Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 22: Klischee -------------------- Dass dieses Hotel definitiv nicht in meinem Budgetrahmen lag, sah ich nicht erst auf den zweiten Blick. Schon, als wir das erste Mal die Straße entlanggefahren waren – auf der verzweifelten Suche nach einem Parkplatz in der Nähe – hatte mich die schiere Pracht dieses Gebäudes schlichtweg umgehauen. Natürlich hatte ich die Fassade dieses Hotels bereits vorher schon einmal gesehen. Schon oft wurde über dieses wunderschöne Etablissement in den Zeitungen oder sogar dem Fernsehen berichtet, doch dies war das erste Mal, dass ich ihm direkt gegenüber stand. Nur die vier Fahrbahnstreifen und der hübsch zurechtgemachte und begrünte Mittelstreifen trennten uns noch von unserem Ziel. Bisher hatte es jedoch niemand gewagt das Auto zu verlassen. In Ehrfurcht scannten wir jeden Winkel dieses Prachtbaus mit unseren Augen.   Wie bei einem Palast säumten die drei steinernen Rundbögen die gläsernen Eingangstüren. Beleuchtet aus hunderten Lichtern (selbst jetzt bei Tag) ragten die fünf Stockwerke empor, die wie pures Silber glitzerten. Stuck, Ornamente und zahllose Verzierungen säumten jeden Millimeter der Außenfassade und verliehen dem Hotel das Aussehen eines antiken Märchenschlosses. Engelsfiguren, reich verzierte Gesichter, tapfere Ritter auf ihren getreuen Pferden. Ich konnte mich kaum satt sehen und suchte begierig nach weiteren Kleinigkeiten, die ich bisher noch nicht hatte entdecken können. Doch all das wurde noch gekrönt von den drei majestätisch emporragenden Spitzen, die das eigentliche Gebäude noch bis zu 20 Meter überragten. Sie wirkten wie antike Kirchtürme, deren weiße Farbe mit dem hellblauen Himmel zu verschmelzen schienen. Es war einfach unglaublich schön.   „Das sieht verdammt teuer aus.“ Adelio war der erste, der nach etlichen Minuten seine Sprache wiederfand. Ich konnte nicht anders als zustimmend nicken. „Da wollen wir wirklich rein? Und wie zum Teufel sollen wir das anstellen? Es ist ja nicht so, als ob wir zum alltäglichen Kundenkreis dieses Hauses gehören und mit offenen Armen empfangen werden würden!“ Es war nicht direkt Wut, die sich in Emilys Stimme schlich, sondern Verzweiflung. Und ich ahnte, was sie dachte: War das hier schon das Ende unserer Reise? Waren wir nur bis hier gekommen, um jetzt zu scheitern? „Die Koordinaten auf dem Brief zeigen genau auf diese Stelle. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Hotel gemeint ist.“ Jaden, der halb auf dem Lenkrad lehnte, um durch die Frontscheibe zur Seite sehen zu können, hatte wieder diesen tief in Gedanken versunkenen Blick aufgesetzt. Er schien schon fieberhaft nach einer Lösung für unser aktuelles Problem zu suchen. „Koordinaten?“ Natürlich. Die beiden wussten nichts von dem Brief. Sie waren uns bloß blind gefolgt. „Nicht so wichtig“, wiegelte der Rothaarige die Frage ab und Emily hakte nicht weiter nach. Vorerst, zumindest.   Menschen liefen an dem Gebäude vorbei, nicht ohne einen staunenden Blick darauf zu werfen. Die Bediensteten, die bei der Anreise der erlesenen Gäste sofort die Türen des Wagens öffnen würden, ließen sich davon jedoch nicht stören. Wahrscheinlich hatten sie lange trainieren müssen, bis sie diese starre und doch professionelle Haltung so gut beherrschten. Das wäre ein Job, dem ich sicherlich nicht gewachsen gewesen wäre.   Gerade, als ich einen blonden Bediensteten in seiner aus rotem Samt genähten Arbeitskleidung beobachtete, fiel mir ein kleines Schild ins Auge. Zuerst hatte ich es übersehen, da es zwischen zwei großen Pflanzkübeln beinahe unterzugehen schien, aber nun hatte es meine volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Um besser sehen zu können, ließ ich das Seitenfenster neben mir unter dem leisen Summen des Motors hinuntersausen, und wagte es, meinen Kopf ein wenig weiter vorzustrecken. Natürlich achtete ich darauf, mich nicht zu sehr rauszulehnen, weil die schnell vorbeifahrenden Autos, Busse und LKWs mir im schlimmsten Fall den Kopf abrasiert hätten. Etwas, was ich gerne vermieden hätte.   „Heute Abend: Ball zu Ehren des 15-jährigen Jubiläums des ‚Lifetime Palace‘. Beginn 19 Uhr. Ballsaal Süd.“ „Ein Ball? Heute?“ Ich bemerkte erst, dass ich das Schild laut vorgelesen haben musste, als Sebastian die Worte darauf widerholte. „Dann sind noch mehr Menschen anwesend, als sowieso schon! Wir haben keine Chance uns dort ungesehen reinzuschleichen!“ Der Blonde auf der Rückbank klang gequält, beinahe schon leidend, als er seine Gedanken laut zusammenfasste. So, als würde ihm das Denken starke Kopfschmerzen bereiten. Ich gab mir große Mühe nicht in sein Wehklagen mit einzustimmen. „Wer sagt denn, dass uns niemand sehen darf?“ Obwohl ich ihn in diesem Moment nicht angesehen hatte, konnte ich das Grinsen in Jadens Worten problemlos heraushören. Ich wandte meinen Blick von dem Gebäude ab und war nicht verwundert, als ich meine Vermutung bestätigt sah. „Bist du jetzt total verrückt geworden? Denkst du, die lassen uns da einfach so zum Gucken reinspazieren? Die werden uns zum Teufel jagen!“ Doch Jaden antwortete nicht auf Emilys Einwand. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde hingegen noch breiter. „Du willst also, dass wir uns auf die Party schleichen?“ Der Rothaarige warf dem jungen Mann hinter ihm einen Blick durch den Rückspiegel zu. „Das wird aber auch kein Spaziergang. Wir sind nicht gerade die Gruppe von Menschen, die ohne Einladung auf eine Jubiläumsfeier eines Fünf-Sterne-Hotels kommt.“ Mein rebellierender Magen gab Adelio scheinbar recht. Aber ich wusste auch, dass Jaden sich da bestimmt schon etwas zurechtgelegt hatte. „Dann werden wir wohl erst mal shoppen gehen müssen!“   .   „Wären wir in einem Actionfilm, wären wir wohl jetzt beim Teil mit dem Fanservice angekommen.“ Adelio lachte laut über seinen Witz. „Immerhin darf in keinem guten Agentenfilm die Szene fehlen, in der sich der Held und die Heldin verkleidet auf eine Party einschleusen müssen. Als Liebhaber der alten Schinken und regelmäßiger Kinogänger wäre ich sonst wirklich enttäuscht.“ „Genauso hab ich dich auch eingeschätzt, Di Lauro. Zu dumm nur, dass es bloß einen Hauptcharakter geben kann.“ Adelio schnaubte, als er Jadens neckendem Tonfall ausgesetzt war. „Ich muss wirklich zugeben, dass ich auch ziemlich gerne einen dieser sauteuren Designeranzüge in meinem Schrank hängen haben würde. Wieso also hast du jetzt diesen Fummel an deinem knochigen Hintern und nicht ich?“ „Ganz einfach: Ich bin der im Außendienst Erfahrenere von uns beiden. Und ich habe das komplette Vermögen meiner Eltern unserer Sache gestiftet, als ich es noch konnte. Also gehört der sauteure Fummel an meine Knochen. Du würdest sowieso nur Tomatensoße drauf kleckern.“ „Könntet ihr beide auch mal aufhören mit dem albernen Gezanke?“ Sebastians Stimme erklang, bevor der Halbitaliener zum Gegenschlag ausholen konnte, und wirkte dabei längst nicht so gelassen, wie seine beiden Freunde es taten. Im Gegenteil. „Wir stehen kurz vor einem Einbruch, der uns im schlimmsten Fall direkt in die Arme unserer Feinde laufen lässt! Ich finde ihr solltet euch auch dementsprechend benehmen!“ Ein dumpfer Schlag ertönte, gefolgt von einem leisen „Au!“. „Seb. Wir wissen wie ernst die Lage ist. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir hier alle so Trübsal blasen müssen, wie du es tust. Das hilft uns nämlich auch nur wenig weiter.“ Adelio räusperte sich. „Wir schicken gleich unsere zwei Profigeheimagenten da rein und in Null Komma Nichts ist die Sache hier erledigt“, meinte er voller Zuversicht. Nicht der geringste Zweifel schwang in seinen Worten mit.   „Wenn hier Profis am Werk sein sollen, dann frage ich mich wirklich, warum gerade ich hier in diesem unbequemen Ding stecke!“ Die Blicke der Jungs waren sofort auf uns gerichtet, als Emily und ich aus unserem improvisierten Umkleidezimmer (was aus nichts weiter, als einem alten, verdreckten öffentlichen Klohäuschen bestand) traten. Ich sah sofort den Ausdruck in ihren Augen und wusste auch, was sie dort sahen. Denn ich hatte selbst kaum glauben können, dass diese Frau da in diesem winzigen, schlecht beleuchteten Spiegel wirklich ich sein sollte. Kaum zu fassen, was ein wenig Makeup, ein unbezahlbares Kleid und die super geschickten Hände von Emily so alles anstellen konnten! (Selbst die zahlreichen Wunden, die ich nicht länger unter Pflastern und Verbänden verstecken konnte, hatte sie mit ihrem Puder beinahe unsichtbar gemacht! Ich war wirklich beeindruckt!)   Ich hatte diese asiatischen Kleider schon immer geliebt! Und als ich dieses Kunstwerk auf der Schaufensterpuppe gesehen hatte … Bodenlanger, nachthimmelblauer Stoff. Goldene und silberne Kirschblütenzweige rankten elegant an der rechten Seite empor. Ein reich verzierter Drache wand sich majestätisch durch die Muster hindurch und hatte mich mit seinen blutroten Edelstein-Augen sofort gefesselt. Der eng anliegende Kragen umschmeichelte meinen Hals und bot ausreichend Platz um das goldene Herz mit meinem roten Diamanten tragen zu können (ich musste ihn mitnehmen, um zumindest ein wenig so zu tun, als ob ich viel Geld besäße), während die Ausschnitte auf beiden Seiten der Beine bis weit hinauf auf den Oberschenkel reichten, und mir trotz der silbernen Sandalen mit kleinem Absatz, Bewegungsfreiheit gewährten. Ich sah, wie meine blasse Haut zu dem dunklen Stoff einen starken Kontrast bot, der sich in meinen hochgesteckten, schwarzen Haaren fortsetzte. Hier hatte Emily ein wahres Kunstwerk gezaubert. Meine langen Haare waren in einer eleganten und asiatisch angehauchten Hochsteckfrisur verschwunden. Goldene Haarnadeln mit dunkelblauen Verzierungen zierten das Geflecht und hielten es an seinem Platz. Einzelne silberne Kirschblüten funkelten geheimnisvoll an auserwählten Stellen auf dem schwarzen Meer aus seidenen Fäden. Selbst das gedeckte Makeup wirkte nicht fremd an mir (obwohl ich mich sonst nur selten schminkte), sondern rundete das gesamte Outfit perfekt ab. Ich hatte kaum glauben können, was der Spiegel mir zeigte.   Und den starren Gesichtsausdrücken meiner Begleiter nach zu urteilen, schienen sie auch nicht so recht zu wissen, was sie von meinem Outfit halten sollten. Obwohl ich schon gute drei Minuten vor ihnen stand, hatte bisher niemand einen Ton gesagt. Ihre Blicke lagen still auf mir und keiner wagte es, sich zu rühren. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen aufsteigen und bekam langsam Panik. Sah ich doch schlechter aus, als ich dachte? War ich etwa zu sehr verkleidet und dadurch unnatürlich? Ich hatte mich eigentlich ganz wohl gefühlt, aber wenn es den anderen nicht gefiel, würde ich wohl doch lieber …   „Jetzt steht da nicht so blöd rum! Klappt eure Unterkiefer wieder hoch und sagt endlich, wie ihr es findet!“ Emilys Stimme neben mir ließ die Panik in meinem Inneren etwas abebben. Sie hatte immerhin auch gesagt, dass ihr mein Erscheinungsbild gefiele. Also konnte es doch so schlimm gar nicht sein, oder? „Linchen? Bist du das wirklich?“ Wäre ich nicht so unfassbar nervös gewesen, hätte ich wahrscheinlich eine dumme Bemerkung zu seiner ebenfalls sinnlosen Äußerung gemacht. Wer sollte ich denn sonst sein? Aber mein Mund war so trocken, als hätte ich gerade einen Wüstenmarathon hinter mir. „Das ist ja der helle Wahnsinn! Jaden! Gib mir gefälligst den Anzug! Du und deine hässliche Visage vermindern bloß ihre pure Schönheit!“ Aus dem leichten Brennen auf meinen Wangen war bereits ein lodernder Brand geworden. „Erst mal passt du Fettkloß hier überhaupt nicht rein und zweitens lasse ich mir die Gelegenheit, mich mit so einer wunderschönen Prinzessin auf einem Ball blicken zu lassen, doch nicht entgehen.“ Sagte ich Brand? Waldbrand würde wohl besser passen. Das Lächeln, was nun auf Jadens Gesicht thronte, war anders als alle, die ich bisher bei ihm gesehen hatte. Es war so … voller Wärme und beinahe … Bewunderung. Ich hatte in diesem Moment wirklich das Gefühl, als wäre ich eine Prinzessin, die mit einem Prinzen zu einem wichtigen Schlossball gehen würde … Mein Herz schlug mir bis zum Hals.   „Kommt, eure Hoheit“, meinte der Rothaarige dann und streckte seine Hand nach mir aus. Wie in Trance und ohne zu zögern ergriff ich sie. Dies war das erste Mal, dass ich ihn richtig wahrnahm. Er trug einen eleganten, schwarzen Anzug mit passenden Schuhen und dazu ein weißes Hemd. Ein dunkles Tuch, das in derselben Farbe wie mein Kleid gehalten war, zierte seine Brusttasche. Auch die dunkelblaue Krawatte war mit ihren goldenen Streifen perfekt auf mein Outfit abgestimmt. Seine roten Haare, die nun frisch geschnitten in Form gebracht waren (hatte das etwa Adelio übernommen?), bildeten einen starken, aber angenehmen Kontrast zu seiner restlichen Kleidung. Ich hatte Jaden bisher nur in Jeans und lässigem T-Shirt gesehen und ihn nie für auffällig attraktiv gehalten. Aber verdammt. So, wie er gerade vor mir stand, sah unheimlich gut aus …! „Auf geht‘s, Prinzessin.“   Die anderen ließen sich – wie geplant – zurückfallen. Ob der Plan, den wir uns schnell provisorisch zusammengeschustert hatten, wirklich funktionieren würde, hing nun ganz von Jaden und mir und unseren Überredungskünsten ab. Nur, wenn wir es schafften, dort hineinzukommen, hatten wir die Möglichkeit, der Botschaft des Professors nachzugehen und womöglich noch … meine Eltern zu retten. Meine Beine kamen mir vor, als würde Wackelpudding statt Blut durch die Adern fließen. Ich war sowieso nicht besonders geübt darin, hochhackiges Schuhwerk zu tragen, aber unter diesen Umständen konnte man das, was ich tat, kaum noch als „Gehen“ bezeichnen. Da es sich so gehörte, hatte ich mich an Jadens Arm eingehakt, was sich nun als nützlich erwies. So konnte ich mich wenigstens etwas bei ihm abstützen. „Das wird schon. Sei einfach so natürlich wie möglich“, hörte ich den Rothaarigen sagen, worauf ich bloß schnaubte. „Natürlich bin ich natürlich.“ Schlechter Wortwitz. „Merkt man das nicht?“ Ich vermied es tunlichst ihn anzusehen und richtete meinen Blick starr nach vorn. Da die Sonne langsam hinter den Hochhäusern verschwand und der Himmel sich dunkler färbte, brannten bereits die ersten Straßenlaternen. Und die Außenbeleuchtung des Hotels war schon aus weiter Ferne zu erkennen gewesen (Und sie war schlicht unglaublich! Beinahe jeder Zentimeter der Fassade war in goldenes und silbernes Licht getaucht! Jedes Detail der zahllosen Verzierungen war prunkvoll in Szene gesetzt! Einfach wunderschön!) Jaden lachte. „Doch, doch, du bist die Ruhe selbst. Und wenn du dich in deinem absolut natürlichen Verhalten schon so an andere Leute Arme festklammerst, dann will ich gar nicht wissen, was passiert, solltest du einmal nervös sein. Meine Finger spüre ich jedenfalls jetzt schon nicht mehr.“ Ich war zwar wirklich unheimlich nervös, aber diese Anspielung seinerseits brachte mich trotzdem fast auf die Palme. Doch um keinen Streit vom Zaun zu brechen, lockerte ich einfach meinen Griff etwas und schwieg schmollend. Den amüsierten Laut, der aus seiner Kehle drang, versuchte er vergeblich in einem Räuspern zu verstecken.   Wir näherten uns unaufhörlich dem Eingang zum Hotel. Überall tummelten sich Menschen in schicken Kleidern und sogar Paparazzi hatten sich vor einer, wahrscheinlich extra dafür errichteten, Fotowand versammelt, um die Berühmtheiten zu fotografieren. Ich jedoch machte mir nicht die Mühe die Menschen zu beachten und herauszufinden, wer eigentlich wer war. Ich hatte keinen Kopf für irgendwelche Promis. Ich würde wahrscheinlich sowieso niemanden erkennen. Dass die Fotowand ein wenig seitlich des Eingangs aufgebaut war, erwies sich als Glück für uns. Die meisten Angestellten und Security-Männer richteten ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Meute von Journalisten und ließen den Eingang beinahe unbewacht. Natürlich stand auch hier geschniegeltes Personal herum, aber so war die Anzahl derer, die wir von uns überzeugen mussten, deutlich geringer.   Doch noch ehe wir überhaupt in die Nähe der Tür kamen, wurden meine Hoffnungen jäh zerstört. „Entschuldigung. Darf ich ihre Einladung sehen?“ Ein mittelalter Mann im schwarzen Anzug und breiten Schultern war zu uns herübergekommen, als er uns entdeckt hatte. Seine kurzen, schwarzen Haare waren mit reichlich Haargel feinsäuberlich nach hinten gekämmt worden, was ihn einige Jahre älter erscheinen ließ, als er eigentlich sein konnte. Wenn ich einen Ton rausgebracht hätte, hätte ich ihm für die nächste Veranstaltung von dieser Frisur abgeraten. So tat ich das, was Jaden mir vorher befohlen hatte: Klappe halten und hübsch lächeln. „Wissen sie. Leider besitzen wir nicht direkt eine Einladung für ihre Veranstaltung. Da es aber äußerst wichtig für uns ist, hier Kontakte zu knüpfen, hatten meine Freundin und ich gehofft, dass sie dieses eine Mal eine Ausnahme machen könnten.“ Ich war ganz erstaunt, wie höflich und wohlerzogen Jaden wirken konnte. Er trug ein äußerst charmantes Lächeln auf den Lippen. Seine Haltung war grade und wirkte den Umständen entsprechend angemessen. Bei der Begrüßung hatte er sich sogar leicht verbeugt. Doch den Türsteher schien das eher weniger zu beeindrucken. „Es tut mir leid, mein Herr. Dies ist eine Veranstaltung für geladene Gäste. Ich bin nicht befugt jemanden ohne Einladung passieren zu lassen.“ Auch seine Haltung war stramm und vorbildlich, doch bei ihm wirkte das Ganze nicht so natürlich, wie bei Jaden. „Das verstehe ich natürlich, aber diese Angelegenheit ist für uns von großer Wichtigkeit! Leider bin ich noch zu jung, um selber eine Einladung zu erhalten, aber meine verstorbenen Eltern – Gott habe sie selig – hatten mich oft auf derart Veranstaltung mitgenommen. Mein Vater, Polizeikommissar Jonathan Davis, besaß sogar einen Ehrenschlüssel der Stadt.“ Ehrenschlüssel der Stadt? Langsam wunderte ich mich wirklich nicht mehr, über die Charakterzüge des Rothaarigen. Sein Vater schien alles und noch mehr an ihn weitergegeben zu haben! „Polizeikommissar Jonathan Davis war ein sehr guter Freund meines Vaters. Mein Beileid für ihren tragischen Verlust. Sein Ableben hatte auch mich tief erschüttert.“ Tatsächlich hatte sich ein wenig Traurigkeit in seine Miene geschlichen. Doch diese verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. „Doch das ändert leider nichts an der Tatsache, dass ich ihnen beiden hier keinen Zutritt gewähren darf. Bitte sein sie so freundlich und verlassen das Gelände.“ Eigentlich wollte ich ihn darauf hinweisen, dass dies noch ein öffentlicher Gehweg war und er uns von hier aus nicht vertreiben durfte, doch ich schluckte den Kommentar herunter und versuchte ihn mit einem Dackelblick zu überzeugen. Doch der Kerl beachtete mich überhaupt nicht.   „Ach, ein so reizendes, junges Paar, das die Welt der Diplomaten und Geschäftsleute kennenlernen möchte! Welch schöner Anblick!“ Ich zuckte zusammen, als ich dicht hinter mir eine laute Stimme hörte. Im nächsten Moment hatten sich scheinbar aus dem Nichts zwei ältere Herrschaften zu uns gesellt. Der korpulente, ältere Mann, dessen Glatze nur noch von einem kleinen Ring aus grauen Stoppelhaaren verziert wurde, trug einen weinroten Anzug und ein beigefarbenes Hemd. Die Anzugjacke musste er jedoch geöffnet lassen, da sein ausladender Bauch das Schließen anscheinend verhinderte. Die Dame neben ihm musste – wie er – Mitte 50, Anfang 60 sein. Ihre weißgrauen Haare hatte sie zu einem strengen Dutt zusammengebunden, der so gar nicht zu ihren freundlichen Augen passte. Über dem apfelgrünen, knielangen Kleid trug sie ein weißes Jäckchen aus Spitze, welches die Art ihrer Schuhe wieder aufgriff. Beide Gesichter zierte ein freundliches Lächeln und ich hätte schwören können, dass der Mann mir eben zugezwinkert hatte. „Lord und Lady Gloucestershire. Es ist mir eine Freude sie wiederzusehen“, meinte der schwarzhaarige Mann und verbeugte sich tief vor den Anwesenden. Erst jetzt wurde mir klar, dass diese beiden wohl sehr bekannt waren und nur von unserer Seite aus das Hotel betreten wollten, um nicht durch das Blitzlichtgewitter gehen zu müssen. „Haben sie vielen Dank, junger Mann. Ich freue mich sehr, einmal wieder Gast in ihrem bezaubernden Hotel zu sein! Aber ich bitte sie. Lassen sie die Kinder doch ruhig hineingehen.“ Ich war mir bewusst, dass mein Gesicht gerade nicht besonders ladylike aussehen konnte, aber ich war nicht in der Lage meinen Unterkiefer wieder zuzuklappen. Sein Blick wanderte genauestens über unsere Gesichter, doch ich wusste nicht, was er darin suchte. „Die beiden werden schon nichts anstellen, glauben sie mir. Sagen sie ihrem Chef einfach, sein alter Kumpel William hatte ihnen das erlaubt. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Einen kurzen Moment zögerte der Türsteher noch, doch dann sagte er das, womit ich nie im Leben gerechnet hätte. „Sehr wohl, Lord Gloucestershire. Wie ihr wünscht.“ Das schallende Lachen des Lords erklang. „Habt Dank, junger Freund!“ Dann wandte er sich an uns. „Kommt mit. Es wird Zeit für eine richtige Party!“   Der Lord und seine Frau betraten den auf dem Asphalt ausgerollten Teppich zuerst. Sie bestiegen die wenigen Stufen, um anschließend zwischen zwei randvoll mit weißen Rosen gefüllten Vasen durch die Glastür zu treten. Vier Bedienstete begrüßten sie augenblicklich mit einer Verbeugung. Noch ehe ich in irgendeiner Weise reagieren konnte, zog Jaden schon an meinem Arm. So schnell wir (ich) konnten, folgten wir dem Ehepaar durch die Glastür und wurden ebenfalls freundlich von dem Personal begrüßt. „Herzlich Willkommen! Es ist uns eine Freude sie bei uns begrüßen zu dürfen!“, sangen alle im Chor und ich nickte nur unbeholfen und ein wenig beschämt zurück. Der Anblick des Foyers hatte mir den Atem verschlagen. Ein Meer aus Lichtern und Farben empfing uns, als wir die riesige Halle betraten. Der Boden war aus feinstem Marmor. Weiße und rote quadratische Fliesen bildeten harmonische Muster, die sich über die komplette Fläche streckten. Die Decke war über und über mit weißem Stuck bedeckt. Ein gewaltiger Kronleuchter, der aus unzähligen glitzernden Kristallen bestand, hing direkt über unseren Köpfen. Sehr imposant wirkte dazu noch die offene Empore, die sich u-förmig um uns herum erstreckte und entweder über die mit rotem Samtteppich ausgekleideten Treppen oder wahlweise mit den geräumigen Fahrstühlen direkt daneben zu erreichen war. Weiße Verzierungen und ein goldenes Geländer funkelten im Glanz der Lichter. Und überall standen Pflanzen in vergoldeten Vasen oder luden breite Ledersessel zum Verweilen ein. Die Rezeption konnte ich im linken Teil der Halle erkennen und auf der anderen Seite tummelten sich bereits die reichen Gäste vor der großen, geöffneten Tür, die direkt zum Ballsaal führte. Leise klassische Musik und die Gespräche der Anwesenden erfüllten die nach Rosen riechende Luft.   Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie sich der Lord und seine Frau in die Nähe des Ballsaals begaben und sich neben ein weißes Sofa mit goldenen Akzenten stellen, wo eine Kellnerin ihnen sogleich ein Glas Champagner reichte. Durch zwei große, blühende Kübelpflanzen war man dort wahrscheinlich etwas von den Blicken der anderen geschützt. Diesmal war ich es, die an Jadens Arm zog und ihn in die Richtung der beiden lotste. Noch bevor wir bei ihnen angekommen waren, hatte die Lady uns entdeckt und schenkte uns ein Lächeln, wie nur Großmütter es bei ihren Enkeln taten. „Beeindruckend, nicht wahr?“, lächelte sie und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Ich nickte voller Ehrfurcht. „Das ist es wirklich. So etwas Schönes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“ „Du bist noch so jung, mein Kind. Du hast noch so viel Zeit. Mein Mann und ich hingegen haben das Meiste bereits gesehen und erlebt. Doch ich freue mich sehr, dass wir die Ehre hatten, euch zwei kennenzulernen.“ Ein leichter Rotschimmer bildete sich auf meinen Wangen. „Vielen Dank.“   „Ja, das ist meine Rosie!“ Das Lachen des Lords erschallte und ich bemerkte, dass sein Glas bereits geleert war. Sofort winkte er eine braunhaarige Kellnerin heran und tauschte es gegen ein volles. Die goldene Flüssigkeit darin perlte friedlich vor sich hin. Jaden und ich hingegen lehnten dankend die angebotenen Getränke ab. „Die Rosemary, an die ich vor so vielen Jahren mein Herz verloren habe! Gütig, wie eh und je.“ Er lachte wieder. Seine Frau hatte ein zartes Lächeln auf ihren rosigen Lippen, das die Falten auf ihrem Gesicht weicher erscheinen ließ. „Nun sei nicht so, William. Du bringst mich in Verlegenheit.“ Es war wirklich niedlich die beiden anzusehen. Sie hatten schon den Großteil ihres Lebens miteinander verbracht und schienen verliebt, wie am ersten Tag zu sein. Das war es, was ich mir für mich immer gewünscht hatte.   „Lord Gloucestershire. Ich danke ihnen vielmals für ihre Hilfe!“, ergriff Jaden daraufhin das Wort. „Ohne sie hätten wir es nie geschafft.“ Ich sah, wie Jaden sich neben mir verbeugte und machte ebenfalls einen (etwas unbeholfenen) Knicks. „Ja, vielen Dank!“, fügte ich dabei hinzu und hörte, wie der Lord amüsiert lachte. „Gern geschehen, ihr zwei.“ „Aber …“, setzte Jaden erneut an. „Bitte verstehen sie mich nicht falsch, wir sind ihnen wirklich dankbar dafür, dass sie ein gutes Wort für uns eingelegt haben, aber ich begreife nicht, warum sie das getan haben.“ Das war etwas, was ich mich auch fragte. Was hatte er davon? Einfach so fremde Menschen auf die Party zu schleppen? Wir könnten ihn wirklich in Schwierigkeiten bringen! Doch der Lord lachte erneut. Er zog ein weißes Tuch aus seiner Anzugjacke und tupfte sich kurz die Schweißperlen von seiner Stirn. „Ich weiß, dass ihr zwei nicht hierher gehört. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass die junge Damen auf dieser Art von Schuh kaum laufen kann.“ Er zwinkerte mir zu und ich errötete wie eine Tomate. „Aber ihr zwei seht aus, als ob ihr etwas sehr Wichtiges vorhabt. Ich war auch einmal jung und rebellisch, wisst ihr? Ich hätte alles dafür gegeben einmal so eine Chance wie die eure zu bekommen! In so jungen Jahren auf solch einen prachtvollen Ball zu gehen!“ Er machte eine auslandende Handbewegung, um unsere Aufmerksamkeit auf die prachtvolle Halle zu lenken. „Auch, wenn ich das Gefühl habe, dass ihr dieser Party nicht lange beiwohnen werdet. Was auch immer ihr tut – Und sagt mir das besser nicht. Dann kann ich auch nichts verraten. – seid vorsichtig und erinnert euch immer daran, wo die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft. Es wäre eine Schande, zwei so liebe und wundervolle junge Menschen auf die schiefe Bahn geraten zu sehen.“ Etwas Warmes, Sanftes durchströmte meinen Körper, als die Dankbarkeit, die ich für den Lord empfand, mein Herz auf die doppelte Größe anschwellen ließ. Dieser Mann war einfach unglaublich. Dass es solche Menschen überhaupt noch gab …! „Vielen Dank für eure Worte, Lord Gloucestershire. Sein sie versichert, dass wir diese Worte immer in unseren Herzen behalten werden.“ Plötzlich fiel es mir leicht, mich zu entspannen. Der ungeheure Druck, der auf meinen Schultern gelastet hatte, war verschwunden. Jetzt war es nicht mehr unmöglich für mich, wirklich natürlich zu sein. Die erste Hürde zur Rettung meiner Eltern war gemeistert. „Viel Erfolg, Kinder“, lächelte die Dame und hakte sich unter den Arm ihres Mannes und nach einem kurzen Lächeln verschwanden sie inmitten der Menschenmasse. Nur wir blieben in der dunklen Ecke des Foyers zurück.   „Es wird Zeit, Prinzesschen. Zeit deine tief vergrabenen, „Oscar“-reifen Schauspielkünste zu wecken.“ Ich ließ ein freudloses Lachen erklingen. „Na endlich. Ich kann mich schon kaum noch zurückhalten. Lass es uns bloß schnell hinter uns bringen …“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)