Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 3: Melodie ------------------ Endlich verstand ich und mein Körper fing heftig an zu zittern. Ich schlug mir die Hände vor den Mund und vergaß alles um mich herum. Selbst die Lage, in der ich mich befand. Erst, als eine Hand meinen Arm packte und unsanft an mir zog, erwachte ich aus meiner Starre. Ich bekam gerade so noch mit, wie ich von dem Bus runter gezogen wurde und auf der Straße landete. Der Aufprall war zu heftig und zu überraschend, um mich abfangen zu können, und ich fiel schmerzhaft auf die Knie. Bevor ich mich jedoch wieder sammeln konnte, wurde der Druck um meinen Arm stärker und ich wurde ohne mein Zutun wieder auf die Beine gehievt. Ich spürte, wie ich rannte und die Farben um mich herum verschwammen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ließ der Druck nach und ich konnte aufhören zu rennen. Meine Beine konnten das Gewicht nicht mehr halten und ich sackte auf dem Bürgersteig zusammen. Den mittlerweile lichterloh brennenden Bus nahm ich nur am Rande wahr. Noch immer starrte ich auf die blutverschmierte Leiche des Büroangestellten, die dort auf der Straße lag. Seine Augen starrten ins Nichts.   „Hey, reiß dich zusammen!“, zischte eine Stimme neben mir und ich schreckte zurück. Erst jetzt bemerkte ich den jungen Mann, der neben mir stand. Seine rötlichen, längeren Haare klebten durch den Regen eng an seiner Haut. Die blaue Jeans, der rote Schaal und die schwarze Lederjacke taten es ihnen gleich. Seine blauen Augen starrten mich an. „Bist du okay?“ Ich konnte nicht antworten. Mein Gehirn funktionierte nicht richtig. Ich wusste es nicht. Ich wandte meinen Blick zurück auf die Kreuzung und beobachtete das rege Treiben. Ich sah die Menschen, die eben noch mit mir im Bus saßen, geschockt durch die Gegend taumeln. Der Bus war dabei, völlig auszubrennen. Irgendwo in der Nähe jaulten die Sirenen. Doch ich bemerkte erst jetzt, dass etwas fehlte. Das Auto. Die schwarze Limousine war einfach weg. Dort, wo sie eben noch in dem Bus gesteckt hatte, klaffte nun nur noch ein großes Loch. Warum?   „Steh auf. Du erkältest dich noch.“ Erneut ein Druck an meinem Arm und ehe ich es bemerkte, stand ich wieder auf meinen eigenen Füßen. Verdutzt sah ich mich um. Der Rothaarige ließ mich immer noch nicht aus den Augen. „Du bist am Arm verletzt. Du solltest zu einem Arzt gehen.“ Warte, verletzt? Wie aufs Kommando kehrte der stechende Schmerz zurück und ich keuchte. Ich blickte zur Seite und bemerkte das Blut, welches meinen Arm herunter lief. Waren das … Glasscherben? Sofort wandte ich meinen Blick von der Wunde und spürte schon den Schwindel, der mich befiel. Mein Körper zitterte und meine Sicht verschwamm. „Hey, stehen bleiben! Nicht umfallen!“ Nicht umfallen? Ha, witzig. Was meinte er, was ich wohl gerade versuchte? Zwei starke Hände griffen nach meinen Oberarmen und hielten mich aufrecht. Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte den Nebel darin zu vertreiben. „Was … ist passiert?“, presste ich mühsam hervor und erhoffte mir etwas Licht für die Dunkelheit. „Der Bus hatte einen Unfall“, war sein einziger Kommentar. Ach wirklich? Ich war zwar nicht ganz auf der Höhe, aber soviel war mir auch klar. „Bei einem Busunfall werden aber nicht einfach Menschen auf offener Straße erschossen“, sagte ich so sarkastisch, wie ich konnte, auch wenn es eher nach bösem Kätzchen, als nach wütendem Tiger klang. Ich suchte seine Augen und bemerkte den harten Blick, den er mir zuwarf. „Diesmal schon.“ Was für ein mieser …   Das Heulen von Sirenen durchschnitt die Luft und das Rauschen der Wasserpumpen mischte sich darunter. Die Feuerwehr war eingetroffen und versuchte den Brand zu löschen. Die Hitze des Feuers musste auf der ganzen Kreuzung zu spüren sein. Noch ehe die Feuerwehr alles abriegeln konnte, tauchten auch schon Polizei und Krankenwagen auf. Erleichterung durchströmte mich und ich fühlte, wie sich mein rasendes Herz langsam beruhigte. Die Panik klang ab. „Du solltest jetzt gehen“, meinte der junge Mann und ließ meine Arme los. Ohne ein weiteres Wort verschwand er hinter der nächsten Häuserecke. Verdutzt sah ich ihm hinterher. Wieso verschwand er denn plötzlich? Musste er nicht … eine Zeugenaussage machen oder so was? Immerhin hatte er mir gerade geholfen! Wahrscheinlich sogar das Leben gerettet! Und ich hatte nicht mal danke gesagt. Mit kleinen Schritten lief ich ihm hinterher. Ich war noch immer etwas wackelig auf den Beinen, aber langsam schien das Adrenalin in meinen Adern die Oberhand zu gewinnen.   Es war nicht schwer ihn zu finden. Er war der einzige Mensch, der sich von der Unglücksstelle entfernte. Viele waren nicht mehr auf den Straßen, doch der Lärm hatte wohl einige aus dem Schlaf gerissen. Die Gardinen hinter den Fenstern wackelten und neugierige Gesichter blickten nach draußen. Doch nur wenige trauten sich vor die Tür. „Warte!“, rief ich ihm hinterher und zu meiner Überraschung blieb er tatsächlich sofort stehen und wandte sich um. Ich blieb wenige Meter vor ihm stehen, als sich unsere Blicke trafen. Erst jetzt bemerkte ich dieses unheimlich intensive Blau seiner Augen. Zahllose Gefühle regten sich darin wie Fische im dunkelblauen Meer. Das jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Was willst du noch?“, fragte er mit kalter Stimme und ich musste schlucken. „Eigentlich wollte ich mich nur bei dir bedanken, aber wenn du mir so kommst, dann vergiss es.“ Ich versuchte stark zu klingen, trotz meiner inneren Unruhe. Auch wenn die Panik weg war, die Angst war es noch lange nicht … „Kleine Mädchen sollten so spät nicht mehr unterwegs sein.“ Meine Gesichtszüge entgleisten. Was für ein blödes Spiel spielte der Kerl eigentlich mit mir? „Du siehst auch nicht so viel älter aus!“ Kein gutes Gegenargument, doch das war alles, was gerade noch ging. Mein Gehirn hatte für heute Feierabend. Doch das hielt mich nicht davon ab, ein ziemlich mulmiges Gefühl zu kriegen. Je länger ich ihn ansah, desto schlimmer wurde es. Er hatte etwas … Kaltes an sich. Etwas … Gefährliches.   Automatisch wanderte meine Hand zu dem Anhänger, der an meiner Brust baumelte. So, als ob er mich beschützen könnte. Ich bemerkte, dass der Blick des Jungen nun auch darauf gelenkt wurde und im nächsten Moment weiteten sich seine Augen schlagartig. Ich zuckte zurück. „Das ist doch …!“, keuchte er und kam schnellen Schrittes auf mich zu, was meine Angst nur noch schürte. Er befreite den Anhänger nicht gerade unsanft aus meiner Hand und warf im schwachen Licht einer nahen Straßenlaterne einen Blick darauf. Auf einmal war sein Gesicht meinem ziemlich nahe … Viel zu nahe. Ich glühte. Doch plötzlich geschah etwas ganz anderes. Eine Stimme, wie ich sie noch nie gehört hatte, durchflutete meinen Kopf. Eine merkwürdige Melodie, deren Klänge nicht von dieser Welt zu kommen schienen. Ich zitterte vor Kälte. Meine Haut war eisig vom Regen. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. Was zum Teufel war das? Er hob seinen Kopf und starrte mir in die Augen. Seine Hände griffen wieder nach meinen Oberarmen, doch diesmal waren sie nicht freundlich, sondern schmerzhaft. Seine starken Finger krallten sich regelrecht in mein Fleisch und ich stöhnte vor Schmerzen auf. „Geh zurück! Sofort! Und dann verschwinde von hier! Und lass bloß nie jemanden diesen Stein sehen, verstanden? Verschwinde!“, knurrte er mir bedrohlich entgegen und stieß mich von sich. Mein Körper war nicht in der Lage mich aufzufangen, sodass ich unsanft mit dem Hintern auf der nassen Straße landete. Als ich wieder aufsah, war der Rothaarige verschwunden. Und auch die Melodie war einfach weg. Hatte ich mir das nur eingebildet? Was war bloß los mit mir?   Ich zog meine Beine näher an mich heran und vergrub mein Gesicht darin. Der Regen war mir egal. Auch die brennenden Schmerzen in meinem Unterarm und dem Kopf interessierten mich nicht. Ich konnte einfach nicht mehr. Das Bild der blutenden Leiche und die panische Angst, die ich kurz vor seinem Tod in seinem Blick gesehen hatte, verfolgten mich und ließen mich nicht los. Ich fühlte sie. Die Tränen, die in meinen Augen brannten. Es war wohl einfach alles zu viel. Was für ein toller Geburtstag.   +++++   Ich fühlte mich … merkwürdig. Nicht schlecht, aber auch nicht gut. Alles in mir war seltsam leer. Die restliche Nacht war kurz gewesen. Und doch war ich nicht müde. Glaubte ich zumindest. Wie gesagt, mein Hirn war immer noch im Feierabend. Ich seufzte und drückte erneut auf den Knopf, um den Sender zu wechseln. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve lag ich auf meinem Sofa. Unfähig heute vor die Tür zu gehen. Ich hatte den anderen gesagt, dass ich mich gestern bei dem Regen etwas unterkühlt hatte und lieber keine richtige Erkältung riskieren wollte. Ich wollte nicht, dass sie von dem Geschehen am gestrigen Tag erfuhren. Dass sie sich Sorgen machten.   Außerdem wusste ich gar nicht, was ich hätte sagen sollen. Ach ja, was ich euch noch erzählen wollte! Gestern ist was ganz irres passiert! Ich habe auf dem Rückweg einen seltsamen Mann beobachtet und kurz darauf ist uns mit voller Wucht ein Auto in den Bus gefahren. Und als der Kerl da raus wollte, wurde er einfach auf offener Straße erschossen! Tja, Sachen gibt’s? Ich glaube, das wäre eher kontraproduktiv gewesen. Diesen einen Tag würde ich mir gönnen und morgen würde es weitergehen, wie immer. Alles wie immer. Mein Blick wanderte auf den weißen Stoff, der meinen Arm verhüllte. Wie eine Schlange wand er sich darum und versteckte die Spuren dieses Vorfalls. Die Nacht, die ich vergessen wollte. Viel davon wusste ich nicht mehr. Ein Polizist hatte mich gefunden und zu einem Notarzt gebracht. Dieser hatte die Glasscherben aus meinem Arm gezogen und die große Wunde genäht. Eine Narbe, toll. Ich musste noch kurz meine Sicht der Dinge erklären, doch ich glaube, ich habe nur Müll erzählt. Aber ich weiß es nicht mehr. Ein Streifenwagen hatte mich nach Hause gefahren. Ich hatte gelogen und gesagt, ich würde meine Mutter am Morgen anrufen. Okay, das war nicht ganz gelogen. Nur die Geschichte war eine andere. Aber da ich gerade 18 geworden war, konnten sie nichts tun. Immerhin war ich ja erwachsen und konnte meine eigenen Entscheidungen treffen. Wenigstens ein Gutes an der Sache …   Doch mich selber konnte ich davor nicht schützen. Ich hatte meine erste Leiche gesehen. Und nicht nur das. Ich hatte diesen Menschen sterben sehen. Vor meinen Augen. Vielleicht hatte er Familie? Freunde? Eine Arbeitsstelle, die ab dem heutigen Tag unbesetzt war? Vielleicht war er aber auch alleine und hielt sich ein Haustier, welches nun niemand mehr fütterte? Verhungerte gerade ein kleiner Fisch oder ein Kätzchen irgendwo da draußen? Oder hatten die Polizisten längst sein Apartment gefunden und durchsucht? Wieso musste das ausgerechnet in dem Moment passieren, in dem ich in diesem blöden Bus saß? Ach ja, ich war ja etwas Besonderes. Wahrscheinlich konnte ich den gestrigen Tag mit auf diese Liste nehmen.   Die Bilder im Fernsehen zogen plötzlich meine Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Ort … das war doch ...! Ich drehte die Lautstärke auf. „Ein rätselhafter Unfall im Magnusviertel beschäftigt seit gestern die Polizei von Summer Hills. Um ca. 22:15 Uhr kollidierte eine vermutlich mit überhöhter Geschwindigkeit fahrende schwarze Limousine mit einem Stadtbus. Augenzeugen berichteten, der PKW sei bei Rot über eine Kreuzung gefahren und hätte so den Unfall verursacht. Die Kollision war so gewaltig, dass der Bus umkippte und einige Meter über die Straße rutschte. Die wenigen Insassen wurden nur leicht verletzt.“ Bilder des brennenden Fahrzeugs flackerten über den Bildschirm. Sie zeigten die Feuerwehrmänner, die mit ihren Wasserschläuchen versuchten, den Brand unter Kontrolle zu bringen. „Doch als die Polizei die Unfallstelle erreichte, war das schwer beschädigte Unfallfahrzeug verschwunden. Augenzeugen berichteten von einem schwarz gekleideten Mann, der aus der Limousine ausgestiegen sei und in aller Ruhe die Kreuzung überquert hatte. Kurz darauf seien Schüsse gefallen. „Als wir hier ankamen, fanden wir einen reglosen Mann auf der Straße liegend und die herbeigerufenen Notärzte konnten nur noch seinen Tod feststellen“, berichtet Markus Rade, Sprecher der Polizei. Bei dem verstorbenen Mann soll es sich um einen 35-jährigen Mann handeln, der für den in Summer Hills ansässigen Stromkonzern arbeitete. Bestätigen wollte das die Polizei noch nicht. Wie es zu diesem Unglück kommen konnte und warum ein Mensch sein Leben verlieren musste, ist noch völlig unklar. Auch über die Motive, die zu dieser Bluttat geführt hatten, kann bisher nur spekuliert werden. Die Ermittlungen gehen weiter.“   Die Bilder wechselten und ich drehte die Lautstärke des Fernsehers wieder runter. Mein Herz pochte noch immer vor Aufregung. Doch ich spürte auch eine gewisse Erleichterung. Niemand hatte meinen Namen erwähnt und zu sehen war ich auch nicht gewesen. In dem Moment, als die Kamera umstehende Passanten eingefangen hatte, war ich hinter dem Jungen her gewesen und deshalb nicht auf der Kreuzung. Diesem komischen Kauz … Im ersten Moment half er mir und im nächsten war er nur noch gemein und schrie mich sogar an! Dem Kerl ging es wirklich zu gut … Und wie merkwürdig er sich verhalten hatte … Ist einfach abgehauen, als die Polizei kam. Ob er etwas mit dem schwarzen Mann zu tun hatte? Nein, sonst hätte er mir wahrscheinlich nicht geholfen. Aber was wollte er sonst? Wieder so eine nervige Frage, die mich nicht in Ruhe ließ. Ich konnte es kaum erwarten, bis diese blöde Phase endlich vorbei ging und wieder Normalität einkehrte.   Mein Magen knurrte und erinnerte mich daran, dass es bereits später Nachmittag war. Ich hatte den ganzen Tag nichts Vernünftiges auf die Beine gestellt. Aber vielleicht war das auch gut so. Mühsam schälte ich mich aus der bequemen Sofaecke und ging hinüber in die Küche. Doch auf halben Weg stockte ich. Etwas, was ich schon längst vergessen hatte, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein kleines, in rotes Papier eingewickeltes Quadrat lag auf der kleinen Kommode in meinem Flur. Eine bunte Schleife zierte seine Oberseite. Ich legte den Kopf schief und bemerkte das weiße Kärtchen, auf dem auf der einen Seite ein kleiner Hund mit Geburtstagshütchen saß und auf der anderen Seite mein Name prangte. Erst in diesem Moment erinnerte ich mich daran. Meine Mutter hatte mir bereits am Sonntag das Geschenk mitgebracht mit der Bitte, erst an meinem Geburtstag reinzusehen. Ich hatte es total vergessen. Meine Freundinnen, der Karaokeabend und natürlich der Unfall hatten es komplett aus meinem Kopf verdrängt.   Doch jetzt überkam mich so was wie Neugier. Anhand der Form hatte ich bereits eine wage Ahnung, was sich darin verbergen könnte, aber das half mir eher wenig. Ich nahm das Paket in die Hände und begann vorsichtig die Klebestreifen zu entfernen. Ich hatte teilweise etwas daran zu fummeln, doch schon bald konnte ich das Papier entfernen. Meine Vermutung wurde sogleich bestätigt. Ein ziemlich alt aussehendes Buch mit der Aufschrift: „Die Wissenschaft der Segenssteine – Fakten und Theorien“ ruhte nun in meinen Händen. Ich konnte nicht anders, als es verdutzt anzustarren. Ein Buch über wissenschaftliche Theorien? Wie kamen sie denn bitte auf diese Idee? Und anhand der vielen kleinen Kratzer und abgenutzten Stellen auf dem ledernen Einband vermutete ich, dass sie es auf einem Flohmarkt oder Ähnlichem gebraucht erstanden haben mussten. Ich schlug das Buch in der Mitte auf und wurde sogleich von einer leicht verblichenen Schrift auf einem gelblich angelaufenen Papier begrüßt. Wie alt mochte das Buch wohl sein? Mit schnellen Fingern blätterte ich den gut 500 Seiten dicken Wälzer durch und sah viele Bilder und Buchstaben an mir vorbei zischen und gerade, als ich es wieder zugeklappt hatte, bemerkte ich den weißen Umschlag, der hinter dem Einband hervorblickte. Ein Blick dort hinein offenbarte mir ein paar Geldscheine, die wohl mein eigentliches Geschenk darstellten. Das Buch war wahrscheinlich eher ein Zufallsfund gewesen. Bestimmt die Idee meiner Mutter.   Mit einem kleinen Grinsen legte ich das Buch zurück auf die Kommode und setzte meinen Weg in die Küche fort. Ein Blick in den Kühlschrank zeigte mir die gewohnte Leere, die dort immer herrschte. Viele frische Lebensmittel hatte ich selten, da ich sowieso während der Schulzeit essen ging und abends eine Kleinigkeit reichte. Ich nahm mir die letzten vier Eier, die Milchpackung und etwas Speck und begann mir eine Portion Rühreier zu braten. Ein schnelles, leckeres Essen. Um mich nicht zu sehr zu langweilen, schaltete ich das kleine Radio auf der Anrichte ein, ehe ich am Tisch platz nahm und mich meinem Essen widmete. Ich beachtete die Stimme im Radio nur mit einem halben Ohr. „Erst heute Morgen wurde bekannt, dass die berühmte Sängerin May Simons und der Schauspieler James Hayfield ein Paar geworden sind. Entgegen aller Behauptungen, dass May Simons nach ihrer gescheiterten Ehe mit dem Regisseur Reinold Hitch zunächst keinen Partner mehr haben wollte, gaben sie vor wenigen Stunden bei einer Pressekonferenz ihre Liebe öffentlich bekannt. Die inzwischen 32-jährige Sängerin hatte ihre letzte Beziehung ohne den Segen ihres Edelsteins begonnen, was für einen riesigen Skandal gesorgt hatte. Doch nun versicherte sie, dass der Segenstein sie mit dem fünf Jahre älteren Schauspieler zusammengebracht hatte. Er sei ihre wahre Liebe, sagte sie gegenüber der Tageszeitung ‚Raising Sun’. „Wir sind wirklich glücklich“, kommentierte der Schauspieler, der in Filmen wie dem gerade im Kino laufenden Kriegsdrama „WAR“ mitspielt. Auch seine Beziehungen waren bisher immer nach nur wenigen Monaten gescheitert. Bleibt nur, dem neuen Paar alles Gute zu wünschen.“   Eine Beziehung ohne Segensstein? War das wirklich so unmöglich? Ja, es war verpönt. Die Menschen verstanden es nicht. Hielten es für falsch. Den Partner anhand der Entscheidung des Segensteins zu wählen, war Gang und Gebe. Das war richtig. Doch noch immer gab es Menschen, die dieser Prozedur keinen Glauben schenkten. Sie ließen ihre Steine unbeachtet und nahmen ihr Leben selbst in die Hand. Es gab solche, die dies öffentlich taten und auch welche, die es verheimlichten. Sie gaben an, der Stein hätte sie zusammengebracht, was aber nicht der Fall war. Solange die Beziehung lief, war das auch kein Problem. Das große Chaos folgte immer erst dann, wenn sich das Paar trennen wollte. Dies war, aufgrund der Seelenssteine, eigentlich unmöglich.   Trotzdem. Für viele einsame Menschen war dies der letzte Ausweg. Die letzte Chance, die drohende, lebenslange Einsamkeit abzuwenden. War das auch mein Schicksal? Sollte die, mit dem seltenen Edelstein, wirklich niemanden finden, der zu ihr passte? War ich vielleicht … zu besonders? Niemand wusste, wie die Steine funktionierten und nach welchen Kriterien sie den Seelenpartner auswählten. Wer konnte also leugnen, dass es für manche Menschen wirklich keinen Lebensgefährten gab? Und wer konnte versprechen, dass sich die Wege zweier füreinander bestimmter Menschen auch wirklich kreuzten? Und was noch viel schlimmer war … Was, wenn derjenige, den man lieben sollte, ein kompletter Blödmann war? Wenn man ihn nicht ausstehen konnte? Ging das überhaupt? Was war die „Liebe“ dann überhaupt noch wert?   Ja, die Menschen glaubten daran. An ihre Segenssteine. An die Wunder, die sie vollbrachten. Doch niemand sah gerne die Nachteile, die diese Art des Lebens mit sich brachte. Niemand ließ sich gerne sagen, dass er fremdbestimmt wurde. Diese Seite wurde gerne unter den Teppich gekehrt …   Jetzt noch frustrierter, als sowieso schon, erhob ich mich von dem Küchenstuhl, stellte mein benutztes Geschirr einfach unabgewaschen neben die Spüle und drückte einen Kopf auf dem grauen Radio, um es zum Verstummen zu bringen. Ohne großen Elan schlürfte ich ins Schlafzimmer, schloss das Fenster und die Vorhänge und auch, wenn es eigentlich noch viel zu früh zum Schlafen war, legte ich mich in ins das einladende Bett. Der Schock saß mir immer noch in den Knochen und die letzte, schlaflose Nacht ließ mich hoffen, dass ich wenigstens heute mal ein Auge zumachen konnte. Dank des Regens hatte es sich soweit abgekühlt, dass sogar die Raumtemperatur erträglich war. Dem stundenlangen Lüften sei Dank.   Morgen würde ich wieder zur Schule gehen. Mal sehen, wie ich das überstehen wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)