Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 11: Rivalen ------------------- Ich roch seinen muffigen Atem. Wie eine Wolke aus alkoholischen Dämpfen hing er über mir und nahm mir die Luft zum Atmen. Sein schwerer Körper drückte unangenehm auf meinen Magen; meine Haut scheuerte über den Steinboden, als ich versuchte mich von ihm zu befreien. Doch seine Hände umschlossen meine Handgelenke wie Schraubzwingen und drückten sie erbarmungslos über meinem Kopf zusammen. Ich hatte keine Chance.   „Loslassen!“, verlangte ich heiser, doch der Mann auf mir bewegte sich keinen Millimeter. Seine fettigen, dunklen Haare hingen wie Spinnenbeine an seinem Kopf herunter und ich spürte, wie sie mein Gesicht streiften. Er kam immer näher … „Gib ihn mir!“ Es war kaum mehr als ein Röcheln, das seinem Mund entwich. Sofort schlug mir wieder sein schlechter Atem entgegen und ich kämpfte verzweifelt gegen den aufsteigenden Würgereflex. „Was geben? Ich weiß nicht, was sie von mir wollen! Ich habe nichts! Wirklich!“ Ich wusste keinen Ausweg mehr. Wollte schreien und konnte es doch nicht. Ich rang panisch nach Luft. Meine eiskalten Glieder versagten ihren Dienst. Konnten nicht mehr gegen ihn ankämpfen. Kraftlos sackte ich in mich zusammen. Und nun kamen sie. Die Tränen. Heiß brannten sie auf meinen Wangen und mein Schluchzen durchbrach die betäubende Stille. Ich hatte Angst. So furchtbare Angst. „Den Segensstein … Gib ihn mir! Er gehört mir!“   Noch ehe ich darauf reagieren konnte, verschwand der Druck plötzlich von meinem Körper. Instinktiv zwang ich meine tauben Muskeln, mich wegzubringen. Weg von ihm. Ich stieß mit dem Rücken gegen die Wand und beobachtete, wie eine zweite Schattengestalt den Typen hart am Kragen fasste und zu sich heran zog. Auch wenn ich nichts Genaueres erkennen konnte, war es sofort klar, dass der Neue deutlich jünger war, als der andere. „Kevin! Bist du noch ganz bei Trost? Lass gefälligst deine dreckigen Finger von dem Mädchen, oder ich werde persönlich dafür sorgen, dass du ab Morgen im Wald haust!“ „Er gehört mir … mir!“ Der Ton in seiner Stimme schwang schlagartig um. Aus dem schweren, dunklen Röcheln war nun ein hohes, verzweifeltes Winseln geworden. „Du weißt, dass das nicht stimmt! Dein Stein ist weg und du wirst ihn wahrscheinlich nie wieder sehen! Finde dich endlich damit ab und hör auf andere Leute zu belästigen. Und noch was …“ Plötzlich wurde die Stimme des Jüngeren so dunkel, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. „Wenn du ihr noch einmal zu nahe kommst, dann garantiere ich für nichts mehr, hast du verstanden?“ Ein hohes, unmenschliches Quietschen folgte und im nächsten Moment trennten sich die beiden Männer voneinander. „Gut.“   Unwillkürlich zuckte ich zurück, als der Fremde sich mir näherte. Einen Moment später streckte er mir seine Hand entgegen. „Komm. Ich bring dich in dein Zimmer.“ Mit einem Mal vergaß ich meine Angst komplett, als er mit mir sprach. Anstatt des dunklen, strengen Tons, klang er nun plötzlich freundlich und hilfsbereit. Seine ganze Stimmlage hatte sich innerhalb von Sekunden völlig verändert. Bevor ich es selbst registrierte, hatte ich bereits seine Hand genommen und stand wieder auf meinen eigenen, wackeligen Beinen. Ich spürte, wie er einen Arm um meine Schultern legte, um mich so zu stützten und mich den restlichen Weg zu begleiten. Den anderen Mann ließen wir einfach zurück. Nur das hohe Wimmern, dass durch den Gang hallte, erinnerte noch an seine Anwesenheit.   Wir bogen an der Badezimmertür links ab und mein ganzer Körper entspannte sich, als die Tür zu meinem Zimmer – meinem sicheren Ort – endlich in Sichtweite kam. Erst jetzt wagte ich einen kurzen Blick auf meinen Retter. Er war wohl ein paar Jahre älter (Mitte 20?) und ein gutes Stück größer als ich. Seine längeren, braunen Haare standen in sanften Wellen von seinem Kopf ab und schienen dieselbe Farbe wie seine Augen zu haben. Seine gut gebräunte Haut war unter einem modischen Oberteil bestehend aus einem langärmeligen Shirt, einem schwarzen, darüber gezogenen T-Shirt mitsamt einer grau/lilafarbenen Weste und einer verwaschenen Jeans versteckt. Die metallische Kette um seinen Hals gab mit jedem seiner Schritte ein beinahe lautloses Klirren von sich. Ich musste zugeben, er war wirklich ziemlich attraktiv …   Ich hatte wohl zu offensichtlich zu ihm herüber gesehen, denn als er seinen Kopf in meine Richtung wandte, hatte er ein schiefes Lächeln aufgesetzt. „Das“, lächelte er und zwinkerte mir zu, „heben wir uns für später auf, ja? Holen wir dich erst mal aus den nassen Klamotten raus. Auch wenn dir dieses Kleid wahnsinnig gut steht!“ Plötzlich war die Kälte aus meinem Körper vertrieben. Mein Gesicht glühte vor Scham und ich wandte den Blick schnell zur anderen Seite. Zu meiner Erleichterung standen wir bereits direkt vor meiner Zimmertür. Schnell zog ich das quietschende Metall auf und stolperte in die Dunkelheit des Raumes. Das Licht flackerte langsam auf, als ich den Schalter betätigte und der bloße Anblick des alten Bettes und der noch älteren Einrichtung ließ mein wild schlagendes Herz langsam zur Ruhe kommen. Erst, als ich seine Stimme hinter mir hörte, wandte ich mich wieder um. „Deine Tasche“, meinte er und ich sah, wie er sie neben dem Eingang gegen die Wand lehnte. Die musste ich vorhin wohl verloren haben. „Zieh dich erst mal um. Ich warte solange vor der Tür. Du brauchst dir also keine Sorgen um Spanner zu machen.“ Bei dem letzten Satz grinste er noch breiter und trieb mir erneut die Schamesröte ins Gesicht. Ich wandte mich beschämt ab und hörte das Quietschen des Metalls. Ganz schließen tat er die Tür aber nicht. Der Spalt war jedoch so klein, dass ich mir keine großen Sorgen machte. Ich hatte dem Jungen dazu noch eine ganze Menge zu verdanken. Also widmete ich mich dem Stapel Kleidung, in dem ich bereits die gestrige Nacht verbracht hatte.   Nachdem wir einige Momente geschwiegen hatten, hielt ich die Stille nicht mehr aus. „Danke“, meinte ich leise. „Für eben.“ „Kein Problem. Ich konnte ja nicht einfach zugucken. War jedenfalls purer Zufall, dass ich mich hier hinten herumtreibe. Normalerweise bin ich eher im anderen Teil dieses Labyrinths unterwegs. Aber ich bin froh, dass ich diesmal diesen spontanen Umweg gemacht habe.“ Wieder fingen meine Wangen an zu glühen, als ich das Lächeln aus seinem letzten Satz heraushörte. Mein Herz wusste gar nicht, ob es viel zu schnell, viel zu langsam oder vielleicht auch gar nicht schlagen sollte. Mit einem Ruck öffnete ich den Kleiderschrank und suchte nach einem leeren Kleiderbügel. „Was … Wollte dieser Kerl eigentlich von mir?“ Ein leises Quietschen signalisierte mir, dass der Brünette wohl von außen gegen die Tür gekommen war. „Kevin. Na ja, wie soll ich sagen. Ihm ist mal etwas Schlimmes passiert und er kommt einfach nicht darüber hinweg. Er war vor ungefähr fünf Jahren in derselben Situation wie du – wie wir alle hier – und er ist nur knapp mit dem Leben davongekommen. Sein Segensstein allerdings … Der Doc meinte er sei dadurch … verrückt und depressiv geworden.“ Ich hielt in meiner Bewegung inne. Das nasse Kleid hing nur zur Hälfte auf seinem Kleiderbügel, doch der Kloß in meinem Hals ließ meinen Körper gefrieren. Plötzlich hatte ich die geröchelten Worte des Typs wieder im Kopf. „Gib ihn mir! Er gehört mir!“ Auf einmal sah ich den ganzen Vorfall in einem anderen Licht, doch rechtfertigte das wirklich alles? „Verstehe …“, murmelte ich so leise, dass er es vor der Tür wahrscheinlich gar nicht hören konnte.   „Bist du fertig? Kann ich reinkommen?“ Ich zuckte zusammen und merkte noch, wie mir das Kleid aus den Händen rutschte. Wie ein nasser Sack fiel es zu Boden und färbte den Betonboden dunkel. „Äh, ja. Natürlich“, meinte ich beschämt, bückte mich schnell danach und hing das Kleid erneut auf den Haken, damit ich es zum Trocknen an dem Spind drapieren konnte. Die Tür gab ihr übliches, nerviges Geräusch von sich und ich hörte Schritte an den Wänden widerhallen. Ich wandte mich in seine Richtung. Er durchquerte den Raum und legte die Handtasche, die er wohl eben wieder aufgehoben haben musste, auf den kleinen Schrank neben dem Bett, auf dessen Kante er sich dann setzte. Mit nervösen Schritten ging ich zu ihm hinüber und setze mich neben ihn an das Fußende. Steif, wie ein Brett. Augen stur auf meine verknoteten Finger gerichtet. Was war ich doch bloß für ein Feigling!   „Da unser Kennenlernen ja ein wenig … in die Hose gegangen ist, sollten wir das lieber noch einmal richtig machen.“ Ich blickte auf. „Ich heiße Adelio Di Lauro. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Ich nahm kurz die Hand, die er mir zum Gruß reichte, und erwiderte das kleine Lächeln auf seinem Gesicht. „Amelina Hikari. Aber meine Freunde nennen mich nur Lina. Freut mich auch.“ „Amelina. So ein schöner Name. Aber wenn du das so möchtest, nenn ich dich auch gerne Linchen.“ Ich stutze. Linchen? Das hat meine Mutter früher oft zu mir gesagt. Und eigentlich war ich froh diesen Spitznamen los zu sein. Aber anhand des vergnügten Funkelns in seinen braunen Augen war mir schnell klar, worauf sein Kommentar hinaus wollte. „Danke, ich verzichte. Für dich dann noch lieber Amelina.“ Sofort fing mein Gegenüber lauthals an zu lachen und erstaunlicherweise ließ ich mich davon anstecken. Es tat gut endlich einmal wieder richtig lachen zu können. Beinahe so, als wäre diese ganze Sache hier nicht real und nichts weiter als ein Albtraum. „Oh, oh. Das Kätzchen weiß sich zu verteidigen.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Sowas mag ich besonders.“ Und da war es wieder. Das Brennen auf meinen Wangen. „Zu schade, dass sie dich diesem inkompetenten und ungehobelten Trottel anvertraut haben. Wir beide hätten bestimmt eine Menge Spaß zusammen.“ Bitte, was?   „Ich hoffe doch, dass mit der Bemerkung nicht ich gemeint war.“ Ich wandte mich zur Tür. Adelio seufzte. „Ah, wenn man vom Teufel spricht.“ Jaden stand lässig gegen den Türrahmen gelehnt und sah zu uns hinüber. Sein Blick sprach Bände. „Was machst du eigentlich hier, hm? Ich habe gehört, die Pasta sei schon längst fertig und sie bräuchten noch wen, um die Soße abzuschmecken. Ein Wunder, dass du noch nicht da bist.“ Der Brünette stand mit solch einer Wucht auf, dass der ganze Schrank, inklusive Bettgestell, vibrierte. Die Stimmung schien schlagartig zu kippen. Die Luft drückte plötzlich schwer auf mich. Besorgt blickte ich zwischen den beiden Männern hin und her.  „Du immer mit deinen Vorurteilen. Immerhin bin ich nur zum Teil Italiener. Was aber nicht heißt, dass ich nicht ebenso temperamentvoll sein kann …“ Adelio stand nun dicht vor dem Rothaarigen, der sich direkt vor der Tür aufgebaut hatte. Dass Jaden einen guten Kopf kleiner war, als sein Gegenüber, schien ihn gar nicht weiter zu stören. „Von diesem beeindruckenden Schauspiel durfte ich glücklicherweise bereits Zeuge sein.“ Die Luft zwischen ihnen schien bereits zu Knistern und ich wartete angespannt auf das erste Anzeichen einer beginnenden Schlägerei. „Du solltest mal ganz still sein, mein Freund. Du tust immer so scheinheilig und willst allen weiß machen, dass dir das Leben anderer wirklich etwas bedeutet. Aber ich weiß, was für ein arroganter Mistkerl du doch bist. Ein Heuchler. Wenn ich nicht zufällig dagewesen und deinen Job gemacht hätte, wäre Lina wahrscheinlich verletzt worden!“ Atmete ich überhaupt noch? Ich wusste es nicht und es war mir egal. Ich sah, wie Jadens Lächeln urplötzlich verschwand. „Wovon redest du?“ „Du weißt echt gar nichts. Du warst viel zu beschäftigt damit dich in deinem Erfolg zu suhlen und deinen Rachefeldzug gegen die schwarzen Kerle fortzusetzen, dass du Lina alleine und völlig entkräftet losgeschickt hast! Und weißt du was? Kevin ist hier fröhlich rumspaziert und wollte die Gelegenheit gleich mal ausnutzen! Hast du eine Ahnung, was er mit ihr hätte machen können? Der Kerl ist verdammt nochmal gefährlich, wenn er wieder auf einem seiner Trips ist! Annett kann dir das sicherlich bestätigen!“ Mein Körper verkrampfte. Wer war Annett? Und was hat dieser Kevin denn Schreckliches mit ihr angestellt? Auf einmal war mir richtig übel. „Kevin? Nein, der ist doch …“ „Mir ist absolut egal, was du denkst!“, unterbrach Adelio ihn lautstark. „Es ist so gewesen und es hätte noch viel schlimmer ausgehen können! Soll ich dir was sagen? Verschwinde. Verschwinde einfach von hier. Ich werde von heute an auf Lina aufpassen. Dann kannst du dich endlich um Wichtigeres kümmern. Denn mir wäre es nicht egal, wenn ihr etwas passiert!“   Die Luft war zum Schneiden dick. Und eisig. Keiner von den beiden rührte sich auch nur einen Millimeter. Ihre kalten Augen starr auf den anderen gerichtet. Mittlerweile wusste ich, dass ich die Luft angehalten hatte, denn meine Lunge brannte bereits, doch ich brachte es kaum über mich zu atmen. Ich hatte das Gefühl, als klänge selbst das unerträglich laut.   „So, da bin ich. Entschuldige, dass ich …“ Aurelia stockte, als sie durch die immer noch offene Tür trat und die Situation bemerkte. Ein Hauch von Verwirrung und Sorge spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder und als sie mich fragend ansah, konnte ich nicht anders, als kaum merklich den Kopf zu schütteln. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, als sie ihren Blick wieder auf die Streithähne heftete. Ich weiß nicht, wie lange es noch gedauert hatte, bis Jaden plötzlich ohne ein weiteres Wort kehrt machte und blitzschnell das Zimmer verließ. „Jaden? Hey!“, rief Aurelia ihm noch hinterher, doch ohne Erfolg. Irritiert wandte sie sich an Adelio. „Was ist denn passiert? Habt ihr euch wieder gestritten?“ „Vergiss es, Blondie“, wimmelte er sie ab. Sie bedachte ihn mit einem wütenden Blick. „Er hat nur bekommen, was er verdient hat.“ Ohne die giftigen Worte des Mädchens vor ihm weiter zu beachten, kam er wieder zu mir herüber.   Ein riesiger Stein war von meinem Herzen gefallen, als der Streit ohne Prügelei beendet wurde. Ich kannte zwar beide Jungs erst ganz kurz und einer davon war auch noch ein arroganter Kotzbrocken, aber trotzdem wollte ich nicht, dass einer von ihnen verletzt wird. Nicht wegen mir. „Lina?“ Ich schreckte auf, als ich bemerkte, wie dicht Adelio gerade vor mir saß. Er hatte sich vor das Bett gehockt und sah nun zu mir hoch. „Du siehst müde aus. Du solltest dich wirklich hinlegen.“ Müde? Erst, als er es erwähnt hatte, bemerkte ich diese schwere Decke aus Erschöpfung, die schon seit einiger Zeit auf mir liegen musste. Plötzlich drehte sich alles. „Hey, alles okay mit dir?“ Ich fasste mir an die Stirn und nickte stumm. Meine kühlen Finger fühlten sich angenehm auf meiner überhitzten Stirn an. „Ich bin wohl … wirklich müde.“ „Dann ruh dich erst mal in Ruhe aus.“ Sein Lächeln war so strahlend und aufrichtig, dass sich mir ebenfalls eins auf die Lippen schlich. „Ich habe dir eine Kleinigkeit zu essen besorgt.“ Im selben Moment erschien eine kleine Plastikdose vor meinen Augen, die mit sehr lecker aussehenden Sandwiches gefüllt war. „Danke“, sagte ich leise und nahm Aurelia die Box ab. Augenblicklich meldete sich mein leerer Magen lautstark zu Wort. „Ja, das ist wirklich eine gute Idee“, hörte ich Adelio lachen und lief ein wenig rot an. „Dann mach es dir bequem.“ Schwungvoll stand er auf. „Ich hole dich morgen früh zum Frühstück ab. Es soll ja nicht heißen, dass wir unsere Gäste hungern lassen.“ Ich nickte. Die Aussicht auf ein richtiges Frühstück war wirklich verlockend. „Blondie und ich verziehen uns dann mal.“ Unter lautem Protest schob er die Blonde, die gegen seine Kraft absolut nichts ausrichten konnte, aus der Tür, bevor er noch einen letzten Blick zurück warf. Ein letzter Blick, ein letztes Lächeln, ehe das Metall erneut ins Schloss fiel und ich alleine zurückblieb.   Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt. Kaum ein richtiger Gedanke war noch möglich. Immer wieder schweiften sie in schier unendliche Entfernung ab. Das Treffen am Morgen und der neugefasste Plan. Meine Wohnung, die jetzt ein Tatort war. Der Versuch, meinen Segensstein zu stehlen. Dort, wo ich eigentlich sicher sein sollte. Im Nachhinein schien das alles viel zu viel zu sein, um an einem einzigen Tag stattgefunden zu haben. Viel zu abstrus. Doch ich hatte alles erlebt. Konnte jede Sekunde des Tages abrufen. Nochmal durchleben.   Ich zwang mich, nicht daran zu denken. Schnell machte ich mich über die belegten Brote her, um meinen Kopf abzulenken, und konnte es kaum erwarten, mit dem Schlüssel neben der Tür das Schloss zu verriegeln, um endlich in Sicherheit zu sein! Und dann wollte ich nur noch schlafen. Nur noch meinen eigenen Gedanken entfliehen.   +++++   Ich war schon eine gute Stunde wach und saß nachdenklich auf der Bettkante. Mehr als meine Schlafkleidung gegen eine Jeans mit Pullover zu tauschen und mir vorsorglich Schuhe anzuziehen, hatte ich bisher nicht geschafft. Darum war ich auch etwas überrascht, als es plötzlich an der Tür klopfte. Ich legte das Buch meiner Eltern, welches bis eben zusammengeklappt auf meinem Schoss gelegen hatte, neben mich und nach einem vorsichtigen „Herein“ meinerseits, tauchten Adelios braune Haare im Türspalt auf. „Morgen, Linchen! Ich hoffe, du hast gut geschlafen!“ Einen kurzen Moment lang überlegte ich ihm noch einmal zu sagen, dass er mich nicht so nennen sollte, entschied mich dann aber doch dagegen und es einfach zu ignorieren. „Guten Morgen. Danke, das habe ich.“ Ich hatte zwar nicht lange geschlafen, dafür aber wirklich gut. Ich fühlte mich tatsächlich ziemlich ausgeruht. „Freut mich zu hören“, lächelte er. Ob aus aufrichtiger Anteilnahme oder über die Tatsache, dass ich ihn mit dem kindischen Spitznamen davon kommen ließ, wusste ich nicht. Aber ich war in diesem Moment mit beidem einverstanden. „Jetzt gibt’s erst einmal etwas Richtiges zum Essen! Zumindest, wenn wir uns ein bisschen beeilen. Sonst kann es leider passieren, dass ich auf halbem Weg verhungere!“ Lächelnd nahm ich seinen gespielt gequälten Gesichtsausdruck wahr und trödelte nicht länger. Ich verließ das Zimmer und folgte ihm durch die zahllosen Gänge dieser Anlage.   Doch etwas schien heute anders zu sein, als die Tage zuvor. Es herrschte immer noch dieselbe Dunkelheit, die nur durch wenige alte Glühbirnen oder dort, wo es keine Stromkabel mehr gab, mit Fackeln erhellt wurde. Aber gleich, als ich mein Zimmer verlassen hatte, war mir dieser muffige Geruch aufgefallen. Es roch nach nasser Erde. Ziemlich penetrant. Ich rümpfte die Nase. „Es hat die ganze Nacht geregnet“, begann Adelio plötzlich und ich bemerkte, dass er sich zu mir umgedreht hatte. „Das Wasser ist in den Boden eingesickert und das Grundwasser dadurch angestiegen. Und da riecht es hier leider immer wie Komposthaufen ganz unten.“ Mein leises Kichern hallte von den Erdwänden wieder, deren Stabilität nur durch ein paar morsch aussehende Holzbalken gesichert wurde. Seinen Vergleich war ziemlich treffend. „Und warum seid ihr dann hier unten? Gab es keinen anderen Ort, an den ihr hättet gehen können? Einen … ähm … etwas schöneren Ort?“ Die Frage spukte mir schon einige Zeit in meinem Kopf herum. Ich sah, wie er mit den Schultern zuckte und den Blick wieder nach vorne richtete. Gerade noch rechtzeitig, um nicht über die seitlich abgestellte Holzkiste zu fallen. „Dies war einfach der sicherste Ort, den wir finden konnten. Es ist nicht leicht, sich vor einer ganzen Horde blutrünstiger, heimtückischer Mistkerle zu verstecken. Und in unterirdische Orte, die angeblich lebensgefährlich kontaminiert sind, verirrt sich normalerweise eben niemand. Und dazu kommt noch die Nähe zu Summer Hills. Das ist wirklich sehr praktisch für uns in Bezug auf Vorratsbeschaffung. So fällt es uns leichter unsere Einkaufstrupps über die Stadt zu verteilen, ohne, dass wir uns verraten würden. Mir wäre ein Strandhaus am Meer aber auch lieber gewesen, glaub mir.“ Lebensgefährlich kontaminiert. Diese Tatsache jagte mir noch immer einen eisigen Schauer durch den Körper. Doch die Menschen hätten sich hier nicht über Jahre hinweg ein Leben aufgebaut, wenn die Verseuchung wirklich nicht nur ein Gerücht gewesen wäre. „Wie lange … bist du schon hier?“ Ich musste gestehen, ein wenig neugierig war ich wirklich. Außerdem drängte es die Nervosität, die beim Durchlaufen dieser kalten, dunklen Gänge unwillkürlich in mir hochkroch, ein wenig in den Hintergrund. Solange ich ihn reden hören konnte, fühlte ich mich nicht allein. „Ach weißt du. Wenn man schon eine Weile in dieser Sache drinsteckt, vergisst man das irgendwie. Aber wenn ich so darüber nachdenke … Es dürften jetzt beinahe drei Jahre sein.“ Seine monotone Stimme verwunderte mich. Es klang eher, als würden wir Small-Talk über das Wetter machen, anstatt über einen Abschnitt voller Angst und Tod zu sprechen. Ich schluckte. „Drei Jahre? Aber, vermissen dich deine Eltern und Freunde nicht? Wissen sie, wo du bist?“ Ich sah, wie sich seine Haare rhythmisch mit jedem Kopfschütteln mitbewegten. „Nein. Meine Freunde wissen nichts von dem, was mir passiert ist. Ich war plötzlich einfach weg. Und meine Eltern dürfte das nicht besonders interessiert haben. Wir hatten schon einige Jahre vor meinem Verschwinden keinen Kontakt mehr. Die haben mich wahrscheinlich längst als tot abgestempelt und irgendwo im Wald lieblos ein Kreuz in die Erde rammen lassen. Da, wo es bloß nichts kostet. Das würde zu ihnen passen.“   Fassungslos blickte ich auf seinen breiten Rücken. Wie ein Eiszapfen bohrte sich diese Tatsache in mein Gehirn und eine Welle von Mitleid für den jungen Mann vor mir ließ mein Herz verkrampfen. Wie kann das Leben eines Kindes seinen Eltern bloß egal sein? „Das … tut mir leid“, presste ich leise mit meinen unkooperativen Stimmbändern hinaus. „Ach, mach dir nichts draus!“ Er sah über seine Schulter auf mich zurück und grinste mich an. „Mir ist das ganz recht so. Ich komme besser alleine klar. Aber mach dir keine Sorgen. Du kannst bestimmt bald wieder nach Hause. Da bin ich mir sicher!“   Selbst, wenn ich zu einer Antwort fähig gewesen wäre, hätte ich darauf nichts erwidern können, da wir plötzlich von Menschen umringt waren. Der Seitengang, den wir gerade noch entlanggegangen waren und der kaum Platz bot, damit zwei Menschen nebeneinander laufen konnten, mündete in einen deutlich Größeren, beinahe Riesigen. Dies musste eine der Hauptverkehrsstraßen für die unterirdischen Minenfahrzeuge gewesen sein. Die, über die es immer Dokumentationen im Fernsehen gab. Und ich hätte schwören können, dass zwei von diesen riesigen Kipplastern ohne Probleme nebeneinander hätten fahren können. Ein Stoß frischer Luft zog plötzlich an meinen Haaren und dem blauen Kapuzenpullover und ließ mich frösteln. Mehrere Menschen zogen an uns vorbei und folgten der ansteigenden Straße, an deren Ende es ungewöhnlich hell war. Ging es dort etwa nach draußen? Der angenehme Duft von Regen lag in der Luft und ich atmete tief ein. Vergessen war die muffige, kalte Enge der Minenschächte und die vorherrschende Dunkelheit. Es war beinahe so, als würde sich etwas Schweres von meinen Schultern heben. Ein schönes Gefühl.   Im Vorbeigehen erhaschte ich kurze Blicke auf die Gesichter der Anwesenden. Das erste, was mir auffiel, war die große Vielfalt an Menschen. Ich entdeckte neben älteren Herrschaften, jungen Frauen und mittelalten Männern auch zwei Kleinkinder. Ein jüngeres Mädchen – sie konnte kaum älter als 18 Jahre alt gewesen sein – trug sogar einen kleinen Säugling nahe ihrem Herzen. Er war wahrscheinlich erst wenige Wochen alt.   Adelio steuerte geradewegs auf eine größere Tür auf der rechten Seite zu und ich bemerkte bereits den köstlichen Duft von Backwaren. Die zwei aus ebenfalls rostigem Metall bestehenden Flügel standen gerade weit genug offen, damit ein Mensch locker hindurch passte. Andernfalls hätte sich auch ein ganzer Bus hindurch quetschen können. Ich ließ einem älteren Ehepaar, welches gerade aus einem anderen Seitengang aufgetaucht war, den Vortritt und schob mich dann selbst durch die Tür. Zuerst fühlte ich mich wie erschlagen. Vor mir lag ein beinahe kirchengroßer Raum, dessen Wände mit massivem Beton verkleidet waren, der nur von einer oberlichtartigen Fensterreihe aufgebrochen wurde. Tische und Bänke reihten sich dicht an dicht in der hinteren, rechten Ecke und boten so Platz für mindestens 50 Leute. Elektronische Lampen und Kerzen zierten die Tische, die nur zu einem kleinen Teil besetzt waren. Direkt daneben war eine provisorische Küchenzeile aufgebaut, aus der ein köstlicher Duft den Raum erfüllte. Der restliche Platz wurde scheinbar für Gruppenaktivitäten genutzt. Ich konnte in der einen Ecke eine alte Couchgarnitur erkennen und gleich neben der Tür war eine kleine Bibliothek aufgebaut, in der alte, zerschlissene Sessel zum Lesen einluden. Trotz der alten Möbel – die sie wahrscheinlich vom Sperrmüll geholt hatten – war mit zahlreichen Dekorationen wie Bildern, Tischdecken und Teppichen eine erstaunlich angenehme Atmosphäre gezaubert worden. Kaum zu glauben, dass dies einmal ein Unterstand für Mienenfahrzeuge gewesen sein musste.   „Und? Was sagst du? Ist doch gar nicht so übel, oder?“ Ich bemerkte erst, dass Adelio neben mich getreten war, als seine Stimme direkt von dort ertönte. Ein beinahe stolzes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Ich habe damals mitgeholfen die ganzen Möbel aufzutreiben und hier heranzukarren. Das war eine ziemliche Plackerei, das sag ich dir.“ Ich nickte ehrfürchtig. „Unglaublich, was ihr hier geschaffen habt.“ Es gab nicht viel, was ich dazu sagen konnte, aber scheinbar war es genau das Richtige. „Haha, danke, danke“, lachte der Braunhaarige und wirkte wegen des Kompliments sichtlich verlegen. Ich konnte nicht anders, als zu lächeln. Es war richtig niedlich, wie peinlich ihm das war …   „Amelina?“ Eine Stimme hinter mir ließ mich herum wirbeln. Sofort fiel mein Blick auf ihn und mein Herzschlag setzte kurz aus. Er war … wieder gesund? „Colin. Wie schön dich wiederzusehen! Bist du wieder fit?“ Adelio schien der Anblick des Wissenschaftlers nicht so sehr zu erschrecken, wie mich. Vielleicht lag das daran, dass er nicht mit ansehen musste, wie er vor seinen Augen blutend und bewusstlos zusammenbrach … „Haha, ja. Alles wieder okay. Ich hatte mich an dem Tag zu sehr verausgabt. Meine Schusswunde war wohl noch nicht so gut verheilt gewesen, wie ich gedacht hatte. Entschuldige Amelina, dass ich dir so einen Schrecken eingejagt habe.“ Als er mich direkt ansprach, zuckte ich ein wenig zusammen, doch ich versuchte den Schreck aus meinen Gliedern zu vertreiben. „Ach was … Hauptsache, es geht dir wieder besser“, meinte ich leise und tatsächlich schien eine ungeheure Last von meinem Herzen zu fallen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass mich das so mitgenommen hatte. „Ich danke dir. Und ich verspreche, dass das nicht wieder passiert. Schon gar nicht in deiner Gegenwart.“ Er hatte ein gewisses Funkeln in den Augen, was mich endgültig davon überzeugte, dass er wirklich wieder gesund war und mir das nicht vorspielte. Erleichtert lächelte ich zurück. „Dafür wäre ich wirklich sehr dankbar.“   Colin setzte gerade zu einer Antwort an, als ein schriller Schrei die Luft zerriss und sein Lächeln sofort verblasste. Alle Anwesenden wandten sich ruckartig der Tür zu, genau in dem Moment, als ein Mädchen mit kurzen, dunkelblonden Haaren und dunklem Teint durch die Tür fegte. Mir wurde sofort übel, als ich ihr von Schmerz gezeichnetes und völlig verweintes Gesicht sah. Obwohl sie erst Anfang 30 sein konnte, wirkte sie um Jahre älter. Ihre Haare waren zerzaust, so, als hätte sie unkontrolliert mit ihren Händen darin herumgewühlt. Ihre Augen waren vom Weinen und von Kummer gezeichnet. Ihr Körper schien nicht zu wissen, ob er stehen oder auf der Stelle zusammenbrechen sollte. Doch, als sie mich entdeckte, wandelte sich die Trauer augenblicklich in blanken Hass. Wie eine Furie stürmte sie auf mich zu. Ich spürte, wie mir die Luft wegblieb, als sie mich am Kragen meines Pullovers packte. „Du! Du! Du bist schuld! Nur du! Wegen dir ist er tot! Tot!“ Ich drohte zu ersticken. Aber nicht, weil mich die junge Frau am Hals würgte, sondern weil mein Körper sich weigerte Luft zu holen. Ich wusste nicht, was sie von mir wollte, doch allein dieses Wort, dieses eine Wort, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. „Emily! Was tust du?“ So schnell wie er gekommen war, so schnell verschwand der Druck auch wieder von meinem Hals. Nach Luft schnappend taumelte ich einige Schritte zurück, doch meine Sicht verschwamm und Angst schnürte noch immer meine Kehle zu. Wie von Sinnen kämpfte die Frau gegen Adelios Griff an. Seine Hände umklammerten ihre und nahmen ihr so die Bewegungsfreiheit. „Sie ist schuld! Nur weil Patrik so großzügig war ihr zu helfen ist er nun tot! Erschossen! Nur weil sie hinter ihr her waren! Wieso? Wieso musste das passieren? Warum er und nicht sie?“   Plötzlich klang alles um mich herum seltsam dumpf. Alles brannte sich mit erschreckender Deutlichkeit in meine Gedanken. Aurelia hatte mich gestern alleine losgeschickt, weil irgendwas schiefgelaufen war. Das hatte doch die Person im Gespräch über das Funkgerät gesagt. War es das gewesen? Hatte einer dieser Männer, die in meiner Wohnung nach Spuren gesucht haben, den gestrigen Tag nicht überlebt? War wirklich jemand meinetwegen gestorben? „Emily! Das mit Patrik tut mir leid. Ich weiß, dass er dein Seelenpartner war, aber sein Tod war nicht Amelinas Schuld! Er hatte sich freiwillig für die Mission gemeldet, weil er endlich diesem unsinnigen Töten ein Ende setzen wollte! Er hat an diese Chance geglaubt! Schon allein, damit er dich beschützen konnte! Er wusste, worauf er sich einließ. Er kannte das Risiko …“ Mit jedem von Adelios Worten wurde mir elender zumute. Mit jedem Wort schien ein Stück mehr von mir zu sterben. Das konnte einfach nicht wahr sein! „Nein! Nein … Nein, das darf nicht …! Patrik … Er kann doch nicht …“ Ihr Schluchzen erfüllte die Luft. Ich wollte weinen. Mit ihr trauern. Ihr Trost spenden. Doch ich konnte nicht. Da war nichts mehr in mir. Auch keine Traurigkeit. Ich war leer. Nur eine Hülle. Wer war ich, dass ich mir das Recht nahm über Leben und Tod zu bestimmen? War es diese Aktion Wert gewesen, ein Menschenleben dafür zu riskieren? Wie viel durfte das Erreichen eines Ziels kosten? Was war es das wirklich Wert?   Ich musste hier raus. Ich drohte zu ersticken. Alles in mir verkrampfte. Ich hielt das nicht mehr aus! Dass jemand meinen Namen rief, nahm ich kaum wahr. Ich wusste nur, dass meine Füße mich immer weiter trugen. Weiter weg von diesem Albtraum. Und es war mir völlig egal, wohin … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)