Kill this Killing Man II von Kalea (Höhen und Tiefen) ================================================================================ Kapitel 65: Befehle und ein in Leder gebundenes Buch ---------------------------------------------------- 65) Befehle und ein in Leder gebundenes Buch Hin und wieder schaute Sam nach seinem Bruder, brachte ihm Wasser oder Essen und war kurz davor ihn zu schütteln, damit er wenigstens irgendwie reagierte und nicht nur mechanisch alles in sich hineinstopfte, nur damit er wieder seine Ruhe haben konnte. Er wollte ihn schütteln, ihn anschreien nur damit Dean eine vernünftige Reaktion zeigte. Er wollte ihm beistehen, bei ihm bleiben und ihm zeigen, dass er nicht alleine war, aber jedes Mal wenn er ihn so sah, hatte er das dringende Bedürfnis zu fliehen, damit er dieses Elend, gegen das er so vollständig machtlos war, nicht länger sehen musste. So ging es nicht weiter! Er musste wissen, was Ellen in Dean sah, damit er beide Seiten der Medaille kannte und es nicht noch schlimmer machte. Aber er musste endlich etwas tun können. Er wartete noch, bis Dean den Teller geleert hatte und brachte den wieder nach unten. Er musste dringend mit Ellen reden. Sie wusste mehr, als sie ihm sagte. Sam lehnte sich an den Türrahmen in der Küche, nicht dass Ellen ihm jetzt einfach davonlief! „Was siehst du in ihm?“, wollte er ein wenig ungeduldig wissen. „Ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Was ist passiert, Sam?“ „Was hat das denn damit zu tun?“ „Bitte Sam. Ich möchte nur wissen, ob das, was ich sehe, wirklich sein kann.“ Er starrte auf seine Hände, dann nickte er, machte Jo Platz, die Geschirr in die Küche brachte und begann leise zu sprechen: „Dean hat einen Anruf auf einem von Johns Handys entgegen genommen. Ein junger Mann, Adam Milligan, erbat Johns Hilfe, weil seine Mutter verschwunden war.“ Sam musterte die beiden Harvelle-Frauen. Doch dieser Name schien ihnen nicht geläufig zu sein. „Er behauptete, dass John sein Vater wäre“, ließ er daraufhin die Bombe platzen. „Oh mein Gott!“, stieß Ellen aus. Sie konnte es fast nicht glauben. So sehr wie John damals um Mary getrauert hatte, hätte sie sich nie vorstellen können, dass der je wieder eine Beziehung haben würde. Aber auch John war nur ein Mann. Leider einer, der bei sich und seinen Söhnen wohl mit zweierlei Maß maß. „Seid ihr sicher, dass er es war?“, wollte sie wissen und lehnte sich haltsuchend gegen die Spüle. „Ja. Es gab genügend Bilder, die das bewiesen.“ Ellen schüttelte den Kopf und schaute bedauernd zu Sam. Jetzt wusste sie, was dem Älteren den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Wie viel konnte der Junge noch tragen? Wie viel wurde ihm noch aufgehalst? „Was?“, hakte Sam nach, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Noch einmal schüttelte sie den Kopf und beschloss, einfach zu erzählen, was damals war. „John hat wohl schon kurz nach dem Tod eurer Mom angefangen Fragen zu stellen. Unangenehme Fragen, immerhin hatte er sie an der Decke hängen sehen. Und er hat Antworten bekommen. Schon im Dezember stand er mit zwei kleinen Kindern vor unserer Tür. Ich hatte damals selbst ein Baby“, sie zog Jo an sich. Das Bedürfnis nach ihrer Nähe war übermächtig. „Mom!“, protestierte die leise und machte sich wieder frei. „Er fragte, ob ich mich um euch kümmern könnte, während er weiter suchte. Bei dir“, sie lächelte Sam an, „war das auch kein großes Problem. Außer dass du unheimlich viel geweint hast, warst du ein problemloses Baby. Dean schien dein Geschrei ausgleichen zu wollen. Er sagte kein Wort. Die ganze Zeit hat er mit niemandem gesprochen. Wann immer ich mich um dich gekümmert habe, stand er dabei und hat mir regelrecht auf die Finger geschaut. Nicht eine Sekunde hat er dich aus den Augen gelassen. Er saß die ganze Zeit einfach nur neben deinem Bett und hat blind vor sich hin gestarrt. Zum Spielen hätte man ihn zwingen müssen. Genau wie man es zum Schlafen tun musste. Jeden Abend stand er irgendwann hier unten. Immer hat er mich mit großen, dunklen Augen so voller Trauer angeschaut, dass es einem das Herz zerreißen konnte. Ihn dann wieder ins Bett zu bringen war fast unmöglich. Also ließ ich ihn neben deinem Bettchen sitzen, bis er von selbst wieder einschlief. Es wurde erst besser, als ich dich einmal mit zu ihm ins Bett gelegt habe. Seitdem schlief auch er durch. Er war eher ein stummer Schatten als ein vierjähriges Kind. Er hatte sich gerade ein wenig gefangen, als John bei seiner Rückkehr einen Gestaltwandler vor seinen Augen erschoss und ihn damit wohl noch weiter in seine Isolation trieb. Und so wie ich John kennengelernt habe, wird er ihm das nie erklärt haben, bis Dean es selbst herausgefunden hat. Vieles von dem, was ich damals in seinen Augen lesen konnte, den Verlust, die Hoffnungslosigkeit und die Leere, sehe ich heute wieder darin. Dein Bruder schlägt sich mit seinen Dämonen herum und wir können ihm nicht helfen.“ „Er müsste ja nur reden!“, seufzte Sam resigniert und ergänzte sofort: „Aber er wird es nicht tun, weil er immer selbst einen Weg finden musste. Ich weiß. Ich habe einiges davon in Dads Tagebuch gelesen. Es von dir zu hören macht es nur noch schmerzlicher, denn ich weiß immer noch nicht, wie ich ihm wirklich helfen kann. Wie ich ihm die Kraft geben kann, damit er seine Gefühle zulassen und verarbeiten kann.“ „Er frisst also immer noch alles in sich hinein?“, wollte sie mit leisem Bedauern in der Stimme wissen. „Ja. Er will nicht schwach sein. Er kann sich nicht fallen lassen. Er hat es nie gelernt sich wirklich zu entspannen.“ Ellen nickte traurig. „Vielleicht hilft Arbeit?“ „Er ist noch lange nicht wieder in der Form, in der ich ihn bedenkenlos arbeiten lassen möchte. Ich will ihn nicht verlieren“, sagte er leise. „Ich fühle mich einfach nur hilflos. Ihn so zu sehen tut weh.“ Ellen strich Sam über den Arm. „Er wird wieder“, machte sie ihm Mut. Sam atmete tief durch. Hoffentlich hatte sie Recht. Müde schlurfte Sam den Gang zu ihrem Zimmer entlang. Die Bar war mehr als gut gefüllt gewesen und es war schon weit nach drei, bis sich der letzte Gast zurückzog. Jo hatte ihm angeboten alles allein aufzuräumen, doch das konnte er nicht annehmen. Er konnte doch nicht vor einer Frau schwächeln, mit der er in einem heimlichen Wettstreit stand. Er öffnete die Tür und schaute sich im Schein der Flurbeleuchtung um. Vielleicht war Dean ja ins Bett gegangen. Seine Hoffnung wurde jäh zerstört. Nur als dunkler Schatten zu erkennen, hockte Dean noch immer regungslos auf der kleinen Couch. Er schaltete das Licht ein und ging zu ihm. „Geh ins Bett, Dean, bitte“, forderte er leise und es schmerzte, dass der das als Befehl empfand und gehorchte. Zu gerne würde er ihren Dad dafür eine reinhauen. Was hatte er nur mit Dean gemacht? Ein erstickter Schrei riss Sam aus dem Schlaf. Reglos lag er da und lauschte. Es war bis auf die leisen Atemzüge seines Bruders still. Hatte er diesen Schrei wirklich gehört? Er wollte ihn gerade als Bestandteil eines Traumes abtun, als Dean sich keuchend herumwälzte. Atemlos wartete er. War es nur eine kurze Traumepisode oder schlug sich sein Bruder mit mehr herum? Wieder drehte sich Dean. Ein Wimmern entrang sich seiner Kehle. Sam stand auf und überbrückte den Abstand zum Bett seines Großen mit einem Schritt. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und schüttelte ihn leicht. „Dean“, forderte er halblaut. Schlagartig öffnete der Ältere die Augen, doch sein Blick blieb trüb. Er fühlte die Hand, die ihn hielt. Sofort versuchte er sich dieses Griffes zu entledigen. „Dean! Ich bin‘s, Sam“, versuchte der zu ihm durchzudringen. Immer verzweifelter wurden seine Befreiungsversuche. Schnell ließ Sam los und trat einen Schritt zurück. Sekunden später beruhigte sich auch Dean und rollte sich eng zusammen. Schutzsuchend schlang er die Arme um sich. Dieser Anblick zerriss Sam fast das Herz. Er wollte seinem Bruder so gerne helfen, aber er wusste nicht, wie er an ihn herankommen konnte, wenn der schon vor seinen Berührungen flüchtete. Ihm musste schnellstens etwas einfallen, so konnte es nicht weiter gehen. „Verdammt noch mal, Dean. Rede doch endlich mit mir“, schimpfte er und schaffte ihre Nachttische beiseite. Auch wenn sein Bruder vor seinen Berührungen flüchtete, wollte er ihm doch nahe sein und so schob er sein Bett an Deans und legte sich so hin, dass er ihn jederzeit erreichen konnte. In dieser Nacht schlief nicht nur Dean schlecht. Auch Sam drehte sich stundenlang von einer Seite auf die andere und war einer Lösung keinen Millimeter näher gekommen. Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fühlte er sich wie gerädert und überlegte ernsthaft, ob er nicht einfach liegen bleiben sollte. Doch das brachte ihn auch nicht weiter! Er quälte sich aus dem Bett und verschwand im Bad. Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte er sich etwas besser und er war zu einer Entscheidung gekommen. Heute würde er nicht beim Kellnern helfen. Heute würde er endlich nach einem Konzert suchen. Wenn Dean schon nicht in der Lage war sich aus diesem Gespinst von Gedanken und Schuldgefühlen, oder was immer ihn sonst noch quälen mochte zu befreien, dann musste er das eben für ihn übernehmen! Sie würden zu dem Konzert fahren. Etwas woran Dean Spaß haben würde, etwas, das für ihn war. Und sie mussten endlich aus diesem Leben heraus. Er wollte nicht noch einmal zusehen, wie er Dean verlor! Das leise Knarren einer Tür brachte Dean in die Realität zurück. Die Schritte, die zum Tisch kamen, verrieten Sam und er ließ sich wieder fallen. Das leise Klonk, mit dem ein Teller auf den Tisch gestellt wurde und das Klappern des Bestecks ignorierte er genauso wie das Plop einer Tasse. „Du musst essen, Dean und trinken. Lange schaue ich mir das hier nicht mehr an! Du kannst nicht den ganzen Tag im Bett bleiben. Das ist selbst für dich ein Unding!“, sagte Sam ernst und verließ das Zimmer wieder. Er hatte gesehen, dass sein Bruder wach war und er gab ihm noch genau einen Tag. Sollte er morgen noch immer nicht an seiner Umwelt teil haben wollen, würde er sich mit Ellen beraten und ihn notfalls in ein Krankenhaus bringen. So konnte es nicht weitergehen! Dean lauschte den verklingenden Schritten. Du musst essen. Wieder ein Befehl, dem er folgen konnte. Er schlug die Decke zur Seite und stemmte sich in die Höhe. Er schlurfte zum Tisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Mechanisch begann er die Sandwiches zu essen und den Kaffee zu trinken. Wenn es ihm gut gegangen wäre, hätte er sich gefragt, woher sein kleiner Bruder eine Isoliertasse hatte, doch so wie er sich fühlte, war ihm das vollkommen egal. Du kannst nicht den ganzen Tag im Bett bleiben. Noch ein Befehl. Wollte er sich nicht von dem Befehlsempfänger lösen, der er einst gewesen war? Aber die Befehle gaben Sicherheit und einen Halt, den er gerade jetzt dringend brauchte. Er stemmte sich in die Höhe und verschwand im Bad. Wenigstens duschen wollte er. Vielleicht konnte das Wasser diese scharfkantige Watte ja vertreiben, die ihn noch immer einhüllte. Nur mit einem Handtuch bekleidet kam er ins Zimmer zurück und suchte sich frische Unterwäsche. Seine Jeans und das Hemd hingen über dem zweiten Stuhl. Er warf das Handtuch über die Lehne und zog sich fertig an. Sein Blick blieb an einem in Leder gebundenen Buch hängen, das auf dem Stuhl lag. Für einen erschreckend langen Moment wusste er nicht woher es kam. Es sah dem Tagebuch seines Erzeugers verdammt ähnlich, aber das war es nicht. Das Leder war dunkler, abgegriffener. Und dann fiel ihm ein, dass Adam es ihm bei ihrem Abschied in die Hand gedrückt hatte. John hatte es bei dem Jungen deponiert. In seinem Magen bildete sich ein dicker Klumpen. Tief in seinem Inneren wünschte er sich nie wieder etwas mit seinem Erzeuger zu tun zu haben. Dafür müsste er allerdings alles zurücklassen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Aber selbst dann würde er nicht verleugnen können wozu John ihn gemacht hatte. Da würde ihm wohl nur eine Amnesie helfen. Vielleicht sollte er sich so lange verprügeln lassen, bis sein Gehirn Brei war? Nein, das wäre wohl auch keine Alternative. Bei seinem Glück würde er alle schönen Momente vergessen und nur die furchtbaren behalten. Wieder fiel sein Blick auf das Buch. Vielleicht konnte es ihm ja helfen, etwas Ruhe in seine Gedanken zu bekommen. Er ging zu der kleinen Couch und ließ sich in der Ecke nieder, in der er an Vortag schon gehockt hatte. Lange starrte er nur darauf. Sollte er es wirklich lesen? Was würde er darin finden? Johns Tagebuch der anderen Art? Auch wenn er seinen Vater im Moment so sehr hasste, so traute er ihm das doch nicht zu. Tief atmete er durch und griff nach dem Verschluss. Bedächtig öffnete er es. Einen Augenblick ruhten seine Augen auf fremden Bildern und einer Schrift, die er nicht erkannte. Erst dann sickerte die Erkenntnis durch, dass es sich um das Tagebuch eines anderen Jägers handeln musste. Interessiert betrachtete er die Bilder und erstarrte. Konnte das sein? Er zog ein Foto aus seiner Halterung und betrachtete es genauer. Das war Mom! Kein Zweifel. Das war Mary Campbell. Etwas jünger als sie in seinem Traum war, aber unverkennbar. Das Buch konnte also nur von Samuel Campbell, ihrem Vater sein! Aber wie war John daran gekommen? Wie lange hatte er gewusst, dass Mom Jägerin war und warum hatte er ihnen nie etwas erzählt? Ohne eine weitere Verzögerung begann er das Buch zu lesen. Er bekam nicht einmal mehr mit, dass Sam ins Zimmer kam, seinen Teller abräumte und ihm eine Tasse Kaffee hinstellte und auch nicht, dass der zwar immer noch nicht glücklich über Deans Zustand war, es ihn aber etwas beruhigte, ihn etwas tun zu sehen, und wenn es lesen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)