? Das kann nicht dein ernst sein.“ Sofort machte sich Sorge in Jodie breit. Sie konnte nicht zulassen, dass er sich noch absichtlich in Gefahr brachte. Verletzt in Gefahr brachte. „Reg dich ab, Jodie und mach dir keine Sorgen. Ich weiß, was ich tu. Und ich weiß, wie ich mich in ihrer Gegenwart verhalten soll.“ Trotzdem umspielte ein Lächeln seine Lippen. Shuichi freute sich auf ein Treffen mit ihnen. Mit Gin. Und wenn sie sich gegenüber standen, würde er ihn endlich zur Strecke bringen. „Wie soll ich mich abregen, wenn du verletzt bist und dich dann noch mit Gin messen möchtest?“, warf Jodie ein. „Ich hab nicht behauptet, dass ich ihn auch finden würde, Jodie. Ich bezweifel sogar, dass ich ihn direkt in der ersten Bar aufspüren wäre. Gin ist nicht dumm. Er wird auch von seiner Seite aus Vorkehrungen getroffen haben. Außer er lockt mich in eine Falle. Aber für diesen Fall werde auch ich Vorkehrungen treffen.“ Entgeistert sah Jodie ihn an. „Dir macht es Spaß, nicht wahr? Du möchtest auf Gin treffen und es endlich zum Abschluss bringen.“ Sie seufzte. „Aber deswegen bringst du dich in Gefahr und bist unaufmerksam.“ Shuichi schmunzelte. Bingo. Nun hatte er sie dort, wo er sie haben wollte. „Selbst ich bin manchmal unaufmerksam, wenn es um bestimmte Themen geht.“ „Sh…u…“, murmelte Jodie. „Hast du es jetzt verstanden, Jodie?“, wollte er wissen. „Es war nicht das Telefonat mit dir, wegen dem ich unaufmerksam war“, fügte er an. Sie schluckte. „Aber…“ „Du hast es eben selbst gesagt“, gab Akai von sich. „Wenn es um Gin geht und ich ihn schnappen will, kann es mal vorkommen, dass ich nicht alles im Überblick habe. Ich bin auch nur ein Mensch. Und wie jeder Mensch können auch mir Fehler passieren. Und diese Fehler haben rein gar nichts mit dir zu tun. Ist das bei dir angekommen?“ Sie nickte. „Gut, dann hör auf so ein Gesicht zu ziehen.“ Jodie sah ihn an. „Ich werds versuchen“, sprach sie. Versprechen konnte sie es nicht. Sie konnte zwar lächeln, aber ein nicht ernst gemeintes Lächeln fiel viel zu schnell auf. Und Jodie war wahrlich niemand, der anderen Menschen gern etwas vor machte. Außerdem konnte Shuichi immer hinter ihre Fassade blicken. Er wusste, was in Wirklichkeit in ihr vorging, selbst wenn es für alle Anderen nicht ersichtlich war. Frauen, dachte sich Shuichi und beließ es dabei. Er stand auf und holte seine Packung mit den Zigaretten aus der Hose. Anschließend nahm er eine heraus und ging zur Tür. „Shu!“ „Ich weiß, Rauchen ist ungesund und bringt mich eines Tages um.“ Trotzdem ging er aus dem Büro. Jodie seufzte. Warum musste ihr Kollege nur so unvernünftig sein? Wusste er denn nicht, wie wichtig sein Leben war? Und was sollten die Menschen, denen er wichtig war, sagen, wenn er erkrankte? Shu blieb stur. Egal wie oft Jodie ihn ermahnte, jedes Mal danach genoss er die Zigarette als könnte ihn kein Wässerchen trüben. Wenigstens hielt er sich an das Rauchverbot, welches sie im Büro aussprach. Jodie lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Sie musste es endlich überwinden und normal werden. Aber wie? Jodie verharrte nachdenklich in dieser Position bis sie etwas rascheln hörte. Sie öffnete die Augen und sah ungläubig auf ihren Schreibtisch. Ihr Blick ging anschließend zu Shuichi. „Hast du…woher…“ „Kantine“, antwortete der Agent. „Danke“, brachte Jodie hervor. Sie verstand noch nicht, warum er ihr etwas Süßes mitbrachte. „Damit du mal wieder lächelst.“ Jodie sah auf den verzierten Muffin. Eine kleine Erdbeere lag auf der sonst so weißen Glasur. Erdbeermuffin. Shuichi brachte ihr wirklich einen Erdbeermuffin mit. Und urplötzlich musste sie lächeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)