Broken Genius von caladriuss ================================================================================ Kapitel 12: Wiedersehen ----------------------- Zwei Wochen vergingen, ohne dass ich Kaiba wiedersah. Ich versuchte gar nicht erst, auf sein Grundstück zu kommen, immerhin hatte er ja ziemlich deutlich gemacht, dass er meine Gegenwart nicht mehr wünschte. Kam ich mir von ihm ausgenutzt vor? So ziemlich. Als wäre ich sein persönlicher kleiner Hofnarr gewesen, als er gerade Langeweile schob und sobald er mich nicht mehr brauchte, setzte er mich vor die Tür. Aber trotzdem blieb da immer dieser bittere Beigeschmack. Kaiba hatte recht damit, dass er mich nicht um meine Gesellschaft gebeten hatte. Also konnte ich ihm nicht vorwerfen, wenn er nun meine ihm auferlegte Nähe zurückwies. Außerdem konnte ich einfach nicht vergessen, wie aufrichtig und unverfälscht er sich die ganze Zeit gegen hatte. Kaiba in Natura war faszinierend, in gewisser Weise vielleicht auch anregend. Zähneknirschend musste ich mir sogar eingestehen, dass sein Aussehen äußerst ansprechend war. Und gleichzeitig musste ich mir eingestehen, dass er auch mit seinem zweiten Argument recht hatte. Er war so intelligent… wie sollte ich ihm da schon angemessene Unterhaltung bieten. Dafür war ich nicht gebildet genug. Ich konnte seinen Gedankengängen nicht folgen und keine anregenden Diskussionen mit ihm führen. Klar, dass ihn das auf Dauer langweilte. Unfassbar! Er benahm sich wie ein Arschloch und ich verzieh ihm das, suchte sogar die Schuld bei mir. Nicht nur das, ich hatte sogar nach dem Streit noch an mir gearbeitet, um seine Kritikpunkte an meinem Äußeren zu beseitigen. Ich hatte mir die Haare schneiden lassen, regelmäßig die Hände eingecremt, die Nägel gesäubert und neue Klamotten im Second Hand Laden gekauft, die besser passten. Wie dumm war das eigentlich? Irgendwas war doch nicht richtig mit mir! Heute war der letzte Schultag. Zeugnistag. Ich war nicht sonderlich überrascht, dass meines mal wieder unter aller Sau war, aber solange ich in die nächste Klasse versetzt wurde, interessierte mich das wenig. Doch dann legte die Lehrerin ein zweites auf meinen Platz, eines das besser nicht hätte sein können. Wirklich nur Einsen, in jedem Fach. Ich war nicht überrascht, als ich den Namen las. Seto Kaiba. War ja klar! „Was soll ich damit?“, fragte ich unwirsch. Gerade war ich halbwegs über den elenden Sturkopf hinweg und dann konfrontierte mich unsere Klassenlehrerin damit. „Mokuba Kaiba hat mich gebeten, Ihnen das Zeugnis von Herrn Kaiba mitzugeben.“ Mehr sagte sie nicht. Hatte Mokuba denn nicht mitbekommen, dass sein Bruder nichts mehr mit mir zu tun haben wollte? Ich legte beide Zeugnisse nebeneinander. Daran sah man so deutlich den Unterschied zwischen uns, wie man es besser gar nicht zu Papier hätte bringen können. Bei ihm tadellose Perfektion, selbst in der Beurteilung. Sogar das Papier sah weißer aus als bei mir. Mein Zeugnis war dagegen der deutliche Beweis dafür, wie weit entfernt ich vom perfekt sein war. Lauter Dreien und Vieren, eine Fünf, eine Eins. Ich war so konsequent durchschnittlich, dass ich innerlich gerade Kaibas Beurteilung meiner Person als vernichtend aber wahr annahm. Da bekam man doch glatt Depressionen! Niedergeschlagen schlurfte ich nach der letzten Stunde auf den Schulhof. Ich würde Mokuba noch das Zeugnis geben und mich dann zuhause vergraben. Vielleicht würde ich darüber nachdenken, was ich im Leben überhaupt erreichen wollte. Oder mich ertränken. Mal schauen. Schnurstracks lief ich auf Mokuba zu, als ich ihn endlich in einer Gruppe entdeckte. Ich hielt ihm auffordernd das Zeugnis entgegen. „Ah, Setos Zeugnis.“ Er warf einen flüchtigen Blick drauf, nahm es mir aber nicht ab. „Perfekt wie immer. Bringen wir es ihm.“ „Wir?“ Ich hob abwehrend die Hände. „Ich bin unerwünscht, falls du das nicht gemerkt haben solltest.“ „Ach!“ Mokuba winkte ab. „Das hat er bestimmt nicht so gemeint.“ Und ob er das hatte! Aber obwohl ich das wusste, ließ ich mich von Mokuba in seine Limousine schleifen und zum Anwesen mitnehmen. Wer wusste schon, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit bekam. Außerdem war ich gespannt, ob Kaiba mich wieder rauswerfen würde oder sich inzwischen tatsächlich beruhigt hatte. Nach zwei Wochen müsste er ja einige Fortschritte gemacht haben. Vielleicht machte ihn das auch erträglicher. „Und?“, fragte ich angespannt. „Wie kommt dein Bruder so zurecht?“ „Hm...“ Mokuba sah aus dem Fenster, als müsste er scharf nachdenken. „Zumindest schont er seinen Fuß und macht brav die Physiotherapie.“ „Aber?“ Er zuckte vage mit den Schultern. „Mein Bruder ist ein Genie. Ich verstehe nicht ganz, was er macht, aber er kapselt sich dafür ziemlich von der Außenwelt ab.“ Naja, Einzelgänger war er doch schon immer gewesen. „Inwiefern denn?“ „Wenn Seto erst mal in seiner kleinen Erfinderwelt abtaucht, ist er einfach nicht mehr ansprechbar, quasi vollkommen weggetreten.“ Ich wusste jetzt nicht so genau, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Wollte mich dieser Zwerg schon wieder rekrutieren, um seinen Bruder zu beschäftigen? Das würde ich kein zweites Mal mitmachen! Kaiba würde mich doch sowieso wieder vor die Tür setzen, wenn er genug bespaßt worden war. Nein, ich machte nur einen kurzen Anstandsbesuch und damit hatte sich die Sache. Je näher das Treffen mit Kaiba rückte, desto tiefer sank meine Laune. Ich war ziemlich sicher, dass es nur in einem Streit enden konnte. Wir traten ein, ohne anzuklopfen. Hätte aber vermutlich auch gar keinen Sinn gemacht, denn was ich sah, ließ mich wirklich an Kaibas Verstand zweifeln. Er saß auf dem Fußboden, inmitten von lauter Schrauben und Metallschrott. Was er da eigentlich tat, konnte ich nicht sehen, aber er schien etwas zu basteln. Unser Erscheinen hatte er gar nicht bemerkt. Ein merkwürdiger Anblick. Er war wirklich vollkommen in sein Tun vertieft, wie Mokuba gesagt hatte. „Ich habe Joey und dein Zeugnis dabei.“, rief Mokuba so laut, als würde er mit einem Schwerhörigen sprechen. Kaiba nickte nur, löste seinen Blick aber nicht von dem, was er in der Hand hatte. Irgendwie erinnerte mich das an meinen Modellbaukasten aus Kindertagen. Nur fraglich, ob Kaiba wirklich Sinn für sowas hätte. „Hast du mir zugehört?“, fragte Mokuba. Kaiba knurrte nur. „Leg das Zeugnis auf den Schreibtisch und dann verschwinde!“ Na bitte. Er hörte sehr wohl zu. Und wenn er sich ein beinschonendes Hobby gesucht hatte, verstand ich nicht, wo jetzt das Problem lag. Nur weil er ein bisschen unhöflich war? Als ob das was Neues wäre! Ich warf das Zeugnis auf den Schreibtisch und wandte mich um zum Gehen, doch da stieß Mokuba mich grob in Richtung Sofa. Ich sank darauf nieder, ohne wirklich etwas dagegen tun zu können. Aber was wollte er denn von mir? Kaiba wünschte meine Anwesenheit nicht und er war doch sehr gut beschäftigt. Was sollte ich denn da noch machen? Und noch besser. Mokuba verschwand einfach mit der knappen Ansage, ich solle hier auf ihn warten. Na super! Aber ich war ja ein netter umgänglicher Mensch. Also wartete ich wirklich. Ewig. Gelangweilt sah ich Kaiba bei seinem Treiben zu. Er ignorierte mich vollkommen, allerdings schien es ihm auch egal zu sein, dass ich hier war, sonst hätte er mich schon vor die Tür gesetzt. Mein Blick glitt über seine Gestalt. Irgendwie sah ich ihn wirklich gerne an, obwohl er schon wieder so blass wirkte. Vermutlich hatte er die letzten zwei Wochen kaum das Zimmer verlassen. Er trug T-Shirt und kurze Hosen, sein Haar umrahmte locker sein Gesicht, betonte seinen hochkonzentrierten Gesichtsausdruck. Ja, ihn so betrachten zu dürfen, ließ mich fast schon wieder wünschen, ich könnte ihm wieder mehr Gesellschaft leisten. Ich wurde nicht schlau daraus, was er eigentlich machte. Auf einem Blatt Papier hatte er einige besonders kleine feine Schräubchen. Im Stillen bewunderte ich ihn ein bisschen dafür, wie geschickt er die in seinem Modell montierte. Anscheinend hatte er wirklich unfassbar viel Feingefühl und Talent in den Fingern. Und er arbeitete mit so viel Liebe zum Detail daran. Nachdem sein Blick eine gefühlte Ewigkeit an seinem kleinen Bauwerk geklebt hatte, löste er ihn endlich davon. Ich dachte schon, jetzt würde er sich vielleicht mal mit mir befassen, aber von wegen! Stattdessen starrte er jetzt intensiv seinen gesunden Fuß an. Er bewegte die Zehen, streckte den Fuß, zog die Zehenspitzen wieder zu sich hin und wiederholte das einige Male. Dann glitt sein Blick wieder zu seinem Modell. Und dann stagnierte er. Als wäre er ein Roboter, dem die Batterien entnommen worden waren, saß er einfach nur da, den Blick auf das Modell gerichtet. Unruhig rutschte ich hin und her. Inzwischen saß er schon einige Minuten so. War er jetzt kaputt? Etwas unschlüssig stand ich auf und ging näher heran. Bis jetzt war mir gar nicht aufgefallen, dass sein eingegipster Fuß auf dem Boden lag. So viel dazu, dass er aufpasste. Ich holte ein Kissen vom Bett und schob es unter den Gips. Er sah nicht mal auf, als ich sein Bein dafür vorsichtig anhob. Wahnsinn, ich hatte bei ihm noch nie so ein tiefgehendes Stadium der Konzentration gesehen. Man erkannte es an seinen Augen, die obwohl fest auf das Modell fixiert, so aufmerksam wie noch nie wirkten. Jetzt konnte ich auch das erste Mal genauer sehen, was er da eigentlich baute. Es war ein Gerüst, ein Konstrukt. Ah, jetzt verstand ich. Anscheinend sollte das ein mechanischer Fuß werden, ähnlich wie die mechanischen Hände zuvor. Genial. Kaiba arbeitete offensichtlich nicht nach Skizzen oder Vorlagen sondern nach Augenmaß. Und im Moment übertrug er wohl gedanklich die beobachteten Bewegungen seines Fußes auf das Modell. Als würde er das wirklich so locker nebenbei mal umrechnen können. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, hieß das wirklich, sein Gehirn würde in Dimensionen arbeiten, die für einen Normalsterblichen immer unergründlich bleiben würden. Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Gruselig! Während Kaiba weiter vor sich hinstarrte, betrachtete ich den Metallschrott um ihn herum. Aber Schrott war das definitiv nicht. Anscheinend waren das die einzelnen Teile für den Fuß, in liebevoller Feinarbeit präpariert, zurechtgebogen und geschliffen. So locker aus dem Handgelenk schüttelte man so ein Modell dann wohl doch nicht. Wenn ich mir das Ganze so anschaute, dauerte es vermutlich eine halbe Ewigkeit, das alles vorzubereiten. Aber selbst ein Genie wie Kaiba musste doch ansatzweise Notizen fertigen, oder nicht? Er konnte sich doch nicht nur im Kopf ausmalen, wie diese ganzen Einzelteile auszusehen hatten. Schließlich mussten die garantiert millimetergenau angefertigt werden. Da Kaiba sowieso nicht ansprechbar war, stand ich einfach mal auf und schlenderte zu seinem Schreibtisch. Ich ließ mich in seinen Sessel fallen und sah mich um. Auf dem Tisch lag ein Buch über Anatomie. Ich blätterte es durch, bis ich auf eine Seite stieß, auf der der Aufbau des Fußes dargestellt war. Wahnsinn, wie viele Sehnen, Knochen und Muskeln das waren, damit sich der Fuß bewegen konnte. Und all das wollte Kaiba auf sein Modell übertragen? Neben der Darstellung waren mit Bleistift kleine Notizen eingetragen. Einzelne Zahlen und Buchstaben, dessen Sinn sich mir nicht wirklich ergab. Mehr fand ich auf dem Tisch nicht. Keine weiteren Notizen oder Zettel. Also arbeitete er nur nach der Abbildung aus dem Buch und den einzelnen Zahlen und Buchstaben? Absurd! Kaibas Gedankenwelt war einfach nur merkwürdig. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Kaiba jetzt dazu ansetzte, in seinem Tun fortzufahren. Zielsicher fischten seine Finger einzelne Teile und fädelten sie in das Modell. Schwungvoll flog die Tür auf und Mokuba kam herein. Sein Blick glitt flüchtig zu seinem Bruder, ehe er zielsicher auf mich zukam. „Siehst du jetzt, was ich meine?“, raunte er. „Absolut kein Herankommen.“ „Aber ist doch genial, was er da macht.“ Mokuba verdrehte die Augen. „Und wenn schon! Dafür vergisst er aber alles andere. Er macht keine Pause dabei, verstehst du? Er schläft kaum, er isst nichts. Wenn nicht die Physiotherapie dazwischen kommen würde, würde er vermutlich gar nicht mehr aus seinem Zimmer kommen.“ Okay, das klang jetzt schon wieder nicht so gut, obwohl es natürlich wieder zu Kaiba passte. Wenn er etwas in Angriff nahm, dann mit ganzem Einsatz, egal, ob er sich dabei selbst aufrauchte. Er neigte ja immer dazu, in Extreme zu verfallen. Aber sollte man ihn deswegen von seiner Arbeit abhalten? Vielleicht verlor er dann den Faden und konnte das Modell nicht beenden. Immerhin erforderte das ja wirklich ein hohes Maß an Konzentration. Ich erinnerte mich daran, dass er mir mal gesagt hatte, er würde sich in Gedanken einen Plan erstellen, wo welcher Gegenstand lag. Wenn man ihn da herausriss, würde er doch bei seinem Chaos gar nicht mehr durchsehen. „Wann muss er denn wieder zur Physiotherapie?“ „Morgen. Er muss zweimal die Woche diese Therapie machen und dabei abwechselnd eine Sitzung hier und eine Sitzung in der Praxis.“ „Und morgen?“ „Hier.“ „Na gut, pass auf.“ Ich überlegte mir schnell einen Schlachtplan. „Ich sage, wir lassen ihn machen. Soll er sich austoben, bis er fertig ist oder nicht mehr kann und dann päppeln wir ihn wieder auf.“ Mokuba sah mich zweifelnd an. „Wenn er sein kleines Projekt da beenden kann, wird er bestimmt auch wieder ansprechbarer sein. Aber wenn wir ihn da rausreißen, bleibt das immer in seinem Hinterkopf und damit hilfst du ihm nicht.“ Er senkte den Blick. „Okay… aber kannst du dann auf ihn aufpassen?“ Schon wieder diese billige Babysitter-Nummer? Na Klasse! Und trotzdem nickte ich es ab. Als Mokuba wieder verschwunden war, lehnte ich mich im Sessel zurück und dachte angestrengt nach. Eigentlich hatte ich mir doch vorgenommen, mich nicht schon wieder verbraten zu lassen. Warum war ich dann wieder weich geworden? Weil Kaiba so ein sehenswerter Anblick war? So bewundernswert für seine Genialität? Ich wusste es nicht, aber irgendetwas hatte mich einknicken lassen. „Auch wenn ich beschäftigt bin, heißt das nicht, dass ich euch nicht hören kann.“, murmelte Kaiba, unterbrach dabei aber nicht seine Arbeit. „Ich weiß.“ Im Gegensatz zu Mokuba glaubte ich nicht, dass er komplett weggetreten war. „Und ich halte dich auch nicht für ein kleines Kind, das ich beaufsichtigen muss.“ Es war nur eine winzige Verzögerung in seiner sonst so fließenden Handbewegung, die mir verriet, dass ich genau seinen Gedanken erraten hatte. Aber weiter davon beirren ließ er sich nicht. „Dann kannst du ja gehen!“, murrte er. „Könnte ich.“ Ich schwang mich aus dem Stuhl und streckte mich ausführlich. „Aber dafür komme ich morgen wieder und schau mir an, wie deine Physiotherapie läuft.“ „Wieso solltest du?“ „Zum einen hast du dann Ruhe vor Mokuba und zum anderen hab ich dadurch die Chance, mir einen Einblick in den Job zu verschaffen.“ „Willst du Physiotherapeut werden?“ „Vielleicht. Es interessiert mich zumindest.“ Das war eiskalt gelogen. Bisher hatte ich mir nie darüber Gedanken gemacht, aber ich würde es mir zumindest anschauen und nebenbei ein bisschen auf Kaiba achten. „Wir sehen uns dann morgen.“ Bevor er noch etwas erwidern konnte, ließ ich ihn sitzen. Entgegen all meiner guten Vorsätze hatte ich mich doch wieder einwickeln lassen und einen wahnwitzigen Entschluss gefasst. Ich würde Kaiba in seinem Erfinderwahn unterstützen, denn ich fand wirklich genial, zu was er fähig war. Und gleichzeitig würde ich auf ihn achten, denn dazu war er anscheinend selbst nicht mehr in der Lage, sobald er sich auf ein Projekt stürzte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)