My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 25: Sand aus Angst -------------------------- Kiyoshi kämpfte bitterlich mit Vincent. Er sprang immer wieder auf ihn los, biss ihn, kratzte ihn und fügte ihm tiefe Wunden hinzu. Vincent dagegen schoss um sich, wie ein Verrückter; holte sogar Ketten aus seinem Gürtel, die er gegen mich warf, als ich mich einmischen wollte. Ich wusste nicht, was passieren würde. Mein Gemüt wurde flach, mein Atem schneller und ich sah Sternchen. Nein, dachte ich, jetzt darf ich nicht schwach werden! Ich muss widerstehen! »Ihr zwei seid wie widerliches Ungeziefer, welches sich einfach immer wieder dem großen Schuh entzieht und weiterkrabbelt!«, fauchte Vincent, hielt sich seine blutende Schulter. Kiyoshi landete im Sand und wetzte seine Krallen. Seine Pupillen waren rot und das Augenweiß in einem dunklen Grauschleier getunkt. Es war, als würde das Biest aus ihm sprechen, nicht mehr Kiyoshi. Aber so war es gut. Vincent sollte genau spüren, mit wem er es zu tun hatte. Mit einem Toten. »Pass auf, dass wir dir nicht irgendwohin krabbeln«, fauchte mein Bruder los und sprang erneut auf Vincent zu. Der konterte recht zügig mit einem Stück Holz eines demolierten Strandkorbes und brachte Kiyoshi zu Fall. Er ächzte los, hielt sich die blutende Schulter und keuchte angestrengt. Auch ihn nahm die Anstrengung langsam mit und zwang ihn zur Ruhe. »Stirb doch endlich!«, raunte ich auf, brach ebenfalls ein Stück Holz ab und rannte auf Vincent zu. Der sah mich kommen, wich aus, wurde trotzdem von Splittern am Gesicht erwischt, sodass er schmerzerfüllt aufschrie, als einer der Splitter sein Auge traf. »Scheiße! Du ... Du miese -«, begann er, beugte sich vor, hielt sich sein Gesicht und ertastete sein Auge. Es blutete. »Du hast noch viel mehr verdient ...«, seufzte ich angestrengt und holte noch einmal aus. Kiyoshi schrie noch, ich verstand nicht was, spürte aber sofort einen Stich in meiner Seite. Vincent erwischte ich noch einmal am Kopf, sodass er mit dem Gesicht in den Sand zu Boden fiel und röchelte. Als ich an mir herunter sah, fasste ich mir instinktiv an die Wunde und ertastete Blut. Eine erneute Wunde?, fragte ich mich und spürte sofort einen Messergriff. Vincent hatte mich mit einem Messer erstochen, doch blieb es eher an meinem Shirt, als an meiner Haut hängen. Als ich es herauszog, taumelte ich zurück. Da war kein Schmerz, da war überhaupt kein Gefühl. »Hiro!«, rief mir Kiyoshi entsetzt zu, kam auf mich zugelaufen und hielt meine Wunde. »Geht's?« »Ja«, hauchte ich erschöpft und hielt mir die blutende Wunde. »Tut nicht weh ... nur gestreift ...«, murmelte ich weiter und konnte kaum meine Augen offen halten. Die Geräusche um mich herum wurden lauter. Das Meer, die Schritte von Vincent, der sich wieder aufrappelte, Kiyoshis Stimme – ich fühlte mich wie auf einer Autobahn, neben der ein Jahrmarkt stattfand. Ich schluckte wieder Luft, meine Kehle wurde trocken und ich taumelte weiter nach hinten. Meine Beine wurden wie Gummi. »Fuck«, flüsterte ich und hielt meinen Kopf. Er pochte, er dröhnte, es machte mich wahnsinnig. Vincent stand wieder vor uns, hielt sich ebenfalls den blutenden Kopf und raunte bissig vor sich hin. »Ich hab keine Lust mehr auf euch... Ihr habt mir genug angetan!«, schrie er los, lud seine Waffe mit einer Hand, strich sich das Blut von den Fingern und schoss in unsere Richtung. Kiyoshi zog mich rechtzeitig zu Boden, hoppste wieder auf und rannte auf Vincent zu. Ich sah nur noch Schatten. Im Grunde konnte ich nur erahnen, was genau geschah. »Was wir dir angetan haben? Das hier!«, hörte ich meinen Bruder schreien, fauchen und schlussendlich noch einmal auf Vincent drauf springend. Er zog das Holzstück an sich, hob es und rammte es mit voller Wucht in Vincents Brust. Beide Gestalten fielen zu Boden und alles, was ich noch vernahm, war der Schrei des Mannes, der schlussendlich unter meinem Bruder lag und sich nicht mehr bewegte. Kiyoshis Arme zitterten, standen noch von seinem Körper ab und blieben kampfbereit. Ich hörte leises Atmen und wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Wahrscheinlich eine Art Prozedur, um sich zu beruhigen.   Vincent hingegen blieb regungslos auf dem Boden liegen und atmete nicht mehr. Das Stück Holz stand aufrecht und steckte tief in seiner Brust. Ob es sein Herz getroffen hatte? Verdammt, dachte ich, ich hätte ihn gerne noch ein wenig leiden gesehen ... ihn vielleicht sogar misshandelt für das, was er uns angetan hatte. Für Alexander, den er vielleicht umgebracht hatte. Kiyoshi blieb nicht lange an seiner Stelle stehen, drehte sich nach mehreren ruhigen Minuten zu mir um und kam auf mich zugelaufen. Vorsichtig kniete er neben mir und tastete meine Stirn ab. »Hiro ... Hiro, was ist nur mit dir?«, flüsterte er und sah in mein blasses Gesicht. Ich wusste es selber nicht und zuckte nur mit den Schultern, hielt meine Hand an Kiyoshis Brust. »Ich glaub ... ich glaub, ich verrecke«, spaßte ich und lachte noch einen Moment. »So ein ... Quatsch«, grinste auch Kiyoshi, obwohl sich bereits Tränen in seinen Augen sammelten. »Hast du ihn ... getötet?«, fragte ich ruhig; spürte jedoch, wie sich meine Kehle zuschnürte. Mein Bruder nickte sanft, streichelte meine Wangen und lächelte weiterhin glücklich. »Ja ... er ist tot.« Sein süßliches Murmeln ließ mich Gänsehaut bekommen. Oder war es dieses taube Gefühl, was sich weiter ausbreitete? Ich kannte dieses Empfinden. Vor einer Woche ... im Bad der Villa. Mir wurde schwarz vor Augen, ich bekam Atemnot und dachte, ich müsste sterben. Ja, sterben. So fühlte sich das an. Meine Augen wurden wieder schwer, klappten ständig zu und ließen mich keine klare Sicht wahrnehmen. Kiyoshis Gesicht verschwamm immer mehr und ich hörte nur leises Rauschen. »Hiro! Hiro, sag mir, was passiert!«, weinte er los und klappste auf meine Wangen. Immer wieder spürte ich seine Hände an meinem Hals, fühlend, ob ich noch einen Puls hatte. »Ist es schon Zeit? Ist es jetzt soweit? Soll ich dich verwandeln?«, fragte er hektisch, sah sich um und versuchte eine Antwort auf seine Frage zu finden. Ich röchelte noch vor mich hin und öffnete ein letztes Mal die Augen für meinen Bruder. Seine Augen waren wieder blau-lila. Seine Haare so weiß wie Schnee. Nichts war mehr von dem Tier zu sehen. Und die Sonne ... oh, die Sonne, sie ging langsam auf. Der Himmel wurde rosa und die kleinen Wölkchen wanderten wie Schäfchen an seinem Kopf vorbei. Tränen ließen seine Augen wie Edelsteine glitzern – und ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass ich ihn vor einer Woche noch am liebsten den Bach runter geworfen hätte. Nein ... es waren schon fast zwei Wochen. Und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Vielleicht war es auch eine; es war unsere eigene Ewigkeit. »Hiro ... Hiro, ich beiße dich jetzt... dann musst du von mir trinken, hörst du?« Ich hörte, aber ich verstand nicht mehr ganz, was er sagen wollte. Trinken ... wen? Oder was?   Weiße Haare kitzelten meine Nase und ließen mich abermals lächeln. Es war wie damals, als er mich zum ersten Mal biss. Ich war genauso wehrlos in seinen Armen wie jetzt.   Das Rauschen des Meeres wurde leiser, bis es vollends verstummte. Ich hörte mein eigenes Blut fließen.   Kiyoshi trank nicht viel, vielleicht ein paar Schlucke, löste sich sofort von mir und untersuchte meine schwindende Mimik.   Meine Augen fielen schließlich zu.   Alles, was ich noch hörte, waren Kiyoshis Worte: »Bleib bei mir!«   Und das wollte ich. Ja, wirklich, ich wollte bei ihm sein. Am Anfang wäre ich noch lieber gestorben, als ein Leben in ewiger Dunkelheit zu führen. Ohne Essen, ohne Trinken, ohne soziale Kontakte bis auf die anderen Blutsauger. Aber für ihn ... Für ihn würde ich über Leichen gehen. Für ihn würde ich ein Leben in ewiger Dunkelheit verbringen. Mich knechten lassen. Mich meucheln lassen. Nur für ihn würde ich alles stehen und liegen lassen. Wie oft hatte ich das nun bewiesen? Und trotzdem ... wurden wir getrennt. Trotzdem wollte niemand, dass wir zusammen waren. Doch für ihn ... würde ich auch die Welt umlegen ... nur, um mit ihm Leben zu können. Ein totes Leben.   Ich spürte Tropfen auf meinen Lippen. Sie schmeckten süß.   Schließlich küssten mich noch einmal diese wunderbaren Lippen auf den Mund, die ich immer herbei gesehnt hatte.   Dann wurde es dunkel.   Und es hörte auf.   Es hörte auf zu schlagen.                                                             »Hiro ....«, hörte ich leises Wimmern. Ein zarter Körper lag auf meiner Brust und weinte in meine zerrissene und blutige Kleidung. »Hiro, nein ...« Es war mein Bruder. Und er weinte auf mir, während ich noch immer wie ein toter Fisch am Strand auf dem Rücken lag. Der Himmel, den ich als erstes sah, war noch immer in einem leichten rosa getunkt. Es war wunderschön, dachte ich; doch genauso schnell spürte ich langsam ein leichtes Bitzeln auf meiner Haut. Die Sonne ging auf und ... ich war am Leben.   Und wie.   Die Farben sahen so leuchtend aus, es blendete mich fast. Blau, Grün, Gelb – wie aus dem Computer. Wie angestrahlt, so sehr stachen sie in mein Auge. Fast war es, als würde die Welt in dem leichten Sonnenlicht glitzern. Der Geruch der Luft war umwerfend. Ich roch Brot, Fisch, See, Sand – ja, ich roch Sand. Zum ersten Mal in meinem Leben erkannte ich diese tausend Gerüche um mich herum. Es waren angenehme, aber auch eklige. Wie das bisschen Hundekot, was noch immer neben der Promenadenmauer lag; oder ein Fisch, der sich im Seetang verheddert hatte und am Ufer verrottete. Das Meer rauschte etwas unangenehm in meinen Ohren. Trotzdem vernahm ich auch alles andere um mich herum. Der Wind, der in ein kleines Windrat pustete, welches an einem Geschäft lag und von einem Kind vergessen wurde. Wie die kleinen Büsche sich bewegten und aneinander raschelten. Wie Kiyoshi vor mir immer Luft holte, hickste und schniefte. Es war, als könne ich sogar sein Blut fließen hören. Denn ich hörte auch meins. Ganz deutlich, da floss Blut. Aber es schlug kein Herz.   Ich wollte etwas sagen, öffnete den Mund und spürte, dass ich keinerlei Luft in meiner Lunge hatte. Oh, ja, richtig. Ich musste ja jetzt manuell atmen. Also holte ich leise Luft und sprach mein erstes, zögerliches Wort.   »Kiyoshi ...«, flüsterte ich leise und streichelte mit ein wenig Kraftaufwand über seine Haare. »Kiyoshi ...« Es dauert eine Weile, bis er aufblickte und mit großen Augen in mein Gesicht sah. Ich konnte nicht erkennen, was er empfand, ob es Freude, Glück oder Verwunderung war, als er in meine Augen blickte. »Du hast es geschafft«, hauchte er mir entgegen und lächelte schließlich. »Du ... du bist ... « Seine kalten Hände strichen über meine Wangen und streichelten meine Haut. Es war weg – das spürte ich sofort. Dieses Kribbeln, wann immer er mich berührte. Stattdessen war es wie elektrisch aufgeladen; als würden sich die Härchen zu den Bewegungen aufstellen. Ich spürte seine Präsenz, seine direkte Anwesenheit. Es war wie eine Aura, viel stärker als vorher. »Ich hab's ... geschafft?«, wiederholte ich und hob meine Mundwinkel. Noch immer blinzelte ich angestrengt gegen das Licht. »Es ist so hell ... Meine Augen tun weh.« »Ja, klar«, kicherte mein Bruder, küsste meine Lippen und legte seine Stirn auf meine. »Du hast sie noch nie benutzt ... deine Augen ... natürlich sind sie noch viel zu sensibel.« Noch nie benutzt? Hatte ich also neue Augen bekommen? Eine neue Gabe? In der Tat fühlte ich mich .... gut. Ich fühlte mich recht fit, obwohl ich kaum einen Finger bewegen konnte. Meine Beine und Arme waren schwer und doch furchtbar leicht. Ein Sprung aus dem Liegen schien auf einmal gar nicht so abwegig; schwere Lasten tragen fühlte sich nicht mehr ansatzweise so anstrengend an. »Fühlt sich ... gut an.« Als Kiyoshi mein zufriedenes Gesicht sah, nickte er ebenfalls zufrieden. »Das sehe ich. Du siehst toll aus ... wirklich toll.« Ich streckte meine andere Hand aus und umschlang Kiyoshis Wangen mit beiden Händen. Charmeur, dachte ich. Wahrscheinlich sehe ich furchtbar verdreckt und abgenutzt aus. Aber vielleicht war es auch meine neu gewonnene Aura, die mich schön erscheinen ließ. So wie alle Vampire wirkte ich nun auch auf meine Mitmenschen. Mutter würde es sofort merken. Mutter? Ich meinte natürlich Mom. »Gehen wir?«, fragte ich leise und seufzte glücklich, dass wir es lebend aus der Sache gebracht hatten. Kiyoshi nickte sofort, drückte mir noch einen Kuss auf die Lippen und erhob sich ein Stück. Sein Lächeln ließ mein Herz gefühlt noch einmal schlagen; so ungewohnt, wie ich es jetzt beim Namen nennen musste. Ich war tot. Ich war ein Vampir. Ich sah die Welt nun mit anderen Augen und es war ein wundervolles Erlebnis. Nie hätte ich gedacht, dass dieses Leben so viel für mich bereithalten würde. Nie hätte ich es für möglich gehalten, mich so wohl in meiner Haut zu fühlen. Vielleicht waren es auch die Endorphine, die wegen meines akuten Blutverlustes ausgeschüttet wurden und mich glücklich werden ließen. Oder einfach die Tatsache, dass wir nun endlich nach Hause gehen konnten. Zurück zu Mom und Dad. Zurück zum alten Leben. Als Kiyoshi noch einen Moment auf mir liegen blieb und mich weiter beobachtete, streichelte ich erneut seine Wange und lächelte verliebt. Es war der perfekte Moment. Und er gehörte –   Es knallte. Es schallte, es piepste, es tat weh!   Kiyoshis Mimik erstarrte plötzlich, sah noch entsetzt in mein Gesicht, als ich den Durchschuss an seiner Stirn bemerkte. »Nein!!«, schrie ich sofort los, packte Kiyoshis erschlaffenden Körper und drehte mich mit ihm auf die Seite. Weitere Schüsse folgten, trafen sowohl ihn, als auch mich. Es brannte regelrecht in meinem Körper – es waren definitiv UV-Geschütze, die schmerzhaft in unseren Körpern hingen blieben.. Ich beugte mich über Kiyoshi, als der Kugelhagel aufhörte, ignorierte die Schmerzen an meinem Körper und sah in das noch starrende Gesicht von meinem Bruder. »Nein ... nein!«, wiederholte ich abermals. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Unser Moment – es war unser Moment! Doch Kiyoshis Blick blieb starr. Aus der Schusswunde an seiner Stirn trat Blut aus. Er regte sich nicht. Sein Kopf war schwer wie Blei, ließ sich kaum auf Stellung halten. Natürlich atmete er nicht, doch nun ... wünschte ich, ich hätte ein Maß, an dem ich festmachen könnte, ob er wirklich ... »Ihr ... zwei ...«, brummte es hinter mir. Sofort drehte ich mich um und erblickte Vincent, der seine Waffe schwach in der Hand hielt. Er röchelte, keuchte und schien wahnsinnige Schmerzen zu haben. Das Brett steckte noch immer in seiner Brust. Es schien sein Herz um ein Haar verfehlt zu haben. Oder Vincent war selber unsterblich. Doch die Masse an Blut, die er spuckte, die nicht heilenden Wunden und das zerstörte Auge mit der zerstörten Nase ließen mich darauf schließen, dass er einfach nur ein hart gesottener Mensch war. »Sterbt endlich ...«, keuchte er abermals, versuchte seine Waffe erneut mit den Kugeln zu laden, die uns ins Jenseits schicken sollten. »Ihr habt es verdient ...« Ein letzter Blick zu meinem Bruder sorgte in mir regelrecht für einen Black Out.   Seine Augen verloren an Glanz, starrten einfach nur in den Himmel, während seine Lippen einige Millimeter auseinander standen. Das konnte einfach nicht sein. Er wurde in den Kopf geschossen. Er war tot. Richtig tot. Er rührte sich nicht. Und selbst wenn er noch einen Funken Leben in sich getragen hätte: Blutungen im Hirn würde er mit seinem Nahrungsmangel nicht so schnell wieder ausbügeln können. Auch die UV-Kugeln hatten ihn getroffen und steckten noch in seinen Beinen und Rücken. Auch mich hatten sie getroffen ... Ich blickte an mir herunter, sah in die verschiedenen Einschüsse. Es brannte, ja, aber der Schmerz in meiner Brust brannte noch weitaus deutlicher. Nicht einmal diese Wunden konnten mich abhalten. Keine Wunde der Welt sollte mich abhalten. Nichts sollte mich von meinem letzten Vorhaben abhalten. Vergeltung! Ich schnaufte los, erhob mich mit einem Schwung und legte Kiyoshi sachte auf den Sandboden. »Was willst du tun?«, raunte Vincent los und lachte, während er kniend im Sand saß und weiter zittrig seine Waffe lud. »Mich umbringen? Mach es ... aber du wirst keinen von euch retten können ... Weder ihn ... noch dich selbst.«   »... Ich hoffe, dass du in der Hölle elendig leiden wirst«, murrte ich bedrohlich, kam auf Vincent zu, der mehr oder weniger freiwillig die Waffe fallen ließ. Mit schnellen Schritten ging ich auf den blutenden Körper zu und packte ihn am Kragen. Er lachte, grinste breit und sah mich abtrünnig ab. »Hoffentlich ... endet eure schmutzige Blutlinie endlich«, presste Vincent aus seinen Lippen, bevor ich ausholte und es beendete. Meine Finger bohrten sich zwischen seine Rippen, durch den Brustkorb und schoben sich an seinem Herzen vorbei. Seine Mimik erstarrte ebenso schnell, wie die von Kiyoshi – doch hier konnte ich sicher gehen, dass er sterben würde. Endlich! Dieser Black Out war so übermannend, dass ich nicht wusste, was ich genau tat, aber ich tat es mit einer Menge Wohlgefallen. Noch in seinem Brustkorb wühlend, packte ich eine Herzkammer, riss sie mit Zugkraft aus dem Menschen heraus und ließ das Blut um mich spritzen; es spritzte in alle Seiten, es lief an mir herunter und bedeckte den weißen Sand. Vincents lebloser Körper fiel zurück auf den weichen Boden und regte sich nicht mehr.   Es war geschehen. Mord. Ich brauchte eine Minute, bis ich genau realisierte, was ich genau getan hatte. Vincent war tot. Er war durch meine Hand gestorben; durch meinen Griff, der ihm sein jämmerliches Herz rausgerissen hatte. Weil er meinen Bruder getötet hatte.   Als ich mich zitternd umdrehte, sah ich seinen leblosen Körper am Boden liegen. Wie sehr hatte ich mich gefreut – auf ein neues Leben, auf eine neue Chance. Eine Unendlichkeit mit ihm zu verbringen zu dürfen! Und jetzt? Lag alles, woran ich jemals geglaubt hatte, tot im Sand, umgeben von Blut und Verderben.   Langsam trottete ich mit dem warmen Herz in der Hand zu Kiyoshi, hielt es über seine Lippen und presste das letzte bisschen Blut in seinen Rachen. Doch nichts rührte sich. Die Flüssigkeit floss einfach nur an seinem Mundwinkel vorbei. Nur wenige Tropfen flossen seinen Rachen hinunter. Der starre Blick noch immer gen Himmel gerichtet. Da kamen die Gefühle zurück. Die Wut, die mich taub gemacht hatte, verschwand im Nu und bettete sich in Trauer. Ich presste das komplette Herz in meiner Hand aus, sodass es nur noch ein matschiger Haufen Gewebe war, was sich zwischen meinen Fingern befand, doch nichts half. Kiyoshi regte sich nicht, schluckte nicht, tat nichts. Meine Lippen begannen zu zittern. Ob ich es bewusst tat, weil es eine Art war zu zeigen, dass ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, oder ob es von den Einschüssen kam, durch die die UV-Flüssigkeiten durch meinen Körper floss ... was auch immer es war, ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Und ich begann laut zu schluchzen. Ohne Kiyoshi? Würde es doch keinen Sinn machen.   Vorsichtig legte ich Vincents Herz weg, wischte Kiyoshi das restliche Blut vom Mundwinkel und fuhr mit der Handfläche sanft über sein Gesicht, um seine Augen zu schließen, die noch immer starr in den Himmel geblickt hatten. Ich konnte nur hoffen, dass er dort war – im Himmel. Als ich wieder aufschluchzte, die ersten Tränen in Kiyoshis Gesicht fielen sah, blickte ich auf und sah den rosa Himmel. Er verfärbte sich fast dunkel-lila. Blau-lila ... wie seine Augen.   Wohin, dachte ich? Die Sonne ging auf und die ersten Strahlen brannten auf meiner Haut.   Ich sah mich um, betrachtete das Blutbad um uns herum, die zerstörten Strandkörbe und kaputten Schirme. Vincent hatte ganze Magazine verschossen, nur um uns einzelne Wunde zuzufügen. Sicherlich wurde er gegen Ende hin auch nervös und wusste nicht mehr genau, was er tun sollte; also schoss er wild um sich. Doch wen interessierte das jetzt noch? Mein Bruder, meine Liebe, mein Leben… alles war tot. Vorsichtig griff ich unter Kiyoshis Körper, hievte ihn hoch und trug ihn ein paar Meter von diesem Schlachtfeld weg. Er war leicht, fast zu leicht, dachte ich und presste ihn dicht an mich. Sein Duft, der so typisch für ihn war, blieb noch an ihm haften. Wieso? Wieso? Wieso er? Abermals bildeten sich Tränen in meinen Augen. Wo ich so oft so kurz vor der Schwelle des Todes stand, musste nun er diese Tür betreten? Wieso? Wieso nicht ich? War es nicht offensichtlich, dass ich derjenige war, der es nicht lebend aus dieser Sache bringen würde? War es nicht meine Aufgabe gewesen, meinen geliebten Bruder hier raus zu holen? Ihn vor Vincent zu retten? Ich hatte jämmerlich versagt. Und diese Niederlage tat weh; ja, sie brannte regelrecht in meiner Brust. Denn sie bedeutete, dass Kiyoshi tot war und nicht mehr zurück käme.   Während ich so den Strand entlang trottete mit Kiyoshi auf meinen Armen, blieb ich stehen und blickte auf das offene Meer. Der Horizont verfärbte sich gelb und kündigte die Sonne an. Ich blinzelte mehrmals vor mich hin, ließ die Tränen stumm aus meinen Augen laufen und seufzte schließlich, als ich mich wieder auf den Sand fallen ließ. »So hast du dir das bestimmt nicht vorgestellt, oder?«, wisperte ich vor mich hin und streichelte über die kalten Wangen meines Bruders. »Ich dachte ... ich würde mich nicht beherrschen können, weinen wie ein Schlosshund, würde ich dich verlieren ... Und jetzt? Jetzt sitze ich hier mit meinem neuen Leben in der einen Hand und mit nichts anderem in der anderen. Ich spüre nichts, Kiyoshi ... Ich ... spüre einfach nichts ... ohne dich.« Mein Herz fühlte sich tot an. Nicht physisch. Psychisch. Jetzt bekam ich eine Ahnung, wie sich Kiyoshi all die Jahre ohne mich gefühlt haben muss. Verlassen, einsam und leer. Vorsichtig platzierte ich mich auf den kalten Sand, setzte mich in den Schneidersitz und holte Kiyoshis Körper in die Mitte meiner Beine. Sachte lag er in meinen Armen, ließ leblos Kopf und Arme hängen. Erst, als ich seinen Nacken stützte, konnte ich wieder in sein ruhendes Gesicht sehen. Leichte Blessuren ließen seinen sonst so wunderschönen Teint verkratzt und angeschlagen aussehen. Die Augenringe, die sonst moderat unter seinen strahlenden Augen hingen, zeigten deutliche Schwärze und unterstrichen die Tatsache, dass er nicht mehr unter den Lebenden wandelte. »Bist du noch bei mir?«, wiederholte ich Kiyoshis Worte, die so oft gefallen waren. »Wartest du auf mich?« Immer wieder schluchzte ich kurz auf, strich abermals über seine Wangen, als könnte er jeden Moment seine Augen aufschlagen und in meine blicken.   Ich entschuldigte mich bei Mom. Bei Dad. Bei Jiro und bei Alexander. Alle warteten sicher auf uns. Dass wir zurückkehren würden, mit einem Lächeln auf den Lippen, und die ganze Sache mit einer Handbewegung abtun würden. Wäre ja alles nicht so wild gewesen. Wir sind ja alle heil aus der Sache gekommen. Ja ... heil aus der Sache rauskommen.   Die Sonne war nun endlich am Horizont zu sehen. Es fing an zu brennen, meine Haut färbte sich rot. Auch Kiyoshis blasse Haut wurde schlagartig krustig. Zugegeben: ich hatte Angst. Wie es werden würde. Ich hatte kein Angst vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Aber diese Art war geradezu perfekt meinen Bruder mit mir zu nehmen. Sicher zu gehen, dass wir uns auch wirklich wieder im Jenseits treffen würden. Feste umschlang ich seinen Körper und ließ ein letztes Mal meinen Blick schweifen.   Ja. Ängste in meinem Leben waren wie Sand am Meer: Unzählig mal zu finden. Und das Glück verbarrikadierte sich in Form von Muscheln in diesen Ängsten. Ein Strand des Leidens, während eines wunderbaren, roten Sonnenaufgangs. So stellte ich mir den schönsten Tod vor. Mit meinem Bruder zusammen, der bereits am Tor des Jenseits mit diesem bezaubernden Lächeln auf mich wartete.   Ja, dachte ich abermals, wischte die Tränen von meinen Augen und grinste ein wenig, als sowohl Kiyoshis, als auch meine Haut anfingen zu kokeln. Es brannte, es tat weh, mein ganzer Körper stand kurz vor dem Zusammenbruch. Nur Kiyoshi vor mir liegend ließ mich standhaft bleiben. Auch in ihm breitete sich die Flüssigkeit aus; einzelne rote Adern stachen hervor und ließen ihn toter als tot erscheinen.   Ich presste meine Lippen zum letzten Mal auf seine. Sie waren trocken und nicht mal ansatzweise so schön zu küssen, wie sie es mal waren. Sowieso wirkte Kiyoshi nicht mehr so anmutig und perfekt, wie er es mal war. Das Einschussloch an seiner Stirn ließ mich schaudern. Ich legte eine Handfläche auf seine Stirn, sodass mir wenigstens der letzte Anblick an sein schönes Gesicht blieb. »Ich liebe dich«, flüsterte ich, wenn auch sehr gequält. Die Sonne ging weiter auf, breitete sich am Himmel aus und ließ schmerzende Strahlen auf uns herabprasseln.   Unsere Haut fing an zu brennen. Sie brannte, sie rauchte, sie kokelte, sie wurde schwarz. Es wurde unerträglich. Ich schrie.   So laut wie noch nie. Kiyoshi in meinen Armen hingegen blieb weiterhin stumm und ließ die Prozedur über sich ergehen. Noch ein letztes Mal blickte ich in sein Gesicht, dann in die Sonne, die mich erst weiß, dann schwarz sehen ließ.   Ein zweiter Tod. So schnell. So schmerzvoll. Wie die letzten Tage. Wie alles bisher.   Nur Kiyoshi war die Heilung. Ja, er war mein Leben. Er war alles, was ich besaß und ich wollte ihn wieder besitzen. Egal wohin, ich würde folgen. Er würde das nicht wollen; ich würde das auch niemals von ihm verlangen – trotzdem war ich mir sicher, er würde dasselbe tun. Was würde mir ein Leben ohne ihn bringen? Nichts, außer Trauer und Demut. Da konnte ich ihm gleich folgen. In den Tod.   Zwillinge. Bis zum Schluss. Für immer zusammen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)