Die vier Phasen von JinShin ================================================================================ Kapitel 18: Herzensangelegenheiten ---------------------------------- „Warum müssen sie denn jetzt alle sterben?“ „Das weißt du doch.“ Raven war in seine Arbeit vertieft. Er verglich die Daten der letzten drei Blutuntersuchungen. Die Leberwerte hatten sich stabilisiert, die Entzündungsparameter waren fast vollständig zurück gegangen. „Der Versuch ist vorbei, und wir brauchen den Raum.“ „Aber das ist so gemein!“ Etwas war da in dem Tonfall der Worte, das Raven veranlasste, ihm nun doch seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Laurin stand vor dem geöffneten Käfig und ließ zwei Ratten auf sich herumlaufen. Er wich seinem Blick aus. Seit dem Frühstück verhielt er sich schon merkwürdig. Nein, verbesserte sich Raven in Gedanken. Schon seit mehreren Tagen. Seit Pascal abgereist war, um genau zu sein. Oder wahrscheinlicher: Seit Toshio abgereist war. Dieser verdammte Japaner! Warum war er nur so blöd gewesen, sich von Pascal einfangen zu lassen? Seit Raven ihn zum ersten Mal gesehen hatte, wusste er intuitiv, dass er eine große Veränderung bringen würde. Er hatte das zunächst nicht auf sich bezogen, und sah sich durch Pascals wachsende Begeisterung für seinen neuen Betthasen darin bestätigt. Raven wollte keine Neuordnung in seinem Leben, jetzt noch nicht! Allerdings zeigte ihm dann Laurins Reaktion auf ihre erste Begegnung, dass er sich geirrt hatte. Die Änderungen, die Toshios Erscheinen angekündigt hatte, würden viel weitreichender sein und schlossen auch Laurin und damit sich selbst mit ein. Laurin behauptete, Toshio aus der Anderswelt zu kennen. Natica. Natürlich erinnerte sich Raven an den kleinen Elf aus der Muschel. Er hatte Laurin damals geholfen, über den Verlust seiner Eltern hinweg zu kommen und sich an sein neues Leben zu gewöhnen. Welche Bedeutung sollte jetzt Toshios Erscheinen für ihn haben? Bestimmt war es kein Zufall, dass Natica in Gestalt einer realen Person im Diesseits wieder aufgetaucht war. Vielleicht interpretierte er aber auch zu viel hinein in die ganze Situation. Wie hatte Freud schon gesagt: Manchmal ist eine Zigarre auch nur eine Zigarre. Nicht alles, was einem begegnete, musste ein Zeichen sein, nicht alles ein Symbol für etwas Tiefliegenderes. Laurin war in der Pubertät, da war es normal, sich seltsam zu benehmen. Da war es üblich, sich von den Eltern zurück zu ziehen (und Raven wusste, dass er für Laurin durchaus so etwas wie ein Vater war), und es war auch normal, Dinge in Frage zu stellen, die vorher selbstverständlich gewesen waren. Laurin war nicht mehr der kleine süße Junge, der an seinem Rockzipfel hing. Leider. Und leider war auch das nur ein weiterer Hinweis auf Veränderungen, denn je älter Laurin wurde, desto weniger Zeit blieb ihnen ... Er wollte sich nur nicht damit auseinandersetzen. Jetzt noch nicht! Tief in seinem Innersten wusste Raven, dass er sich etwas vormachte. In seiner schamanischen Ausbildung hatte er gelernt, dass natürlich alles auf der Welt eine tiefer gehende Bedeutung hatte. Die ganze Welt war symbolhaft zu sehen. Er konnte die Augen davor verschließen, aber das würde nichts an den Tatsachen ändern. Es würde die Umwälzungen in ihrem Leben nicht aufhalten. „Du hast recht, es ist nicht schön“, sagte er sanft und schob in einer automatisierten Bewegung seine Brille zurecht. „Aber es ist notwendig. Die Forschungen sind wichtig, um kranken Menschen helfen zu können ...“ „Das weiß ich“, fiel ihm Laurin ins Wort. „Ich weiß, dass sie ihr Leben opfern für die Menschheit. Aber warum werden sie zum Dank dafür getötet? Das ist nicht gerecht! Warum kann man ihnen nicht nach dem Versuch einen schönen Lebensabend schenken? Als Ausgleich für das, was ... was wir ihnen antun?“ „Der Ausgleich ist, dass wir vielen Menschen helfen können mit den Erkenntnissen, die wir durch die Versuche gewonnen haben.“ „Toll! Davon haben die Ratten hier auch was!“ Die Bitterkeit in Laurins Worten war neu. Das war es, was Raven aufgefallen war. „Es ist, wie es ist. Die Welt der Menschen ist nicht gerecht, sie ist es nie gewesen. Diese Ratten sind extra dafür gezüchtet worden, dass wir an ihnen forschen können. Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, ist ihr Leben beendet, so einfach ist das. Wenn du mich fragst, ist der Tod nicht das Schlimmste, was ihnen hier passiert.“ Was er sagte oder mehr noch die Härte, wie er es sagte, trieb Laurin die Tränen in die Augen. Eine der Ratten hatte sich in seine Ellenbeuge gekuschelt, und er drückte sie schützend an sich. Plötzlich war er doch wieder ein Kind. „Können wir nicht wenigstens diese beiden hier retten? Sie haben sich mit mir angefreundet, und ...“ Die Stimme versagte ihm. Es war Raven ein Rätsel, wie der Junge die weißen Laborratten voneinander unterscheiden konnte, nicht einmal die Käfige boten Anhaltspunkte zur Individualität. Alle sahen gleich aus: Eine durchsichtige Plastikwanne war mit Einstreu und zu vielen Ratten auf zu engem Raum gefüllt, und ein Gitter bildete den Himmel, in dessen Vertiefung die Futterpellets und die Trinkflaschen die Grundbedürfnisse der Käfiginsassen befriedigten. Für Raven sahen alle gleich aus, aber Laurin schaffte es innerhalb kürzester Zeit, den Tieren Persönlichkeiten zuzuordnen. Bei den Ratten genauso wie bei den Kaninchen, bei den Mäusen und bei den Meerschweinchen. Bei den Affen und Menschen sowieso. Raven unterdrückte ein Seufzen. „Nein, das geht nicht. Und ändern würde es auch nichts. Das sind nur zwei von Tausenden. Morgen sind es zwei andere, und übermorgen wieder ...“ „Aber mich hast du doch auch mit genommen!“ „Ja, genau. Und diese gute Tat reicht mir auch für die nächsten Jahre.“ Er brachte es nicht übers Herz, Laurin zu gestehen, dass er ihn keineswegs gerettet hatte. Das fühlte sich für Laurin nur so an. Offiziell gehörte er immer noch Remarque Pharma. „Ich möchte keinen Zoo zu Hause haben.“ „Nur diese beiden“, wiederholte Laurin leise. „Ich schwöre.“ Die Ratte auf seiner Schulter richtete sich auf und schnupperte in sein Ohr. Das kitzelte wohl, denn Laurin legte den Kopf schief. Die andere Ratte hockte bewegungslos auf seinem Arm und ließ sich streicheln. Raven kam es vor, als ahne sie, dass es hier gerade um ihr Leben ging. Er war versucht, nachzugeben. Aber es war nicht das erste Mal, dass Laurin diese Bitte an ihn heran trug. Und bestimmt nicht das letzte Mal. Und außerdem wollte Raven keinen Käfig in der Wohnung haben. „Nein.“ Laurins Antwort war ein ersticktes Schluchzen, und er drehte sich von ihm weg. „Laurin ...“ Raven legte ihm eine Hand auf die Schulter. Mit einer abwehrenden Schulterbewegung wies Laurin seinen Trost ab. Er rückte noch einen Schritt von ihm fort und drückte Lippen und Nase in das weiche Fell der gerade zum Tode Verurteilten. „Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst dein Herz nicht so an sie hängen“, sagte Raven und zwang seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Aber er konnte sich nicht mehr auf die Zahlenreihen konzentrieren. Laurins Ablehnung schmerzte ihn. Mehr als er es je für möglich gehalten hätte. Dabei sollte doch diese kleine Geste, wie Laurin sich von ihm ab- und der Ratte zuwandte, nichts Neues und schon gar nichts Schmerzliches für Raven sein: Der Junge stand tatsächlich den Laborratten näher als ihm, ob Laurin sich dessen bewusst war oder nicht. Zum ersten Mal kamen Raven Zweifel, ob er überhaupt noch in der Lage war, Laurin zurück in das Labor zu geben. Könnte er die Enttäuschung in den grün schimmernden Augen aushalten, die jahrelang vertrauensvoll zu ihm aufgeblickt haben? Er vergaß nicht einen Tag lang, unter welchen Bedingungen ihm das Leben des Jungen anvertraut worden war. Und dennoch ... Laurins Heranwachsen ging ihm viel zu schnell. Je näher der Zeitpunkt heranrückte, desto unwohler war Raven bei der Vorstellung, den Jungen für seine Forschungen zu verwenden. Seinen Jungen ... der ihm blind vertraute. Dessen ausdrucksstarke Augen ihn so liebevoll ansehen konnten. Der sich nachts an ihn kuschelte, und der nichts davon ahnte, dass Raven ihn aus purer Berechnung zu sich genommen und seine kindliche Naivität ausgenutzt hatte, um ihn in seinem Sinne zu prägen. Und doch hatte sich Raven schon manches Mal gefragt, wer hier wen mehr geprägt hatte. Unmerklich hatte sich der kleine, unschuldige Junge einen Platz in seinem Herzen erschlichen. Und manchmal schien es ihm, als wäre es von Anfang an nicht Kalkül sondern Mitgefühl gewesen, das ihn bewogen hatte, um sein Leben zu bitten. Doch dieses Hirngespinst schob er jedes Mal weit von sich. „Dann möchte ich wenigstens dabei sein, wenn der Raum geleert wird.“ Laurins Worte unterbrachen seine Gedanken und lenkten sie wieder dem aktuelle Problem zu. Laurin, der gerade schon wegen des bloßen Wissens um das Sterben der Tiere Tränen vergossen hatte, sollte dabei zusehen, wie einer Ratte nach der nächsten das Genick auf die Tischkante geschlagen und danach der Hals aufgeschlitzt werden würde? „Nein.“ „Aber wenn ich ihnen schon nicht helfen kann, dann will ich wenigstens bis zum Schluss bei ihnen sein.“ „Nein, Laurin.“ „Aber ...“ „Ich diskutiere das nicht mit dir. Es bleibt dabei.“ Ein paar Sekunden herrschte Stille zwischen ihnen, nur unterbrochen durch das Surren der Lüftung und dem Rascheln der Ratten in den Käfigen um sie herum. Eigensinnig hielt Laurin seinem Blick stand, dann erkannte er, dass weiteres Betteln sinnlos wäre. „Ich hasse dich!“ entfuhr es ihm, und gleich darauf weiteten sich seine Augen vor Schreck, dass er das gesagt hatte. Er wich zurück. „Ich ... das wollte ich nicht ...“ „Ist schon gut, Laurin.“ Überraschenderweise traf Raven die entgegen geschleuderte Wut weniger als das schlichte Abwenden zuvor. Es zeigte ihm nur, wie wichtig dem Jungen die Angelegenheit war. Gleichzeitig wusste er, dass Laurin es nicht so meinte – obwohl er allen Grund hatte, ihn zu hassen. „Ich verstehe dich ja. Trotzdem erlaube ich es dir nicht. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Ich gebe diesen beiden die letzte Spritze. Dann kannst du bei ihnen sein, und sie schlafen friedlich ein. Wie findest du das?“ Er gab schon wieder nach, er wusste es ja selbst. Aber Laurin bat ihn so selten um etwas, und wenn, dann meist nicht für sich, sondern für andere. Er war nur froh, dass Pascal nicht dabei war. Der würde ihn bis in alle Ewigkeit damit aufziehen, dass sich all seine Warnungen zu bewahrheiten schienen. Unzählige Male hatte er ihn ermahnt, strenger zu dem Jungen zu sein und ihn nicht so zu verwöhnen, sonst würde er ihm bald auf der Nase herum tanzen. Doch Raven hatte darauf bestanden, seine eigene Methode zu haben. Laurin war so sensibel, und das wollte er nicht zerstören. Schwierig genug war das unter den Umständen, ein wahrer Drahtseilakt, auch ohne dass er ihn mit unnötiger Strenge verstörte. Laurin nickte zögernd. Was blieb ihm auch anderes übrig? Dieser Kompromiss war das Beste, was er in dieser Situation für seine Lieblingsratten herausholen konnte. „Und ihre Freunde auch, bitte?“ Raven folgte seinem Blick zu dem Käfig, in dem die beiden Ratten mit vier Artgenossen ihr kurzes Dasein gefristet hatten. In Ravens Augen war der Tod bei so einem Leben eine Erlösung, egal auf welche Art er herbei geführt wurde. Die Tischkantenmethode mochte brutal aussehen, war jedoch schnell und effektiv. Kostensparend, nicht zu vergessen. Die Spritze war genauso ein Akt der Gewalt. Aber für Laurin machte es einen Unterschied. Also gab Raven seiner Bitte nach. Schon wieder. Als es soweit war und Raven die erste Spritze aufgezogen hatte, war Laurin ganz ruhig geworden. Er hatte die beiden Ratten zurück in den Käfig gesetzt, der jetzt auf Ravens Schreibtisch stand. Nacheinander holte er eine Ratte heraus und drehte den anderen den Rücken zu, damit die Verbliebenen nicht mit ansehen mussten, was ihnen bevorstand, wie er Raven erklärte. Jedes Tier bekam die gleiche Aufmerksamkeit, die gleiche liebevolle Zuwendung. Laurin hielt sie im Arm, streichelte sie und redete leise und beruhigend mit ihr. „Gleich ist es vorbei, es ist gar nicht schlimm, nur ein kleiner Pieks, und dann wirst du ganz müde und schläfst ein ...“ Und Raven spritzte die Überdosis Betäubungsmittel so vorsichtig wie möglich, damit Laurins Versprechen eingehalten wurde. Manche quiekten nur, einige wehrten sich gegen den Einstich, eine drehte sogar ruckartig den Kopf, und Raven war sicher, dass sie beißen wollte. Laurins Finger waren aber zwischen dem pieksenden Schmerz und den Zähnen, und sie biss nicht zu. Freunde. Tatsächlich. Danach wurden sie alle schnell schläfrig, verloren das Bewusstsein, und die ganze Zeit streichelte Laurin sie weiter und summte eine leise Melodie. Raven wartete geduldig, bis Laurin sagte: „Jetzt ist es vorbei.“ Dann nahm er sein Stethoskop und kontrollierte die Herztöne. Kein Herzschlag. Er wusste, wie schwierig es war, bei starker Betäubung und so kleinen Tieren die Vitalparameter ohne Instrumente exakt zu bestimmen, aber Laurin irrte kein einziges Mal. Am Ende ruhten sechs leblose kleine Körper wie aufgebahrt nebeneinander. Niemandem sonst hätte Raven erlaubt, tote Ratten auf seinen Schreibtisch zu legen. „Und jetzt?“ fragte er behutsam. „Willst du sie beerdigen?“ Laurins Augen, die den seinen die ganze Zeit ausgewichen war, streiften ihn kurz. „Wozu? Ihre Seelen sind schon fort.“ „Wie kannst du da so sicher sein?“ „Ich habe gesehen, wie sie gegangen sind.“ „Das kannst du?“ Darum hatte er gewusst, wann die Tiere tot waren. „Kannst du das nicht?“ fragte Laurin zurück. Raven antwortete darauf nicht. „Seit wann siehst du die Seelen Verstorbener?“ Laurin zuckte die Schultern. „Schon länger“, entgegnete er knapp. Er wandte sich wieder den Ratten zu. Jeder einzelnen wurde noch einmal über ihr struppiges Fell gestrichen, bevor sie sanft und liebevoll zurück in den Käfig gelegt wurden. „Beerdigungen werden nicht abgehalten für die Seelen der Gestorbenen“, griff Raven das Thema noch einmal auf, „sondern für die Seelen der Zurückbleibenden, für die Lebenden.“ „Meine Seele ist in Ordnung. Da gibt es andere hier, die dringend mal auf eine Beerdigung gehen sollten.“ Laurin nahm den Käfig, drückte ihn fest an die Brust und ließ Raven einfach stehen. Der war so verdattert, dass er einen Moment brauchte, bis er ihm folgte. Hatte Laurin damit ihn gemeint? Wusste er, wie es um seine Seele bestellt war? Wie gut war Laurins feinstoffliche Wahrnehmung inzwischen? Die Zeit war offensichtlich vorbei, wo er ihm in kindlicher Begeisterung alles neu Erlernte gleich mitgeteilt hatte. Bald konnte Raven ihm nichts mehr beibringen, vielleicht war es sogar schon so weit. Pascal hatte recht, es wurde langsam Zeit, Laurin in das Labor zurück zu geben. Nur hatte Raven es versäumt, den Jungen darauf vorzubereiten. Jahrelang hatte er es vor sich her geschoben, um schließlich zu erkennen, dass es den richtigen Zeitpunkt dafür nicht gab. Vielleicht war es sogar ganz gut so. Womöglich hätte das Wissen darum seine Ausbildung nur behindert. Er würde es ihm schonend beibringen müssen. Letztendlich war er auch später noch auf Laurins Kooperation angewiesen, wenn die Experimente gelingen sollten. Er folgte dem Jungen den Gang entlang zurück zu dem Versuchsraum. Laurin stellte den Käfig in das Regal zwischen die vielen anderen völlig identischen Käfige. „Im Tod sollen sie wieder bei den anderen sein“, murmelte er, bevor er sich zu Raven drehte: „Und die Menschen im Untergeschoss? Was passiert mit denen?“ Wie jede Testreihe wurde auch diese parallel in den unteren Stockwerken an Menschen durchgeführt, aus denen die wirklich wichtigen Ergebnisse resultierten. Warum stellt er schon wieder eine Frage, deren Antworte er eigentlich wissen müsste, fragte sich Raven still, aber gab dennoch geduldig Auskunft: „Die dürfen sich erholen, bis wir sie das nächste Mal benötigen. Menschenmaterial ist zu teuer, um für jeden Versuch neues zu besorgen. Und Menschen kann man auch nicht so schnell vermehren. Sie werden also gründlich auf Organschäden untersucht, und daraufhin entscheide ich, für welche Tests sie noch zu gebrauchen sind.“ Laurins Gesicht war blass und starr wie eine Maske, und Raven konnte nicht erkennen, welche Emotionen seine Worte diesmal in dem Jungen auslösten. War er erleichtert, nicht noch mehr Tote betrauern zu müssen? Jedenfalls stellte er keine weiteren Fragen. Den Rest des Tages war Laurin verschlossen und einsilbig. Fast mit den Händen greifbar hatte sich eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen aufgebaut. So war Raven auch nicht überrascht, als Laurin abends zu Hause gleich sein Bettzeug aus dem Schlafzimmer holte und in sein Zimmer brachte. Er zwang sich, das mit Gelassenheit zur Kenntnis zu nehmen. Der Junge war alt genug, allein zu schlafen, und es wurde allerhöchste Zeit, dass er sich abnabelte. Und schließlich hatte Raven ihn nie dazu aufgefordert, nachts neben ihm zu liegen – er hatte es ihm lediglich erlaubt. Die Vernunft sagte ihm, dass es völlig in Ordnung so war, doch das Herz sprach eine ganz andere Sprache. Er schalt sich selbst einen Narren. Laurin zog bloß ein Zimmer weiter. Wie sollte sich das erst anfühlen, wenn er den Jungen im Labor zurück lassen würde? Die Zeit der Trennung naht, dachte er. Es ist gut, wenn wir uns schon vorher innerlich und äußerlich voneinander entfernen. Und trotzdem verursachte dieser Gedanke ein dumpfes, ziehendes Gefühl. Und er wusste, dass nichts, aber auch gar nichts Laurins empfindsames Wesen auf das vorbereiten konnte, was ihm in naher Zukunft in den neonbeleuchteten Räumen bevorstand. Raven trat ans Fenster und ließ seinen Blick durch den verwildert anmutenden Garten schweifen. Nur zweimal im Jahr durfte ein Gärtner kommen und die nötigsten Arbeiten verrichten. Von den künstlichen Arrangements, die andere Menschen in Parks und Gärten anstellten, hielt Raven nichts. Er mochte Natur, die sich selbst überlassen blieb. Der Garten war ihm bei der Wahl seines Wohnsitzes wichtiger gewesen als das Haus, doch nicht unter dem Aspekt, wie prächtig er angelegt war, sondern wie wenig er von den Nachbarhäusern sehen ließ und umgekehrt. Dafür sorgten zuverlässig die dichten und hochgewachsenen Koniferen an den Grundstücksgrenzen. Es hatte tagsüber geschneit, und eine frische, zentimeterdicke Schneeschicht hatte einen weißen Mantel über der Welt ausgebreitet. Der Anblick erinnerte ihn an das erste gemeinsame Spiel mit seinem Schützling. Er hatte gedacht, es würde reichen, den Jungen zum Spielen in den ersten Schnee des Winters hinaus zu schicken, damals vor neun Jahren. Aber nur kurz nachdem er in den Garten gegangen war, stand Laurin schon wieder vor ihm, ein kleiner Stöpke, eingemummelt wie ein Polarforscher und gerade mal so hoch wie die Schreibtischplatte, der einen dunklen Fleck aus geschmolzenem Schnee auf dem Teppich zu seinen Füßen hinterließ. Mit glänzenden Augen und geröteten Wangen schaute er zu ihm auf und bat schüchtern: „Hilfst du mir dabei – einen Schneemann bauen?“ Zunächst widerwillig hatte Raven zugestimmt. „Aber nur kurz!“ Und dann war er überrascht, wie viel Freude ihm das simple Aufeinanderstellen von Schneekugeln gemacht hatte, und wie schnell die Zeit vergangen war. Wie überhaupt die ganzen neun Jahre unheimlich schnell vergangen waren. Dabei hatte sich Raven nie viel aus Kindern gemacht. Er fand sie nervend, laut und albern. Laurin war nichts von all dem. Vielleicht war Laurins introvertiertes Wesen einfach Teil seines Charakters. Doch möglicherweise war es das Resultat traumatischer Erlebnisse. Vielleicht war er ein fröhliches, albernes, lautes und nervendes Kind gewesen, bevor seine Eltern in die Fänge von Remarque Pharma geraten waren. Nach ihrem grausigen Tod hatte Raven seine Wunden geheilt, körperliche wie seelische, aber natürlich blieben schmerzende Narben zurück. Raven sah, wie sich ein schmaler Schatten vom Haus löste und durch den Schnee zu dem kleinen Vogelhäuschen stapfte. Er beobachtete Laurin, wie er neues Futter hinein und auf den Boden darunter streute, und es war einfach, sich vorzustellen, wie Meisen, Spatzen und Amseln herbei geflogen kämen, um sich auf Laurins Schultern zu setzen und mit seinen Haarsträhnen zu spielen. Für ein solches Szenario war es jedoch schon zu spät am Tag. Allerdings trat Laurin nur drei Schritte zurück und schon huschten zwei kleine Gestalten herbei, um sich die Körner zu holen. Ratten. Das Thema des Tages. Nicht nur diese speziellen Ratten wussten, dass von Laurin keine Gefahr ausging, auch andere wilde Tiere verspürten kaum Scheu vor ihm. Etwas musste besonders sein an der Art, wie sich der Junge bewegte, oder vielleicht war es sein Geruch oder seine Körperhaltung. Oder die Art seiner Gedanken. Dank Ravens spezieller Erziehung kannte sich Laurin in der schamanischen Geisterwelt besser aus als auf der Erde. Möglich, dass die Tiere diese tiefe spirituelle Verbundenheit instinktiv respektierten. Eigentlich gehörte der Junge in den Wald und nicht in einen fensterlosen sterilen Laborraum tief unter der Erde. Eigentlich waren Ravens geplante Forschungen an ihm eine unglaubliche Verschwendung von Talent, eine Sünde gegen Mutter Erde. Und doch war sich Raven gewiss, dass er nie wieder ein geeigneteres Objekt finden würde. Es wäre auch nicht seine erste Versündigung. Er konnte nicht erkennen, ob Laurin ihn am Fenster stehend bemerkte, als er sich umwandte und ins Haus zurückkehrte. Noch immer strafte er ihn mit Missachtung, indem er sofort in sein Zimmer ging, obwohl sie um diese Uhrzeit normalerweise gemeinsam zu Abend aßen. Kurz darauf schwebten gedämpfte Flötentöne durch das stille Haus wie Nebelschwaden. Raven lauschte der melancholisch anmutenden Melodie, bis Laurin mit seinen Fingerübungen begann und Tonleitern und Dreiklänge spielte. Damit wäre es dann auch bald vorbei. Das Haus würde leer sein ohne Laurin. Er stellte sich vor, wie das wäre – er alleine hier, endlich wieder allein, frei und ungebunden, während Laurins Körper am Primatenstuhl fixiert dahin siechte. Blass würde der Junge aussehen, wie blutleer, durch den Mangel an Tageslicht, die goldenen Haare wären abgeschoren und würden struppig und stumpf nachwachsen, ihres Glanzes beraubt, und wie eine Apfelsine, die zur Winterzeit mit Nelken geschmückt ist, würden die Kabel aus dem Schädel ragen und Laurins Hirnaktivität genauestens aufzeichnen. Grundlagenforschung. Laurins große, grüne Augen würden sich in Ravens Erinnerung fressen und wären das Einzige, was er abends von seinem Jungen mit nach Hause nähme. Nicht einmal vorwurfsvoll sahen diese Augen in seiner Vorstellung aus, nein. Ängstlich. Denn Laurin wusste, was einem im Labor widerfuhr. Enttäuscht. Denn er hatte geglaubt, er sei bei Raven sicher. Verletzt. Denn er hatte ihn geliebt. Aber was war die Alternative? Er konnte Laurin ja schlecht den Rest seines Lebens wie einen gut dressierten Therapiehund als Assistent an seiner Seite halten. Abgesehen davon, dass Pascal ihm den Jungen zwar überlassen, aber nicht geschenkt hatte. Laurin war immer noch Eigentum von Remarque Pharma. Vielleicht konnte er Pascal überzeugen, dass Laurin für das Labor als medizinischer Helfer wertvoller war, als wie geplant im Versuch zu enden. Einfach würde das allerdings nicht werden, denn Pascal erwartete die Ergebnisse mit derselben Spannung, die Raven damals empfunden hatte, als ihm die Idee dazu gekommen war. Damals, als er Laurin noch nicht kannte. Und Pascal war nicht gerade für sein großes Mitgefühl bekannt. Auch wenn er sich Raven gegenüber stets großzügig verhielt, bezweifelte er doch, dass er auf eine so einmalige Gelegenheit, auf die Raven ihn auch noch selbst immer wieder hingewiesen hatte, verzichten würde – eine einmalige Studie der Selbstheilungskräfte. Darum ging es, um diese wundersame Fähigkeit des Körpers, sich selbst zu regenerieren, um wahre Heilung. Der Erzfeind der pharmazeutischen Industrie. Pascal war schon damals wütend gewesen, als Laurins Eltern, beide begnadete sogenannte Heiler, sich der Testreihe so erfolgreich widersetzt hatten. Noch einmal würde er wohl kaum darauf verzichten. Zwar war Pascal als Inhaber eines Pharmakonzerns nicht daran interessiert, Selbstheilungskräfte und Geistheilen zu vermarkten, aber er sagte immer gern, dass es besser war, seinen Feind gut zu kennen, wenn man ihn sich vom Leib halten wollte. Ravens Gedanken drifteten ab zu Pascal. Eine merkwürdige Freundschaft verband ihn mit diesem charismatischen Mann aus der wohlhabenden Oberschicht. Sie hatten an der Universität mehrere Vorlesungen miteinander geteilt und schnell erkannt, dass sie Brüder im Geiste waren, auch wenn ihre Lebensumstände nicht viel miteinander gemeinsam hatten. Ravens Familie besaß nicht viel, und als er sich zwischen ihr und dem Geld, das er unrechtmäßig an sich genommen hatte, entscheiden musste, hatte er das Geld gewählt. Damit konnte er Amerika verlassen und sein Medizinstudium finanzieren. Ihn hatte Pascals Skrupellosigkeit beeindruckt. Zum ersten Mal in seinem Leben traf er auf einen Menschen, der die Dinge nicht mit zweierlei Maß bewertete, der keinerlei Doppelmoral besaß - er besaß gar keine. Oder vielmehr seine eigene. Raven fand das faszinierend. Streng genommen verfügte Pascal über gar kein Unrechtsbewusstsein, während Raven wenigstens noch wusste, dass er sich unmoralisch verhielt. Er teilte zwar seine Gewissenlosigkeit mit ihm, nicht aber Pascals nahezu unersättlichen Sadismus. Es erregte ihn nicht, anderen Menschen weh zu tun, aber es regte ihn auch nicht auf. Sie hatten die gleiche Art finsteren Humor und denselben schonungslosen Blick auf die Welt. Sie hatten sich beide entschieden, in diesem Leben keine Opferrolle zu spielen, wobei Pascal in eine wohlbehütete Welt der „Herrenmenschen“ hineingeboren worden war, während Raven sich bewusst entscheiden musste – und bereit war, die Konsequenzen dafür zu tragen. Er hatte nicht seinen vorbestimmten Platz als zukünftiger Schamane des Stammes eingenommen, er hatte seine Familie verlassen, das Land seiner Väter. Er fürchtete weder Gott noch Teufel, und einen Industriellensohn schon gar nicht. Er hegte den Verdacht, dass gerade das dazu geführt hatte, dass Pascal sich damals mit ihm angefreundet hatte. Pascal schien es erfrischend zu finden, wenn ihm auch mal jemand widersprach, denn offene Kritik bekam er sonst kaum zu hören, und auch wenn er oft unwillig darauf reagierte, ernstlich sauer wurde er nur sehr selten. Wobei sich Raven auch Mühe gab, es soweit nicht kommen zu lassen. Er hatte zwar keine Angst, aber er war sich durchaus bewusst, dass Pascals Freundschaft für ihn äußerst nützlich war. Dass Laurin nun allem Anschein nach zu einer Herzensangelegenheit geworden war, war so nicht geplant gewesen. Solche Gefühle machten schwach und verletzlich. Raven musste sich eingestehen, dass er selbst in die Falle getappt war, vor der er den Jungen immer gewarnt hatte: sein Herz nicht an die Versuchstiere zu hängen. Und nun? Er konnte die Entscheidung über Laurins Schicksal noch weiter vor sich her schieben, aber nicht endlos lange. War es klug, sich Pascals Plänen – und seinen eigenen! – zu widersetzen? Er zuckte fast zusammen, als er neben sich ein beinahe körperlich hörbares „Kroh kroh“ seines Raben vernahm. Ohne es zu spüren oder zu wollen, war er in eine leichte Trance gefallen. Also gut, dachte er und schloss die Augen. „Dann sag deine Meinung dazu, wenn du schon ungefragt erscheinst.“ „Du kennst die Antwort selbst“, sagte der Rabe.. „Nicht so kryptisch, bitte. Klartext.“ Der Rabe neigte den Kopf mit einem klugen Ausdruck. „Du hast diesen Weg eingeschlagen. Geh ihn zu Ende.“ „Wie bitte? Du rätst mir tatsächlich, ihn in den Versuch zu nehmen?“ „Das habe ich nicht gesagt.“ „Schön.“ So viel zum Thema Klartext. „Sondern?“ „Ich zeige es dir.“ Der Rabe breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft. Raven folgte ihm, ebenfalls in Rabengestalt. Sie flogen über einen dichten Wald aus Nadelbäumen auf ein Gebirge zu, dessen spitze Gipfel sich vor dem Horizont abhoben. „Raven? Darf ich dir eine Frage stellen?“ Laurin hatte auf lautlosen Sohlen das Wohnzimmer betreten. Raven war gar nicht aufgefallen, dass das Flötenspiel aufgehört hatte. Er schaltete innerlich auf Standby. „Natürlich. Frag.“ „Hatten meine Eltern ein Begräbnis? Oder wurden sie auch über die Kadavertonne entsorgt?“ Es war das erste Mal überhaupt, dass Laurin ihn nach seinen Eltern fragte. Er trug das Armband seiner Mutter, zierliche Blattornamente mit schwarzen Halbedelsteinen, und er hütete es wie seinen Augapfel. Von daher ging Raven fest davon aus, dass er sich erinnerte, von wem es stammte. Noch nie hatten sie über dieses heikle Thema gesprochen. Sein Krafttier musste warten. Er drehte sich zu Laurin um, der als schwarze Silhouette vor dem hellen Viereck der Flurtür stand. Im Wohnzimmer war es dunkel, und er konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er hatte seine provokante Haltung nicht verloren. „Sie hatten ein Begräbnis.“ „Warum?“ „So hatte die Sache ein Ende. Wären sie nur verschwunden, hätte die Suche nach ihnen nicht aufgehört.“ „Und ich?“ „Du giltst als vermisst. Aber man geht davon aus, dass du den Autounfall nicht überlebt hast. Es war eine abgelegene Gegend. Ein umherirrendes Kind hat dort keine Chance.“ „Ein Unfall?“ Raven nickte. „Der Wagen ist von der Straße abgekommen. Das passiert häufig an der Stelle, wenn man die Strecke nicht kennt und mit überhöhter Geschwindigkeit in die Serpentinen hinein fährt.“ Laurin ließ die Lüge unkommentiert und wechselte stattdessen das Thema. Vielleicht wechselte er auch gar nicht das Thema, sondern beleuchtete es nur von einer anderen Seite. „Toshio sagt, es ist verboten, Menschen gegen ihren Willen gefangen zu halten. Und er will nicht bei Monsieur Remarque sein. Er sagt, es ist nicht erlaubt, was der Monsieur tut, und auch nicht ...“ Hier stockte Laurin kurz, und als er weiter sprach, schwang Unsicherheit in seiner Stimme mit. „Auch nicht, was du tust. Er sagt, Sklaverei ist gegen das Gesetz. Gegen das Gesetz, das ... draußen gilt.“ „Hast du ihm von den Laborsklaven erzählt?“ fragte Raven scharf. „Nein.“ „Und jetzt glaubst du also, unsere Forschungen im Labor sind auch gegen das Gesetz der Menschen draußen?“ Laurin erwiderte nichts darauf, doch sein Gesichtsausdruck und wie er dazu die Schultern hob, waren Antwort genug. Raven spürte plötzlich eine irrationale Wut in sich aufsteigen, dass Toshio es geschafft hatte, einen Keil zwischen ihn und seinen Jungen zu schieben. Er bemühte sich um einen neutralen Tonfall: „Na gut. Laurin, komm her. Ich erzähl dir mal ein bisschen von der Welt, aus der dein Toshio kommt.“ Raven knipste die Stehlampe neben der Couchgarnitur an und deutete auf das Sofa, blieb jedoch selber stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Laurin setzte sich und schaute ihn aufmerksam an. Nur seine unruhigen Finger verrieten seine aufkeimende Nervosität. Vielleicht spürte er den Zorn, den Raven innerlich empfand, und Laurin konnte nicht wissen, gegen wen sich dieser Zorn richtete. Vielleicht war er jetzt in seinem Trotz zu weit gegangen? „Du hast teilweise recht“, begann Raven. „Die eine Hälfte des Labors, die in den Untergeschossen, ist tatsächlich gegen geltendes Recht. Und trotzdem stimmt, was ich dir immer wieder erklärt habe, dass unsere Arbeit dort medizinisch sinnvoll und richtig ist. Im Endeffekt kommen durch unsere Forschungen wesentlich weniger Menschen zu Schaden als ohne sie. Du hast selbst schon bemerkt, dass bei den Versuchen an den Tieren oft unterschiedliche Ergebnisse heraus kommen, die sich auf Menschen nicht übertragen lassen. Paradoxerweise sind aber genau diese Tierversuche nicht nur nicht verboten, sondern sogar vom Gesetz vorgeschrieben. Es gibt Arzneimittelprüfrichtlinien, an die sich die Pharmaindustrie zu halten hat. Auch die chemische Industrie ist an weltweite wirtschaftliche Rechtsvorschriften gebunden. Dazu gehört auch zum Beispiel der LD 50-Test, den du so hasst, was ich gut verstehen kann. Aber wir sind vom Gesetzgeber verpflichtet, ihn durchzuführen. Im übrigen ist die Gesetzgebung allgemein so eine Sache. Jedes Land hat eine eigene, und manchmal existieren da eklatante Unterschiede. Hat Toshio dir erzählt, dass auf Homosexualität in gar nicht so wenigen Ländern die Todesstrafe steht? Nein? Dann hat er dir sicherlich auch nicht erzählt, dass in seinem eigenen Land – Japan und auch Deutschland – die Sklaverei keineswegs abgeschafft wurde. Die Menschen haben sich da nur selbst ausgenommen, offiziell zumindest, und selbst das ist noch gar nicht allzu lange her, erst hundertfünfzig Jahre ungefähr. Nichtmenschliche Lebewesen werden weiterhin versklavt, und wenn ich mir die Massentierhaltung so anschaue, dann hat die Sklaverei in den letzten Jahrzehnten sogar nie gekannte Ausmaße angenommen.“ „Massentierhaltung?“ fragte Laurin, der mit großen Augen Ravens Worten lauschte. „Genau. Tierhaltung in Massen. Das kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht gesehen hat. Tiere, also Schweine, Rinder, Hühner, Puten, werden in riesigen Ställen gehalten, meist ohne Fenster, zu Hunderten auf engem Raum zusammengepfercht, um dann, noch bevor sie das Erwachsenenalter erreichen haben, zum Schlachthof gekarrt zu werden, wo ihnen ein Bolzen ins Gehirn geschossen und der Hals aufgeschlitzt wird. Und das Ganze in Massen, Laurin, Millionen Tiere pro Jahr in jedem Land. Dann werden sie portionsgerecht zerhackt und in die Supermärkte gelegt, damit sich das Volk an ihrem Fleisch krank essen kann. Die meisten Menschen essen nicht nur ab und zu Fleisch, so wie der Monsieur, sondern jeden Tag und zu fast jeder Mahlzeit. Frag mal Toshio, wie viele Tiere er schon verspeist hat, und ob er jemals einen Gedanken daran verschwendet hat, wie es ihnen in ihrem kurzen Leben ergangen ist.“ Laurin starrte ihn in ungläubigem Entsetzen an. Er kannte das nicht, dass Menschen Tiere aßen, denn die Sklaven bekamen grundsätzlich nur das Nötigste zu essen, und Raven hatte gelernt, dass tierische Kost die Spiritualität beeinträchtigte und ernährte sich vegetarisch. Sogar Pascal aß nur ganz selten Fleisch, allerdings aus rein pragmatischen Gründen – in zu vielen medizinischen Studien war herausgekommen, dass zu viel tierisches Eiweiß der Gesundheit schaden konnte. Obwohl Raven bewusst war, dass er gerade ein ebenso einseitiges Bild von der Welt zeichnete wie Toshio, konnte er sich nicht bremsen. Die Worte sprudelten weiter aus ihm heraus, von dem Drang beseelt, die heile Welt, die Toshio seinem Jungen vorgegaukelt hatte, zu zerstören. Er hätte nicht einmal sagen können, warum. Für jede Grausamkeit im Bereich der Sklaverei fiel ihm ein Pendant in der normalen Gesellschaft ein. „Glaub mir, dagegen geht es den meisten Tieren bei uns im Labor noch gut! Und dann kannst du ihn auch gleich noch fragen, ob er je ein Haustier gehabt hat, und ob er sich je Gedanken darüber gemacht hat, ob das sogenannte Haustier nicht vielleicht auch lieber in Freiheit leben würde. Haustiere sind Tiere, die sich Menschen zum Vergnügen halten, ungefähr so, wie Monsieur Remarque sich Haussklaven hält. Es gibt Geschäfte, dort kann man sie kaufen mit Käfig und allem drum und dran, eine ganze Industrie lebt davon. Es schert sich kein Mensch darum, wie die Tiere zu Hause dann gehalten werden, viele fristen ein trostloses Dasein in viel zu kleinen Käfigen, die sie nie verlassen dürfen, werden von Kindern durch die Gegend geschleppt und mit undosierter Zuneigung vergewaltigt, bis sie dann vergessen werden, viele haben nicht einmal einen Artgenossen und bleiben ihr Leben lang allein. In den meisten Ländern werden Menschen auch nicht bestraft, wenn sie ein Tier leiden lassen, und das Töten von Tieren ist sowieso überall erlaubt – du kannst mir glauben, dass die Welt da draußen nicht einen Deut besser ist, als das hier, was du kennst. Du weißt um die energetischen Gesetze: Wie innen so außen. Wie im Großen so im Kleinen.“ Laurin schwieg dazu, aber Raven redete sowieso gleich weiter. „Toshio fordert für sich selbst Rechte ein, die er anderen nicht zugesteht, aber so sind die Menschen. Sie formen ihre Gesetze, ihre Regeln, ihre Werte und Normen ganz nach ihrem eigenen Ermessen und zu ihrem eigenen Vorteil, und wer keine Stimme hat, wer kein Geld, keine Macht und keinen Einfluss hat, der wird gnadenlos ausgebeutet. Das betrifft bei weitem nicht nur die Tierwelt. Ganze Länder werden arm und abhängig gehalten, ganze Völker vernichtet. Völkermord gab es auf jedem Kontinent, zu jeder Zeit, bis heute. Die Natur wird zerstört aus Profitgier, Tierarten und Naturvölkern die Lebensgrundlage geraubt. Die Ozeane werden leer gefischt, das Wasser und der Erdboden vergiftet, die Luft verseucht. Nichts ist den Menschen mehr heilig außer sie selbst, so bezeichnen sie sich auch als ‘Krone der Schöpfung’, und als Krönung dieser Entwicklung gehen dann solche Menschen hervor wie Pascal Remarque, der sich wirklich die Erde Untertan macht ...“ Hier unterbrach sich Raven. Vor einem Sklaven, selbst wenn es Laurin war, einen anderen Herren zu kritisieren verstieß gegen die Regeln, an die sich auch Raven zu halten hatte. Eine bittere Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Schließlich sagte Laurin: „Aber ein Unrecht rechtfertigt doch nicht ein anderes Unrecht.“ Diese simple, mit verzagter Stimme geäußerte Feststellung ließ mit einem Mal Ravens Zorn verrauchen. Dem Zorn, der sich gegen Toshio gerichtet hatte, gegen sich selbst und gegen die ganze Welt. Nur nicht gegen Laurin. Er liebte den Jungen, wie er noch nie zuvor in seinem Leben etwas geliebt hatte, wurde ihm in diesem Moment klar. „Ich mache uns jetzt etwas zu essen“, sagte er. Obwohl Laurin dann doch wieder die Nacht in Ravens Bett verbrachte, war am nächsten Morgen die Welt immer noch nicht wieder in Ordnung. Raven wollte dem Jungen eine Freude machen und ihn mit zum Flughafen nehmen, um Pascal und Toshio abzuholen, doch selbst das konnte Laurin nicht aufmuntern. Nachdem nur kurz die erwartete Freude über die Rückkehr seines Freundes in seinen Augen aufstrahlte, verfinsterte sich das Gesicht sofort wieder, und Laurin lehnte ab. „Meinst du nicht, dass Toshio sich freuen würde, dich zu sehen?“ fragte Raven. „Nein. Nicht dort. Später.“ Raven fuhr also allein. Und war überrascht über den Anblick des ungleichen Paares, das da aus Japan zurück kehrte. Toshio saß im Rollstuhl, war aber nicht festgebunden. Mit beiden Händen klammerte er sich an Pascal, der aufrecht und strahlend neben ihm schritt. Japan schien ihnen gut getan zu haben. Pascal war hocherfreut, Raven neben seinem persönlichen Leibwächter Maurice Lautrec stehen zu sehen, und begrüßte die beiden Männer herzlich, ohne seinen Sklaven auch nur einen Moment loszulassen. Aus der Nähe betrachtet wirkte Toshio benommen und leicht desorientiert. Pascal hatte ihn also diesmal anders ruhig gestellt als auf dem Hinflug. Sicher war es für den hochmütigen Japaner angenehmer, wenn sein Verstand gelähmt war und nicht nur seine Muskeln. Raven war neugierig zu erfahren, was Pascal zu dieser Gefälligkeit veranlasst haben mochte. „Die Reise war großartig“, berichtete Pascal gutgelaunt. „Ich habe neue Kontakte geknüpft, und wir haben den Vertrag. Kommst du zum Abendessen? Dann können wir alles besprechen. Ich habe viel zu erzählen. Und bring Laurin mit. Toshio braucht Gesellschaft.“ Toshio brauchte Gesellschaft? Das waren ja ganz neue Töne. Neu war auch, dass Toshio mit bei Tisch sitzen durfte. Wobei das für die Sklaven eher unter dem Tisch bedeutete. Zum ersten Mal knieten die beiden Jungen nebeneinander zu Füßen ihrer Herren, und zum ersten Mal hatte auch Toshio ein Kissen unter den Knien. Zum ersten Mal sah Raven, wie Pascal ihn von seinem Teller fütterte. „Meinst du nicht, dass du ihn zu sehr verwöhnst?“ neckte er ihn. „Die Gefahr besteht eigentlich nicht“, gab Pascal gutmütig zurück. Er griff in Toshios Haar und zog seinen Kopf nach hinten, beugte sich hinunter und zwang ihm einen Kuss auf die Lippen. Raven spürte, wie Laurin sich versteifte, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sofort schmiegte sich der Junge an sein Bein. Auch Toshio lehnte sich an Pascal, aber eher müde als vertrauensvoll. Die gemeinsame Reise hatte das Verhältnis zwischen ihnen eindeutig verändert. Aber Raven teilte Pascals Optimismus nicht. Er hatte den Jungen vor dem Essen gründlich untersucht. Er diagnostizierte eine schlimme Prellung vorne am Brustkorb, harmlos zwar, aber äußerst schmerzhaft. Pascal berichtete, was vorgefallen war. Dieser japanische Herr musste mit viel Kraft zugetreten haben. Doch mehr Sorge bereitete Raven Toshios Teilnahmslosigkeit. Nicht einmal über Laurins Anwesenheit schien er sich zu freuen. „Er geht dir ein“, prophezeite Raven düster. Sie sprachen französisch, so dass die beiden Sklaven sie nicht verstehen konnten. Wobei sich Raven manchmal fragte, wie viel französisch Laurin inzwischen allein durch Zuhören zumindest vom Sinn her erfassen konnte. „Unsinn“, widersprach Pascal. „Er braucht nur eine Pause.“ „Es gibt Menschen, die kann man nicht zähmen.“ „Er erholt sich wieder“, beharrte Pascal. „Vielleicht, wenn du ihn frei lässt.“ „Ben, was soll der Quatsch? Ich kann ihn nicht frei lassen!“ „Warum nicht? Er gehört dir.“ „Ja, und ich will ihn behalten.“ „Na gut. Ich verordne ihm ein Schmerzmittel. Drei mal zehn Tropfen. Du hast selbst gesagt, er braucht eine Pause. Wirst du ihm das geben?“ Er hielt ein Fläschchen Tramal hoch. Pascal griff danach. „Wenn du das sagst. Du bist der Doc.“ Mehr konnte Raven nicht für den Jungen tun, und selbst das war schon ungewöhnlich viel. Selten konnte er Pascal dazu überreden, seinen Betthasen ihre Schmerzen zu erleichtern. „Hast du ein Glück mit deinem fürsorglichen Herrn“, murmelte Raven auf Deutsch und fing sich dafür einen finsteren Blick von Toshio ein. Gar so teilnahmslos war er also vielleicht doch nicht, auch wenn er für Ironie gerade nicht viel übrig hatte. Ein wenig Mut schien er sich jedenfalls bewahrt zu haben, direkt neben Pascal einen unerlaubten, wenn auch kurzen Blickkontakt herzustellen. Pascal bekam von dem Fehltritt glücklicherweise nichts mit, denn er hatte sich gerade abgewandt, um das Tramal beiseite zu stellen. Die leise gesprochenen Worte hatte er allerdings sehr wohl vernommen. „Genau. Und weil ich sehr fürsorglich bin, möchte ich, dass er in nächster Zeit nicht so viel alleine ist. In Tokyo hat ihm die Gesellschaft eines anderen Sklavenbengels sehr gut getan, darum habe ich mir überlegt, dass er hier auch einen Freund gebrauchen kann. Findest du nicht, dass sich Laurin dafür hervorragend eignet? Die beiden verstehen sich doch so gut, und du fängst mit dem Jungen im Moment eh nichts Sinnvolles an. Also spricht eigentlich nichts dagegen, dass Laurin von nun an bei mir wohnt.“ „Kommt überhaupt nicht in Frage!“ Raven wurde abwechselnd heiß und kalt. Obwohl Pascal in anlächelte, war er sich der Intensität, mit der er betrachtet wurde, durchaus bewusst. Er versuchte, sich seinen inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. „Ich habe Jahre in den Jungen investiert. Du weißt, dass ich andere Erziehungsmethoden habe als du, und du hast mir damals freie Hand gegeben. Laurin ist sensibel, und eine einzige impulsive Handlung von dir könnte meine ganze Arbeit zunichte machen. Er bleibt auf jeden Fall bei mir, alles andere ist inakzeptabel.“ Pascal hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut, schon gut. War ja nur eine Idee. Ich habe nicht ernsthaft damit gerechnet, dass du zustimmst. Aber denk daran, du kannst den Jungen nicht ewig bei dir behalten. Häng dein Herz nicht zu sehr an ihn.“ Dafür ist es zu spät, und er weiß es genau, durchfuhr es Raven, als Pascal fast exakt die Worte benutzte, die er selbst erst kürzlich zu Laurin gesagt hatte. Er wandte sich von Pascal ab, unter dem Vorwand, seine Utensilien in die Arzttasche zu sortieren. Es war nur logisch, dass Pascal Bescheid wusste, schließlich war er sozusagen ein Fachmann auf dem Gebiet der Sklavenhaltung. Pascal war damit aufgewachsen. „Das ist mir durchaus bewusst“, entgegnete Raven kühl. Er spürte Laurins Blick auf sich ruhen. Bis zum Abendessen hatte sich ihre Gesprächsführung wieder normalisiert. Pascal plauderte munter über seine Erlebnisse in Japan, während sie sich die von Florence aufgetragenen Köstlichkeiten schmecken ließen. Als Vorspeise gab es warm marinierten Friséesalat mit Räuchertofu und eine klare Suppe mit Wirsing und Pilzen, der Hauptgang bestand aus Kartoffel-Gemüse-Röstis und Brokkoli mit Olivenöl und Pinienkernen, und als Dessert servierte Florence Blutorangensorbet auf Kiwisalat. Die alte Köchin kannte Raven nur, weil er vor Jahren einmal eine tiefe Schnittwunde an ihrem Finger versorgt hatte. Sie war die meiste Zeit unsichtbar und musste schon für Pascals Eltern gekocht haben. Sie hätte jedem Gourmetrestaurant Ehre gemacht. Ihr Essen schmeckte wie immer himmlisch. Und Florence als Serviermädchen war noch das Sahnehäubchen oben drauf. Wie üblich sah sie zum Anbeißen aus in ihrem kurzen Schürzchen, den dunklen Nylons, die ihre wohlgeformten Schenkel betonten, und einer schwarzen, Rüschen besetzten Bluse mit tiefem Dekolleté, das einen schönen Einblick auf ihre kleinen, runden Brüste gewährte. Sie machte brav einen Knicks nach dem anderen während sie die Tabletts und Schüsseln auf dem Tisch verteilte und mied jeden Blickkontakt, selbst als Raven „Danke, Florence“ sagte, nachdem sie ihm ein Glas Wasser eingeschenkt hatte. Raven mochte die schüchterne, junge Frau gerne, und so manches Mal hatte er ihr ein Stückchen Süßigkeit zugesteckt, wenn er sie alleine in der Villa angetroffen hatte. Wie ein guter Geist war sie ständig damit beschäftigt ihren Herrn zu bedienen oder zu putzen, Staub zu fegen und zu wischen, und Raven war bei ihrem Anblick immer an diese kleinen Staubsauger-Roboter erinnert, die unaufhaltsam langsam durch die Wohnung rollten und jedes Mal, wenn sie irgendwo anstießen, die Richtung änderten. Einerseits bedauerte Raven, dass sie in diesem finsteren Haus mit seinem finsteren Herrn ein trostloses Leben führen musste. Sie war hübsch und fügsam, eine domestizierte Sklavin aus Pascals eigener Zucht, und Pascal würde ein Vermögen für sie bekommen, sollte er sie je verkaufen. Raven dachte sich manchmal, dass sie es woanders besser haben könnte. Andererseits war ihr jetziger Herr homosexuell und ließ sie zumindest in dieser Hinsicht in Frieden, was bei einem neuen Herrn wahrscheinlich nicht der Fall wäre. Und im Labor, wo sie herstammte, war es sowieso noch schlimmer. Vielleicht hatte sie es also gar nicht so schlecht getroffen. Ravens kleine Geschenke nahm sie dankbar entgegen, und das waren die einzigen Momente, wo Raven sie lächeln sehen konnte. Reizend sah sie dann aus. Mehr als einmal hatte Pascal ihm angeboten, sie zu nehmen, aber Raven lehnte jedes Mal ab. Er mochte keinen Sex mit Sklavinnen, zumindest keinen erzwungenen, und überhaupt war dieses ganze Dom-Sub-Getue nicht sein Ding. Manchmal ließ er sich auf einer der SM-Partys auf eine kurze, befriedigende Nummer ein, dann aber nur mit einer Freiwilligen oder einer Dom und nur ohne BDSM-Spielchen dazu. Purer Sex auf Augenhöhe, mehr wollte er nicht. Florence konnte ihm das nicht bieten, egal wie hübsch sie aussah. Als das Gespräch auf den neuen Forschungsauftrag kam, wurde der ungezwungene Tonfall wieder ernst. Der japanische Chemiekonzern wollte ein Insektizid mit einem neuartigen Wirkstoff auf den Markt bringen und brauchte nun Studien zur Giftigkeit des Mittels. Dazu musste die Haut- und Schleimhautverträglichkeit getestet werden, eine mögliche krebserzeugende Wirkung, Hinweise auf Erbgutschädigung oder Schädigung der Frucht im Mutterleib, und die akute orale Giftigkeit, was bedeutete, dass die tödliche Dosis der Chemikalie ermittelt wird. Ausgerechnet, dachte Raven schlecht gelaunt. Ein Tötungsversuch im Labor, und dann auch noch so ein grausamer, bei dem die Vergiftungssymptome dokumentiert wurden, war nicht gerade geeignet, um Laurins aufkeimende Zweifel über die Richtigkeit ihres Tuns zu zerstreuen. Und dabei machte es wohl auch keinen Unterschied, dass das neue Mittel später dem weltweiten Bienensterben entgegen wirken sollte. Pascal ließ den Kaffee im Salon servieren, wie so oft, wenn Toshio nach dem Essen noch etwas tanzen sollte und Laurin dazu Flöte spielte. Raven wappnete sich schon innerlich auf einen erneuten Disput zu der Frage, ob es klug sei, Toshio mit seiner Verletzung tanzen zu lassen, aber Pascal überraschte ihn ein weiteres Mal: Vor dem Fernseher lag ein schwarzer viereckiger Kasten auf dem Boden, der sich als PlayStation entpuppte, an dem die Jungen sich die Zeit vertreiben konnten, während die Herren ihr Gespräch zu Ende führten. Doch nicht einmal ein solches Zugeständnis von Pascals Seite konnte Toshios Lebensgeister wecken, ganz im Gegensatz zu Laurin, der sogleich begeistert an den Knöpfen des Controllers herumzuspielen begann. Toshio sah aus, als würde er lieber schlafen gehen, wagte aber wahrscheinlich nicht, eine entsprechende Bitte zu formulieren. „Na, ich muss zugeben, du gibst dir richtig Mühe“, bemerkte Raven verwundert. „Toshio ist etwas ganz Besonderes für mich. Ich möchte ihn noch eine Weile behalten.“ So geht es mir auch, dachte Raven, und sein Blick ruhte dabei auf dem blonden Jungen neben Toshio. Laut sagte er: „Aber ich glaube nicht, dass solche kleinen Nettigkeiten viel bringen werden. Siehst du nicht, wie fertig der Junge ist?“ „Doch. Natürlich. Aber ich habe eine Erklärung dafür.“ Und er erzählte, was er über Toshios Herkunft erfahren hatte und wie tief Hakujiros Demütigung getroffen haben musste. Seinen eigenen Anteil an Demütigungen, die dem voraus gegangen waren, blendete er wohlweislich aus. Raven runzelte die Stirn und betrachtete den jungen Japaner nachdenklich. Änderte sein Wissen über Eta und Bura-wie-auch-immer etwas an seiner stillen Abneigung Toshio gegenüber? Wohl kaum. Auch Ravens eigenes Volk war Jahrhunderte langer Diskriminierung ausgesetzt, und dennoch hätte ihrer beider Biographie unterschiedlicher nicht verlaufen können. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie er auf Gefangenschaft und Folter reagieren würde. Er wusste natürlich, dass Toshio daran keine Schuld traf, aber gleichzeitig war er überzeugt, dass sein in jungen Jahren gefasster Entschluss, niemals ein Opfer in dieser Welt zu werden, dafür entscheidend war, dass er sich mit Pascal Remarque angefreundet hatte, statt von ihm versklavt zu werden. Bald wandte sich ihr Gespräch wieder der Arbeit zu. Ein LD 50-Versuch, bei dem die letale Dosis bei fünfzig Prozent der Versuchsobjekte festgestellt wurde, stellte immer eine besondere logistische Herausforderung dar. Die Tiere konnten problemlos und auf legalem Weg bei entsprechenden Züchtern bestellt werden, bei dem Menschenmaterial sah das anders aus. Sie beschlossen, bei dem menschlichen Versuch nur die Hälfte an Probanden zu verwenden, als bei dem Tierversuch vorgeschrieben waren, aber selbst dann würden zwanzig bis dreißig Menschen den Tod erleiden, Menschen, die nicht ohne Weiteres zu ersetzen waren. „Es ist sowieso gut, das Erbgut von Zeit zu Zeit aufzufrischen“, sagte Pascal dazu und tätigte sofort ein Telefonat, um diesbezüglich Abhilfe zu schaffen. Es stellte sich heraus, dass in den nächsten Wochen eine Auktion in der Nähe der deutschen Grenze stattfinden würde. Pascal wollte selbst hingehen, um sein „frisches Erbgut“ vor dem Kauf persönlich in Augenschein zu nehmen. Die Zeit bis dahin verging wie im Flug und war angefüllt mit den Auswertungen des abgeschlossenen Versuchs und Vorbereitungen für den LD 50-Test. Berichte mussten geschrieben, Anträge gestellt, Tiere bestellt und Sklaven ausgewählt werden. Dies war eine gute Gelegenheit, sich einiger weniger fügsamen Charaktere zu entledigen. Außerdem wählte Pascal ein paar sehr hübsche Exemplare aus, was Raven zunächst wunderte, bis ihm aufging, dass Pascal wahrscheinlich die Gelegenheit nutzten wollte, sich den Todeskampf der Probanden zu versüßen. Pascals Neigung, aus dem Leid anderer Lust zu ziehen, kannte keine Grenzen und überschritt jedes Maß an herkömmlichem SM, und es wäre nicht das erste Mal, dass er jemandem beim Sterben zusah. Warum sollte er nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, schließlich waren die Menschen sein Eigentum. Für seinen momentanen Bettgefährten konnte es nur von Vorteil sein, wenn sein Herr seinen Sadismus anderweitig befriedigte. Tatsächlich schien Pascal ihn noch immer weitestgehend in Ruhe zu lassen, und dennoch wirkte Toshio deprimiert und kraftlos, seit er aus Japan zurück war. Nicht einmal Laurin vermochte ihn aufzuheitern. Ob es unter diesen Umständen ratsam war, dass Pascal ihn mit zu der Auktion nehmen wollte, bezweifelte Raven, stellte die Entscheidung aber auch nicht in Frage. Vielleicht half es dem jungen Mann ja auch, sein Schicksal zu akzeptieren. Vielleicht war die Depression nur ein Symptom dafür, dass er auf dem Weg war, seine Rolle als Sklave anzunehmen. Auch Laurin durfte mit, was er zunächst mit einem ungläubigen Blick und dann mit einem wahren Freudentanz beantwortete. Inzwischen war er alt genug, mit auf Auktion zu gehen, ohne dass Raven Angst haben musste, für allzu pädophil gehalten zu werden. Außerdem besaß er einen beruhigenden Einfluss auf andere Sklaven, was besonders bei Wildfängen von Vorteil sein konnte. Deswegen fuhren sie in dem Lieferwagen mit, der die Neuerworbenen zum Labor transportieren sollte. Aufgeregt tastete Laurin immer wieder an seinem Halsband herum, an dem ein schwarzer Anhänger in Form eines Rabenfußes befestigt war – deutliches Zeichen auf die Besitzansprüche und somit Schutz für Laurin vor etwaigen begehrlichen Übergriffen. Des weiteren hatte Raven dafür gesorgt, dass auch Laurins Kleidung möglichst wenig aufreizend wirkte, auch wenn die weite, cremefarbene Stoffhose und das schmucklose dunkelbraune Shirt kaum seine schlanke Figur verbergen konnten, und sein hübsches, junges Gesicht mit den goldenen Haaren mit Sicherheit bei einigen Käufern auf Interesse stoßen würde. Raven hatte sich vorgenommen, trotz des Halsbands und des Anhängers, trotz der unauffälligen Kleidung seinen Schützling nicht einen Moment unbeaufsichtigt zu lassen. „Oh, da ist Toshio“, sagte Laurin sofort, nachdem sie ausgestiegen waren, und seufzte. „Wie schön er ist!“ Der kleine Laster hatte auf dem Parkplatz eines hohen, weitläufigen Fabrikgebäudes gehalten. Soweit Raven wusste, wurden hier Autoteile für eine bekannte französische Marke hergestellt. Allerdings gab es einen großen unterirdischen Bereich, der gelegentlich anderen Zwecken diente. Dieser Bereich war heute ihr Ziel. Es war helllichter Tag, doch obwohl Wochenende war, würde niemandem die Aktivität auf dem Firmengelände verdächtig vorkommen. Pascal stand mit seinem Sklaven vor dem hohen Eingangstor und unterhielt sich mit einem älteren Herrn mit dicker Hornbrille und schon ergrautem Haar, den Raven sofort als Harald Neubauer, den Veranstalter dieser Auktion, identifizierte. Sie kannten sich gut, denn auch Pascal versorgte ihn hin und wieder mit neuen Sklaven aus seiner eigenen Zucht, die stets einen guten Gewinn abwarfen. „Guten Tag, Doktor Connor. Schön, Sie zu sehen. Noch dazu in so entzückender Begleitung“, begrüßte ihn Neubauer und schüttelte ihm die Hand. Seine wachen, intelligenten Augen musterten Laurin, und Raven musste den Impuls unterdrücken, seinen Jungen, der bescheiden den Kopf gesenkt hielt, schützend an sich zu ziehen. Drinnen würde es noch schlimmer werden. Es war das erste Mal, dass Raven Laurin den gierigen Blicken anderer Sklavenmeister und -meisterinnen aussetzte. Solange sie allerdings in der Nähe von Pascal mit Toshio blieben, würde aber wohl Toshio die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Gegensatz zu Raven hatte Pascal seinen Sklaven geradezu herausgeputzt, der alte Angeber. Raven wusste, wie sehr Pascal die zugleich begehrenden und neidischen Blicke genoss, und er musste Laurin recht geben: Toshio sah atemberaubend schön aus in dem märchenhaften Outfit, das Pascal ihm für diesen Tag verpasst hatte. Er hatte ihm Elfenohren über die Ohrmuscheln geklebt und künstliche, furchtbar lange Wimpern angesetzt, die jetzt, wo er den Blick gesenkt hielt, auf seinen blassen Wangen lagen. Sein bloßer Oberkörper war mit dünnen Kettchen geschmückt und mit einem großen, künstlichen Tribal Tattoo über dem Schultergürtel verziert. Seine Hände waren mit schwarzen Metallfesseln auf den Rücken gefesselt, und Pascal hielt ihn an einer kurzen Leine, die an einem zierlichen Halsband, ebenfalls aus schwarzem Metall, befestigt war. Auch an Toshios Halsband baumelte gut sichtbar ein Anhänger: Pascals Initialen, mit schwarz glitzernden Edelsteinen besetzt. Die schwarze Hose aus leichtem Stoff saß oben so eng, dass sie nicht wirklich etwas an Toshios Körper verbergen wollte, und ab den Knien lief sie in einen riesigen Schlag aus und war über die gesamte Länge der Unterschenkel geschlitzt, so dass sie seine nackten Füße locker umwehte und seinen Bewegungen einen fließenden, fast schwebenden Charakter verleihen würde. Raven hatte ihn schon tanzen sehen in dieser Hose, und er wusste, dass Pascal ihn heute zum ersten Mal vor einem größeren Publikum auftreten lassen wollte. Die Sonne schien, doch war die Luft Anfang März noch empfindlich kalt, und Toshio fror in seinem spärlichen Outfit erbärmlich. Laurin war zwar viel zu aufgeregt, um zu frieren, aber für einen längeren Aufenthalt im Freien war auch er nicht passend gekleidet. Darum drängte Raven nach den üblichen höflichen Begrüßungsfloskeln darauf, den Auktionssaal zu betreten. Die Wände waren stimmungsvoll mit weinrotem Stoff verhangen. Im Raum verteilt standen auf niedrigen Podesten ungefähr zwanzig Holzgestelle, die aussahen wie große Bilderrahmen. Die Ausstellungsstücke, überwiegend junge Männer und Frauen zwischen zwanzig und dreißig Jahren, waren vollkommen entkleidet in die Rahmen eingespannt worden wie lebende Kunstwerke. Breite, gepolsterte Ledermanschetten umschlossen Hand- und Fußgelenke, und mit Ketten waren sie an den Ecken festgezurrt. Aus verschiedenen Richtungen war leises Weinen zu hören. Im hinteren Bereich des Saals konnte Raven mehrere Käfige ausmachen, in denen das weniger exquisite Material feilgeboten wurde, so etwas wie Sonderangebote und Ladenhüter, also diejenigen, die schon häufig den Besitzer gewechselt hatten und an Körper und Seele bereits Schäden aufwiesen oder schon mehrfach angeboten worden waren, aber aus unterschiedlichsten Gründen keinen Käufer gefunden hatten. Für genau diese Sklaven interessierte sich Raven, aber er wusste, dass sich Pascal auch die hochwertige Ware genau anschauen würde. Wenn ihm jemand gefiel, war ihm kein Preis zu teuer, selbst wenn es nur um Laborsklaven ging. Er umgab sich einfach gerne mit schönen Dingen, und Geld hatte er dafür genug. Frische Wildfänge, vorerzogen oder komplett ausgebildet – für jeden Geschmack war etwas dabei, und kleine Messingschilder an den Querbalken über den Köpfen der Gefangenen gaben Auskunft über Alter und Stand des jeweiligen Sklaven. Sie waren früh gekommen, doch einige Damen und Herren spazierten schon durch die abnorme Galerie und nahmen die Ausstellungsstücke in Augenschein. Nackte menschliche Körper wurden betastet und befühlt, Münder wurden unsanft geöffnet und intime Stellen untersucht. Die Gefangenen quittierten diese Behandlungen je nach Temperament und Status mit leisem Wimmern, Stöhnen, mürrischen Unmutsäußerungen oder unterdrückten Schreien. Die Ketten klirrten. Die Käufer unterhielten sich in gedämpftem Tonfall. Eine junge Frau begann hysterisch zu schreien und wurde sanft, aber energisch zur Ruhe gebracht. Laurin drängte sich dicht an Raven und schaute mit großen Augen auf das Geschehen. Selbst Toshio hielt sich nah bei seinem Herrn, Pascal hielt die Leine locker in der Hand, und Raven meinte zu verstehen, was ihn dazu verleitet hatte, Toshio dabei haben zu wollen. Auch Raven gefiel Laurins Anhänglichkeit in dieser für ihn ungewohnten Situation und das Gefühl von Macht, ihm Schutz und Halt schenken zu können. Doch gleich darauf rief er sich wieder zur Vernunft. Schutz und Halt waren für all die Sklaven nur eine grausame Illusion. Plötzlich wollte Raven diese Auktion nur noch schnell hinter sich bringen. Er hatte in seinem früheren Leben schon Ähnliches gesehen, als er auf einem Pferdemarkt gewesen war. Auch damals hatte er Abscheu über die Vorgehensweise der Käufer und Verkäufer empfunden, Lebewesen als Ware zu behandeln – nur sein Mitgefühl war für die Pferde größer gewesen, wusste er doch, dass die menschliche Ware in ihrem Vorleben in Freiheit ihre empfindungsfähigen Mitgeschöpfe auf die gleiche Art behandelt hatte, wie sie nun selbst behandelt wurden. In Momenten wie diesen verabscheute Raven seine Artgenossen zutiefst. So bald wie möglich würde er mit Laurin mal wieder in die Berge fahren. Manchmal wünschte er sich, er könnte einfach mit seinem Jungen in der Berghütte bleiben, nur von Tieren und Pflanzen und den Geistern der Berge umgeben. Aber er wusste, das waren nur Phantastereien. Dabei fiel ihm ein, dass sein Krafttierfreund ihm ja noch etwas hatte zeigen wollen. Seitdem war er so beschäftigt gewesen, dass er das völlig vergessen hatte. Und der Rabe hatte von sich aus nicht mehr auf sich aufmerksam gemacht. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit eine Reise zu unternehmen, und schickte schon einmal in Gedanken einen Gruß und eine Entschuldigung zu seinem Geistfreund. Er spürte keine Resonanz, aber das war nicht ungewöhnlich, wenn er ihn vernachlässigt hatte. Auch Geistfreundschaften mussten gepflegt werden. Pascal schlenderte vor ihm her und verschaffte sich einen ersten Überblick über das Angebot des Tages. Ausgerechnet das jüngste Exemplar erregte seine Aufmerksamkeit. „16 Jahre jung, wohlerzogen und sehr folgsam, aus Altergründen in gute Hände abzugeben“ stand auf dem Schild über dem schmächtigen Jüngling, der mit gesenktem Kopf unbeweglich in seinem Holzrahmen stand. Rötlich blonde Locken fielen ihm über die Stirn, und Pascal trat zu ihm hin, Toshio an der Leine hinter sich herziehend, und befahl dem Jungen mit einem Griff ans Kinn aufzublicken und sein Gesicht zu zeigen. Stumm gehorchte er und ließ sich betrachten. „Ist er nicht wunderschön, was meinst du?“ wandte sich Pascal begeistert an Raven, der missbilligend die Lippen schürzte und statt des Jungen das Schild über seinem Kopf musterte. „Aus Altersgründen“ hieß in diesen Kreisen nicht, dass der Vorbesitzer zu alt geworden war, um sich um seinen Sklaven zu kümmern, sondern vielmehr war der Sechzehnjährige zu alt geworden, um noch Freude zu bereiten. Raven fand es widerwärtig, wenn Leute sich an Kindern vergriffen. Ein klein wenig Skrupel hatte er sich bewahren können. Zum Glück gehörte Kindesmissbrauch nicht zu Pascals perversen Neigungen. „In gute Hände abzugeben“, sagte er, nur halb im Scherz. „Meinst du, da ist er bei dir richtig?“ „Er ist doch für Toshio. Damit er nicht so viel allein ist. Was meinst du dazu, Toshio? Gefällt er dir?“ Toshio schaute zu dem Rotschopf, und einen flüchtigen Moment trafen sich ihre Blicke. Langsam schüttelte Toshio den Kopf. „Ich möchte keine Gesellschaft, Herr. Es stört mich nicht, allein zu sein.“ Doch sein Versucht, dem anderen das eigene Schicksal zu ersparen, funktionierte nicht. Pascal lachte nur und tätschelte etwas grob seinen Nacken. „Bien, aber du hast das nicht zu entscheiden, mon petit. Ihr werdet euch schon aneinander gewöhnen. Ich weiß, was dir gut tut.“ „Ja, Herr.“ Toshio starrte wieder den Fußboden an, doch Raven bemerkte, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. Es erstaunte ihn, dass der Japaner immer noch den Mut fand, Pascal nicht nach dem Mund zu reden und musste sich eingestehen, dass er ihn anscheinend unterschätzt hatte. Pascal hob die Hand und rief damit einen der Aufseher heran. „Ich will diesen hier kaufen. Was soll er kosten?“ Der Aufseher wurde sichtlich nervös. „Tut mir leid, Monsieur Remarque. Der Vorbesitzer hat genaueste Anweisungen bezüglich des Verkaufs hinterlassen … Ich fürchte, sie können ihn nicht erwerben. Aber sehen Sie sich nur weiter um, Sie finden bestimmt ...“ „Was soll das heißen? Was für Anweisungen?“ unterbrach ihn Pascal ungehalten. Er war gewohnt zu bekommen, was er begehrte. „Es tut mir leid“, wiederholte der Mann, und kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Da kann ich leider nichts machen. Nur in liebevolle Hände, kein Snuff, kein Sadismus, das sind die Bedingungen für den Verkauf.“ „Ich habe nicht vor, den Jungen zu quälen“, sagte Pascal. „Ich werde mit Herrn Neubauer persönlich darüber sprechen, holen Sie ihn her.“ Der Mann entfernte sich, erleichtert, die weitere Diskussion an seinen Chef abgeben zu können. „Lass die Sache doch auf sich beruhen“, empfahl Raven. Aber Pascal blieb stur, allerdings ohne Erfolg. Denn auch Neubauer ließ sich nicht überreden. Sie verhandelten die Angelegenheit in Neubauers Büro unter vier Augen. Toshios Leine hatte Pascal Raven in die Hand gedrückt, und zu viert warteten sie gespannt auf das Ergebnis. „Du solltest beten, dass du jetzt nicht gekauft wirst“, raunte Raven dem rothaarigen Jungen ins Ohr. Bei dem Gedanken, dass dieser Junge gerade mal zwei Jahre älter war als Laurin, wurde ihm ganz flau im Magen. Er wollte gar nicht wissen, in welchen Alter er in die Hände des Kinderschänders geraten war, der sein Vorbesitzer gewesen sein musste. Ihm blieb nichts weiter, als ihm ein neues Zuhause zu wünschen, in dem er es gut haben würde – also besser nicht in Pascals Umgebung. Als Pascal mit finsterer Miene zurück kam, war Raven sofort klar, dass es keinen Kauf gegeben hatte. Es geschah nicht oft, dass Pascal seinen Willen nicht bekam. Auch Toshio hatte die Bürotür im Auge behalten, und auch er bemerkte sofort den ungünstigen Stimmungsumschwung seines Herrn. Er gab einen kleinen, verzweifelten Laut von sich, irgendetwas zwischen Wimmern und Aufstöhnen, und sein Körper begann zu beben, wissend, wie sehr sein eigenes Wohlergehen von Pascals Stimmung abhing. Dem anderen Jungen blieb das erspart. „Da hast du wohl Glück gehabt“, sagte Raven zu ihm, und Toshio strich er unauffällig in beruhigender Art über den Oberarm. „Er wird sich schon wieder abregen.“ Toshio sah ihn kurz zweifelnd an, bevor er wieder den Kopf senkte. „Spätestens, wenn du nachher für ihn tanzt, wird sich seine Laune wieder bessern“, fügte Raven noch hinzu. „Also gib dir Mühe.“ „Ich tanze für mich, nicht für ihn“, stellte Toshio, fast unhörbar, richtig. „Das denkst du. Dein Herr sieht das anders. – Ah, Pascal. Du konntest ihn also nicht überzeugen.“ „Nein. Nicht einmal den Namen des Vorbesitzers hat er mir verraten. Wirklich schade.“ „Genau wegen dieser Diskretion wird Neubauer von allen so geschätzt. Von dir auch, normalerweise.“ „Ja ja, ich weiß.“ Er nahm Toshios Leine wieder an sich. „Worüber habt ihr gerade gesprochen? Was sehe ich anders?“ „Es ging um seine Prellung, und ob er damit tanzen kann“, entgegnete Raven, bevor Toshio etwas sagen konnte. „Ich finde es ja noch etwas zu früh dafür.“ „Es wird schon gehen. N`est-ce pas, Toshio?“ „Oui, mon Monsieur.“ „Oh?“ machte Raven. „Sprecht ihr jetzt auch französisch?“ Das erinnerte ihn daran, dass er sich kürzlich erst gefragt hatte, wie viel Laurin wohl inzwischen von dieser Sprache verstand. Pascal gab Toshio einen leichten Klaps an den Kopf. „He! Deutsch ist Sklavensprache, und damit deine Sprache. Compris, mon amour?“ „Ja, Herr. Verzeihung, Herr.“ Sie schlenderten weiter, ohne den rothaarigen Jungen, der die ganze Aufregung unverschuldet verursacht hatte, noch weiter zu beachten. Ab und zu wechselten sie ein paar Worte mit anderen Interessenten, doch Pascals gute Stimmung war dahin, und selbst Raven schaffte es nicht, ihn wieder aufzumuntern. Was unter anderem daran lag, dass er sich selbst auf unbestimmte Weise deprimiert fühlte. Nicht, weil Pascal den Rothaarigen nicht hatte kaufen können, darüber war er eher erleichtert, aber die Erkenntnis, dass hier Ware feilgeboten wurde, die nur wenig älter war als Laurin, hatte eine Saite in ihm zum Schwingen gebracht, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte. Was mache ich hier eigentlich, fragte er sich, während er mit Pascal gemeinsam beschloss, die gesamte Ausschussware zu kaufen. Ich bin nicht besser als diese Pferdehändler, die ich früher so verachtet habe. Er dachte dies ohne Reue oder Bitterkeit, eher aus einer gewissen Distanz heraus erstaunt darüber, was aus ihm geworden war, seit er seine Familie verlassen hatte. „Willst du bei den Ausstellungsstücken noch einmal schauen?“ fragte er. Pascal schüttelte den Kopf. „Nein. Wir warten, wer von denen am Ende noch übrig ist. Dann können wir den Preis drücken. Warte du hier, ich gehe noch einmal zu Neubauer. Bestimmt kriegen wir für diese hier Mengenrabatt. Er kann froh sein, dass er sie alle los wird.“ „Okay.“ Diesmal nahm Pascal seinen herausgeputzten Sklaven mit, und Raven betrachtete nachdenklich die bedauernswerten Kreaturen in den Käfigen. Er konnte sich kein Mitleid erlauben, und es war auch nicht wirkliches Mitleid, was er empfand. Vielmehr das deutliche Gefühl, Teil von etwas zu sein, das grundlegend falsch war. Woran er jedoch nichts ändern konnte, und darum hatte er schon vor langer Zeit beschlossen, Kapital daraus zu schlagen. Warum auch nicht? Niemand konnte ihm vorwerfen, der Welt mit derselben Gleichgültigkeit entgegen zu treten wie der Rest der Menschheit auch. Doch genau das war nicht wahr. Laurin konnte ihm das vorwerfen, und er hatte auch allen Grund dazu, denn er würde eines seiner Opfer werden. Und Laurin war ihm nicht gleichgültig. Was für ein verdammtes Dilemma, für das es scheinbar keine Lösung gab. Vermutlich konnte er es immer noch schaffen, Laurins Vertrauen zu verraten. Das einzige Problem war, dass er es nicht mehr wollte. Die Ergebnisse der Gehirnstrommessung, auf die er damals so scharf gewesen war, waren ihm inzwischen vollkommen gleichgültig, wenn der Preis dafür hieß, Laurins Schädel aufzusägen und ihn den Strapazen einer Versuchsreihe auszusetzen, von denen er sich womöglich nie mehr erholen würde. Ravens Herz begann zu klopfen. Er wusste, er war gerade dabei, etwas zu begreifen. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, über die Menschen hinweg, die wie Gegenstände zum Kauf angeboten wurden, über die Menschen, die sich anmaßten, jemanden kaufen und besitzen zu können. Er selbst hatte sich bewusst entschieden, zu Letzteren zu gehören. Er hatte es satt gehabt, ein Opfer der Umstände zu sein. Er hatte diesen Weg eingeschlagen in dem Moment, als der alte Schamane des Stammes das Geld abgelehnt hatte, das Geld, an dem seiner Meinung nach Blut klebte, womit er nicht ganz Unrecht gehabt hatte. Dennoch hatte sich Raven für das Geld entschieden und gegen seinen Lehrmeister, gegen seinen Stamm, gegen seine Bestimmung. Nein, mit höherer Wahrscheinlichkeit hatte er seine Wahl schon vorher getroffen, als er das Geld genommen hatte und dafür ein Mensch sein Leben gelassen hatte. Oder sogar noch viel früher, denn der Tod dieses Menschen, den er zwar nicht verschuldet, aber auch nicht verhindert hatte, hatte ihn nicht berührt, nicht im Mindesten. Laurin lenkte ihn wieder in die Gegenwart, in dem er ihn sacht am Arm antippte. „Die Frau dort, sie ist ganz krank vor Angst. Darf ich zu ihr?“ Er sah sofort, wen er meinte, sie kauerte in der hintersten Ecke des Käfigs und konnte ihr Schluchzen nur schwer unterdrücken. „Ja, geh nur. Aber pass auf dich auf, und verspreche ihr nichts, was hinterher nicht eintreten kann.“ Laurin nickte knapp, und Raven verfolgte ihn mit seinem Blick, wie er sich zwischen den Käfigen hindurch schlängelte und sich neben ihr auf den Boden hockte. Sie zuckte zusammen, und Laurin sagte etwas zu ihr, was sie beruhigte. Danach hielt er einfach nur ihre Hand. Manchmal waren die einfachen Dinge am hilfreichsten. Pascal kehrte zurück, Toshio tänzelte elfengleich in seiner Verkleidung neben ihm her. „Dieses Geschäft hat funktioniert. Sie gehören alle uns.“ „Na, prima“, entgegnete Raven, und in diesem Moment wusste er plötzlich, dass er versuchen musste, Laurin zu kaufen. Er verstand jetzt die Worte seines Krafttierfreundes: Er hatte diesen Weg eingeschlagen, er würde ihn zu Ende gehen. Damit war nicht seine Arbeit im Labor gemeint, sondern diese Welt hier, die Welt der selbsternannten Herrenmenschen und der Sklaven. Raven war in ihre Welt eingetreten, aber er selbst hatte sich nie als Teil von ihr wahrgenommen, und er hatte sich dementsprechend nie selbst einen Sklaven zugelegt. Bis Laurin kam. Jetzt hatte er Laurin, und jetzt musste er den Weg zu Ende gehen und ihn zu seinem Besitz machen. Wenn der Junge sein Eigentum wäre, dann konnte er mit ihm machen, was er wollte. Darüber konnte er sich später Gedanken machen, was das sein sollte. Einen Weg zu gehen hieß, einen Schritt nach dem nächsten zu setzen. Vielleicht würde es doch nicht so schwer werden, Pascal zu überreden. Vielleicht könnte Raven sich sogar Pascals eigene dumme Vernarrtheit in Toshio zunutze machen, und Pascal würde Verständnis haben, dass Raven entgegen aller Vernunft Laurin besitzen musste. Und schließlich hatte Raven ihn noch nie um einen Gefallen gebeten. Er hatte immer vermieden, in Pascals Schuld zu stehen. Für Laurin würde er es tun. Dann war da ein weiteres Problem finanzieller Natur. Raven wusste nur zu gut, was Sklaven kosteten, und er durfte nicht erwarten, dass Pascal ihm Laurin schenken würde, denn auch Pascal war an den Ergebnissen der ursprünglich angedachten Versuchsreihe interessiert. Schließlich hatte er nur deswegen Laurin überhaupt am Leben und in Ravens Obhut gelassen. Jetzt bereute es Raven, dass er sein Geld nicht gewinnbringend angelegt hatte. Er verdiente gut bei Remarque-Pharma, und er lebte nicht ärmlich, aber er hatte nie Sinn darin gesehen, Geld anzuhäufen, wo doch jeden Monat welches nachkam. Er hatte sein Haus und seinen Wagen, einen schicken dunkelgrünen BMW mit allen Extras, der wohl seinen einzigen Luxus darstellte neben der teuren Kleidung, die maßgeschneiderten Anzüge, die er sich leistete. Er bezahlte eine Haushälterin und den Gärtner, alles andere hatte er dafür ausgegeben, Land zu kaufen. Von Menschen unberührtes Land, einzig zu dem Zweck, es unberührt zu lassen. Er besaß inzwischen beachtliche Mengen Regenwald in Südamerika und Urwald in Kanada, seiner Heimat. Die Ureinwohner, die dort lebten, waren ihm egal, aber er schützte die Landstriche so vor Abholzung oder sonstiger industrieller Nutzung. Wenn er irgendwann keine Lust mehr zu medizinischer Forschung haben würde, hatte er vor, sich dorthin zurück zu ziehen. Jetzt würde er sich eine Weile mit Landeinkäufen zurück halten und sein Geld sparen. Gleichzeitig würde er Laurins Schicksal im Labor noch eine Weile hinauszögern. Sobald er genug für eine ordentliche Anzahlung zusammen hatte, würde er Pascal bitten, ihm Laurin zu verkaufen. Und als allererstes würde er heute Abend gleich eine Andersweltreise unternehmen, um sein Krafttier zu besänftigen und ihm zu danken. Ricardo wog den Umschlag in seiner Hand. Noch einmal überdachte er die möglichen Folgen seiner Handlung, sollte er den Brief wirklich abschicken und sollte herauskommen, dass er ihn verschickt hatte. Es verstieß gegen die ungeschriebenen und unbeugsamen Regeln, die Sklavenhalter zu erfüllen hatten. Er selbst hatte Myros Familie ein Lebenszeichen zukommen lassen, aber selbstverständlich hätte er in diesem Fall Toshios Besitzer um Erlaubnis fragen müssen. Was er nicht getan hatte. Aber wie sollte überhaupt jemals herauskommen, dass dieser Brief geschrieben worden war, wie sollte Pascal oder irgendein anderer Herr davon erfahren? Und selbst wenn, wäre es schwer, die Spur bis zu Ricardo zurückzuverfolgen, denn er würde den Brief in dem großen Umschlag zunächst nach Moskau schicken, von wo er dann von einem guten Bekannten weitergeleitet werden würde. Der Poststempel würde aus Russland kommen. Vielleicht würde sich Pascal denken, dass nur Ricardo Toshio geholfen haben konnte, aber beweisen können würde er es nicht. Und überhaupt – es stand nichts Verfängliches drin in dieser knappen Mitteilung. Kein Hinweis auf Toshios Aufenthaltsort, kein Hinweis auf Pascal, kein Hilferuf. Nur ein Lebenszeichen. Ricardo hatte Toshio den Text auf Englisch schreiben lassen, damit er kontrollieren konnte, was darin stand. Wieder und wieder hatte er ihn gelesen und ihn Toshio wieder und wieder kürzen und ändern lassen. Bis er sich auf drei Sätze reduziert hatte. „Lieber Patrick. Bitte denk nicht mehr an mich und suche mich nicht. Ich liebe dich nicht mehr, und es ist mein ausdrücklicher Wunsch. Toshio.“ Ricardo riskierte nicht nur Unannehmlichkeiten für seine Person, viel mehr Sorgen machte er sich um Myro, der von ihm abhängig war. Und doch wusste er, dass Myro, wenn er ihn denn eingeweiht hätte, das Risiko eingegangen wäre, um Toshio diesen Gefallen zu tun. Und auch Ricardo verspürte seit ihrem gemeinsamen Spiel an jenem Abend bei Hakujiro den unstillbaren Wunsch, irgendetwas für Toshio zu tun. Das Risiko für sich und damit für Myro war gering, entschied er. Er warf den Briefumschlag in den Postkasten. xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx Ricardo habe ich mir noch einmal ausgeliehen, falls er Euch ooc erscheint, gehen die Beschwerden also bitte an mich. @Samantha: Ich hoffe, du bist mit meiner Wunscherfüllung zufrieden? Danke an dieser Stelle nochmals für den hundertsten Kommentar! Vielleicht schreibst du ja auch den zweihundertsten, dann darfst du dir wieder was wünschen. Es hat mir Spaß gemacht, darüber nachzudenken! ^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)