Nimm mich ... von Vickie (wie ich bin!) ================================================================================ Kapitel 2 ― Du bist kein Date! ------------------------------ Sanchez ignorierte sie. Bei den Übungen und bei den Besprechungen sah er über sie hinweg, bei der Einteilung in die Teams sprach er bloß von »Sergeant Rowe und Partner« oder »dem anderen Sniper«, an eigenständige Aufgaben war gar nicht zu denken. Hätte Sanchez ihr nicht die Unterwäsche und das Display zukommen lassen – auch wenn sie diskret und unpersönlich in einem Karton, den man für Beweisstücke benutzte, verpackt waren – würde Tamia ihre eigene Existenz bezweifeln. Sie hasste es, ignoriert zu werden, und begann daher, vor dem morgendlichen Appell auf dem Hof herumzuschleichen, um ihn abzupassen. Selbst auf die Mittagspause verzichtete sie, wartete vor der Kantine oder von dem Bürogebäude, aber Sanchez würdigte sie keines Blickes. Als Tamia das nächste Male die Sitzung verließ, rannte sie ihm hinterher und stellte sie sich ihm in den Weg, sodass er nicht fliehen konnte. Sanchez  blickte mit erhobenem Kopf an ihr vorbei und rannte sie um – wenn er ausgewichen wäre, hätte er ja zugeben, dass er sie wahrnahm. »Tu nicht so, als wäre ich Luft! Du hast deinen Ellenbogen doch extra rausgehalten!« Tamia rieb ihre schmerzende Schulter und lief ihm hinterher. In wenigen Minuten musste sie bei einer Übung antreten, aber ihr war es gleichgültig, ob sie sich verspätete. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr aufrichtig leidtat, wie sie ihn behandelt hatte. Lieutenant Sanchez, der auf das Bürogebäude zueilte, blieb abrupt stehen. »Warten Sie einen Moment.« Überrascht stolperte Tamia über ihre eigenen Füße. Sie stellte sich stramm hin und holte tief Luft, um ihr Anliegen vorzutragen. Bevor sie etwas sagen konnte, verzog Sanchez seine Mundwinkel zu einem gehässigen Lächeln. Dann ließ er sie stehen und eilte in das Gebäude. Die automatischen Eingangstüren schoben sich wieder zu. Ohne Berechtigung kam niemand dort hinein. »Sanchez!« Sie trommelte mit den Fäusten gegen die Glastür. Die beiden Offiziere neben dem Angesprochenen drehten sich um, aber Sanchez lief unbeirrt weiter. Daher zückte sie ihre Pistole, steckte ein Magazin mit Gummigeschossen ein und wartete, bis sie ihn durch das Fenster in seinem Büro erblickte. Sie zielte auf die Scheibe und schoss das Magazin leer, doch der Sturkopf erschien nicht. Erneut sammelte sie die Patronen auf und lud ihre Pistole. Die ganze Prozedur wiederholte sie drei Mal, bis Sanchez endlich herausschaute. »Ich muss mit dir sprechen!«, schrie sie hinauf. Er zog die Jalousien herunter, aber sie konnte noch seine Silhouette dahinter erkennen. »Sanchez!«, brüllte sie. »Sanchez, beweg deinen Arsch hier runter!« Ein Fenster öffnete sich und das neugierige Gesicht von Major McCarran schaute heraus. Als sie Tamia erkannte, schüttelte sie lediglich den Kopf. Die Fehde zwischen der Soldatin und Lieutenant Sanchez war allen bekannt. Die Offizierin bemühte sich nicht mal darum, Tamia wegzuscheuchen, sie schloss das Fenster und wandte sich schulterzuckend um. Schließlich ertönte die dunkle Stimme des Offiziers über das Headset ihres Displays. »Komm rein.« Tamia legte ihre Fingerspitzen auf das Touchpad und die Tür glitt auf. Da die Fahrstühle im Foyer auf sich warten ließen, rannte sie die Treppen hoch. Schnaufend stieß sie die Tür zu Sanchez’ Büro auf. »Ist das Kätzchen wieder rollig?«, spottete er. Seine  gleichgültige Miene konnte das Mahlen der Zähne nicht verstecken. Der Kerl war stinkwütend. »Ich wollte mich entschuldigen.« »Wofür?« »Na … weil ich …« Hatte sie ihn verletzt? Beleidigt? Sie konnte das nicht beurteilen, aber sie wusste, dass sie etwas angerichtet hatte, das sie geradebiegen musste. »Ich wollte mich halt entschuldigen. Für das, was ich gesagt habe.« »Okay. Sie können abtreten.« Seine Gleichgültigkeit rieb wie Wüstensand an ihrer Haut. Tamia stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Es tut mir leid!« Als wäre das Gespräch beendet, schob Lieutenant Sanchez den transparenten Bildschirm vor sich und konzentrierte sich die Positionierung der Einsatzleiter, wie Tamia von der Rückseite erkennen konnte. »Ich will es wiedergutmachen.« »Dann verschwinden Sie aus meinem Blickfeld.« Tamia rührte sich nicht von der Stelle. Sie akzeptierte nicht, dass er ihr nicht einmal eine Chance gab, sich zu entschuldigen. »Sag mir, was ich tun soll! Die ganze Basis schrubben? Den Soldaten den Brei auf die Teller hauen?« »Mach, was du willst. Interessiert mich nicht.« »Es. Tut. Mir. Leid.« Sanchez verdrehte die Augen. »Du nervst.« »Und ich werde nicht damit aufhören, bis du meine Entschuldigung angenommen hast!«, schrillte ihre Stimme, sodass es in dem spartanisch eingerichteten Büro hallte. Entgeistert starrte Sanchez sie an und massierte sein Schläfenbein, als ob er unter einem Tinnitus litt. Schließlich schob er den Bildschirm beiseite. »Hab morgen frei. Kannst mich unterhalten.« »Ein Date? Wann und wo?« »Du bist doch kein Date.« Sanchez lachte verächtlich auf. Dann schickte er ihr eine Adresse auf das Display. »Zwölf Uhr.« Sofort ließ sich Tamia die Route einblenden. Von der Basis bis zum Ziel waren es knapp zwanzig Kilometer. »Holst du mich ab?« »Wozu?« »Ich schaffe es nicht bis zwölf. Ich habe vormittags noch Dienst. Selbst wenn ich jogge, brauche ich über eine Stunde.« »Wolltest du dich nicht entschuldigen?« »Mhm, ja.« »Dann nimm den Bus. Abtreten.« Es war halb zwölf – militärische Überpünktlichkeit – als Tamia an einem Wohnkomplex ankam. Hochhäuser ragten in den stahlblauen Himmel und bildeten eine spiegelnde Front, die der Sonne trotzte. Auf ihrem Display leuchtete der Weg bis zum Hauseingang mit der richtigen Nummer. Da sie ihn privat traf, wollte sie allerdings noch fünfzehn Minuten verstreichen lassen, bevor sie klingelte. Doch kaum als sie sich zum Warten auf den Stufen niederließ, ertönte durch die Sprechanlage Sanchez’ Stimme: »Komm rein.« Die Tür klackte leise und schob sich auf. Ein weiß behandschuhter Portier nickte ihr zu. »Yo!« Tamia hob die Hand. Sie schlurfte über den Marmorboden und ihre Sneakers quietschten respektlos an den Yuccapalmen vorbei. Es existierte keine Treppe, aber am Ende der Lobby, in der eine lederne Couch stand und darüber drei nach verschiedenen Zeitzonen gestellten Uhren aufgehängt waren, befanden sich Aufzüge. Tamia betrat das metallene Gefängnis, und obwohl sie keinen Knopf gedrückt hatte, setzte es sich in Gang. In der sechsten Etage stieg Sanchez mit ein. Tamia wich einen Schritt zurück, aber nicht um ihm Platz zu machen, sondern weil sie befürchtete, ihm die Kleider vom Leib zu reißen. Zum zweiten Mal sah sie ihn ohne Uniform – beim ersten Mal war er nämlich nackt gewesen – und er sah zum Anbeißen aus. Die Trainingshose saß lässig auf seinen Hüften, das Shirt spannte an seinen breiten Schultern und seinen Brustmuskeln. Tamia klatschte sich gedanklich auf die Finger, damit sie ihn nicht begrabschte. »Guten Tag, Lieutenant Sanchez!« Sie salutierte formell. »Corporal Rivero meldet sich wie befohlen.« »Ja, ja …« Er verdrehte die Augen. »Wenn du nicht musst, geht es auf einmal.« Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, fuhren sie in das oberste Stockwerk, wo eine schmale Treppe auf das Dach führte. Sanchez fischte einen mechanischen Schlüssel aus der Hosentasche, den man heutzutage nur noch selten benutzte, schloss die Tür auf und ließ sie passieren. Vor ihnen breitete sich eine durch Wind und Wetter fleckig gewordene Terrasse aus, die mit den aneinandergereihten Solarmodulen an die Liegen eines überfüllten Strandes erinnerten. »Bist du oft hier?« Neugierig lief Tamia zwischen den tiefblauen kristallinen Platten umher, während Sanchez die Schultertasche ablegte und ein Segeltuch an den Rohren an der Wand befestigte. Danach klappte er einen Plastikstuhl auf, setzte sich aber auf den Boden. Da er schwieg, fuhr sie fort: »Führst du deine Dates oft hier her?« »Du bist kein Date. Du bist hier, um mich zu unterhalten.« »Wie soll ich dich denn unterhalten? Soll ich tanzen?« Sie stemmte die Hände in die Seite und schwang mit der Hüfte. »Soll ich meine Hüllen fallen lassen?« Vor den anderen Soldaten hätte sie sich schamlos ausgezogen. »Keine Fragen. Unterhalt mich«, gab er eiskalt zurück. Tamia verzog den Mund. Wie soll sie ihn denn unterhalten, wenn er griesgrämig in der Ecke hockte? Nun gut. Jetzt war sie hier und ihr blieb nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen. Grübelnd faltete sie ihre Hände hinter dem Rücken und überlegte sich, was sie erzählen sollte. »Dann stelle ich mir eben selbst Fragen. Wie heißt du? … Tamia. Meine Freunde nennen mich Tam.« Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter zu Sanchez. Dieser starrte sie mit unbewegter Miene an, sodass sie sich unverzüglich von ihm abwandte. Sie massierte sich die Nasenwurzel, um sich zu entspannen. Der Typ war privat genauso ätzend wie im Dienst! »Was ist dein Beruf? … Ich bin Soldatin.« In den letzten Jahren hatte sie hart an sich gearbeitet, um in die Eliteeinheit aufgenommen zu werden. Nun hatte sie es geschafft und war in den USA. Die Arbeit war anspruchsvoll, ihre Kameraden waren nett, doch glücklich machte es sie nicht. Da sie sich aber nicht traute, einen Rückzieher zu machen, ließ sie das Schicksal für sich entscheiden. Sie stellte allerlei Unsinn an und trotzdem sah es nicht so aus, als würde man sie zurück nach Tasmanien schicken. Ihr flegelhaftes Benehmen hatte ihr lediglich eine Menge Strafdienst eingebracht. »Macht dir dein Beruf Spaß? … Als Spaß würde ich es nicht bezeichnen.« Nur manchmal fühlte es sich so an, als würde sie dadurch ihren Rachedurst stillen können. Tamia stieg über rostige Metallstangen, die anscheinend jemand hier entsorgt hatte, und schaute vorsichtig über das kniehohe Geländer. Tief unter ihr breitete sich die Stadt aus. Die Höhe bereitete ihr ein Kneifen im Magen, dennoch trat sie einen Schritt näher an den Abgrund. »Was magst du? … Sonne, Musik, scharfe Männer.« Sie warf einen Blick auf ihren gebräunten Arm. »Aber hier ist es viel zu heiß. Halbe Stunde in der Sonne und ich kriege einen T-Shirt-Abdruck.« »Was kannst du nicht leiden? Lügner und Feiglinge. Und noch schlimmer ist es, wenn sie dadurch nicht zu ihren Worten stehen.« Da ihr schwindlig von der Höhe wurde, drehte sie sich um. Sanchez durchbohrte sie mit seinem Blick, doch schlimmer war das undeutbare Blitzen in seinen Augen. Im Hollywoodfilm wäre er der Serienmörder. Es lief ihr kalt den Rücken herunter, sodass sie in dem Anflug von Panik ihn anfuhr. »Glotz nicht so!« Sanchez holte zwei Bierflaschen aus der Box und öffnete sie, indem er die Verschlüsse aneinander hebelte. »Setz dich.« »War das ein Befehl oder bietest du mir den Stuhl an?« Skeptisch musterte sie den Mann, der auf dem Boden saß und ihr ein Bier hinhielt. Man sollte nichts von fremden Leuten annehmen. »Keine Fragen.« Schritt für Schritt wagte sie sich näher. Als sie vor ihm stand, griff sie nach dem Getränk, das für ihn bestimmt war. »Ich will nur sichergehen, dass du es nicht vergiftet hast«, behauptete sie. »Wenn ich dich tot haben wollte«, er nahm einen Schluck aus der Flasche, um seine Gleichgültigkeit zu betonen, »wärst du schon längst im Jenseits.« »Mir doch egal!« Tamia hatte kein Problem mit stärkeren Männern, aber es ärgerte sie, dass Sanchez seine Überlegenheit zur Schau trug. Beleidigt ließ sie sich auf den Stuhl fallen. »Vorsi–« Es rumste und Tamia saß auf dem zusammengefallenen Stuhl auf dem Boden. Der Schmerz zuckte durch das Steißbein. »Du willst mich wirklich nicht tot haben?« Sanchez lachte in sich hinein. »Das mit den Fragen hat dein kleines Hirn noch nicht verarbeitet, oder?« Sein Gelächter ignorierend, rappelte sie sich auf und klopfte ohne Hektik den Staub von ihrer Jeans. »Was war das Erste, was du gedacht hast, als du deinen Vorgesetzten gesehen hast?« Gemächlich stellte sie die wacklige Konstruktion wieder auf und ließ sich darauf nieder. »Zum Glück wurde ich schon vorgewarnt. Ansonsten wäre ich laut schreiend davon gerannt …« »Genauso laut wie letztens, als du mein Büro zerschrottet hast?« Als hätte ihr jemand in den Hintern geschossen, fuhr sie herum. Der Stuhl wackelte gefährlich, aber sie konnte ihn noch festhalten. »Du kannst echt nicht still sitzen, was?« Sanchez grinste so dämlich, dass sie ihm am liebsten eine reinhauen wollte. »Und du …«, sie zeigte mit dem Finger auf ihn, »du … du hast ein Grübchen!« Zufrieden nahm sie einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. Es musste ihn tierisch ärgern, dass sie etwas an ihm gefunden hatte, das er zu verstecken versuchte. »Da weißt du nicht mehr, was du darauf sagen sollst, was?« »Und du …« Er machte eine theatralische Pause. »Du bist gar nicht blond.« Tamia wurde bleich. Dieses peinliche Herz, das sie sich aus Langeweile rasiert hatte! Wenn sie nachher in ihr Quartier zurückkehrte, würde sie sich einen Brazilian Hollywood Cut verpassen. Sofort! »Dein Gesichtsausdruck ist köstlich.« Wutschnaubend drohte sie mit der Faust, der Stuhl klappte wieder zusammen und sie plumpste auf den Boden. Sie raufte sich die Haare, während sie sein schallendes Gelächter über sich ergehen ließ. »Setz du dich doch auf dieses komische Ding!« Er zuckte mit den Schultern und sie tauschten Plätze. Demonstrativ verschränkte er seine Arme und kippelte mit dem Stuhl wie ein unartiger Schuljunge. In einem unaufmerksamen Moment trat sie gegen das Stuhlbein und er krachte zu Boden. Sein überraschter Gesichtsausdruck ließ sie ein Lachen herausprusten. Tamia klatschte in die Hände und strampelte mit den Beinen. Sollte er sie doch ausschimpfen! Jede Gelegenheit, in der sie ihn auslachen konnte, musste sie nutzen. Er war nicht wütend. Seine Stimme hatte sogar einen freundlichen Klang. »Ich finde es viel lustiger, dich dabei zu beobachten, wie du dich kugelst. Du kicherst wie ein kleines Mädchen.« Er ahmte sie nach, was sich so befremdlich anhörte wie ein Wolf, der mit dem Gesang einer Nachtigall den Vollmond anzwitscherte. Wieder lachte Tamia los und er stimmte mit ein. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie mit hochrotem Kopf japsend und mit schmerzendem Bauch auf dem Boden lag, aber es fühlte sich unglaublich gut an, mit ihm zu lachen. »Möchtest du dich …« Sie stockte. »Ach ja, keine Fragen. Setz dich doch neben mich.« »Ich habe Sandwiches gemacht.« Er holte in dünnes Papier eingeschlagene Brote heraus, bevor er sich neben ihr niederließ. »Iss.« Nachdenklich starrte sie auf die belegten Brote. Er musste gewusst haben, dass sie nur so früh erscheinen konnte, wenn sie auf das Mittagessen verzichtete. Warum hatte Sandwiches vorbereitet, obwohl sie diejenige war, die sich entschuldigen wollte? Sie sah den Mann, der breitbeinig auf dem Boden fläzte, von der Seite an: Nichts am ihm erinnerte an den verkrampften Offizier. Es bedeutete ihr sehr viel, ihn so locker und fröhlich zu sehen. Sie wollte gern herausfinden, wer sich hinter dem Phänomen Sanchez verbarg. »Dass du Nahrung zubereiten kannst …« »Vorurteile gegenüber einem alleinstehenden Mann?« Das nicht. Aber es passte nicht zu einem Macho wie ihm, vermeintlichen Frauentätigkeiten nachzugehen. »Hast du keine Haushälterin?« »Ich lasse niemanden in meinen privaten Wohnraum.« Ein siegreiches Lächeln huschte über ihre Lippen. Er hatte ihre Frage beantwortet. Mal sehen, wie viel sie noch aus ihm herauskitzeln können würde. »Ruf doch den Pizzaservice.« »Schlimm, dass ich selbst koche?« »Lieutenant Sanchez mit ’nem Kochlöffel in der Hand und in der anderen ein Baby mit vollgeschissener Windel. Dann noch zwei, drei Gören, die zankend zwischen seinen Beinen durchlaufen!« Irgendwie war das eine putzige Vorstellung. Leise kicherte sie in sich hinein. »Ich würde das durchaus machen, wenn mein Partner sich das wünscht.« Mit weit aufgerissenen Lidern starrte sie ihn an. Hatte Sanchez gerade zugegeben, dass er sich für jemanden einschränken würde? Tamia fühlte sich entwaffnet von seiner Offenheit. Er verriet ohne mit der Wimper zu zucken seine Schwächen, obwohl er wusste, dass sie jede Situation nutzte, um ihn zu ärgern. »Hast du nicht Angst, dich aufzugeben?« Sie biss vom Sandwich ab. Da es üppig belegt war, fielen ihr Gurkenstücke aus dem Mund. Eilig schob sie sie wieder hinein. »Wieso? Bist du der Meinung, dass sich die Gesamtheit der Frauen aufgeben muss, weil sie das Geschlecht sind, das die Kinder bekommen darf?« Auf unergründliche Weise fand sie ihn nicht unmännlich, obwohl er sich freiwillig in die Küche stellte und sich mit Kindern abgeben würde. Ganz im Gegenteil: Sie fand es sogar sehr mutig, dass er ihr gegenüber so etwas zugab. Schließlich bot er ihr damit eine weitere Angriffsfläche. »Woher hast du diese Einstellung?« »Das hat mir meine Mutter so vorgelebt.« Tamia wusste nicht, wie sie mit dieser Ehrlichkeit umgehen sollte, und feixte: »Du bist ein Muttersöhnchen!« Sobald sie den Satz ausgesprochen hatte, überfiel sie ein schlechtes Gewissen. Er redete offen mit ihr und sie warf ihm zum Dank Beleidigungen an den Kopf. Wenn das nicht in einem Wutanfall endete … Sein Gesicht verzog sich aber nicht, obwohl sie es erwartet hatte. Statt der Zornesfalte zwischen den Brauen lag ein melancholischer Ausdruck in seinen Augen. »Kann sein.« Tamias Streitlust war verschwunden. Sie schlang die Arme um die Knie und starrte peinlich berührt auf ihre Schuhe. Manchmal träumte sie von einer Freundschaft zwischen Mutter und Tochter, wie man sie aus Mädchenzeitschriften oder Filmen kannte. Leider hatte Tamia nie die Chance gehabt, aus dem Stadium der pubertären Rotzgöre zu kommen. »Ich bereue es schrecklich, dass ich damals nicht auf meine Mutter hören wollte«, sprach sie zu sich selbst. Sanchez gab weder einen gemeinen Spruch ab, noch lachte er sie aus. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und hörte ihr zu. Stockend fuhr sie fort: »Jetzt wünsche ich mir umso häufiger, dass sie noch da wäre und ich sie fragen könnte, was sie in meiner Situation tun würde … ich rede sogar mit ihrem Bild. Blöd, was?« »Das ist normal.« Tamia schaute in den wolkenlosen Himmel und hielt ihren Finger unter die Nase, ignorierte das Kribbeln. Sie lachte gekünstelt. »Meinst du?« »Ich bin mir sicher, dass jeder mal mit verstorbenen Personen redet.« Er reichte ihr ein weiteres Sandwich. »Du musst ordentlich essen.« »Bin ich dir zu mager?« »So ein Wildfang wie du braucht Kalorien.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Und auch wenn du zierlich bist, bist du sehr weiblich.« So viel Freundlichkeit hatte sie nicht verdient. Tamia biss einen großen Happen vom Brot ab, da sie nicht wusste, was sie erwidern sollte. Du bist sehr männlich gebaut. Oder: Du riechst so, wie ich mir Testosteron vorstelle. Das klang wie gekaufter Sex. »Du … du hast mich doch hierher geholt, damit ich dich unterhalte und nicht damit …« Damit was? Das hatte sie sich selbst noch nicht überlegt. »Ich habe kein Problem, dir entgegenzukommen.« Tamia nahm den letzten Schluck aus der Bierflasche und zwang sich, die lauwarme Brühe in der Speiseröhre zu behalten. Sie hasste Lügner und Feiglinge. Sie hasste engstirnige, starrsinnige, mit Vorurteilen behaftete Personen. So einer war Sanchez und nicht sie … oder? Die Welt drehte sich um hundertachtzig Grad. Sie ertrank in den Tiefen des Himmels. Es gab nichts, an dem sie Halt finden konnte. Die Flasche war leer. Das Brot aufgegessen. Nur ein offenes Lächeln und ein fröhliches Grübchen. So gerne würde sie ein Stückchen näher rücken und ihren Kopf an seine Schulter legen. Aber das ging nicht. Der Mann neben ihr war Ruben Sanchez! Sie hielt den Atem an und schaute auf ihr TCD. Wenn sie bei einer geraden Sekundenzahl Luft holte, würde sie sich bei ihm anlehnen. Achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig, … »Hast du noch einen Termin? Du bist unruhig.« »Äh, ja.« Die Lüge bereitete ihr Magenschmerzen. »Du hast es eilig, nicht?« Sag ihm, dass du noch ein Weilchen bei ihm bleibst! Sag ihm, dass du seine Anwesenheit genießt. Sag es ihm, du feige Sau! »Ich begleite dich nach unten.« Er packte die leeren Flaschen in die Tasche, stellte den Stuhl zur Seite und nahm das Sonnensegel ab, bevor sie das Dach verließen. Schweigend stellte sich Tamia in den Aufzug und starrte auf die Digitalanzeige. Die dreißig Stockwerke vergingen zu schnell und Sanchez stieg in seiner Etage aus, ohne dass sie ihm zeigen konnte, was sie fühlte. »Danke für die Unterhaltung«, verabschiedete er sich. »Ich fand es …« Sie verstummte. »Dann sind wir jetzt Quitt.« Noch bevor sich die Tür vollständig geschlossen hatte, hatte sich Lieutenant Sanchez umgedreht. Quitt. Richtig. Sie wollte sich entschuldigen und er hatte ihr angeboten, ihn an seinem freien Tag zu unterhalten. Das war der Deal gewesen. Mehr nicht. Hosted by Animexx e.V. 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