Veränderung von hare ================================================================================ Kapitel 13: Ende ---------------- Ich schloss die Augen und bereitete mich auf den Tod vor. Nicht nur meine Erinnerungen rasten an mir vorbei, von Abenden auf Konzerten und Grillen auf verlassenen Grundstücken, meiner chaotischen Wohnung und Jakob, den schönen, süßen Momenten mit ihm, sondern auch die von Hannah, spielend mit Jarov, mit ihrer Familie, den Keksen ihrer Gran. Hannah. Die mich jetzt eigentlich töten wollte. Dann blieb die Zeit stehen. Ein seltsames Prickeln fuhr über meine Haut, und ich wagte es, die Augen zu öffnen. Die Kugel schwebte in der Luft, kurz vor Simon. Irina zuckte mit den Fingern, ich versuchte ebenfalls, mich zu bewegen. Gleichzeitig standen wir auf und schüttelten die Zeit ab, die an uns klebte wie Fäden. Das einzig Gute an der Situation war, dass Irina genau so verdutzt war wie ich. Wir steckten beide im Moment fest, Simon machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Was passiert hier?“, fragte Irina, die als erste sprach. Ich dachte nach. Lange. „Ich glaube, wenn du mich tötest, stirbst du auch.“ erwiderte ich, der einzige Schluss, zu dem ich gekommen war. Die Kugel hing noch immer in der Luft, ich schritt auf sie zu und pflückte sie wie eine Erdbeere, um zum Fenster zu gehen, es zu öffnen, und die Kugel hinaus zu werfen. Irina beobachtete mich schweigend. „Sie hat Recht.“, sagte eine dritte Stimme, die uns aufschrecken ließ. Jesaia stand vor uns. „Wie bist du hier herein gekommen?“, fragte ich, überrascht, ihn hier zu sehen. „Durch die Wand.“, erwiderte er gelassen, was mich davon überzeugte, endgültig den Verstand verloren zu haben. „Tee?“ Er wies auf den Tisch, der etwas entfernt stand, und auf dem nun eine Kanne Tee, Gebäck und drei Tassen standen. Ich war sicher, dass sie gerade erst aufgetaucht waren. Verwirrt nahm ich platz, Irina öffnete und schloss den Mund, sie wirkte wütend. Offenbar hatte sie ihre Stimme verloren. Jesaia lächelte mich offen an. Ich probierte einen Keks. Er schmeckte gar nicht übel. Irina hatte währenddessen aufgegeben und setzte sich so weit weg von Jesaia und mir wie sie konnte. Mit einer simplen Handbewegung gab Jesaia ihr die Sprache zurück. Sie klang wütend. Aber ich verstand kein Russisch. Jesaia lächelte, schenkte auch ihr Tee ein, und reichte ihn ihr. „Also wirklich, Irina. Menschen zu töten ist nicht nett. Wie ich schon gesagt habe.“ „Was machst du? Und wer bist du? Was soll das überhaupt?“ Die Russin hatte ihre Sprache wieder gefunden. „Ich bin niemand. Ich versuche, euch zu helfen... und ich habe die Gestalt von einem Freund angenommen. Julia hat mich schon identifiziert, aber du, Hannah... bist ein schlechter Übernachtungsgast. Du bist in Minsk in meiner Wohung aufgewacht.“ Es wurde immer seltsamer. Ich erwiderte nichts, was nicht nötig war. Jesaia legte nur eine dramatische Pause ein, um dann weiter zu reden. „Ihr müsst euer neues Leben akzeptieren, sonst sterbt ihr, beide. Ihr habt neue Chancen bekommen. Nützt sie.“ Er sah Hannah an, dann mich. „Irina, du solltest wieder nach Moskau gehen. Leb dein Leben. Pass dich an. Es wird dir gefallen. Deine alten Freunde warten auf dich. Hannah... ich dachte, es funktioniert, dass du in Wien bleibst. Aber nein. Jarov, deine Eltern und du werden morgen nach Argentinien fliegen. Sie eröffnen dort eine Werkstatt. Dein Spanisch ist ohnehin etwas eingerostet.“ Irina und ich starrten uns an, und dann sahen wir gleichzeitig zu Simon. Doch Jesaia ergriff wieder das Wort. „Ach, er... er wird aufwachen, und jede Erinnerung an euch beide wird ein Traum sein. Ein langer Traum. Macht euch keine Sorgen. Er kommt zurecht.“ Und auf einmal hakte sich die Zeit wieder an unsere Körper, und die Fäden zogen uns aus einander. Jesaias Gestalt verblasste, dann Irina, dann Simon, dann die Hütte. Irgendwann sah ich auf meine Arme, und sie waren verschwunden. Genau wie der Rest von mir. Ich wachte wieder in meinem Bett auf. In Wien. Jarov war eng an mich gekuschelt, und zwei Decken um uns geschlungen. Wir waren wieder daheim. Es war unglaublich warm. Vorsichtig löste ich mich von Jarov und schlich ins Bad, betastete mein Gesicht, meine Arme, meinen Körper. Es war meiner. Ich stieg unter die Dusche, drehte das Wasser kalt auf, dann warm, und fühlte es. Nur ein Traum. Nur ein Traum. Meine Mutter kam mir entgegen, fragte auf Deutsch, ob ich schon packen wollte. „Warum?“ „Hast du vergessen? Wir fahren in der Nacht!“ Natürlich. Um Mitternacht ging unser Flugzeug nach Paris. Und dann, einfach so, waren wir schon im Flieger nach Argentinien. Ich murmelte etwas von wegen, ich seie müde, und half ihr, die letzten Vasen mit Zeitungspapier auszustopfen. Am späten Vormittag falteten Jarov und ich Kleidung, alte wie neue, gemütlich wie modisch, und schlichteten meine liebsten Stücke in einen Koffer, gemeinsam mit Büchern, Schmuck und österreichischen Süßigkeiten. Der Rest meiner Einrichtung, die Bilder, ein Polster, eine Decke, und was wir sonst noch fanden, längst verloren geglaubte Stifte, Papier, Handtaschen, verschwand in Umzugskartons. Sie wurden gegen Mittag abgeholt. Am Abend brachte uns unsere Gran Eintopf, und wir saßen am Wohnzimmerboden im Kreis, umgeben von noch nicht abgeholten Möbeln und kahlen Wänden. Jakob und ich hatten zwei Jahre gehabt. Die Tage und gerade die Nächte waren mehr, als ich mir erhoffen hätte können. So sehr es meine Freundinnen gestört hatte, aufzuwachen, weil sich die andere Person im Bett zu sehr bewegte, so sehr freute ich mich, morgens von einem um mich geschlungenen Arm aufgeweckt zu werden, nur um wieder einzuschlafen. Es war mehr, als die meisten Personen erfuhren. Viel mehr. Während das Flugzeug höher und höher stieg, dachte ich an die Momente. Daran, dass mich nie jemand so vorsichtig geküsst hatte, oder so bedingungslos für mich da gewesen war. Niemand. Aber das war in einem anderen Leben. Es dauerte fast zwei Tage, bis wir endlich in unserer alten Heimat waren. Ich war erst einmal hier gewesen, im Alter von vielleicht sechs, sieben Jahren. Trotzdem wurden wir von alten Freunden und Bekannten erwartet. Der Sohn der besten Freundin meiner Mutter nahm mich gleich an der Hand, während sein Großneffe unser Gepäck in unser riesiges, neues Haus trug, und zeigte mir den Garten, wo schon eine Hängematte hing, die wichtigsten Häuser in der Straße, seines, das meiner Tante, das eines Cousins, die Bäckerei, und wie man zum Strand gelangte. Nach und nach wurde mein Spanisch besser, ich lernte, mit Pesos umzugehen, und verlor meine Blässe. Mehr und mehr vergas ich mein altes Leben. Eines Morgens fand ich einen Brief meiner Gran, ob Jarov und ich nicht zu ihr in den Ferien kommen wollten. Ich schrieb zurück, dass wir es uns überlegen würden. Denn das kalte Wien wirkte mittlerweile weiter entfernt als je zuvor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)