Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 5: Zufall? ------------------ Manchmal begrüßte ich es und manchmal hasste ich es auch: dieses Gefühl, als würde das Gehirn nur aus einer Mischung von unnützem Wackelpudding und luftiger Zuckerwatte bestehen. Irgendwie geht es dann nicht mehr vor und nicht zurück. Natürlich hatte es auch seine guten Seiten. Blöde Dinge, über die man partout nicht nachdenken wollte, störten einen auch nicht. Es war, als würde es sie gar nicht geben. Keine Sorgen, keine Probleme. Schön. Aber leider funktionierten auch normale Dinge nicht mehr. Wenn plötzlich das Shampoo beinahe als Zahnpasta fungierte und statt des Löffels eine Gabel für die Cornflakes herhalten musste, wurde es langsam Zeit sich Gedanken zu machen. Von den vier Nachmittagsschulstunden wusste ich nicht mehr viel und auch der Abend war spurlos an mir vorübergegangen. Wahrscheinlich hätte ich das Brötchen doch nicht essen sollen …   „Was ist los? Geht es dir nicht gut?“ Ich schreckte auf und es dauerte einige Sekunden, ehe ich wieder wusste, wo ich eigentlich genau war. Bunte Bilder zierten die weißen Wände und Plastiktische mitsamt Stühlen füllten den Großteil des halboffenen Cafés. Lautes Stimmengewirr umgab uns und dröhnte schrill in meinen Ohren. „Es ist alles in Ordnung, Süße. Mach dir bitte keine Gedanken. Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht.“ Etwas erleichtert stellte ich fest, dass diese Fragen nicht an mich gerichtet waren, sondern Noel galten, der heute wirklich ungewöhnlich ruhig war. Sonst war er immer die Stimmungskanone und derjenige, der alle paar Minuten einen Witz hervorzauberte. „Über was hast du denn nachgedacht? Vielleicht kann ich dir helfen?“ Die Sorge, die in Marys Stimme mitschwang, ließ in uns allen das Unbehagen wachsen. Sie klang immer so leidend, wenn es um das Wohlergehen ihrer Freunde ging. Fast so, als würde ihr allein der Gedanke, dass etwas nicht stimmte, tatsächlich unheimliche Schmerzen bereiten. Ganz vorne auf der Liste stand natürlich ihr Freund. Der, den sie mehr als alles liebte. „Ich glaube nicht, dass du mir helfen kannst, Kleines. Ist nur wieder so eine blöde Familienangelegenheit.“ Der Blonde zuckte mit den Schultern, doch seine gewollt lässige Art überzeugte heute niemanden. „Hast du dich wieder mit deinen Eltern gestritten?“, kam Tala ihrer Freundin zuvor und Noel seufzte leise. „Ja, so könnte man es sagen.“ „Wegen deiner Schwester?“, riet ich und sah ihn mitleidig an. Das übliche Thema. „Noel?“, mischte sich nun auch Damian ein, worauf sich dieser geschlagen gab. „Ist ja gut. Ihr könnt echt die Stimmung vermiesen mit euren traurigen Visagen.“ Er versuchte die Stimmung zu lockern, was aber eher schlecht als recht funktionierte. „Ja, Megan ist gerade für ein paar Tage zu Besuch. Sie ist gestern gekommen und wird schon morgen Abend wieder abreisen. Sie war angeblich wegen einiger geschäftlicher Dinge in der Nähe und wollte ‚Nur mal vorbeischauen’.“ Anhand seines Tonfalls war definitiv ersichtlich, was er von der Idee seiner Schwester hielt.   Megan. Ich hatte sie schon einmal auf Noels 20stem Geburtstag getroffen. Das war eine Begegnung, die ich nie wieder vergessen würde. Sie war eine ganz taffe Frau. Obwohl sie erst 28 Jahre alt war, hatte sie eine Ausstrahlung wie eine Mittvierzigerin. Und damit will ich nicht sagen, dass sie alt aussah. Nein, ganz im Gegenteil. Wie ihr Bruder hatte sie strohblonde Haare, die ihr in wunderschönen Locken weit den Rücken herunterfielen. Ihre Haut war weiß und makellos. Beinahe wie Porzellan. Trotzdem wirkte sie in keiner Weise zerbrechlich, nein. Sie konnte wirklich sehr einschüchternd sein, wenn ihre giftgrünen Augen auf einen gerichtet waren. Selbst hochrangige Männer hatten tiefen Respekt vor ihr.   „Haben sie wieder das alte, leidige Thema herausgekramt?“ Mary-Sae drückte sich enger an ihn und er zuckte erneut mit den Schultern. „Sie kommen eben immer noch nicht damit klar, dass ich „nur“ ein Banker bin und noch kein Vorstandsvorsitzender eines riesigen Konzerns. So, wie meine Schwester.“ Megan war wirklich unglaublich. Bereits mit 21 Jahren hatte sie eine führende Position bei dem hier ansässigen Stromkonzern inne. Sie brauchte nur weitere 4 Jahre, bis sie den Vorstand und damit den ganzen Konzern inklusive Tochterfirmen leitete. Sie war in jedem Wirtschaftsmagazin auf dem Titelblatt gewesen.   Doch, Moment … „Noel? Sag mal, arbeitete dieser Mann, der am Montag bei diesem seltsamen Busunfall gestorben ist, nicht im Konzern deiner Schwester?“ Ich versuchte die Frage so lässig wie möglich zu stellen und mir meine Neugierde nicht anmerken zu lassen. Bloß nichts Falsches sagen … Dennoch lagen die Blicke meiner Freunde plötzlich alle auf mir. Fragend musterten sie mich eingehend. Ich versuchte möglichst gelassen zu wirken und blickte ihnen ruhig entgegen. Der Blonde legte den Kopf schief und schien ernsthaft darüber nachzudenken. „Jetzt wo du es sagst, ja, hat er wirklich. Megan hatte es kurz nach ihrer Ankunft erwähnt, aber ich muss gestehen, ich habe nicht wirklich zugehört. Der Kerl war wohl nicht sonderlich beliebt, weil er ziemlich arrogant gewesen sein soll. Hielt sich für was Besseres. Aber da fragst du wirklich den Falschen.“ Klar, warum sollte er auch so was wissen? „Ja, natürlich! Entschuldige. Das erinnerte mich nur gerade an das, was ich in den Nachrichten gehört habe. Schrecklich, was da passiert ist“, ruderte ich zurück und setzte einen betroffenen Gesichtsausdruck auf, ehe ich meinen Blick schnell wieder in den halb geschmolzenen Eisbecher senkte und lustlos darin zu stochern begann. Dieses Eismonster konnte niemand wirklich aufessen, egal wie köstlich es auch schmeckte. „Ja, wirklich schlimm. Da traut man sich kaum noch auf die Straße …“ Talas Stimme war leise geworden, so, als schien sie sich wirklich darüber Sorgen machen. Was auch nicht ganz verwunderlich war. Immerhin waren wir drei zu genau dieser Uhrzeit alleine unterwegs gewesen. Und, dass ich darin sogar verwickelt war, sollte sie lieber erst gar nicht wissen. Aber genau dieses Unbehagen schien das Stichwort für Damian zu sein. Als ob er die Angst seiner Freundin spüren konnte, legte er plötzlich seinen muskulösen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. Die Braunhaarige entspannte sich sofort. Und ich musste wirklich mit mir kämpfen. Damians Arm schien mindestens doppelt so groß und schwer zu sein, wie Talas kompletter Körper und ich ertappte mich dabei, zu denken, er würde sie jeden Moment zerquetschen.   Ich schüttelte den Kopf und versuchte diesen dämlichen Gedanken zu vertreiben. Als ob er ihr jemals etwas tun würde. Sie war immerhin seine Freundin. Dabei blieb mein Blick an Mary und Noel hängen, die gegenüber von mir saßen. Ich stutzte kurz, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Und als die beiden in meine Richtung sahen, war es ganz um uns geschehen. Wir bekamen einen richtigen Lachanfall. Lachtränen traten mir in die Augen und ich versuchte sie immer wieder aus eben diesen zu vertreiben, was sich jedoch als unmöglich herausstellte. „Drei Dumme, ein Gedanke“, fasste Noel die Situation in einem Satz zusammen, während er seinen Lachkrampf schon fast wieder beendet hatte. „Wie Elefant und Maus.“ „Noel! Sag so was nicht! Das ist unhöflich!“, zischte Mary und haute ihm ihren Ellbogen in die Seite, worauf dieser keuchte. Aber zumindest hatte sie aufgehört sich wie ein kleines Kind zu benehmen.   Ich war immer noch am Kichern und als mein Blick zufällig auf den beiden Gesichtern des Pärchens hängen blieb, zwang ich mich dazu, mich zu endgültig beruhigen. „Entschuldigt!“, meinte ich atemlos und lächelte die beiden an. „Ich musste gerade an was Witziges denken. Sorry, das war wirklich der falsche Moment.“ Ich schüttelte meinen Kopf und wunderte mich wirklich über mich. Aber was wollte ich heute auch von meinem Wackelpudding/Zuckerwatte-Gehirn erwarten?   Tala und Damian sahen uns noch kurz fragend an, beließen es aber dabei. „Wir sollten dann auch langsam los“, meinte Noel und blickte auf seine Uhr. „Es ist schon halb fünf. Wenn wir wirklich noch ein bisschen shoppen wollen, sollten wir uns sputen.“ Das gleichzeitige Gequietschte von Plastik auf Stein war zu hören und nachdem wir unser Eis bezahlt hatten, waren wir schon unterwegs in die Innenstadt. Das Café lag etwas außerhalb der Einkaufsmeile, weshalb es dort nie ganz so voll war. Und trotzdem gab es dort das beste Eis der Stadt. Dafür nahmen wir gerne die 15 Extra-Minuten Fußmarsch in Kauf.   Die Stadt war nicht so voll, wie ich gedacht hatte. Trotz der späten Stunde, in der die meisten schon Feierabend hatten und die Geschäfte noch geöffnet waren, waren weniger Menschen in den Straßen, als ich es normalerweise gewohnt war. Aber wahrscheinlich war das nur eine Ausnahme. Morgen, um diese Zeit, traten sie einem wohl wieder die Füße platt … Also blieb mir nichts anderes übrig, als es einfach zu genießen.   „Nun guck doch nicht so! Lächle mal wieder!“, grinste Mary den Jungen neben ihr an. Im Stehen waren sie beinahe gleich groß. „Du sagst zu mir auch immer, ich solle meine kleinen Zwillingsbrüder einfach ignorieren! Dann musst du das auch bei deiner Schwester machen!“ „Ja, ja. Aber nur, wenn du endlich aufhörst mich zu zerquetschen!“ Ein helles Lachen erklang. „Nein“, meinte sie darauf zuckersüß und drängte sich noch näher an ihn. „Hey, wenn du mit deinem schweren Körper an meinem Arm rumbaumelst, kann ich gar nicht richtig laufen!“ Sein Grinsen traf den wütenden Blick seiner Freundin. „Was bitte meinst du denn mit ‚schwer’? Willst du mir sagen, ich wäre fett?“ Ihre Stimme überschlug sich fast. „Na, du bist doch schwer! Ein Leichtgewicht bist du ja wahrhaftig nicht!“ Sein Blick verriet mir, dass er Marys Aufregung gar nicht verstand. Das war der übliche Startschuss.   „Oh je, sie streiten sich schon wieder.“ Talas kurze, braune Haare tauchten in meinem Augenwinkel auf, als sie sich neben mich gesellte. Damians riesige, schwarze Gestalte ragte wie ein Berg neben ihr auf. „Noel hat es nicht anders verdient“, grummelte dieser mit tiefer Stimme. „Aber das kann doch gar nicht richtig sein! Immerhin lieben die beiden sich doch! Warum müssen sie also immer streiten?“ „Den beiden schadet das nicht.“ Trotz seines starren Gesichtsausdrucks wusste ich, dass das eben schon beinahe ein Witz gewesen war. „Aber, das tut mir immer so leid.“   „Mach dir da mal keine Sorgen“, mischte ich mich ein. „Die beiden sind nun mal wie sie sind und das ist doch auch gut so!“ Ich lächelte die Braunhaarige an und tatsächlich glättete sich ihre sorgenvolle Mine. „Ja, wahrscheinlich hast du-“ Ein heftiger Schlag traf ohne Vorwarnung meinen Rücken und ich spürte, wie ich zu Boden ging. Mein Kopf wurde heftig nach hinten gerissen und irgendetwas knackte ohrenbetäubend. Ein heftiger Schmerz schoss meinen Rücken entlang und ich keuchte auf. Noch ehe ich irgendetwas unternehmen konnte, knallte mein Körper unsanft auf dem Fußweg auf, was mir sämtliche Luft aus meinen Lungen presste. Es war heiß, so heiß!   Plötzlich war alles still. In meinen Ohren rauschte es betäubend laut und meine Sicht war verschwommen. Etwas Schweres lag auf mir und drückte mich nieder. Ich konnte mich nicht bewegen. Dumpf bemerkte ich, wie jemand meine Schulter berührte, was einen schmerzhaften Stich durch meinen Körper schickte. Ich zuckte zurück. Weg von der Berührung und versuchte zu verstehen, was eigentlich gerade passiert war. „Lina? Lina, geht es dir gut? Amelina?“ Ich hörte meinen Namen und spürte, wie das Gewicht von meinem Körper verschwand. Meine Muskeln zitterten, als ich mich vom Boden hochstemmte und so mich hinzuknien versuchte. Ich blinzelte ein paar Mal, um endlich wieder was erkennen zu können. „Lina?“ Ich schaute auf. Marys goldblondes Haar tauchte vor meinen Augen auf. Ihre eisblauen Augen schauten mich besorgt, fast panisch an. Neben mir nahm ich am Rande wahr, wie Noel Tala auf die Beine half. „Au!“, stöhnte ich, als ich versuchte meinen Nacken zu drehen. Ich fühlte wie mein Arm brannte. „Was ist … passiert?“ Meine Stimme war leise und fast kratzig. „Komm, wir sollten hier weg! Damian kümmert sich darum!“ Was? Worum wollte er sich kümmern? Was war eigentlich los? Doch ich brachte kein Wort heraus. Mary zog mich auf die Beine und lotste mich einige Meter die Straße hinauf. Mein Körper zitterte und es fiel mir schwer, aufrecht stehen zu bleiben. Ich stöhnte vor Freude, als ich mich endlich hinsetzen durfte. Die kalte Mauer in meinem Rücken war ein wahrer Segen.   Ich schloss meine Augen und wartete darauf, dass der Schwindel verschwand, doch je länger ich darauf wartete, desto heftiger wurde das Brennen an meinem Arm, bis es schließlich die Oberhand gewann. Ich blickte an meinem Körper herunter und sog scharf die Luft ein, als ich die vielen Kratzer und Schürfwunden bemerkte, die stetig bluteten. Meine blasse Haut war an vielen Stellen von Blut und Dreck bedeckt. Außerdem schien die Wunde unter dem Verband wieder aufgegangen zu sein, denn das Weiß hatte sich an einigen Stellen zu einem Dunkelrot verfärbt. Es tat weh. „Lina, dein Arm!“ Ich wandte den Blick ab. Ich konnte das Blut nicht sehen. Neben mir saß Tala, die Augen starr auf die Straße gerichtet. Auch sie hatte einige Kratzer an ihrem Körper, schien sonst aber unverletzt zu sein. Noch immer verstand ich nicht, was passiert war, bis ich ihrem Blick folgte. Mein Magen verkrampfte. Dort, wo wir Minuten zuvor noch gestanden hatten, klaffte nun ein riesiges Loch in der Wand eines Cafés. Ein völlig zerstörter Kleinlaster klemmte zwischen dem Schaufenster und den großen Mülltonnen in der angrenzenden Gasse. Ein kleines Feuer schwelte direkt unter dem Auto, doch ein Passant hatte es mit einem Feuerlöscher bereits unter Kontrolle gebracht. Dieser Wagen. Er hätte uns beinahe …   Es herrschte großer Tumult auf der Straße. Menschen liefen hin und her, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Zwischen all den Köpfen erkannte ich Damian, der die Leute aus dem Café in Sicherheit brachte. In der Ferne heulten schon die Polizeisirenen. Mein Atem ging schwer, als ich endlich begriff, was eben genau passiert war. Dieser Wagen hätte uns … beinahe getötet. Der Schwindel kehrte zurück und ich versuchte dieses beklemmende Gefühl des Erstickens wieder loszuwerden, welches heftig auf meine Brust drückte. Ich musste meine Luge zwingen, weiterzuatmen.   Warum? Warum passierte mir das schon wieder? Und als ob der Busunfall nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hätte ich heute beinahe die Menschen verloren, die mir so viel bedeuten! Warum wurde ich bloß immer vom Pech verfolgt? Und warum zog mein Unglück nun auch meine Freunde mit hinein? „Lina?“ Ich schreckte hoch, als Damians Gesicht plötzlich vor mir auftauchte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er zu uns gestoßen war. „Bist du okay?“ Ich nickte kraftlos. Meiner Stimme traute ich nicht. „Tut mir leid, dass ich dich verletzt habe.“ Ich spürte seinen Blick auf meinen Wunden und versuchte mich wieder zusammen zu reißen. „Nein, nein!“ Ich schüttelte wild meinen Kopf. In meinem Nacken knackte es erneut. „Da gibt es nichts, wofür du dich entschuldigen musst! Du hast uns gerettet. Die paar Kratzer sind völlig egal.“ Ich erschreckte etwas, als sich tatsächlich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. „Das ist mein Job.“ Ich konnte nicht anders, als schüchtern zurück zu lächeln.   „Ist jemand verletzt worden?“ Noels Stimme war merkwürdig flach. Sein Blick immer noch starr auf den Unfallwagen geheftet. „In dem Café waren nicht viele Leute. Nur leichte Verletzungen. Die Notärzte werden sich darum kümmern.“ „Wissen deine Kollegen schon, was passiert ist?“ Unsere Blicke wandten sich zu den zahlreichen Polizisten hinüber, die gerade die Straße absicherten. „Das Fahrzeug war führerlos. Ich habe bereits einen Handwerker ausmachen können, der den Kleinbus als Nutzfahrzeug für seine Firma einsetzt. Er war sich sicher, die Handbremse angezogen zu haben. Mein Vorgesetzter übernimmt das Verhör.“ Ein langer, schlaksiger Mann mit ebenso kurzen Haaren, wie Damian sie trug, blickte in genau diesem Moment zu uns herüber. Mit einem Winken bedeutete er dem Jungen sich wieder zu ihm zu gesellen. „Ich muss zurück. Mein Boss ist der Meinung, dass das vielleicht kein Zufall war. Die Bremsleitung soll beschädigt sein.“ Mein Mund wurde plötzlich ganz trocken. „Du … Du meinst, jemand wollte, dass der Wagen jemanden verletzt?“ Meinen wahren Gedanken behielt ich lieber für mich. Uns verletzt? „Mach dir keine Sorgen. Das hat garantiert nichts mit uns zu tun“, meinte Damian, gab seiner verängstigten Freundin einen sanften Kuss und ging zurück zu seinen Kollegen von der Polizei.   Sein Gesichtsausdruck drehte mir den Magen um. Etwas lag in seinem Blick, was mich erschaudern ließ. Er wirkte so … ernst. Mehr, als ich es je bei ihm gesehen habe. So, als wüsste er etwas, was wir anderen nicht wussten. Vielleicht war es doch schlimmer, als wir dachten.   Noels ausgesprochene Gedanken hingen über uns wie eine bleischwere Wolke. „Bei uns gibt es ja auch nichts zu holen.“   .   Danach hatte sich das Zuckerwatte/Wackelpudding-Gemisch zurück gemeldet. Obwohl ich wusste, dass seine Bemerkung eher scherzhaft gemeint sein sollte, standen mir immer wieder die Haare zu Berge, wenn ich auch nur daran dachte.   Die neuen Verbände, die nun neben meinem Arm auch noch das rechte Bein und meinen linken Fuß bedeckten, kratzen an meiner Haut, als ich mich von meinem Sofa erhob und durch die Balkontür ins Freie trat. Die Schwüle des Sommers umfing mich sofort und ich ließ mich erschöpft auf einen der Stühle fallen. Die weiche Unterlage, die ich schon gar nicht mehr weglegte, hatte die Hitze der Sonne gespeichert und spendete nun eine angenehme Wärme. Die Sonne hatte sich bereits hinter mein Nachbarhaus zurückgezogen und malte nur noch sanfte Orangetöne an den hellblauen Himmel. Die wenigen weißen Wölkchen, die sich den Tag über gebildet hatten, schwebten harmlos über die Stadt hinweg.   Ich seufzte. Und ich dachte wirklich, ich hätte mich etwas von dem Stress erholt. Aber zweimal innerhalb von einer Woche einen Unfall zu erleben war wirklich nichts, was ich so einfach verdrängen konnte. Ich machte mir Sorgen um Tala. Wir hatten sie noch zusammen nach Hause gebracht, nachdem wir der Polizei unsere Schilderung des Abends erzählt hatten. Noel und Mary-Sae, die vorweg gegangen waren, hatten nur den Knall gehört und Tala hatte den Wagen lediglich aus dem Augenwinkel bemerkt. Sie hatte gespürt, dass Damian sich angespannt hatte und als sie sich zu ihm umdrehen wollte, stieß er uns schon aus dem Weg. Ich hatte überhaupt nichts mitbekommen. Nichts gesehen, nichts gehört. Wenn Damian aufgrund seiner Ausbildung zum Polizisten die Situation nicht so gut hätte einschätzen können und den Kleinbus nicht rechtzeitig bemerkt hätte, würden wir jetzt sicherlich nicht so unbeschadet Zuhause sitzen.   Ich höre immer noch, wie meine Mutter in das Telefon brüllte, als ich ihr den Vorfall geschildert hatte. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie durch den Hörer gesprungen. Es hatte mich viel Mühe gekostet sie davon abzuhalten herzukommen und mich mit in ihre Wohnung zu nehmen. Sie hatte sogar gemeint, sie würde meinen Mietvertrag eigenhändig kündigen, wenn ich es nicht selbst tat, aber als ich sie daran erinnerte, dass ich nun 18 Jahre alt und somit für mich selbst verantwortlich war, gab sie resigniert auf. Und obwohl sie versucht hatte, tapfer zu sein, konnte ich ihre Tränen in der Stimme hören. Der Kloß saß noch immer in meinem Hals. Ich tat ihr weh. Und ich hasste mich noch mehr dafür.   „Du dämlicher Stein“, zischte ich zum wiederholten Mal an diesem Abend zu und ließ noch einmal meinen Daumen darüber kreisen. Von wegen Glücksbringer. Das Ding war zu nichts nutze. Er war nicht mal in der Lage mir einen Freund zu beschaffen, geschweige denn mir in irgendeiner Weise Glück zu bringen. Im Gegenteil. Er schien das Unglück geradezu anzuziehen. Das Orange am Himmel verblasste und das dunkle Blau der Nacht verschlang das letzte Licht des Tages. Nur die zahlreichen Sterne und die vielen Fenster, die wie Glühwürmchen die Nacht erhellten, drängten die Schatten etwas zurück. Der leichte Wind, der durch das Blätterdach der nahen Bäume rauschte, ließ mich tatsächlich leicht frösteln und mit einem leisen Seufzen räumte ich meinen Platz an der frischen Luft und ging zurück ins Wohnzimmer. Es war mittlerweile halb Elf und ich beschloss ins Bett zu gehen.   Am Wohnzimmertisch blieb ich kurz stehen. Ich blickte auf den Stein in meiner Hand, wie er mit dem goldüberzogenen Kettenanhänger im schwachen Licht der Nachbarhäuser funkelte. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf und ich merkte, wie sich meine Finger darum verkrampften. Das erste Mal seit 18 Jahren. Doch ich hatte mich entschieden. Ein leises Klirren im Dunkeln verkündete mir, dass der Anhänger die Glasplatte des Tisches berührt hatte und die Kette mir aus der Hand geglitten war.   Ohne einen Blick zurück zu werfen verließ ich den Raum und ging ins Bett. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)