Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 12: Kraftlos -------------------- Jeder Schritt tat weh. Ich spürte, dass die Muskeln in meinen Beinen bereits schmerzhaft protestierten. Ein Kribbeln, als wenn hunderte Ameisen unter meiner Jeans krabbeln würden, begleitete jede meiner Bewegungen. Doch ich zwang mich immer und immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Tiefer in dieses Gewirr aus Pflanzen und Bäumen. Der Regen, der schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf mich fiel, hinterließ ein klammes Gefühl auf meiner Haut. Meine Kleidung war längst getränkt von der kalten Flüssigkeit. Ich spürte, wie meine Haare nass und schwer auf meinem Kopf klebten. Mir teilweise die Sicht versperrten und störend in meinen Augen hingen. Ich war weggelaufen, ohne mich um irgendetwas oder irgendwen zu kümmern. Warum sollte ich auch? Ich machte alles nur noch schlimmer, als es sowieso schon war. Wieso sollte ich also immer noch dort bleiben? Sie brauchten mich nicht. Ich stand ihnen nur im Weg. Doch noch viel schlimmer war die Tatsache, dass ich mir selber im Weg stand.   Ich merkte, wie meine Schritte immer kleiner wurden und dass mein Körper nicht mehr wollte. So erschöpft, wie ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt hatte, setzte ich mich an einem nahen Baum nieder. Kraftlos ließ ich mich an der Rinde hinabgleiten und fühlte, wie mein Körper sich tief in den matschigen Untergrund zwischen den bodennahen Wurzeln bohrte. Schnell fraß sich die Kälte durch meine Kleidung, die sowieso schon völlig durchnässt war und ich begann zu zittern. Tropfen für Tropfen schälte sich aus der grauen Wolkenwand über mir und ich hörte jeden einzelnen von ihnen, wenn sie auf die Blätter der Vegetation aufschlugen. Ein rhythmisches Trommeln, welches die Luft erfüllte. Ich wusste nicht, wo ich mich befand, doch die Tatsache, dass nicht ein einziges Geräusch auf die Anwesenheit von Menschen oder deren Technologie hinwies, ließ mich vermuten, dass ich mich sehr weit von jeder Stadt, jedem Dorf entfernt hatte. Doch dadurch klangen die Gedanken in meinem Kopf nur umso lauter.   Ich hörte noch immer ihre Worte. Jedes einzelne hatte sich in mein Herz gefressen. Einer der Männer, die ich vor wenigen Stunden noch durch meine Wohnung geführt hatte, war nun nicht mehr am Leben. Die freudige Erwartung eines Fortschritts war nun kalter Trauer gewichen. Er hatte sein Leben dem Ziel gewidmet, dem sinnlosen Morden ein Ende zu setzen. Doch ich war mir sicher: So edel sein Einsatz auch war, das Wichtigste für ihn war immer die Sicherheit seiner Freundin gewesen. Seiner Seelenpartnerin. Meine Hand verkrampfte um den Edelstein, der bleischwer an meinen Hals hing und mich zu erwürgen drohte. Mein Seelensstein hatte mich noch nicht mit seinem Seelenpartner zusammen gebracht. Ich war immer noch allein. Doch was wäre wenn mein Partner plötzlich verstarb? Ein Stein reagierte nie auf zwei verschiedene Menschen. War einem dann nur ein Leben voller Einsamkeit vergönnt? Ein Leben ohne Kinder? Ohne Familie? War es dann das ganze Leid überhaupt wert?   Ich ließ meinen Kopf gegen die Baumrinde sinken und schloss die Augen. Es war nicht meine Schuld, dass der Mann tot war. So sehr mich mein Herz auch davon überzeugen wollte, mein Verstand wusste, dass Adelio recht hatte. Es war ein Unfall. Es hätte genauso an jedem anderen Tag, an jedem anderen Ort passieren können. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Erste, der sein Leben für dieses Ziel geopfert hatte. Und tief in ihrem Inneren wusste die junge Frau das auch, dessen war ich mir sicher. Doch Trauer und Wut hatten sie überwältigt und sie nach einem Schuldigen suchen lassen. Und in diesem Fall war ich eben diejenige, weil es meine Wohnung gewesen war. Weil ich die „Neue“ war. Weil ich das aktuelle Ziel war. Warum tat es dann so weh? Warum nahmen mich ihre Worte dann so mit? Wieso schmerzte es in meiner Brust, als ob ich jemanden verloren hätte, der mir lieb und teuer war?   Ich wusste die Antwort. Ich kannte sie mit erschreckender Deutlichkeit: Weil es genauso gut einer meiner Lieben hätte sein können. Der Busunfall. Was wäre gewesen, wenn Talamarleen dieses Mal mit mir zusammen gefahren wäre? Wenn sie diesen Abend nicht zur Wohnung ihrer Mutter, sondern zu der ihres Vaters gefahren wäre? Sie hätte verletzt werden können. Oder Schlimmeres. Sie hätte eine der Kugeln abgekommen können. Sie hätte mit nichts sehenden Augen blutverschmiert auf der Straße liegen können! Oder der Abend in meiner Wohnung. Was wäre gewesen, wenn meine Mutter mich an dem Tag besuchen gekommen wäre? Freitagnachmittags hatte sie immer frei und die Wochenendschicht übernahm meistens eine ihrer Kolleginnen. Es wäre gar nicht so abwegig gewesen, wenn sie gekommen wäre. Besonders nach dem, was mir die ganze Woche über passiert war.   Das war es. Das war es, wovor ich solche Angst hatte. Wovor ich weggelaufen bin. Ich hatte Angst, dass ich beim nächsten Mal diejenige sein würde, die die Nachricht über den Tod eines über alles geliebten Menschen bekommen würde. Dass das nächste Mal ich dort stand; tränenüberströmt und mit diesem qualvollen Ausdruck in meinen Augen. Ich hatte solche Angst, weil ich mich in ihr sah.   Ich versuchte ruhig zu atmen, das Zittern zu unterdrücken. Die Panik, die mich in diesem Moment beherrschte, hatte die Oberhand über meinen Körper gewonnen. Ich spürte, wie ich abdriftete. Immer tiefer in mich hinein. Und ich ließ es geschehen. Hieß die Taubheit willkommen. Gab mich der trügerischen Ruhe voll und ganz hin, bis alles um mich herum komplett verschwand.   Obwohl ich der Ohnmacht nahe war, übertrat ich nie die Grenze zwischen dem bewussten Erleben und der tauben Einsamkeit. Ich blendete alles aus, reagierte auf nichts mehr, und doch war alles um mich herum noch real. Darum schreckte ich auch sofort auf, als ich ganz in der Nähe Geräusche bemerkte. Erst klangen sie dumpf und unwirklich, doch schon bald bemerkte ich, dass es Stimmen waren. Panisch riss ich die Augen auf und blickte mich um. Der Himmel war inzwischen nicht mehr grau, sondern beinahe Schwarz, und nur noch einzelne Wassertropfen drangen aus den wabernden Wolkenmassen. Die hereingebrochene Nacht hatte der Umgebung sämtliche Farbe entzogen und tiefe Schatten über sie gelegt, sodass ich nichts um mich herum erkennen konnte. Mein Körper begann zu zittern, als aus dem unverständlichen Brummen in der Ferne sich richtige Worte herauskristallisierten. Hatte mich etwa jemand gefunden? Aber ich war doch so weit gelaufen! Niemand konnte wissen, dass ich hier war!   Automatisch zog ich meine tauben Beine näher an mich heran und machte mich so klein wie möglich. Mit meinen blauen Kleidungsstücken und den dunklen Haaren müsste ich eigentlich unsichtbar inmitten all den Pflanzen verschwinden. Doch als ich zuckende Lichtblitze zwischen den einzelnen Bäumen bemerkte, gefror mir das Blut in den Adern. Gegen eine Taschenlampe war auch meine dunkle Kleidung machtlos. Ich gab mich geschlagen. Kraftlos fiel mein eben noch starrer Körper wieder in sich zusammen und ich beobachtete resigniert, wie das blitzende Licht immer näher kam. Wenn Adelio und die anderen mich bisher schon für seltsam gehalten hatten, würden sie nach meinem Abgang denken, ich wäre komplett verrückt. Einen guten Eindruck hatte ich bisher wirklich nicht hinterlassen. Ich war sowieso nur das kleine, verwöhnte Mädchen, das von der Welt keine Ahnung hatte. Und wahrscheinlich stimmte das auch …   Die Stimmen wurden immer lauter und kurz bevor sie mich entdeckten, bemerkte ich, dass hier etwas nicht stimmte. Ich kannte die Stimmen nicht und das, worüber sie redeten … „Wieso müssen wir schon wieder diesen ollen, stinkenden Wald durchsuchen? Und das auch noch im strömenden Regen?“ Der Mann klang mehr als erbost. Seine Stimme bebte vor Wut. „Wer kam noch mal auf diese selten dämliche Idee die Schichten beim Poker zu verteilen?! Es war so klar, dass Pete und Tarance betrügen würden! Diese verdammten Penner sind nächstes Mal fällig, das schwöre ich dir!“ Lautes Lachen hallte von den Bäumen wieder. Plötzlich verkrampfte alles in mir. Etwas ungeheuer Schweres schien auf meine Brust zu drücken und nahm mir jegliche Möglichkeit zu atmen. Ich bekam keine Luft mehr und die Schatten vor meinen Augen verschwammen. In meinen Ohren übertönte das Rauschen meines Blutes alle anderen Geräusche. Ich zitterte. Unfähig, mich zu bewegen.   Ich war dumm. So wahnsinnig dumm. Es war alles meine Schuld. Ich hatte es tatsächlich geschafft mich in eine komplett ausweglose Situation zu bringen. Diese Männer, deren Stimmen sich in mich hinein fraßen. Sie waren wahrscheinlich auf der Suche nach mir, um meinen Segensstein zu finden, und was machte ich? Ich präsentierte ihnen den Stein und mich auf dem Silbertablett! Ich konnte sie schon vor mir stehen sehen. Die letzten Minuten in meinem Leben. Nass, durchgefroren und dreckig würde ich in den Lauf einer Pistole blicken, dahinter zwei schmierig grinsende Gestalten, ehe plötzlich alles vorbei sein würde. Meine Familie, meine Freunde. Ich würde sie nie wiedersehen. Genauso wie … Aurelia, Colin, Doc Martens, Adelio und … Jaden. Ich konnte nur noch hoffen, dass ich ihnen nicht zu viel Ärger gemacht hatte. Das hatten sie nicht verdient …   Ein lautes Knacken in dem Gebüsch, dicht vor mir. Nur noch wenige Schritte. Der Lichtstrahl verharrte lange auf meinem Gesicht, blendete mich. Ich schloss die Augen erneut. Es hieß doch immer, dass es nach jeder schlechten Phase wieder bergauf gehen würde! Wieso musste gerade ich wieder die Ausnahme sein? Ich hatte solche Angst.   Ein heftiger Ruck ging durch meinen Körper und es fühlte sich an, als würde ich aus dem Stand umkippen. Ich wollte schreien, doch etwas Schweres, Kaltes drückte auf mein Gesicht und hinderte mich daran, auch nur einen Ton von mir zu geben. Meine Gliedmaßen schabten über den Boden, als ich tiefer ins Gebüsch gezogen wurde. Meine kalten Glieder protestierten bei jedem dumpfen Schlag und als mein Kopf hart gegen einen Ast schlug, wurde mir plötzlich Schwarz vor Augen. Erst langsam nahmen die schemenhaften Konturen um mich herum wieder Gestalt an und die völlige Schwärze wich einem pochenden Schmerz an meinem Hinterkopf.   Von einer Sekunde auf die andere stoppte die Welt um mich herum und alles war wieder unheimlich still. Ich hörte Fußspuren, nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Das Knirschen von Schuhen auf vertrocknetem Laub und das Knacken von kleinen Ästen. Ich versteifte. Versuchte zurückzuweichen, doch stieß gegen etwas Hartes. Lichtblitze zuckten über mein Gesicht und doch … Auf einmal war alles wieder ruhig. Die Männer waren … weg. Nur in der Ferne konnte ich ihre Stimmen noch wahrnehmen, ehe sie völlig verstummten. Dunkelheit legte sich wieder über den Wald. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Brust, als ich endlich verstand, dass ich noch lebte. Ich war nicht tot! Sie hatten mich nicht entdeckt! Aber … warum? Ich spürte noch immer das Gewicht, das auf meinen Mund drückte und erst, als ich meine zitternde Hand hob und gegen etwas Weiches stieß, realisierte ich es. Ich drehte meinen Kopf so gut es ging und blickte nach oben. Ein überraschter Aufschrei blieb mir im Hals stecken. Er drückte meinen Körper eng an seinen, während seine Augen konzentriert in die Dunkelheit starrten. Wassertropfen, die aus seinen Haaren rannen, tropften mir kalt auf die Stirn. Ich war wie gelähmt. Was tat er hier? Hatte er nach mir gesucht? Aber warum? Warum interessierte gerade er sich für mich, wo er doch keine Gelegenheit ausließ, um mich zu piesacken? Wieso?   Keiner von uns beiden rührte sich. Ich wusste nicht, wie viel Zeit schon vergangen war, seit der Wald wieder in Dunkelheit getaucht war. Nur langsam schienen sich die Regenwolken vor dem schwarzen Himmel zu verziehen und das indirekte Licht des Mondes gab den schemenhaften Konturen der Pflanzen etwas mehr Schärfe. Vorsichtig verschwand der Druck von meinem Gesicht und ich bemerkte, wie er seine Hand sinken ließ. Kalte, feuchte Luft drang nun wieder in richtigen Mengen in meine Lungen und der Knoten, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, schien sich langsam wieder aufzulösen. Mein Atem ging ruhiger und ich spürte erneut, wie die Kälte über meinen Körper kroch und die heiße, fiebrige Panik vertrieb.   „Sie sind weg.“ Obwohl er nur flüsterte, klang seine raue Stimme ungewöhnlich laut in der Stille dieses Ortes und ein wenig Angst beschlich mich, dass die Männer uns doch noch irgendwie hören konnten. Bevor ich etwas sagen konnte, fühlte ich, wie sein Griff um meinen Körper sich lockerte und er von mir weg rutschte. Das weiche Gefühl an meinem Rücken verschwand und sofort übernahm die Kälte wieder die Oberhand. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, wie unangenehm die nasse Kleidung an meiner Haut klebte. Ich hörte das Geräusch seiner Schritte auf dem nassen Waldboden. Mein Blick war starr auf den Boden gerichtet, ohne wirklich etwas zu sehen. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Brust. Ein leichtes Ziehen begleitete jeden Schlag. Ich konzentrierte mich voll und ganz darauf, mich zu beruhigen. Versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, wie knapp ich eben dem Tod entronnen war. Schon wieder.   Erst ein heftiger Ruck an meinen Oberarmen riss mich aus meinen Bemühungen einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Kopf schoss hoch und ich sah, dass Jaden direkt vor mir kniete. Seine Knie waren tief in den matschigen Untergrund gesunken, als er sich in meine Richtung gebeugt hatte. Wie Schraubzwingen umschlossen seine Hände meine Oberarme. „Was hast du dir bloß dabei gedacht?“ Seine Stimme klang leise und bedrohlich. Etwas wie … Wut funkelte in seinen Augen. Am liebsten wäre ich zurück gewichen, doch sein Griff hielt mich an Ort und Stelle. „Verdammt! Du kannst doch nicht einfach so abhauen! Um ein Haar hätten die Typen dich durchlöchert! Wie einen Schweizer Käse!“ Ich blickte ihn an. Sah die Wut, die in ihm brodelte, doch innerlich war ich leer. Ich spürte keine Traurigkeit, kein Verletztsein und auch keinen Drang, sich verteidigen zu müssen. Nur die unumstößliche Erkenntnis, dass er recht hatte. „Ich fass es nicht! Liegt dir eigentlich gar nichts an deinem Leben? Wieso habe ich dich denn damals gerettet? Du machst wirklich nur …!“ „Warum bist du hier?“ Er stoppte, als ich ihm ins Wort fiel. Ich war plötzlich so ruhig innerlich. Seltsam ruhig. „Was?“ Die Wut aus seinen Augen war beinahe verschwunden. Verdutzt hob sich eine seiner Augenbrauen. „Warum bist du überhaupt gekommen, wenn du mich so Leid bist? Warum hast du mich schon wieder gerettet und mich nicht einfach meinem Schicksal überlassen, wenn ich dir nur zur Last falle?“ Ich hielt seinem Blick stand. Im Grunde machte mir sein Starren überhaupt nichts aus. Ich war merkwürdig gelassen. Beinahe so, als hätte ich mit der Tatsache, dass ich innerhalb weniger Tage schon mehrfach an der Schwelle zum Tod stand, meinen Frieden gefunden. Warum war das so? „Laber doch keinen Müll.“ Er ließ sich ein Stück zurück sinken, ließ meine Oberarme aber nicht los. Ich spürte seine warme Haut selbst durch den Stoff meines Pullovers. „Du bist zwar eine Heulsuse, machst absolut nicht das, was du tun sollst, und schaffst es ständig, dich unnötig in Gefahr zu bringen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dich sterben sehen will. Also hör auf immer in Selbstmitleid zu versinken und mach endlich das Beste aus deiner Situation! Dank dir haben wir endlich die Möglichkeit, auf die wir schon so lange gewartet haben! Es gibt endlich die Chance diesen Typen heimzuzahlen, was sie getan haben!“ Der Blick seiner blauen Augen war so intensiv, dass sie im seichten Mondlicht beinahe leuchteten. Jeder kleine Wassertropfen in seinen kupferroten Haaren schimmerte wie die zahllosen Sterne am Nachthimmel. Und doch … „Ich bin nicht wie du. Ich kann das nicht.“ Ich schüttelte kaum merklich meinen Kopf. Ein leichtes Brennen kündete die nahenden Tränen an und ich hatte keine Kraft, um dagegen zu kämpfen. „Ich bin nicht so mutig wie du. Mir ist das alles zu viel. Ich habe Angst. Möchte einfach nur nach Hause zu meinen Eltern und meinen Freundinnen und all das hier vergessen. Ich will nicht kämpfen. Ich kann nicht …“ Die Ruhe hatte mich vollkommen erfüllt. Doch langsam dämmerte mir, dass diese Ruhe trügerisch war. Sie war bodenlos. Ich schlang meine zitternden Arme um meinen Oberkörper und krallte die Finger in den durchweichten Stoff meines Pullovers. Ich hatte das Gefühl, als ob ich mich nur so zusammenhalten konnte. Ich wollte nicht auseinander brechen. Das Zittern wurde stärker, die Tränen brannten heiß in meinen Augen. Die Welt um mich herum schien in Dunkelheit zu versinken.   „Hey, hör auf damit. Ist doch alles gut-“ „Nein, nichts ist gut!“, fuhr ich ihn an. Das Gefühl des Fallens mischte sich mit einer lodernden Wut; einer Wut auf die Welt und auf mich selbst. „Du hast absolut keine Ahnung! Ich mach alles immer nur kaputt! Ich bin an allem Schuld! Ich bin keine Heldin, wie die, die in den Filmen vorkommen! Nein. Noch nie habe ich irgendwas richtig gemacht! Ich habe immer nur so getan, als wäre ich stark. Als wäre das alles okay. Mein ganzes Leben war ich alleine. Meine Eltern waren manchmal nur ein paar Stunden am Wochenende Zuhause. Immer musste ich die Große, die Starke sein. Doch das war ich nie. Angst und Unsicherheit hatten mich immer im Griff. Man darf mir nicht vertrauen, nein. Nein! Es ist alles meine Schuld! Ich habe sogar meinen eigenen kleinen Bruder auf dem Gewissen!“ Mein hysterisches Schluchzen raubte mir den Atem. Wie Säure brannten die Tränen, die mein ganzes Gesicht bedeckten. Wie lange war es her, dass ich an ihn gedacht hatte? Wie lange war er nun schon weg? Und es war alles meine Schuld … „Amelina?“ Ich nahm seine leise Stimme kaum wahr. Die Dunkelheit hatte mich vollkommen verschluckt. „Nur wegen mir … Nur, weil ich nicht besser auf ihn aufgepasst habe, ist er … Ich kann nicht kämpfen! Ich kann einfach nicht …“ „Hör mir zu! Amelina, hör zu, verdammt!“ Er zischte mich an und schüttelte meinen Körper, sodass einige Gelenke knackend protestierten. Doch langsam wurde ich aus der Dunkelheit gezogen und mein Blick wieder klarer. „Du hast recht. Ich weiß nicht, was genau vorgefallen ist und ich habe auch nicht das Recht dir zu sagen, dass du keine Schuld an dem trägst, was dir passiert ist. Ich weiß nur eins: du musst auch nicht mehr kämpfen“, meinte er dann, in plötzlich in viel sanfterem Ton. Etwas, das so gar nicht zu ihm zu passen schien. Eine Hand fasste unter mein Kinn und brachte mich so dazu, aufzusehen. Ein leichtes Lächeln umspielte sein Gesicht. „Das verlangt niemand von dir. Überlasse das einfach mir. Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts passiert.“ Wie bitte?   „Linchen! Gott sei Dank bist du okay!“ Ich zuckte zusammen, als eine laute Stimme hinter mir ertönte und fuhr erschrocken herum. Gerade in dem Moment schälte sich eine Person aus dem Schatten eines Baumes und kam auf uns zu. Es dauerte einige Sekunden, ehe ich das haselnussbraune Haar, das im Licht des Mondes die Farbe von Milchkaffee angenommen hatte, wiedererkannte. „Adelio?“, keuchte ich beinahe unhörbar, total überrascht darüber, ihn hier zu sehen. Ehe ich richtig reagieren konnte, spürte ich bereits den nassen Stoff seiner Weste auf meinem Gesicht, als er mich in eine Umarmung zog. Ich konnte die Wärme seiner Haut durch seine Kleidung wahrnehmen, was meinen steifen Körper erschaudern ließ. Nur Sekunden später packte er meine Oberarme und schob mich ein Stück von sich weg. Seine braunen Augen musterten mich. „Du kannst doch nicht einfach so weglaufen! Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht! Du hättest dich verletzen oder verlaufen können! Zum Glück sind wir hier kilometerweit von der Zivilisation entfernt.“ Ich war noch immer zu überrascht, um ihm zu antworten und brachte nicht mehr, als ein dämliches Starren zustande.   „Soviel zu dem Thema, nicht wahr, Adelio?“ Der Griff an meinen Oberarmen verstärkte sich unangenehm, als sich der Körper des Braunhaarigen bei Jadens Worten anspannte. „Du hast ja wirklich toll auf sie aufgepasst! Wie gut, dass gerade du diesen Job übernommen hast.“ Auch, wenn mein Hirn noch ein wenig von der gerade erst abgeebbten Panik umnebelt war, fiel mir die Veränderung in der Stimme des Rothaarigen sofort auf. Ich wandte meinen Kopf in seine Richtung und bemerkte, dass er sich bereits vom nassen Boden erhoben und an einen Baum gelehnt hatte. Mit bloßen Händen versuchte er gerade die gröbsten Flecken von seiner Lederjacke zu entfernen. Seine Augen blitzten im Licht des Mondes. Auch Adelio richtete sich nun auf und bot mir seine Hand an, um mir aufzuhelfen. Vorsichtig nahm ich sie und zwang meine wackeligen Beine dazu, mein Körpergewicht zu tragen. Ein wenig nervös blickte ich zwischen beiden Jungs hin und her. „Reg dich nicht so auf. Wir haben sie doch gefunden. Sie ist nur ein bisschen durchgefroren. Hier draußen konnte ihr doch überhaupt nichts Schlimmes passieren.“ Ich zuckte zusammen, als die Momente, in denen ich dachte sterben zu müssen, wieder durch meine Gedanken spukten. Wenn Adelio erst erfahren würde, was eben passiert war, dann … „Ja, zum Glück betritt den Wald so weit draußen niemand.“ Ich stutzte. Was? Doch gerade, als ich etwas sagen wollte, trafen sich unsere Blicke und alles, was mir auf der Zunge lag, blieb mir im Hals stecken. Das leichte Kopfschütteln war kaum wahrzunehmen, wenn man nicht drauf geachtet hätte. Aber warum? „Hat das Prinzesschen einen kleinen Spaziergang bei Mondschein gemacht. Dann können wir nun alle glücklich ins Bett fallen. Und jetzt lasst uns gehen. Ich muss versuchen meine teure Lederjacke zu retten.“ Er warf einen weiteren, kurzen Blick auf mich und Adelio und verschwand gleich darauf im grünen Dickicht. Ich war verwirrt. Das machte doch keinen Sinn. Wieso erzählte er ihm nicht, was passiert war? Warum verschwieg er, dass er mir gerade das Leben gerettet hatte? Ich kapierte es einfach nicht. „Pah, wiedermal typisch. Er denkt echt nur an sich“, grummelte der Braunhaarige hinter mir. Erst, als ich seine Hand an meiner Schulter spürte, sah ich ihn an. „Aber der Spinner hat recht. Dir ist doch bestimmt kalt, nicht wahr? Und Hunger hast du garantiert auch. Immerhin wurde unser Frühstück etwas jäh unterbrochen. Die Spiegeleier dürften mittlerweile kalt sein.“ Ich hörte ihn lachen, ihn versuchen, die Stimmung zu heben. Doch ich konnte und wollte mich nicht darauf einlassen. Nicht jetzt. „Ja, wir sollten gehen.“ Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, zwängte ich mich an der Stelle zwischen zwei Ästen hindurch, an der Jaden vor wenigen Sekunden verschwunden war und ließ mich geräuschlos von der Dunkelheit verschlucken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)