Federmagier von Flordelis (Custos Vitae ~ Zwischenspiel) ================================================================================ Prolog: Verlorener Zauber ------------------------- Und wer diese Geschichte bis hierher verfolgt hatte, wusste eines ganz genau: Er war kein Typ, der kampflos aufgab… egal, was für unmöglich scheinende Aufgaben ihm bevorstanden. Der letzte Satz auf der letzten Seite war immer schon derjenige gewesen, der von ihm gehasst worden war. Aber bei diesem Buch war es besonders schlimm. Wann immer er es nach dem Epilog schloss, juckte es in seinen Fingern, es umzudrehen und wieder auf der ersten Seite aufzuschlagen. Das sah man dem Buch zu seinem Leidwesen aber auch an, einige der Seiten waren bereits lose und mussten von ihm sorgsam behandelt werden, damit sie nicht von einem Windstoß fortgetragen wurden, die einstmals goldenen Lettern auf dem Ledereinband waren inzwischen derart verblasst, dass sie kaum noch lesbar waren. Doch als er das Buch dieses Mal beendete, warf er einen frustrierten Blick auf den Stapel an unbeschriebenem Papier, der auf seinem Tisch lag. Die farbenprächtige Schreibfeder lag direkt daneben, als ob sie nur darauf warten würde, dass er sie wieder ergriff und eines der verstaubten Tintenfässchen aufschraubte, die in Reih und Glied in einer Schublade des Tischs standen. Er hatte es aufgegeben, die Tage und Wochen zu zählen, seit denen er nicht mehr geschrieben hatte. Eigentlich verdiente er seinen Titel schon lange nicht mehr. Federmagier, so hatte man ihn genannt, aber inzwischen war ihm der Zauber abhanden gekommen, die Kreativität hatte ihn gemeinsam mit der Motivation verlassen und er glaubte nicht so recht an ihre Rückkehr. Seine Arbeit laugte ihn aus, saugte geradezu jeden Funken an Talent aus seinem Körper und ließ ihn nur als eine leere, herzlose Hülle zurück – und deswegen liebte er dieses Buch. Es war nicht perfekt, besaß viele Schwächen, aber in jeder einzelnen Zeile war das Herz der Autorin zu spüren, die Liebe zu den Charakteren und die Leidenschaft zur Schreiberei und das gab ihm neue Hoffnung für sich selbst. Aber jedenfalls für den Moment wurde er abgelenkt, als plötzlich ein blaues, kugelförmiges Licht herangeschwebt kam und noch bevor er die dazugehörige Stimme hörte, wusste er, was das zu bedeuten hatte: Es gab eine neue Mission für ihn. Kapitel 1: Gladshem ------------------- Obwohl der Weg eben war, was dafür sprach, dass bereits viele Leute auf dieser Route gereist waren, ruckelte die Kutsche immer wieder heftig. Da half auch die am Fenster vorbeiziehende, angenehme Gegend nichts, um die Nerven der zwei Reisenden zu schonen. Sie starrten durch die Scheibe hinaus, betrachteten Bäume, deren Blätter so tiefgrün waren, wie keiner von ihnen es bislang je zuvor gesehen hatte. Vögel saßen auf den Ästen und sangen ihre Lieder, aber die Kutsche hielt nicht lange genug inne, damit sie diesen hätten lauschen können. Das alles ließ zumindest einen der beiden Reisenden gut gelaunt sein. „Nun schau doch nicht so böse.“ Daraghs Mundwinkel zuckten nach diesem gutgemeinten Rat seines Kollegen. „Ich kann nichts dafür, meine Laune ist eben im Keller.“ Fahrig schob er seine randlose Brille auf ihren angestammten Platz zurück. Jede seiner Bewegungen verriet, wie aufgewühlt er in seinem Inneren war. „Ich bin nicht böse“, stellte er mit fester Stimme klar. „Aber normalerweise gehe ich ohne dieses Buch nirgendwohin – und ausgerechnet dieses Mal habe ich es zu Hause vergessen.“ Zashi, dessen dunkle Augen wie so oft gelangweilt dreinblickten, als könne ihn absolut gar nichts überraschen, lächelte und hob die Hand, um Daragh auf die Schulter zu klopfen, ließ es dann aber doch, als er wieder einmal feststellte, dass sein Partner wesentlich größer als er selbst war und es nur lächerlich aussehen würde, selbst wenn sie beide saßen. „Mach dir doch keine Gedanken deswegen“, riet Zashi. „Du kennst das Buch doch inzwischen auswendig, wie wir alle wissen.“ Einmal hatte Zashi ihn aus Langeweile Zitate abgefragt und Daragh war tatsächlich nicht einmal ins Stottern gekommen. Aber dennoch hielt er weiter die Stirn gerunzelt. „Es macht mich trotzdem sicherer, wenn ich es bei mir habe – auch wenn es ohnehin bald auseinanderfällt.“ Bei Gelegenheit würde er sich ein neues Exemplar kaufen müssen, aber er hing einfach an diesem einen, deswegen fiel es ihm schwer, ein anderes an dessen Stelle treten zu lassen. Es kam ihm nicht fair vor, gegenüber der Person, die ihm das Buch damals geschenkt hatte, auch wenn es sie schon lange nicht mehr gab. „Freu dich doch lieber, dass wir nach Gladshem kommen“, schlug Zashi vor. „Nicht jeder hat das Glück an einem Urlaubsort arbeiten zu dürfen.“ Daragh rollte mit seinen Augen – das einzige, worauf er an sich wirklich stolz war, denn niemand sonst, den er kannte, besaß lilafarbene Augen – und verschränkte die Arme vor der Brust. „Bei der Arbeit, die wir zu erledigen haben, werden wir kaum dazu kommen, Urlaub zu genießen.“ „Jetzt sei doch nicht so.“ Zashi verzog das Gesicht. „Bist du wegen dem Buch echt so schlecht gelaunt? Das ist ja unheimlich.“ Daragh schüttelte mit dem Kopf. „Das ist es nicht. Es ist diese Kutschfahrt...“ Es dauerte einen kurzen Moment, aber dann ereilte seinen Gegenüber die Erkenntnis. „Oh ja, du fährst nicht gerne mit Kutschen.“ Und doch machte es die Mitgliedschaft in seiner Gilde immer wieder notwendig. Am liebsten wäre er einfach ausgetreten – aber die Lazari mochten es nicht, wenn jemand ihre Gilde lebend verließ, es führte immer und ohne jede Ausnahme zu Problemen. Man munkelte sogar, dass die Gilde für den Tod der Lebensgefährtin eines ehemaligen Mitglieds verantwortlich sei und ein solches Risiko wollte man lieber gar nicht erst eingehen. Es gab nur einen einzigen Weg, diese Gilde wirklich hinter sich zu lassen. „Vielleicht habe ich ja Glück und sterbe bald“, murmelte er, was bei Zashi zu einem unglücklichen Seufzen führte. „Sag doch nicht immer so etwas. Es ist gut, dass du lebst. Das wirst du auch noch erkennen.“ Zashi lächelte, um seine Worte zu unterstreichen, aber Daragh stieß nur Luft durch seine geschlossenen Lippen. Er nahm eine Strähne seines Haars und begann, diese zu zwirbeln, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass er jegliches Interesse am Gespräch verloren hatte und er sich ohnehin nicht umstimmen lassen würde. Zu seinem Glück kannte Zashi ihn bereits lange genug, um das zu wissen und ihn für den Rest der Fahrt in Ruhe zu lassen. Erst als sie am Stadteingang aus der Kutsche stiegen und ihre Taschen aus dem Gepäckträger holten, wurde das Schweigen zwischen ihnen wieder gebrochen. Zashi blickte interessiert auf den Boden, der mit hellen Steinfliesen bedeckt war, was sich durch die ganze Stadt zu ziehen schien. „Wow~“, gab er begeistert von sich. „Das ist nur der Boden“, erwiderte Daragh, während er seinen braunen Leinenrucksack aus dem Träger hievte. „Tust du das jetzt bei allem, was wir hier zu sehen bekommen werden?“ „Ich bin immerhin das erste Mal hier, da darf ich doch ein wenig fasziniert sein, oder?“ Daragh zuckte mit den Schultern. „Wenn du unbedingt willst, aber dann verliert es doch irgendwann seinen Zauber.“ Er sah, wie Zashi seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, aber ein drohender Blick von Daragh verriet ihm, dass es in diesem Moment besser wäre, zu schweigen. Kaum war die Kutsche um das Gepäck erleichtert, begann sie wieder fortzufahren. Die beiden blickten ihr erst gar nicht hinterher, sondern fuhren herum, um das Gasthaus aufzusuchen. Gladshem galt nicht nicht nur als beliebter Touristenort, sondern auch als Quelle der Inspiration für Künstler, weswegen es Daragh nicht überraschte, dass viele Statuen – manche mehr, manche weniger realistisch – vor Gebäuden standen und dort von Besuchern bewundert und teilweise auch auf Papier gebannt wurden. Sogar der Springbrunnen auf dem Hauptplatz der Stadt war ein einziges Meisterwerk. Drei Statuen, die Frauen darstellten, standen, knieten und saßen, Rücken an Rücken und hielten Vasen in ihren Händen aus denen Wasserfontänen kamen und in ein tiefergelegtes Becken trafen. In alle vier Himmelsrichtungen gingen in den Boden vertiefte Rinnen vom Brunnen ab, um das Wasser überall hinzutragen. Wozu genau das dienen sollte, wusste Daragh zwar nicht, aber er vermutete auch, dass es dem Macher eher darauf angekommen war, dass es hübsch aussah und nicht, dass es praktisch war. Wie er erwartet hatte, blieb Zashi vor dem Brunnen stehen, um diesen ausgiebig zu bewundern. Selbst dabei schaffte er es überraschenderweise, gelangweilt auszusehen. Daragh ließ den Blick währendessen ein wenig schweifen und betrachtete die derzeit anwesenden Touristen, in der Hoffnung, den Auftrag damit so schnell wie möglich zu erledigen. Aber seine Hoffnung erfüllte sich nicht, denn jeder der Anwesenden war eindeutig ein Mensch, egal wie seltsam einige von ihnen aussahen. Einer trug sogar zahlreiche Federn, die in sein Haar geflochten waren, was Daragh doch sehr faszinierend fand. Ihm schien, dass es sich bei ihnen allen um Künstler mit den verschiedensten Stilrichtungen und Talenten handelte – und diese waren seiner Erfahrung nach immer reichlich seltsam. Er war selbst einmal so gewesen, lange vor seinem Tod und seiner Wiederauferstehung als Lazarus. Aber das Leben zuvor war etwas über das er nicht mehr sonderlich gern nachdachte, denn es war vorbei, endgültig verloren und er hing nicht gern derartigen Dingen nach. Es genügte, dass er beständig seiner Kreativität hinterhertrauerte. Nachdem Zashi den Brunnen schließlich genug bewundert hatte, setzten sie ihren Weg fort und kamen bald darauf am Gasthaus an. Dieses war im Vergleich zum Rest der Stadt reichlich schlicht, keine Statue war davor aufgebaut und auch der Innenraum des Eingangsbereichs war eher trist, abgesehen von der Wand direkt neben der Tür. Dort war ein Gemälde angebracht, das vom Boden bis zur Decke reichte und die verschiedensten kleinen Kunstwerke von reisenden Malern trug, jedes mit einer einmaligen Signatur versehen, damit der Betrachter sofort wusste, von wem welches Werk stammte. Beim letzten Mal hatte Daragh lange innegehalten, um es zu betrachten, aber dieses Mal entdeckte er kein neues, weswegen er keine weitere Zeit damit verbrachte. Eine freundliche Frau hinter dem Tresen hieß sie beide willkommen und wies ihnen ein Zimmer zu, das sie auch sofort aufsuchten. Daragh seufzte, während er den Rucksack ablegte. „Ich hasse es, wenn sie uns nicht direkt sagen, wo sich der Dämon befindet. Die Angabe in der Gegend von ist nicht unbedingt hilfreich.“ „Du kannst auch immer nur meckern, oder?“, fragte Zashi, der es sich auf seinem Bett bequem machte. „Sei doch lieber froh, dass wir mal von den anderen Lazari wegkommen.“ Daragh mochte die anderen genausowenig wie sein Partner, viele von ihnen waren entweder am Rand der Verzweiflung oder sie waren bereits derart zerstört, dass sie sich in den Zynismus retteten und niemanden außer sich selbst ernstnahmen – wenn sie überhaupt noch an sich glaubten. Daragh war selbst als zynisch verschrien, aber er wusste, wann und bei wem er so sein konnte und bei wem er sich lieber am Riemen riss. Die anderen dagegen... „Ich bin ja auch froh. Aber es nervt ziemlich. Die Suche nach dem Dämon ist immer so eine langwierige Angelegenheit, wenn wir nicht wissen, wo genau er ist.“ Manchmal waren sie offensichtlich, sie waren riesige Monster, die sämtliche Menschen in der Gegend ihrer Wahlheimat terrorisierten – und andere, wie ihr derzeitiges Ziel, blieben für sich, versuchten versteckt zu leben und Menschen unmerklich die Energie zu rauben. Diese Monster gehörten zu den gefährlichsten, denn sie waren clever und nutzten das in vollen Zügen aus, um sich so lange es nur möglich war, vor den Lazari zu verstecken. Woher diese allerdings von ihnen wussten, war Daragh nach wie vor schleierhaft. „He, was kann man hier eigentlich noch tun?“, fragte Zashi plötzlich und griff nach einem dünnen Buch, das auf seinem Nachttisch lag und in dem verschiedene Sehenswürdigkeiten der Stadt hervorgehoben wurden. „Während du Tourist spielst, werde ich mich nach einem Anzeichen für den hiesigen Dämon umsehen. Falls etwas Dringendes ansteht, schick mir einfach einen Orb, ja?“ „Klar, du auch.“ Zashi wirkte allerdings derart abwesend, dass er sich nicht sicher war, ob er es wirklich verstanden hatte. Allerdings kümmerte es Daragh vorerst nicht weiter, weswegen er sich umdrehte und mit schnellen Schritten das Gasthaus wieder verließ. Vor dem Gebäude blieb er wieder stehen und sah sich in alle Richtungen um. Zu seinem Unverständnis gab es in der Gilde keinerlei Gerätschaft oder auch nur einen Zauber, irgendetwas, das ihm helfen könnte, diesen Dämon aufzutreiben. Manchmal fragte er sich, wie die anderen es schaffen konnten, die Feinde zu finden, aber keiner von ihnen hatte ihm auf sein Nachhaken geantwortet. Also wählte er ziellos irgendeine Richtung und lief los, in der Hoffnung zumindest einen Hinweis zu finden, der ihm weiterhelfen könnte. Jene Künstler, denen er unterwegs begegnete, beachteten ihn nicht im Mindesten und wenn, dann nur um einen kurzen Kommentar zu seinem kastanienfarbenen Haar oder seinen Augen zu verfassen, ehe sie sich wieder den weitaus interessanteren Dingen widmeten. Keiner von ihnen wirkte so als wäre er das Opfer eines Angriffs geworden, ob nun bewusst oder unbewusst. Erst in einer Seitengasse fand er schließlich Einsamkeit, die er benötigte, um sich auf die Aura eines Dämons zu konzentrieren. Es war gut möglich, dass er eine schwache Spur fand, wenn sich seine Gedanken von nichts ablenken ließen. Doch während er noch versuchte, sich erst einmal zu sammeln, fiel sein Blick auf ein ausladendes Schaufenster, das in dieser verlassenen Gasse geradezu fehl am Platz wirkte, da wohl kaum jemand einfach so vorbeikommen würde. Normalerweise hätte es ihn auch nicht weiter interessiert, wenn irgendein Mensch mit viel zu viel Geld hier versuchte, alles zu verlieren, weil er keine Einnahmen erzielte, aber schon nach wenigen Sekunden erkannte er im dunklen Raum hinter dem Schaufenster etwas, das ihm sagte, um was für einen Laden es sich handelte. Sofort spürte er ein freudig-aufgeregtes Kribbeln in seinem Inneren, das sich verstärkte, als er feststellte, dass die Tür offen war und er eintreten konnte. Der Geruch von frisch gedruckten Büchern umfing ihn sofort und ließ ihn sich wie zu Hause fühlen. An den Wänden reihten sich vollgestellte Regale mit Büchern, die alle nur darauf warteten, dass er sie hervorzog, um in ihre Welten einzutauchen. Es waren so viele, dass er sich nicht entscheiden konnte und sein Blick deswegen unentschlossen über sämtliche Titel flogen, bis er schließlich bei einem bestimmten wieder innehielt. Egal, was er tat, er kam nicht an diesem vorbei, seine Augen blieben wie magnetisiert auf diesen Folianten gerichtet, so dass er ihn aus dem Regal hervorzog. Kein Zweifel... Es war eindeutig jenes Buch, das er ebenfalls besaß, das ein Schatz für ihn war und das er gerade bei dieser Mission zu Hause vergessen hatte. Diese Ausgabe in seinen Händen war allerdings nicht alt und zerfallen, sie war neu, nicht frisch gedruckt, aber auch nicht älter als einige Monate. Er war mehr als nur versucht, sich dieses Buch zuzulegen, einfach nur um es zu haben und es immer mit sich zu führen, damit er seine alte Ausgabe schonen könnte. Noch während er darüber nachdachte, ob er es wirklich tun sollte oder ob es möglicherweise nur eine Verschwendung von Geld wäre, hörte er Schritte hinter sich. Er fuhr herum und erblickte eine junge Frau, die einen Stapel Bücher in den Armen trug. Direkt nach diesen fiel ihm ihr rotes Haar auf, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, ihre blauen Augen erinnerten ihn sofort an den Himmel – aber das war fast sofort wieder vergessen, als er ihre Stimme hörte, die sein Herz zu berühren schien: „Herzlich Willkommen. Wie kann ich dir helfen?“ Kapitel 2: Raelyn ----------------- So groß der Buchladen an sich gewesen war, so winzig war die Küche, die dazu gehörte. Es war nur ein kleiner Raum, gerade groß genug für einen Herd und einen Tisch, viel mehr gab es darin nicht. Das Fenster war winzig und ließ kaum genug Licht herein, so dass an der Wand auch noch ein brennender Kerzenhalter hing. Als Kontrast zu der trostlosen Küche waren die Tassen aus feinem, weißem Porzellan mit kunstvollen goldenen Verzierungen, deren Bedeutungen sich Daragh nicht erschlossen. Der herrlich duftende Tee besaß eine durchaus angenehme, goldbraune Farbe, die sich durch absolut nichts trüben ließ, was dafür sprach, wie geschickt sie – die sich als Raelyn vorgestellt hatte – darin war, ihn zuzubereiten. Die Kekse, die sie dazu reichte, waren ebenfalls köstlich – aber zumindest bei diesen wies sie jede Arbeit von sich. „Die habe ich nicht gemacht“, erklärte sie, während sie verlegen lachte. „Ich kann gar nicht kochen oder backen, ich hab sie bei unserem Bäcker gekauft, er macht köstliche Kekse. Aber wem erzähle ich das, du hast sie ja schon probiert.“ Sie lachte noch einmal und rührte dann deutlich hörbar mit dem Löffel in ihrer Tasse. „Ich habe nicht oft Besuch hier“, erklärte sie ihre Nervosität, „schon gar nicht von Männern. Hier liest eigentlich kaum jemand.“ Sie schob nachdenklich die Unterlippe vor und runzelte die Stirn. Daragh neigte ein wenig den Kopf. „Ist es dann nicht seltsam, hier einen Buchladen zu eröffnen?“ „Oh, ich habe den Laden nur von meinem verstorbenen Vater übernommen. Als er noch lebte, war er eine reine Goldgrube. Aber kurz nach seinem Tod änderte sich einiges... vermutlich, weil jeder immer nur sein neuestes Buch haben wollte.“ Sie seufzte deutlich hörbar. „Aber ich kann es verstehen, er ist ein sehr guter Autor gewesen.“ Daragh blickte auf das Buch hinab, das er mit in die Küche genommen und nun auf seinem Schoß abgelegt hatte. „Aber das hier... hast du geschrieben, oder?“ Er hob es hoch und deutete auf den Umschlag, auf dem deutlich ihr Name abgebildet war. Allerdings wirkte Raelyn über seine Entdeckung nicht sonderlich glücklich. „Ja, es ist von mir. Ich habe es vor einigen Jahren geschrieben, deswegen... ist es auch nicht mein bestes Werk.“ Deprimiert ließ sie den Kopf sinken. „Das ist nicht wahr!“, erwiderte Daragh sofort hitzig, worauf sie erschrocken wieder den Blick hob. „Es ist ein wunderbares Buch! Es ist voller Liebe, Leidenschaft und Herz geschrieben! Deswegen habe ich es immer und immer wieder gelesen!“ Er gestikulierte wild, während er das alles sagte, um seine Worte zu unterstreichen. Sie blickte ihn weiterhin erschrocken an, doch mit jedem Wort wurde ihr Blick ein wenig weicher und schließlich lächelte sie wieder, wenn auch ein wenig traurig. „Danke, Daragh. Das ist wirklich nett.“ „Ich sage das nicht nur so“, fuhr er fort. „Ich habe ein wenig Ahnung vom Schreiben, deswegen erkenne ich gute Geschichten und gute Schreiber – und du bist sicher eine sehr gute.“ Das klang zwar auch in seinen eigenen Ohren reichlich arrogant, aber er versuchte ihr nur deutlich zu machen, wie gut sie war, immerhin schien sie das alles nicht im Mindesten zu glauben und er wusste, wie gefährlich so etwas für einen aufstrebenden Autoren sein konnte. Raelyn lachte leise. „Du bist wirklich seltsam. Aber vielen Dank.“ „Du glaubst mir nicht, oder?“ Sie entschuldigte sich kleinlaut, aber er winkte ab. „Nein, du hast recht, es gibt immerhin keinen Beweis dafür, dass ich Ahnung habe. Deswegen glaubst du, ich versuche nur nett zu sein.“ Über diese Deduktion erstaunt, zog sie die Brauen zusammen. Aber sie sagte nichts, sondern beobachtete nur, wie er ein Pergament und eine Feder aus seiner Tasche zog. Ersteres breitete er auf dem Tisch aus und zeigte damit, dass es vollkommen leer und gewöhnlich war, es war lediglich ein wenig zerknittert von der ganzen Zeit in seiner Tasche. Die Feder war da schon wesentlich außergewöhnlicher, sie war hauptsächlich dunkelgrün, aber noch mit anderen Farben durchzogen, die ein stilisiertes Auge bildeten. Raelyn wusste es nicht, aber Daragh war sich durchaus im Klaren, dass es eine Pfauenfeder war, jedenfalls im kleinen Format. „Was hast du vor?“, fragte sie, während sie die Feder noch bewunderte. Sein Herz schlug ein wenig schneller, als er die Spitze auf das Papier setzte. Wieder fiel ihm ein, wie lange er schon nicht mehr geschrieben hatte und dass seine letzten Versuche nicht wirklich erfolgreich gewesen waren. Aber dann fegte er die Gedanken beiseite und begann einfach zu schreiben, was ihm als erstes in den Sinn kam. Die zuerst noch unzusammenhängenden Worte fanden sich alsbald zu Sätzen zusammen, die, je zahlreicher sie wurden, eine Geschichte über einen kleinen Vogel erzählten, der aus dem Nest fiel und mit seinem verzweifelten Zwitschern ein junges Mädchen auf sich aufmerksam machte, das ihm wieder zurück nach Hause half. Es war beileibe nichts Besonderes, aber es war das erste, was er in Monaten zustande gebracht hatte und dementsprechend stolz war er auch auf sich selbst. Kaum hatte er den letzten Punkt gesetzt, reichte er der verwirrten Raelyn das Pergament und drängte sie dazu, es zu lesen, was sie schließlich auch tat. Normalerweise mochte er es nicht, wenn andere etwas lasen, das er geschrieben hatte, vor allem direkt nach dem Erschaffen, aber es ging hier immerhin um etwas, das er einzig und allein für sie geschrieben hatte, sie musste es daher lesen. Während ihre Augen über die Zeilen wanderten, hellte sich ihr Gesicht immer weiter auf. Als sie schließlich geendet hatte, hob sie den Blick, ihre Augen glitzerten begeistert. „Oh, das ist eine wirklich hübsche Geschichte. Anscheinend kannst du wirklich schreiben.“ „Sagte ich doch“, erwiderte er. Aber das Glitzern verschwand schnell wieder aus ihren Augen. „Das bedeutet dennoch nicht, dass ich gut bin. Vielleicht bist du nur... sehr höflich.“ „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Sie sank ein wenig tiefer auf ihrem Stuhl, während sie eine Entschuldigung murmelte. „Ich bin nur einfach nicht sehr selbstsicher, was meine Fähigkeiten angeht.“ „Dabei gibt es dafür gar keinen Grund“, versicherte er ihr. „Sicher, der Stil, den du in dem Buch hast, ist ausbaufähig, aber du hast definitiv Talent, sehr viel sogar. Es gibt keinen Grund, dass du dich verstecken müsstest.“ „Aber mein Vater-“ Sie unterbrach sich selbst, indem sie sich auf die Zunge biss, als sie bemerkte, was sie gerade hatte sagen wollen. „Nein, vergiss es. Mein Vater hat damit gar nichts zu tun. Ich sollte dich auch gar nicht damit nerven, wir kennen uns ja kaum.“ Das stimmte durchaus, aber in seiner Karriere als Lazarus war Daragh oft mit tragischen Geschichten von Leuten konfrontiert worden, die er nicht gekannt hatte. Das Schicksal jener Lazari, die zu Dämonen geworden waren, als die Verzweiflung sie übermannt hatte, war in der jeweiligen Seelenwaffen gespeichert und wurde an denjenigen weitergereicht, der in den Besitz dieser Waffe gelangte. Keiner Personen hatte er helfen können, denn sobald ein Jäger ein Dämon wurde, kam jede Hilfe zu spät, es gab keinen Weg, sie zurückzuverwandeln, genausowenig wie ein Lazarus wieder zu einem normalen Menschen werden konnte. Aber Raelyn war kein Lazarus, sie war kein Dämon, es war noch nicht zu spät, ihr zu helfen. „Es stört mich nicht, wenn du mir davon erzählst. Ich habe sozusagen beruflich, oft mit derartigen Dingen zu tun.“ „Bist du Psychologe?“, fragte sie neugierig. „So etwas in der Art...“ Menschen reagierten nicht unbedingt positiv darauf, wenn sie erst einmal erfuhren, worum es sich bei einem Lazarus handelte. Er vermutete, dass es daran lag, dass Menschen niemandem trauen konnten, der wie sie aussah und doch einer anderen Spezies angehörte. Deswegen verzichtete er darauf, ihr zu erzählen, was er eigentlich tat und wie er zu seinen Kenntnissen gekommen war. Aber sie hakte auch nicht weiter nach, sondern erzählte ihm freimütig, was er wissen wollte: „Mein Vater war ein sehr talentierter Autor, der wunderbare Bücher geschrieben hat. Ich bin nicht einmal halb so gut wie er, aber alle erwarten von mir, dass ich ihn übertreffe, weil ich ja seine Tochter bin. Das ist mir viel zu viel Druck.“ Sie verzog unwillig das Gesicht, worauf er verstehend nickte. „Ja, das dachte ich mir. Bei mir ist es ähnlich.“ „War dein Vater schon Psychologe?“, fragte sie. Er wollte bereits ablehnen und ihr sagen, dass sein Vater ein Dämonenjäger gewesen war – ein sehr guter sogar, wie ihm immer wieder erzählt wurde – aber dann fiel ihm erneut ein, was Menschen von Lazari hielten, weswegen er nickte. „Ja, genau. Er war ein überragender Psychologe. Sehr... überragend... zumindest wurde mir das immer erzählt. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt.“ Schlagartig schien sie traurig zu werden. „Oh... das tut mir wirklich Leid.“ „Muss es nicht“, erwiderte er sofort. Immerhin hatte es ihn nie sonderlich gestört. Er war immer Teil einer Familie gewesen, nicht seine leibliche zwar, aber es hatte sich stets wie eine solche angefühlt. „Denkst du, ich werde diese Sperre irgendwann hinter mir lassen können?“, fragte sie, um wieder das Thema zu wechseln. „Ich bin davon überzeugt“, antwortete er selbstsicher. „Jede Barriere kann überwunden werden, wenn man nur genug Zeit und Willen dafür hat.“ Auch wenn er sich noch seiner eigenen Schreibblockade gegenübersah, glaubte er dennoch, dass auch diese einmal enden würde. Sie musste einfach. „Dann glaube ich auch daran“, sagte sie lächelnd. Ein weit entfernt klingender Glockenschlag unterbrach das Gespräch der beiden. Daragh hob automatisch den Kopf, worauf sie es ihm nachtat. „Ist es schon so spät?“, fragte sie enttäuscht. „Ich muss mich langsam an einen Auftrag machen, den ich gestern bekommen habe.“ „Was für ein Auftrag?“ Sie blickte wieder verlegen auf ihren Tee hinab. „Na ja, ich bin wohl eine ganz annehmbare Malerin, deswegen hat eine Nachbarin mich gebeten, ihr ein Bild für die Hochzeit ihrer Tochter zu malen. Wenn ich fertig werden will, sollte ich bald anfangen. Ich brauche immer viel zu lange dafür.“ Ihr neu gefundenes Selbstvertrauen verflog sofort wieder. „Aber ich bin wohl in gar nichts wirklich gut, ich...“ Sie bemerkte seinen tadelnden Blick und bremste sich sofort: „Äh, ich meine, weil mir Qualität so wichtig ist, brauche ich eben ein wenig länger für ein Bild, genau.“ „Schon viel besser“, lobte er und reichte ihr das Buch. „Kannst du mir das, bevor ich gehe, vielleicht signieren? Ich würde es für immer als Andenken bewahren.“ „Aber natürlich.“ Sie nahm ihm das Buch ab und ließ sich dann auch die Feder geben, wenngleich er sie nur widerwillig aus der Hand gab. Mit einigen schwungvollen Bewegungen schrieb sie einen kleinen Text auf die erste Seite, dann gab sie ihm beides zurück, das Buch hatte sie allerdings bereits wieder geschlossen. „Lies die Worte erst, wenn du draußen bist, ja? Das ist mir sonst viel zu peinlich.“ Sie lachte wieder verlegen, worauf er nicht anders konnte, als es ihr zu versprechen. „Das ist übrigens eine sehr tolle Schreibfeder“, bemerkte sie. „Kein Wunder, dass du so gut damit schreiben kannst.“ Im Anschluss wollte sie ihm noch das Pergament reichen, aber er schüttelte mit dem Kopf. „Du kannst es behalten, ich habe die Geschichte für dich geschrieben und ich will, dass sie bei dir bleibt.“ Sie bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln und drückte das Pergament an ihre Brust. „Ich werde die Geschichte immer in Ehren halten und sie mir ansehen, wann immer ich Motivation benötige.“ „Genau so soll es sein.“ Er trank den letzten Schluck Tee in seiner Tasse, ehe er aufstand, Raelyn wieder in den Laden zurückbegleitete und sich dann von ihr verabschiedete. Obwohl er in diesem Moment nicht damit rechnete, sie wirklich wiederzusehen, fühlte sich der Abschied für ihn auch nicht endgültig an. Es war wie eine Art Vorahnung, die ihm zuflüsterte, dass er sie schon bald wiedersehen würde – und falls es nur deswegen war, weil er es unbedingt wollte. Als er den Laden verließ, lief er einige Schritte, ehe er stehenblieb und das Buch öffnete, um herauszufinden, was sie ihm geschrieben hatte. Seine Augen glitten über ihre Handschrift und genau wie sie vorhin, musste er nun mit jedem Wort mehr lächeln. An meinen größten Fan, vielen Dank für deine Zeit an diesem Nachmittag. Ich werde mich immer gern zurückerinnern, besonders wenn ich schreibe. Vielleicht können wir das wiederholen, wenn du willst? Falls du Zeit hast, komm jederzeit wieder vorbei. Alles Gute in deinem Leben bis dahin, Raelyn Kapitel 3: Kommt Zeit, kommt Rat -------------------------------- Als Daragh wieder ins Gasthaus kam, war Zashi von seiner Tourismus-Tour auch zurück, wirkte allerdings ganz und gar nicht zufrieden. Auf einem Stuhl am Tisch sitzend, starrte er mit finsterem Blick auf etwas, das auf der Platte lag. Daragh ging näher und erkannte, dass es sich dabei um ein Blatt Papier handelte, auf dem eine große Feier angekündigt wurde. In seinen Augen eine gute Sache, besonders als Ablenkung vom alltäglichen Trott, aber Zashi starrte die Ankündigung an, als wäre sie eine Einladung zu einem Maskenball des Todes. Daragh legte das Buch vorsichtig auf dem Tisch ab, was Zashi dazu bewegte, den Kopf zu heben und ihn direkt anzusehen. „Oh, du bist wieder hier.“ „Wie du siehst. Und was beschäftigt dich gerade, dass du so finster blickst?“ Statt einer Antwort deutete Zashi mit dem Zeigefinger auf die Ankündigung, aber als er bemerkte, dass es Daragh nichts sagte, holte er zu einer Erklärung aus: „Dieses Fest findet hier jedes Jahr zur selben Zeit statt. Das wusste ich nicht.“ „Und? Hast du was gegen Feste?“ Zashi presste die Lippen aufeinander, überlegte offenbar, ob er nicht vielleicht zu viel verraten würde, wenn er nun etwas sagte – und kam mit sich selbst überein, dass er nichts sagen wollte. „Schon gut. Es wird bestimmt spaßig.“ Daragh setzte sich auf den anderen Stuhl und blickte Zashi direkt an. „Okay, was ist los?“ „Gar nichts“, erwiderte Zashi unwirsch, obwohl er genau wusste, dass er damit erst recht darauf hinwies, dass er ein Problem hatte – und noch ehe er es sich anders überlegen konnte, so wie sonst auch, wenn Daragh ihn so ansah, hörten sie beide eine Stimme auf dem Gang vor der Tür. „Ja, ich weiß“, sagte ein Mann lachend. „Vielen Dank.“ Seine Schritte gingen am Raum vorbei und verhallten irgendwo weiter hinten im Gang. Die Stille breitete sich nicht nur dort aus, sondern auch in ihrem Zimmer, während sie beide auf die Tür starrten. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, ehe Daragh wieder etwas fragte: „Was macht er hier?“ Zashi antwortete nicht, weswegen er einfach weitersprach: „Sag mir nicht, er besucht dieses Fest jedes Jahr! Sag mir nicht, wir laufen ihm vielleicht über den Weg!“ „Gut, ich sage es dir nicht.“ Von plötzlicher Unruhe erfasst, sprang Daragh auf und lief eilig im Raum hin und her, dabei griff er sich immer wieder an die Brille, um sie zurechtzurücken. „Warum muss er gerade jetzt hier Urlaub machen, während dieses Monster...?“ Unwillkürlich verstarb seine Stimme und hinderte ihn so daran, den Satz zu beenden. In seinem Inneren verbanden sich die Bruchstücke dieser seltsamen Geschichte zu einem, noch immer unvollständigen, Bild – aber was er davon erkennen konnte, wollte ihm nicht gefallen. „Das ist eine Falle!“, stieß er im selben Moment wie Zashi aus, dem ein unendlich schweres Gewicht von der Brust zu fallen schien. Es kam selten vor, aber es gab mehr als genug Menschen, die von den Lazari wussten und einen Groll gegen sie hegten. Daragh konnte es verstehen. Nicht immer liefen Dämonenjagden glimpflich oder ungefährlich für Zivilisten ab. Nicht selten lockten die Monster sie in bewohnte Gebiete, in der Hoffnung, dass die Lazari sich nicht zu kämpfen getrauten, aus Furcht, einem Unschuldigen Leid zuzufügen oder ihn sogar zu töten, wie es auch schon mehrmals vorgekommen war. Während manche Menschen es schafften, über diesen Verlust hinwegzukommen, nährten andere ihren Zorn und versuchten, Lazari zu töten. Manchmal nur bestimmte von ihnen, manchmal wahllos. Es gelang nicht oft, aber die wenigen Male, in denen es funktionierte, waren mehr als genug. Wesentlich seltener kam es auch vor, dass Lazari ihresgleichen verabscheuten, wohl auch deswegen, weil sie die Wahrheit um das Schicksal aller kannten. Und dann, ganz vereinzelt, gab es jene Lazari, die ihren Zorn, ihren Hass, ihre Wut, auf eine einzige bestimmte Person konzentrierten. Der einzige Lazarus, dem es gelungen war, die Gilde lebend zu verlassen – aber da er nicht mehr lebte und der Zorn dennoch nicht nachließ, war dieser auf ein neues Ziel konzentriert: Den Adoptivsohn dieses Mannes, den Lazarus-Anwärter, der inzwischen die 20 überschritten hatte, ohne sich zu verwandeln, was zu weiterem Gram bei manchem führte, denn warum sollte gerade er das Glück haben, nicht ihr Schicksal zu teilen? Was machte ihn so besonders? Das alles machte die Auswahl an möglichen Feinden, die hierfür verantwortlich waren, nicht gerade einfach und warf weitere Fragen auf: „Aber für wen ist diese Falle bestimmt? Für ihn? Für uns? Für alle Lazari und Anwärter, die gerade in der Gegend sind?“ „Das kann ich dir nicht sagen“, antwortete Zashi. „Die Vision ist zu ungenau. Ich weiß nur, dass Marama auch da sein wird, wenn der Dämon das Fest angreift.“ Daragh dachte nur ungern an Marama. Sie war schon länger eine Lazarus als er und hatte erst vor kurzem ihren Partner verloren, weswegen sie sich immer noch in Trauer befand. Sie war schon vorher nie sonderlich redefreudig gewesen, aber seit dem Tod dieses Mannes schwelte etwas in ihrem Inneren, das – den Gerüchten nach – selbst Cerise, ihrer Anführerin, Sorgen bereite. Jeder Lazarus war erstaunt darüber, dass sie sich noch nicht in einen Dämon verwandelt hatte und Daragh gehörte sogar zu jenen, die sich deswegen vor ihr fürchteten. Wer so verzweifelt war wie sie und dennoch ein Lazarus blieb, statt sich in ein Monster zu verwandeln, musste einen Pakt mit finsteren Mächten eingegangen sein. „Dann ist sie wohl in der Gegend“, bemerkte Daragh ohne jede Begeisterung. „Wir sollten uns mit ihr treffen, um zu besprechen, wie wir vorgehen sollen. Immerhin müssen wir daran denken, dass da noch... jede Menge Menschen sein werden.“ Zashi nickte schweigend, den Blick wieder auf die Ankündigung der Feier gerichtet. Daragh nahm das Blatt an sich und zerriss es hastig, um den sorgenvollen Ausdruck auf dem Gesicht des anderen zu zerstreuen. „Mach dir keinen Kopf mehr darum. Erzähl mir lieber, wie dir die Stadt gefällt.“ „Sie ist hübsch“, antwortete er. „Mir gefällt, dass es so viele Künstler hier gibt. Weißt du, Künstler sind interessante Menschen. Während ich nur den Lauf der reellen Zeit sehen kann, ist es ihnen möglich, Dinge zu sehen, die anderen, vor allem mir, verborgen bleiben. Und diese Dinge halten sie in ihren Bildern und Geschichten fest, damit jeder an diesen verborgenen Schönheiten teilhaben kann.“ Diese Erklärung half Daragh endlich, zu verstehen, warum gerade er – der immerhin auch ein Künstler war – mit Zashi zusammenarbeiten musste. Er schmunzelte ein wenig. „Verstehe...“ Statt noch etwas zu sagen, wandte der andere den Kopf zu dem Buch, das auf dem Tisch lag und er erkannte den Titel sofort. „Du hast ein neues Exemplar gefunden?“ „Nicht nur das!“, sage Daragh sofort und nahm es wieder an sich. „Ich habe sogar die Autorin des Buches getroffen!“ Zashi lächelte sanft, was seiner Freude sofort einen Dämpfer verpasste. „Du hast es gewusst?“ „Natürlich“, sagte der andere und fuhr sich verlegen durch das Haar. „Was wäre ich für ein Hellseher, wenn ich das nicht hätte vorhersehen können? Aber die Überraschung war doch sicherlich größer, als du sie ahnungslos getroffen hast.“ Das konnte er nicht verleugnen. Noch immer spürte er ein angenehmes, geradezu befreiendes Gefühl in seinem Inneren, das die Ketten zu sprengen versuchte, in die jeder Lazarus sein Herz legte, um es vor der Verzweiflung zu schützen. Es war nur ein Treffen gewesen und vielleicht hatte seine Bewunderung und seine Liebe zu einem ihrer Werke sein Denken vernebelt, aber er mochte es. Er liebte dieses Gefühl in seinem Inneren, das freigesetzt worden war, in dem Moment, in dem er in ihre blauen Augen geblickt hatte und bei der Erinnerung an sie immer wieder zurückkehrte. Wäre ihm das ebenfalls so ergangen, wenn er im Vorfeld davon gewusst hätte? „Nun“, sagte Zashi plötzlich, „ich bin froh, dass es so gut gelaufen ist. Jetzt müssen wir uns nur noch mit Marama treffen.“ Um das einzuleiten, zog er eine handflächengroße, aber dünne, Metallplatte hervor, die in zwei Hälften geteilt war. Er tippte die obere Hälfte ein, die sofort zu wirbeln begann, näherte die Platte seinen Lippen und flüsterte kaum hörbar etwas. Die sich drehende Hälfte bildete eine kleine, blaue Kugel, die auf ihrem hellsten Punkt zu wachsen aufhörte und dann eilig wegflog, als fürchtete sie, noch aufgehalten zu werden, ehe sie ihre Nachricht überbringen könnte. Im nächsten Moment war das Lazarus-Orb bereits aus dem Raum verschwunden und wie jedes Mal hoffte Daragh, dass es auch den richtigen Weg einschlug und nicht bei irgendwem sonst landete. Das war zwar noch nie geschehen, aber einmal war bekanntlich immer das erste Mal. „Wer hat eigentlich diese Mission eingeleitet?“, fragte er, nachdem Zashi die Platte wieder eingesteckt hatte. „Ich weiß es nicht so genau. Parthalan hat es nicht gesagt, nur, dass es hier in der Gegend eben einen Dämon geben soll, um den wir uns kümmern müssen.“ „Hat Parthalan jemals etwas gesagt, das wirklich nützlich ist?“ Daragh mochte den Assistenten von Cerise nicht sonderlich, schon allein, weil es hieß, dass er unsterblich war, was er reichlich unheimlich fand. „Wie auch immer... was machen wir jetzt bis zu unserem Treffen mit Marama?“ Zashi erhob sich strahlend von seinem Stuhl. „Ich werde rübergehen und Kierans Sohn kennenlernen! Wann trifft man denn schon mal seinen Erlöser?“ „Oh nein, das wirst du nicht!“, erwiderte Daragh sofort. Seit der andere diese – reichlich abgedrehte, wie er fand – Vision vom Ende des Lazari-Zeitalters gesehen hatte, war er zu einem unsterblichen Fan dieses Nolans geworden. Daragh war es möglich gewesen, ebenfalls einen Blick auf die Vision zu werfen, was ihn mit einigem an Respekt erfüllte, aber Zashis Fan-Dasein empfand er doch als ein wenig unangenehm. „Aber die Chance kommt so schnell nicht wieder!“ „Du kannst doch nicht einfach zu einem Fremden gehen und ihn ansprechen, du jagst ihm sicher Angst ein!“ „Ich bin total harmlos!“ Während die beiden den jeweils anderen von ihrem Standpunkt zu überzeugen versuchten, saß Nolan mehrere Zimmer weiter an seinem Fenster und blickte voller Vorfreude lächelnd hinaus, um die Stadt zu betrachten. Dabei bemerkte er die kleine blaue Kugel, die umherschwebte, ihn eine Weile durch das Fenster zu beobachten schien und dann eilig davonschwebte, als hätte sie gerade erkannt, dass er nicht die gesuchte Person war oder sie eigentlich gar nicht sehen dürfte. Mit geneigtem Kopf blickte er ihr hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war – und fragte sich dabei, seit wann es blaue Glühwürmchen gab. Kapitel 4: So schnell trifft man sich wieder -------------------------------------------- Obwohl er es inzwischen gewohnt sein müsste, war Daragh immer noch davon überrascht, dass Zashi recht hatte, auch an diesem Tag wieder. Der Vorschlag, sich mit Marama an einem Brunnen auf einem belebten Platz zu treffen, war nicht sonderlich begeistert von Daragh aufgenommen worden, denn egal wie oft Zashi ihm versichert hatte, dass niemand auf sie achten würde, er glaubte dennoch, dass man sie neugierig mustern und auch belauschen würde, wenn sie sich derart in der Öffentlichkeit unterhielten. Aber Zashi war wirklich im Recht gewesen. Während sie beide noch auf dem Rand des Brunnens saßen und auf Marama warteten, achtete niemand auf sie, obwohl Daragh sich ein wenig fehl am Platz vorkam und er deswegen glaubte, erst recht herausstechen und die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu müssen. All diese Menschen waren Künstler, Maler, Bildhauer, Autoren, genau wie er – und doch fühlte er sich ihnen nicht angehörig, als wäre er durch eine unüberwindbare Mauer aus Glas von ihnen getrennt und es gab nichts, was er tun konnte, um das Hindernis einzureißen. Allerdings war er sich auch nicht sicher, ob er das überhaupt wollte, immerhin gab es da immer noch den Unterschied, dass er ein Lazarus war und die anderen Künstler eben nicht. Aber allzu lange konnte er diesem Gedanken auch nicht nachhängen, da sein Blick schließlich von einer Person angezogen wurde, die sich durch die Menge direkt auf sie beide zubewegte. Es war eine jung aussehende Frau mit schwarzem Haar, das eigentlich recht kurz war – wenn man von dem Pferdeschwanz absah, der stets über ihre linke Schulter fiel. In ihren dunklen Augen war selbst von weitem noch immer ein trauriger Schimmer zu erkennen, so glaubt Daragh zumindest, aber er war sich auch sicher, dass er sich das nur einbildete, weil er genau das von ihr erwartete und sie so auch im Gedächtnis hatte. Die Kleidung, die sie trug, war wie üblich ein wenig zu groß und unterstrich nur wie zierlich sie war, weswegen Daragh sich wieder einmal ins Gedächtnis rufen musste, dass sie normalerweise äußerst erfolgreich mit einem Speer kämpfte und daher keine mitleidigen Gedanken brauchte, die sich nur darum drehten, wie sie die Schlachten gegen die Dämonen wohl bestehen konnte. Zashi stand sofort auf, als sie vor ihnen stehenblieb und begrüßte sie lächelnd. „Hallo, Marama. Wie schön, dass du es so schnell einrichten konntest – auch wenn ich das natürlich vorher schon gewusst habe.“ Sie warf ihm einen Blick zu, der deutlich machte, wie müde sie von ihm und all seinen Aussagen war und wandte sich dann an Daragh: „Warum habt ihr mich gerufen?“ Er störte sich, im Gegensatz zum deprimiert dreinblickenden Zashi, nicht daran, dass sie jede Höflichkeit vermissen ließ und antwortete stattdessen einfach: „Du warst doch in der Gegend, oder? Jedenfalls sah es so aus, als wärst du bei dem Angriff des Dämons ebenfalls anwesend und ich dachte, es wäre besser, wenn wir dich dann direkt in diese ganze Sache involvieren.“ Es war ihm nicht möglich, den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu deuten, als sie Zashi einen Blick zuwarf, aber zumindest war sie keinesfalls erfreut über diese Sache, so viel konnte er sagen. „Eigentlich habe ich ja gar keine Zeit für so etwas“, sagte sie seufzend und stemmte dabei die Hände in die Hüften. „Aber fein, ich werde euch helfen. Was ist es denn für ein Dämon? Habt ihr ihn schon gesehen?“ Beide schüttelten einstimmig mit dem Kopf, aber Zashi begann sofort damit, ihn zu beschreiben: „Es sieht aus wie ein Wolf, ist aber etwa doppelt oder dreifach so groß. Nachtschwarzes Fell, giftgrüne Augen, rasiermesserscharfe Klauen und Zähne. Alles in allem kein Wesen, dem man im Dunkeln begegnen will, außer man hat zufällig ein oder zwei Sensen dabei.“ Marama ließ sich davon nicht beeindrucken, während Daragh nicht umhin kam, zu lächeln. Selbst wenn Zashi so etwas Ernstes erzählte, konnte er seine Scherze nicht lassen. „Das sieht nicht wie ein Wesen aus, das bei uns bekannt ist“, meinte sie. Es gab viele unterschiedliche Dämonen, die man in zwei Kategorien einteilte, ehe sie weiter aufgesplittert wurden. Da gab es die Äußeren Dämonen, die durch Portale aus anderen Welten kamen und nun in dieser Chaos verursachten, manchmal allerdings unfreiwillig, deswegen waren sie Daragh am Liebsten, immerhin konnte man ab und an sogar vernünftig mit ihnen reden. Diese Wesen waren allesamt erfasst, katalogisiert und konnten jederzeit von den Gildemitgliedern eingesehen werden, damit man wusste, wie man sich am besten mit ihnen auseinander setzte. Und dann gab es die Lazarus-Dämonen, die aus jenen bestanden, die einst menschlich gewesen waren und die alle derart individuell waren, dass es sich nicht lohnte, sie offiziell zu katalogisieren und die Daten allen anderen Mitgliedern zur Verfügung zu stellen. Lediglich wenn ein Lazarus einem solchen Dämon begegnete und er entkommen konnte, wurden die Daten erfasst, damit sie in Zukunft effektiver bekämpft werden konnten. Dass dieses Wesen nicht bekannt war, bedeutete entweder, dass es aus einer unbekannten Welt war oder dass es einst ein Lazarus gewesen war, allerdings erinnerte Daragh sich an niemanden, der sich vor kurzem verwandelt hatte. „Was es mit ihm auf sich hat, weiß ich auch nicht“, sagte Zashi. „Aber er wird auf jeden Fall auftauchen und ziemlich viel Chaos anrichten, wenn wir es nicht verhindern.“ „Habt ihr schon einen Plan?“, fragte Marama. Zashi sah Daragh schuldbewusst an, er zuckte allerdings nur schmunzelnd mit den Schultern. Sie schmiedeten selten im Vorfeld Pläne, nicht zuletzt weil Zashi der Überzeugung war, dass sie besser auf Überraschungen reagierten, wenn sie flexibel blieben – und das ging, in seinen Augen, nur wenn sie vorher keine Pläne schmiedeten. Marama verschränkte die Arme vor der Brust. „Verlangt ihr etwa, dass ich mir das alles allein ausdenken soll?“ „Natürlich nicht“, beruhigte Zashi sie sofort. „Wir brauchen einfach Unterstützung. Du weißt doch, wie anstrengend so etwas werden kann.“ Sie blickte ihn missgelaunt an, hob dann aber die Schultern. „Fein, von mir aus. Ich helfe euch. Aber dann schuldet ihr mir etwas.“ „Alles, was du willst.“ Daragh mochte es zwar nicht, dass Zashi ihr das so leichtfertig versprach, aber er sagte auch nichts dagegen. Immerhin brauchten sie die Hilfe von Marama, das wusste er sehr genau – und er traute sich außerdem nicht, ihr in irgendeiner Art und Weise zu widersprechen. „Dazu muss ich jetzt aber wissen, was genau passieren wird“, sagte sie. Zashi nickte und begann sofort damit, zu erzählen, wie es in seiner Vision abgelaufen war. Für Raelyn lief es weniger gut. Die Arbeit an dem Bild für ihre Nachbarin ging derart langsam voran, dass sie schließlich sogar den, ohnehin kaum besuchten, Laden schloss und sich auf den Weg zum Markt machte, damit sie sich etwas zu essen kaufen könnte. Während sie lief, entdeckte sie mehrere Dekorationsarbeiten für das bevorstehende Fest, was sie daran erinnerte, dass sie sich langsam Gedanken machen müsste, wie sie ihren Stand aufbauen könnte. Eigentlich hatte sie darauf verzichten wollen, aber es war eine kaum zu umgehende Verpflichtung für alle Ladenbesitzer der Stadt. Um sich Ärger zu ersparen, hatte sie sich damit abgefunden, den ganzen Tag dort zu verbringen, genau wie ihr Vater früher. Immerhin musste sie sich nicht mit dem Aufbau herumschlagen, das nahm ihr glücklicherweise bereits jemand ab. Sie grüßte jede Person lächelnd, hielt aber nicht an, um sich mit irgendeinem von ihnen zu unterhalten. Jeder war beschäftigt, sie hätte damit nur gestört. Unter all den Leuten, die sie kannte, begegneten ihr dabei allerdings auch einige Fremde. Es waren zwei junge Männer und eine Frau. Jeder von ihnen hatte braunes Haar, aber einer von ihnen war durch seine blonden Strähnen besonders außergewöhnlich, wie sie fand. Außerdem schien er mehr unter der Frau mit den Zöpfen zu leiden als jener mit dem roten Stirnband, der ein sanftes, entschuldigendes Lächeln aufgesetzt hatte. Im krassen Gegensatz zu ihm, fauchte der andere Mann tatsächlich zurück, wann immer die Frau ihn ein wenig zu scharf anfuhr. Allerdings glaubte sie nicht, dass sie wirklich aggressiv zueinander waren. Sie wirkten vielmehr wie Geschwister und deswegen griff wohl keiner der anderen Passanten ein. Obwohl Raelyn überzeugt war, dass sie keine Bewohner der Stadt waren, arbeiteten sie ebenfalls an der Dekoration und waren damit beschäftigt, Seile für die späteren Lampions aufzuhängen. Ihr Vater hatte einmal gesagt, dass man zu Zeiten des Festes oft Außenstehende dafür anheuerte, um zu helfen, aber es war das erste Mal, dass sie davon wirklich Zeugin wurde. Sie arbeiteten eifrig vor sich her, nur unterbrochen von den kurzen Schlagabtäuschen zwischen ihnen, noch ein Grund, warum es wohl niemanden kümmerte. „Landis, du hängst es so total schief auf!“, beklagte die Frau sich lautstark, als Raelyn gerade vorbeilief. „Kannst du denn gar nichts richtig machen?!“ Der Mann mit den Strähnen, scheinbar Landis, knurrte. „Es ist gerade! Du hast nur einen Knick in der Optik, das ist alles!“ Sie ließ fast das Seil fallen, das sie hielt. „Wie war das?!“ „Bitte“, ergriff der andere das Wort, „streitet euch doch nicht. Wir sollten eher zusammenarbeiten.“ Das wirkte, um sie wieder weiterarbeiten zu lassen, allerdings nicht für lange. Schon nach wenigen Schritten hörte Raelyn sie wieder streiten, kümmerte sich aber nicht mehr darum. Es gibt schon seltsame Leute... Solange sie keinen Ärger verursachten, glaubte sie nicht, dass es schlechte Leute waren, aber sie wusste, dass sie sich dennoch von ihnen fernhalten wollte, solange sie in der Stadt waren. Doch die Gedanken an diese Personen traten in den Hintergrund, als sie den Brunnenplatz erreichte. Ihr Blick schweifte über die Hausfrauen, die mit gefüllten Einkaufstaschen dastanden und miteinander tratschten, als wäre das Gewicht unerheblich; spielende Kinder, die ihre Kreativität auslebten, indem sie sich für Helden ausgaben; Künstler, die zusammen ihre neuesten Werke besprachen oder über die kommenden nachdachten – und mittendrin drei Personen, die ganz klar herausstachen, von denen sie aber nur einen einzigen kannte. Die drei unterhielten sich mit sehr ernsten Gesichtern, weswegen sie überlegte, einfach so zu tun, als hätte sie ihn nicht gesehen, aber dann dachte sie auch wieder daran, was für ein gutes Gefühl ihr das Gespräch mit ihm eingebracht hatte und dass sie ihn zumindest kurz grüßen könnte. Außerdem schien er von dem aktuellen Gespräch ohnehin gelangweilt, weswegen sie keinerlei Problem darin sah, zumindest ihn davon zu lösen. Schon nach wenigen Schritten in seine Richtung, wandte er sich ihr zu, blickte erst erschrocken und lächelte dann, nachdem er den anderen ein Zeichen gegeben hatte, worauf sie sofort schwiegen und sich ihr ebenfalls zuwanden. Das machte es ihr zwar unangenehm, aber sie konnte nun schlecht einfach umdrehen und wieder wegrennen. Also blieb sie vor ihnen stehen. „Hallo, Daragh. Schön, dich zu sehen.“ „Und vor allem so unerwartet“, stimmte er zu. Er warf einen kurzen Blick zu seinem schwarzhaarigen Begleiter, der nur vergnügt lächelte und ihr dann sofort die Hand reichte. „Ich bin Zashi. Es freut mich, dich kennenzulernen.“ „Ich bin Raelyn“, erwiderte sie, obwohl er sie anblickte, als wüsste er das bereits. „Und das ist Marama“, beendete er die Vorstellung und deutete zu der Frau, die allerdings einen derart distanzierten Eindruck machte, dass Raelyn automatisch zurückwich und sich dann lieber wieder Daragh zuwandte. Allerdings hatte sie weiterhin das Gefühl, dass Marama sie musterte. „Wohin gehst du?“, fragte er. „Ein wenig einkaufen, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Aber was tut ihr hier?“ Daragh brauchte einen Moment, in dem er hilflos zu den anderen blickte, aber dann antwortete er doch noch: „Wir sind Kollegen und besprechen grad ein paar Dinge.“ „Ist ein Psychologen-Kongress in der Stadt?“ „Ähm, ja, sicher.“ Sehr überzeugend klang er dabei nicht, aber sie schob es auf seine Verlegenheit. Vielleicht fiel es ihm einfach schwer, mit diesen beiden Personen in seiner Gegenwart zu sprechen. Zumindest bei der Frau konnte sie es nachvollziehen, diese Marama war ihr reichlich unheimlich. „Dann werdet ihr wohl noch ein wenig hierbleiben, oder?“, fragte Raelyn. „Ihr werdet euch das Fest ansehen?“ „Das haben wir auf jeden Fall vor“, bestätigte Zashi. „Du und Daragh, ihr solltet euch noch einmal treffen, wenn du mehr Zeit hast.“ Sie fragte sich, woher er wusste, dass sie gerade nicht viel Zeit hatte, hakte aber nicht weiter nach, sondern nickte sofort. „Gute Idee.“ Allerdings hätte sie sich im selben Moment gern eine Ohrfeige verpasst. Warum nur stimmte sie zu, sich noch einmal mit Daragh treffen zu wollen? Sie kannte ihn immerhin kaum. Aber Daragh widersprach auch nicht, er schenkte Zashi lieber einen finsteren Blick. Es war Marama, die das Gespräch leise seufzend wieder beendete. „Ich will ja kein Spielverderber sein, aber wir haben hier noch einiges zu tun. Wenn du uns also bitte entschuldigen würdest.“ Ihre Stimme war derart kalt, dass es Raelyn fröstelte. Sie nickte hastig. „In Ordnung, ich habe ohnehin noch etwas vor.“ Doch vorher blickte sie noch einmal zu Daragh. „Das war jetzt nur ein kurzes Treffen, aber es hat mich gefreut. Wir sehen uns bestimmt auf dem Fest.“ Er nickte ihr zu und verabschiedete sich ebenfalls. Schweigend warteten sie alle darauf, dass sie wieder davonging, was Raelyn auch rasch tat. Selten zuvor hatte sie sich so unerwünscht gefühlt wie bei diesen drei Personen. Waren etwa alle Psychologen so? Und wurde Daragh nur im Zusammensein mit ihnen ebenfalls so? Sie hoffte es, denn ihr erster Eindruck von ihm war wesentlich positiver gewesen. Aber vorerst verdrängte sie auch diesen Gedanken wieder und kümmerte sich lieber um das vor ihr liegende: Die Beschaffung von etwas Nahrhaftem, um dann die Arbeiten an dem Bild fortzusetzen. Allerdings konnte sie dabei nicht verhindern, dass sie weiterhin an den finsteren Blick Maramas und ihre kalte Stimme denken musste – und vor allem wurde sie das Gefühl nicht los, dass diese Frau sie die ganze Zeit gemustert hatte und dass sie irgendetwas plante. Sie lachte amüsiert, als ihr dieser Gedanke bewusst wurde. Oh, was für ein Unsinn. Ich bin wohl wirklich viel zu fantasievoll. Was sollte sie schon mit mir planen? Aber selbst damit ließ sich diese Überlegung nur in einen finsteren Winkel ihres Unterbewusstseins verfrachten und nicht gänzlich verdrängen und der Blick dieser Frau schien sie selbst dann noch zu verfolgen, als sie den Platz bereits lange hinter sich gelassen hatte. Kapitel 5: Erneut bei Raelyn ---------------------------- Maramas Bedingung, sie zu unterstützen war etwas, das Daragh nicht wirklich gefallen wollte. „Wenn ihr einem Dämon begegnen wollt, müsst ihr die Umgebung kennen, in der ihr kämpfen werdet“, hatte sie gesagt und sie dann dazu angehalten, gemeinsam mit ihr die Stadt zu erkunden. Er glaubte durchaus, dass es sich hierbei um eine bei Lazari verbreitete Methode handelte, aber für ihn – und auch Zashi – war sie bislang nicht weiter von Belang gewesen. Als Federmagier hatte er ohnehin alles nach seinem Willen beeinflussen können und Zashi sah in die Zukunft, in der es für ihn keinerlei Alternativen gab. Etwas funktionierte einfach nach seinem Prinzip der Vorsehung und das schon immer, wie Daragh bestätigen konnte. Aber Marama kümmerte sich nicht um diese Dinge. Sie war derart traditionell, dass es sie ganz offenbar störte, dass jemand es anders sah als sie und deswegen zwang sie die beiden einfach, sich ihr anzuschließen, während sie am nächsten Tag durch die Stadt streifte. Zashi gefiel es offenbar, er folgte ihr mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und blickte sich immer wieder interessiert um, während Daragh sich ihnen lediglich notgedrungen angeschlossen hatte. Es störte ihn an und für sich nicht daran, sich die Stadt anzusehen, da er diese wirklich als interessant erachtete, dafür gab es andere Dinge, die ihm aufstießen. Zum einen grämte er sich darüber, dass sie für diesen Auftrag einen derartigen Aufwand betreiben mussten, obwohl er doch viel lieber etwas anderes getan hätte und zum anderen war die Stadtführung nach Maramas Vorbild nicht sonderlich interessant. Sie betrachteten keine Kunstwerke, keine besonderen Auffälligkeiten, an denen sich Reisende zweifelsohne gerne aufhielten, stattdessen waren finstere Gassen und verwinkelte Ecken ihre Hauptattraktion. Nichts, was man sich unbedingt ansehen musste, wie Daragh fand, auch nicht für einen Kampf mit einem Dämon. Nicht einmal, weil Zashi ohnehin bereits alles über den Angriff wusste, sondern auch weil selten ein Kampf derart lang dauerte, dass man sich die Umgebung, oder das Wissen darüber, zunutze machen musste. Demzufolge hielt er es auch diesmal für überflüssig, aber das ließ Marama natürlich nicht gelten. Während sie die beiden durch eine kaum benutzte Seitenstraße führte, wanderten seine Gedanken wieder zu Raelyn. Er fragte sich, ob sie wohl mit dem Bild vorangekommen war oder ob sie schon wieder ihren Selbstzweifeln nachhing und dankte der Tatsache, dass Menschen sich nicht in Dämonen verwandeln konnten. Zumindest nicht wegen so etwas. Während er noch in Gedanken versunken war, hörte er, wie Marama seinen Namen sagte und dabei deutlich gereizt klang. Blinzelnd kehrte er in die Realität zurück und sah zu ihr hinüber. Sie hatte die Arme in die Seiten gestemmt und blickte ihn mit zusammengezogenen Brauen an. „Woran denkst du denn gerade?“ „Soll ich ehrlich sein?“, fragte er. „Oder soll ich lügen?“ Während Zashi sich die Hand vor den Mund hielt, um unbemerkt lachen zu können, hob Marama drohend ihre Augenbrauen, worauf Daragh sofort nachgab: „Ich habe an Raelyn gedacht.“ Er war davon überzeugt, dass sie wütend oder frustriert sein würde, aber stattdessen schüttelte sie seufzend mit dem Kopf. „Du bist gerade ziemlich unnütz. Zashi und ich erledigen das allein, verschwinde endlich.“ Es störte ihn nicht weiter, so bezeichnet zu werden, aber bevor er wirklich verschwand, blickte er zu seinem Partner hinüber, der ihm lächelnd zunickte. Nachdem er das sichergestellt hatte, verabschiedete er sich knapp von den beiden und lief dann eilig davon. Natürlich bekam er da nicht mehr mit, dass Marama sich mit einem frustrierten Laut an die Stirn griff. „Wie hältst du das mit ihm nur aus?“ „Normalerweise ist er nicht so“, sagte Zashi. „Er ist einfach nur verliebt.“ „Er kennt diese Frau doch erst seit vorgestern.“ „In gewisser Weise stimmt das – aber er hat das Buch, das sie geschrieben hat, so oft gelesen ... er kennt ihre Seele vermutlich besser als so manch andere Sache.“ Marama wandte ihm den Blick zu. Es war eindeutig, dass sie nicht im Mindesten verstand, was er damit ausdrücken wollte, also erklärte er es ihr: „Daragh wird nicht nur als Federmagier bezeichnet, weil er – früher jedenfalls – mit seiner Feder alles tun konnte, was er wollte. Es ist ihm auch möglich, anhand eines Textes auf die Person rückzuschließen, die ihn geschrieben hat.“ „Davon habe ich noch nie gehört“, merkte sie an. „Ist das wirklich eine Lazarus-Fähigkeit?“ „Ich schätze nicht.“ Während Daragh davon überzeugt war, glaubte Zashi, dass es eher daran lag, dass er einfach von Natur aus ein Gespür für Literatur und deren Autoren besaß. Aber das musste er ja nicht alles haarklein vor Marama ausbreiten. „Lass uns lieber weitermachen“, sagte sie schließlich und wandte sich von ihm ab. „Irgendwann wirst du mir dafür noch dankbar sein.“ Zashis Lächeln erlosch für einen kurzen Moment, doch dann rief er es sich wieder ins Gedächtnis und folgte ihr direkt, um diese Sache endlich hinter sich zu bringen. Daragh kam derweil an der Buchhandlung an, wagte aber nicht, hineinzugehen. Stattdessen stand er ein wenig abseits vom Schaufenster, in der Hoffnung, dass er von drinnen nicht gesehen werden konnte, während er selbst reinsehen konnte. An diesem Tag war der Raum hell erleuchtet, so dass er eher wie eine Buchhandlung anmutete, aber Daraghs Interesse galt aktuell nicht den angebotenen Waren, sondern den beiden Personen, die gerade anwesend waren. Die eine war Raelyn, die sich amüsiert lachend mit einem Mann unterhielt, den Daragh nicht im Mindesten kannte – und den er auch gar nicht kennen lernen wollte. Er kam allerdings nicht umhin, sich zu fragen, worüber sie eigentlich sprachen, wenn sich Raelyn dabei so gut unterhalten fühlte. Da er sie kaum kannte, wusste er, dass es ihn nicht stören dürfte, aber aus irgendeinem Grund tat es das doch – und das war absolut nicht gut. Also lehnte er sich gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, etwas Wohltuendes. Er erinnerte sich an das Gefühl, wenn er schrieb, wenn Worte über sein Handgelenk durch die Feder auf das Blatt flossen und dabei Welten freisetzten, die sich sonst nur tief in seinem Inneren befanden, für niemanden sichtbar. Ihn durchströmte das Gefühl, wenn er Dinge berührte, die sich sonst außerhalb seiner Reichweite befanden, und er diese an die Oberfläche brachte, um sie dort auf ewig festzuhalten und immer wieder betrachten zu können. Es war angenehm, beruhigend und es half ihm, diese irritierende Empfindung wieder zu vergessen. Seit, dank Kieran, in der ganzen Gilde bekannt war, dass verzweifelte Lazari zu Dämonen wurden und für manche sogar einfach ein emotionaler Schub ausreichte, waren sie alle angehalten, eine Methode zu finden, die sie bei Bedarf wieder beruhigte. Für Daragh war es ganz einfach gewesen, denn nichts war für ihn so besänftigend wie das Gefühl, wenn er schrieb, auch wenn er das inzwischen schon lange nicht mehr wirklich getan hatte. Als er hörte, wie sich die Tür neben ihm öffnete, schlug er die Augen auf und beobachtete, wie der Fremde an ihm vorbeiging, ohne ihn zu beachten. Daragh sah ihm hinterher, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war, aber diesmal verspürte er nur ein angenehmes, sanftes Empfinden in seinem Inneren, gleich einem See, dessen Wasseroberfläche vollkommen glatt war. Wenn er so darüber nachdachte, musste die Gilde Kieran wirklich für vieles dankbar sein, immerhin gab es seit dieser Enthüllung wesentlich weniger Dämonenwandlungen als früher. Nachdem der Mann fort war, überlegte er, ob er einfach ins Gasthaus zurückkehren sollte, aber seine Neugier und der Wunsch, Raelyn doch wiederzusehen, gab ihm den notwendigen Elan, die Buchhandlung doch zu betreten. Raelyn hatte sich gerade in ein Dokument vertieft, das auf dem Tresen lag und hob auch nicht den Blick, als Daragh eintrat, da sie offenbar annahm, er sei jemand anderes: „Hast du was vergessen?“ „Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte Daragh. Kaum hörte sie seine Stimme, hob sie nun doch den Kopf, um ihn anzulächeln. „Tut mir leid, ich dachte, du wärst jemand anderes.“ „Derjenige, der gerade hier war?“, hakte er nach. „Wer war das?“ Ihr Lächeln erlosch, als sie ihre Brauen zusammenzog. „Nur ein Freund, den ich schon sehr lange kenne.“ Er biss sich fast schon auf die Zunge, um nicht die Frage hinterherzuschieben, worüber sie so sehr gelacht hatten, sie dankte ihm das, indem sie wieder lächelte. „Was führt dich heute hierher?“ „Nichts weiter. Ich dachte nur, ich schaue mal vorbei, solange ich hier bin und sehe mir an, wie du mit dem Bild vorankommst.“ „Oh~. Damit bin ich vorhin fertig geworden. Nachdem ich euch in der Stadt getroffen habe, ging es mir richtig schnell von der Hand.“ Sie lächelte ein wenig bedauernd. „Allerdings kann ich es dir nicht zeigen, weil die Auftraggeber es schon abgeholt haben.“ Er winkte rasch ab. „Das ist schon in Ordnung.“ Sie bedeutete ihm näherzukommen und erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass er noch immer neben der Tür stand. Also ging er rasch zum Tresen hinüber, um sich über diesen zu beugen, wie sie ihm dann signalisierte, indem sie sich ebenfalls darüber beugte. So nah bei ihr zu sein war ungewohnt. Aber er konnte nicht sagen, dass es schlecht war. Unbekannt war ihm das Gefühl dennoch, deswegen versuchte er, sich nicht zu sehr darauf zu konzentrieren. „Was gibt es?“ Diese Nähe verriet ihm, dass sie etwas mit ihm besprechen wollte und ihn interessierte nur noch, worum es sich dabei handelte. Sie sah ihn allerdings erst einmal ernst an, als würde sie allein durch das Starren ihre Antwort herausfinden wollen. Das funktionierte allerdings wohl nicht zu ihrer Zufriedenheit, also stellte sie die Frage laut: „Deine Kollegen gestern waren ein wenig seltsam für Psychologen, oder?“ „Wie viele Psychologen kennst du denn, um das zu beurteilen?“ Seine Gegenfrage bewirkte ein erneutes Stirnrunzeln bei ihr, aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „In Gladshem gibt es genug davon, glaub mir.“ Er wusste nicht, ob er das glauben sollte, immerhin bestand die Wahrscheinlichkeit, dass sie nur bluffte, weil sie unbedingt die Wahrheit erfahren wollte. Dass seine Lüge immerhin nicht sonderlich gut gewesen war, wusste er selbst. „Gut, dann lass mich ehrlich sein“, sagte er und sah ihr dabei in die Augen, die voller Neugier waren. „Wir sind wirklich keine Psychologen.“ Sie stellte sich aufrecht hin und klatschte leicht in die Hände. „Ich wusste es doch. Aber warum hast du gelogen? Und was macht ihr dann?“ Wie er das beantworten sollte, wusste er nicht so recht. Lügen fiel ihm nicht leicht, aber die ganze Wahrheit zu sagen, war auch nicht die beste Wahl, vor allem da er immer noch nicht wusste, wie sie darauf wohl reagieren würde. Also blieben ihm wohl nur Ausflüchte. „Na ja, das was wir machen, ist eine geheime Sache. Wir können das nicht jedem verraten.“ Das nahm sie als Ausrede hin, aber sie überlegte dennoch weiter, runzelte die Stirn und legte sich sogar einen Finger an die Lippen. „Es ist geheim, aber ihr braucht dafür psychologische Kenntnisse ... das muss also etwas sehr Wichtiges sein.“ „Extrem wichtig“, ergänzte er, obwohl er wusste, dass er ihre Neugier damit nur unnötig antrieb. Tatsächlich blickte sie ihn erneut mit zusammengezogenen Brauen an, als erhoffte sie, dass die Antwort direkt auf seiner Stirn stand. Aber er erwiderte ihren Blick gefasst, in der sicheren Erwartung, dass sie es ohnehin nicht herausfinden könnte. Schließlich gab sie aber seufzend auf. „Hast du vielleicht eine Taschenuhr?“ Verwirrt deutete er ein Kopfschütteln an. „Nein. Willst du denn wissen, wie spät es ist?“ Sie wirkte tatsächlich enttäuscht über diese Antwort. „Uh-uh, ich hatte gerade nur einen Einfall, was du und deine Kollegen wohl machen könntet, aber das geht nicht ohne Taschenuhren.“ Er fragte sich, was das wohl bedeuten mochte und welcher Tätigkeit man nur mit einer solchen Uhr nachgehen könnte, aber er hielt es für besser, das nicht laut auszusprechen. „Also ich habe jedenfalls keine“, sagte er stattdessen. „Für die anderen kann ich aber nicht sprechen.“ Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, dass Zashi oder Marama eine Taschenuhr besaßen. Wenn überhaupt, dann verbarg der Arzt der Gilde vielleicht eine in der Tasche seiner Weste ... ja, dem würde er das durchaus zutrauen. Er müsste ihn bei Gelegenheit danach fragen, vielleicht wüsste er dann ja auch eine Tätigkeit, die man nur mit einer solchen ausüben konnte. „Dann bin ich ratlos“, sagte Raelyn, es klang als würde sie tatsächlich aufgeben. „Aber wenn du es nicht verraten willst, ist das schon in Ordnung.“ Daragh blickte sie zweifelnd an, aber sie erwiderte das mit einem Lächeln und wechselte fröhlich das Thema: „Morgen findet das Fest statt, das die ganze Zeit vorbereitet wird. Du wirst doch auch da sein, oder?“ „Ja, ganz sicher sogar. Eigentlich bin ich nur deswegen hier.“ Seit ihrer Ankunft war kein Dämon gesichtet worden, sie hatten keine Spur von einem solchen finden können, deswegen ging Daragh inzwischen davon aus, dass der Dämon, wegen dem sie hier waren, nur auf dem Fest angreifen würde, so wie Zashi es vorhersagte. Raelyn lächelte vergnügt. „Dann musst du unbedingt an meinem Stand vorbeikommen. Ich werde wahrscheinlich ohnehin nur dasitzen und schreiben.“ Er horchte sofort auf. „Hast du die Blockade überwunden?“ „Vielleicht.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Ich hatte jedenfalls gerade eine Idee, die mir vielleicht beim Schreiben helfen wird. Deine Besuche sind wohl sehr heilsam.“ „Das freut mich sehr.“ Wenn er es schaffte, sie dazu anzuspornen, wieder zu schreiben, gab ihm das neben seiner Tätigkeit als Lazarus einen Grund für seine Existenz. Zashi würde mich schlagen, wenn ich so etwas vor ihm ausspreche. Also sollte er das wirklich für sich behalten, wenn er noch eine Weile unverletzt leben wollte. Jemandem auszuweichen, der in die Zukunft sehen konnte, war ohnehin vergeblich. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Klingeln, was bei Raelyn zu einem Stirnrunzeln führte, das allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde anhielt, ehe sie die hereingekommene Person mit einem professionellen Lächeln willkommen hieß. Daragh verstand das Signal sofort und richtete sich nun selbst wieder auf, um nicht mehr auf dem Tresen zu lehnen. „Ich gehe dann besser mal. Wir sehen uns morgen.“ „Ja, bis morgen, Daragh“, sagte sie mit einem ehrlichen Lächeln in seine Richtung. „Ich freue mich schon darauf, dir zeigen zu können, was ich bis dahin geschrieben habe.“ Kapitel 6: Ruiniertes Fest -------------------------- Am nächsten Abend war die Stadt hell erleuchtet. Die Lampions warfen buntes Licht, das von den hellen Wänden der Gebäude zurückgeworfen wurde und in Kombination mit den Straßenlaternen und den beleuchteten Buden, an denen Händler ihre Waren anboten, wurde ein Lichtermeer erzeugt, das alles wirken ließ, als wäre es Tag. Als Daragh einmal den Kopf in den Nacken legte, kam es ihm vor, als wären alle Sterne verschwunden, was ihn nur darin bestärkte, dass es viel zu hell war. Unter diesen Umständen konnte er sich nicht so recht vorstellen, dass wirklich ein Dämon angreifen würde. Auch wenn es diesen eigentlich egal sein könnte, wann sie zuschlugen, da sie immerhin nicht erkannt werden würden, aber sie bevorzugten ganz offensichtlich die Nacht, was den Lazari nur recht sein konnte. Nur zu gern hätte er, zumindest einmal, in die Gedanken eines Dämons gesehen, um zu wissen, was darin vorging, aber leider war ihm das nicht möglich. Während er noch immer die Betrachtung der nicht vorhandenen Sterne vertieft war, trat Marama neben ihm und sah ebenfalls hinauf. „Was siehst du da?“ „Gar nichts“, antwortete er. „Deswegen komme ich nicht davon los.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen, das ausnahmsweise einmal ehrlich zu sein schien und nicht ihre übliche, starre Maske war. „Man entdeckt am meisten, wenn man gar nichts ansieht“, sagte sie dann und klopfte ihm auf die Schulter. „Aber jetzt komm, wir haben noch etwas vor. Erinnere dich an unseren Plan.“ Laut Zashis Vision würde der Angriff stattfinden, sobald die Tänze begannen, was, wie Marama erklärt hatte, um etwa Neun Uhr sein würde. Es war gerade kurz nach Acht Uhr, so dass ihnen weniger als eine Stunde blieb. Sie waren den ganzen Tag mit dem Schmieden von Plänen beschäftigt gewesen, deswegen war er noch nicht dazu gekommen, Raelyn zu besuchen – und so wie es aussah, würde er auch nicht mehr dazu kommen. Marama führte ihn vorbei an all den Buden auf dem Hauptplatz, in denen allerlei Nahrungsmittel angeboten wurden, die Gerüche all dieser verschiedenen Gerichte vereinten sich zu einem überaus köstlichen Duft, der Daragh das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Aber Marama zog ihn einfach weiter, als er stehenzubleiben drohte. Die Bühne, auf der später die Tänze stattfinden würden, war ebenfalls auf dem Hauptplatz aufgebaut, im Moment saßen dort aber nur die Arbeiter, die für den Aufbau verantwortlich gewesen waren und aßen. Es waren zwei junge Männer und eine Frau – und etwas an ihnen war so seltsam, dass selbst Marama für einen kurzen Moment stutzte, als sie die drei sah, dann aber schnell weiterlief und Daragh weiter mit sich zog. „Glaubst du, sie haben etwas mit dem Dämon zu tun?“ „Nein“, erwiderte Marama. „Es sieht mir eher so aus, als ob sie mit Naturgeistern zu tun hätten.“ Daragh selbst war einem solchen noch nie begegnet, weswegen er das nicht bestätigen konnte, aber wenn sie es so sagte, musste es so sein, sie war mit Sicherheit bereits einem begegnet. Da sowohl Lazari als auch Naturgeister die Welt vor Dämonen beschützten, kam es öfter vor, dass sie einander auf Missionen begegneten. Daragh war dabei die absolute Ausnahme, da er, zu seinem Bedauern, noch nie einen Naturgeist getroffen hatte. Marama führte ihn schließlich in eine der Seitengassen, in der Zashi bereits mit dem Rücken gegen eine Wand lehnte und auf den Boden hinabsah. Außer ihm befanden sich nur einige Fässer hier, in denen sich Wasser aus den Regenrinnen sammelte, die zu dieser Jahreszeit aber nicht einmal zur Hälfte gefüllt waren. Erst als Zashi die beiden kommen hörte, stellte er sich aufrecht hin und stemmte die Hände in die Seite. „Da seid ihr endlich. Hat Daragh zu lange die Sterne betrachtet?“ Keiner von ihnen antwortete, da er es ohnehin bereits wusste und warteten stattdessen darauf, dass er fortfuhr, was er auch sofort tat: „Marama und ich haben uns gestern die möglichen Gassen angesehen, in der dieser Dämon erscheinen wird.“ Bislang war es Daragh nicht bewusst gewesen, wie viele offenbar ähnlich aussehende Straßen es hier gab. Offenbar achteten die meisten wirklich nur auf die normalen Wege – und er gehörte eindeutig dazu. „Hast du jetzt gesehen, wer ihn beschwört?“ Zashis Visionen waren nicht immer gänzlich zuverlässig, deswegen war Flexibilität ein wichtiges Thema für sie und Daragh konnte die Male nicht zählen, bei denen sie fast gestorben wären, weil sie zu sehr auf die Verlässlichkeit vertraut hatten, nur um sich dann in eine Ecke spielen zu lassen. Manchmal, wenn er sich an besonders wichtigen Knotenpunkten des Schicksals – so nannte Zashi sie – befand, gelang es ihm allerdings, noch mehr von der Zukunft zu enthüllen und sowohl er als auch Daragh waren hoffnungsvoll gewesen, dass es auch diesmal so sein würde. Sie wussten zwar, dass jemand den Dämon rufen würde, aber nicht, um wen es sich dabei handelte – und dabei blieb es offenbar auch, denn Zashi schüttelte mit dem Kopf. „Da war gar nichts. Uns bleibt nur der Versuch, es zu verhindern oder den Dämon direkt anzufangen.“ „Lass mich raten: Es gibt mehr als drei dieser Gassen, also können wir gar nicht überall sein.“ Zashi lächelte ihm zu. „Richtig. Also sollten wir uns besser mal alle auf den Weg machen, damit wir rechtzeitig an unseren Punkten sind. Falls wir es nicht schaffen, den Dämon aufzuhalten, treffen wir uns auf dem Hauptplatz wieder.“ Daragh hoffte, dass es nicht so weit kommen müsste, damit die anderen Festbesucher ungestört blieben, aber er ging fast schon davon aus, dass sie es wirklich vermasseln würden – einfach nur weil es in sein Leben passte. Solange aber niemand verletzt oder getötet wurde, könnte er damit leben. Er und Marama stimmten dem Plan also noch einmal zu und dann erst trennten sie sich alle voneinander, um ihre jeweilige Position einzunehmen. Während Daragh wieder über den Hauptplatz lief, um zu seiner Gasse zu kommen, fragte er sich, ob er auf dem Weg wohl bei Raelyn vorbeikommen würde. Dummerweise wusste er nicht, wo sich ihr Stand befand. Als er den Hauptplatz verließ, bemerkte er sofort, dass die drei, die vorhin auf der Bühne gesessen hatten, nun ebenfalls auf dieser Straße standen und sich leise flüsternd miteinander unterhielten. Unwillkürlich hielt er inne, um hinüberzusehen und herauszufinden, was vor sich ging. Der Mann, der sogar blonde Strähnen in seinem braunen Haar hatte, seufzte gerade frustriert. „Das nächste Mal verlange ich genauere Anweisungen. Was denkt die sich nur dabei?“ „Du weißt doch, wie sie ist“, bemerkte die Frau und warf ihren Zopf zurück. Der andere Mann, der ein rotes Stirnband trug, blickte zu Daragh hinüber und bemerkte offenbar, dass dieser ihrem Gespräch lauschte, denn er gab den anderen beiden flüsternd etwas zu verstehen, worauf sie sich ihm alle drei zuwandten. Die Frau lachte nervös. „Hier ist gar nichts seltsam, wirklich.“ „Oh, sehr unauffällig, Nadia“, brummte der Mann mit den Strähnen, worauf sie sich ihm wütend zuwandte. Um dem drohenden Streit zu entgehen, hob Daragh rasch die Hand, ehe er weiterging und endlich seinen Platz einzunehmen. Doch er war gerade einmal drei Schritte gelaufen und befand sich noch immer in Hörweite des Streits, als plötzlich ein lautes Brüllen erklang, gefolgt von den erschrockenen Schreien der bis dahin Feiernden. Wie elektrisiert blieb er wieder stehen. Er hob den Kopf, um auf die Turmuhr zu blicken und bemerkte, dass es gerade einmal eine Viertelstunde nach Acht war. Eigentlich viel zu früh für den Angriff. Die beiden Streitenden hielten ebenfalls inne, der Mann mit den Strähnen fluchte unverständlich. „Das sollte eigentlich nicht sein.“ Daragh ging zu den drei hinüber, statt sich direkt in den Kampf zu stürzen und vertraute einfach darauf, dass Marama und Zashi sich darum kümmern würden. „He!“ Sofort wandten sie sich ihm wieder zu, aber keiner von ihnen machte ihm den Eindruck, etwas mit dieser Sache zu tun zu haben. Dennoch war es seine Pflicht, diese Sache nicht einfach auf sich ruhen zu lassen und solange es noch andere Lazari vor Ort gab, war es kein Problem, dem nachzugehen. „Also, was wisst ihr über diesen Angriff?“ Der Tag verging, ohne dass Daragh vorbeikam – aber eigentlich war Raelyn sogar froh darum. Zum einen kam sie kaum zum Schreiben, da sie sich selbst andauernd ablenken ließ und zum anderen kamen ihr die Versuche, die sie machte, viel zu ungelenk vor. So etwas wollte sie ihm sicher nicht zeigen, besonders nicht, nachdem er sich so darauf gefreut hatte. Stattdessen unterhielt sie sich mit den Händlern an den Ständen neben ihrem und zufällig vorbeikommenden Touristen, die sich besonders für die Bücher ihres Vaters interessierten. Zumindest tat sie das, bis ein junger, schwarzhaariger Mann vor ihr stehenblieb und den Blick über den Stand schweifen ließ. Sie begrüßte ihn lächelnd, was von ihm ebenso erwidert wurde, ehe er den Kopf neigte. „Wo ist denn der Mann, der sonst an diesem Stand ist?“ Raelyn schloss das Buch, in dem sie, im hellen Licht des Lampions, geschrieben hatte und lächelte entschuldigend. „Mein Vater ist kurz nach dem Fest letztes Jahr gestorben. Warst du ... äh, ich meine, wart Ihr ein Freund von ihm?“ Gerade noch rechtzeitig fiel ihr Blick auf das Revers seines Hemds, wo eine kaum sichtbare Anstecknadel mit dem Wappen der Kavallerie von Király angebracht war. Auch wenn Gladshem weit weg von New Kinging war, kamen hin und wieder Kavalleristen vorbei – und diese sahen es wohl nicht sonderlich gern, wenn man sie respektlos behandelte. Zumindest besagten das die Gerüchte und sie wollte da lieber kein Risiko eingehen. Er blinzelte allerdings irritiert, deswegen deutete sie auf die Nadel, so dass sein Gesicht sich wieder aufklärte. Rasch fuhr er mit der Hand darüber. „Oh, beachte das einfach nicht. Die trage ich ... einfach nur so.“ Sie lachte leise, worauf er ihr die Hand reichte und sich vorstellte: „Ich bin Nolan.“ „Raelyn“, erwiderte sie, als sie ihm die Hand schüttelte. „Na ja, ich würde jedenfalls nicht sagen, dass dein Vater und ich befreundet waren, aber wir haben zumindest öfter miteinander gesprochen, wenn ich ihn auf dem Fest getroffen habe.“ „Das wird jetzt wohl nicht mehr funktionieren.“ Er lächelte überraschend charmant. „Bei einem so faszinierenden Ersatz ist das ein Gewinn für mich.“ Während Raelyn noch überlegte, ob sie das als Kompliment für sich oder als Beleidigung gegen ihren Vater betrachten sollte, wurde ihm offenbar bewusst, was er gerade gesagt hatte, denn er blickte sie sofort panisch an. „D-das meine ich nicht so! Also, ich meine ... mein Beileid.“ Seufzend ließ er den Kopf hängen, worauf sie erneut nicht anders konnte, als leise zu lachen und ihm dann zu versichern, dass es schon in Ordnung wäre. Darauf lächelte er glücklicherweise wieder. „Normalerweise funktionieren meine Sprüche besser.“ „Normalerweise verwendest du sie vermutlich nicht so unpassend. Außerdem habe ich ja nicht gesagt, dass es nicht funktioniert.“ Sie schob das Buch, in dem sie gerade geschrieben hatte, beiseite und stützte die Ellenbögen auf den Tisch. Er beugte sich ein wenig vor. „Wie wäre es, wenn ich uns etwas zu essen hole und wir das Gespräch dann bei einem Abendessen fortsetzen?“ Unwillkürlich musste sie an Daragh und seine Reaktion am Vortag denken, nachdem er sie mit einem Freund beobachtet hatte. Sicher würde er es nicht sonderlich gut finden, wenn sie jetzt mit einem quasi fremden Kavalleristen essen würde – aber warum sollte sie das eigentlich kümmern? Ist ja nicht so, als wären wir ein Paar. Wir kennen uns kaum. Und eigentlich glaubte sie inzwischen kaum noch, dass er vorbeikommen würde, nachdem er es den ganzen Tag lang nicht geschafft hatte. Also nickte sie Nolan lächelnd zu. „Das wäre wirklich großartig.“ Er zwinkerte ihr zu und richtete sich wieder auf. „Kommt sofort.“ Doch gerade als er sich abwandte, war vom Hauptplatz her ein lautes Brüllen zu hören. Sofort verstummten sämtliche Gespräche an den umliegenden Ständen, Nolans Gesicht wurde ernst, als er die Brauen zusammenzog. „Das ist kein neuer Programmpunkt, oder?“ „Ich glaube nicht.“ Ganz sicher war sie sich zwar nicht, aber da auch alle anderen überrascht verstummt waren, konnte es nicht sein, dass sie das bei der Planung einfach verpasst hatte. Im nächsten Moment waren panische Rufe zu vernehmen, die ebenfalls vom Hauptplatz her kamen, was nun erst recht verriet, dass es sich um keinen Programmpunkt handelte. Nolan griff an seinen Gürtel, fluchte dann aber leise, als er dort nichts vorfand, was Raelyn sagte, dass er bereits im Kavalleristenmodus war. Da es ihm aber nicht möglich war, zu kämpfen, überlegte er offenbar bereits, was er nun tun sollte. „Ich glaube, wir sollten hier weg.“ Raelyn stand auf und nahm das Buch an sich, um es keinesfalls zu vergessen. Nolan horchte auf und sah zu ihr hinüber, dann nickte er lächelnd. „Du hast recht. Und mach dir keine Sorgen, ich bringe dich schon in Sicherheit.“ „Ohne Waffe?“ „Ich kriege das schon hin.“ Er wirkte derart zuversichtlich, dass sie es ihm sogar glauben konnte. Also kam sie hinter ihrem Stand hervor und nickte ihm dann zu. „Dann vertraue ich dir.“ Dafür gab es zwar keinen Grund, aber etwas an Nolan wirkte derart ruhig und verlässlich, dass man ihm sofort alles anvertrauen wollte – fand Raelyn zumindest. Wenn sie Daragh gefragt hätte, wäre es diesem sogar möglich gewesen, ihr die Begründung dafür zu verraten, aber an diesen dachte sie im Moment nicht einmal. Stattdessen folgte sie Nolan, der bereits nach ihrer Hand gegriffen hatte. Dabei bemerkte sie nicht, dass ein in der Dunkelheit kaum zu erkennendes Wesen auf einem der Häuserdächer saß und sie beide mit glühenden Augen beobachtete. Kapitel 7: Begegnungen mit Dämonen ---------------------------------- Das Trio hieß Landis, Nadia und Aidan, wie Daragh während des Gesprächs erfuhr und auch wenn sie ihm nicht verrieten, woher sie von dem Angriff wussten, waren sie ebenfalls in der Stadt, um dem Dämon und dessen Wirken Einhalt zu gebieten. Und weil das so war, erzählten sie alles auch sehr hastig und abgehackt, obwohl Daragh ihnen versicherte, dass es genug Leute in der Stadt gab, die sich um dieses Wesen kümmern würden. Natürlich gab es keinen Grund, dass sie ihm glauben sollten, genausowenig wie er ihnen glauben müsste, aber er tat es dennoch. Obwohl sie wohl erwartete, dass er ebenfalls mehr über sich sagte, beschränkte er sich darauf, zu erklären, dass er ein Tourist sei, der sich auf das Kämpfen verstand und deswegen helfen wolle. „Wir haben jetzt auch keine Zeit für Erbsenzählerei“, bemerkte Landis schließlich. „Wenn wir schon dasselbe Ziel haben, sollten wir zusammenarbeiten.“ „Und das am besten, indem wir uns endlich zu dem Monster begeben“, fügte Nadia hinzu und lief bereits in die entsprechende Richtung los. Ihre beiden Begleiter und Daragh schlossen sich ihr sofort an, um ebenfalls auf den Hauptplatz zu kommen. Dieser war inzwischen leergeräumt, kein Mensch war mehr zu sehen – aber der Dämon tobte dennoch über den Platz und vernichtete dabei die noch stehenden Buden. Er entsprach wirklich Zashis Beschreibung, es war ein Wolf, etwa doppelt so groß wie seine normalen Artgenossen, das nachtschwarze Fell war nur im Schein der Lampions zu erkennen, die giftgrünen Augen schienen dafür zu glühen. Das Wesen beachtete sie im Moment noch nicht, weswegen es der Gruppe gelang, sich knieend hinter einigen Pflanzen zu verstecken, um es zu beobachten. „Es ist so hässlich“, kommentierte Nadia flüsternd. „Du wirst für ihn wohl auch nicht unbedingt hübsch sein“, erwiderte Landis. Dafür bekam er einen wütenden Blick von ihr, den er aber ignorierte, um den Dämon weiter zu betrachten. Sie wiederum wurde gerade von Aidan, ihrem Zwillingsbruder, beruhigt. Daragh lauschte dem allem nur mit halbem Ohr, während er überlegte, wie er die anderen drei loswerden sollte, wo sich seine eigenen Gefährten befanden und warum der Dämon noch immer an diesem nun menschenleeren Ort war. Sie jagten vielleicht nicht explizit nach Menschen, weil nicht jeder von ihnen diese fraß, aber es war doch ungewöhnlich, dass sie in einem solchen Fall dann einfach nur Chaos verursachten. Wer immer es beschworen hatte, plante äußerst seltsam. Zum Kämpfen musste er aber nun einmal die anderen loswerden, deswegen deutete er in eine der anderen Straßen. „Die Menschen müssen geflohen sein. Könnt ihr nach ihnen sehen? Vielleicht gibt es noch andere Dämonen. Ich übernehme diesen hier.“ Landis blickte ihn zweifelnd an. „Schaffst du das wirklich?“ „Klar. Ich kriege das schon hin.“ Er schien noch immer nicht sehr überzeugt – obwohl Daragh sich fragte, weswegen eigentlich, immerhin sah er selbst auch nicht wie ein großer Kämpfer aus – zuckte dann aber mit den Schultern. „Fein. Aber wenn du Hilfe brauchst, ruf einfach.“ Daragh nickte und sah den dreien dann hinterher, bis sie geduckt in einer andere Straße verschwunden waren. Dann erst erhob Daragh sich und ging mit langsamen Schritten um die Pflanze herum. Dabei materialisierte er den Stab, den er zum Kämpfen benutzte. Er bestand aus rotem Metall und war an beiden Enden mit silbernen Verzierungen besetzt. Kaum hielt er diesen in der Hand, wurde er wieder von den Erinnerungen seines Vorbesitzers durchflutet. Der Stab war eine Seelenwaffe, eine jener Art, wie jeder Lazarus sie besaß und die auch erhalten blieb, sobald er ein Dämon wurde. Sie speicherten Erinnerungen und Emotionen des menschlichen Lazarus und konnten dann von jenem abgerufen werden, der es schaffte, in den Besitz dieser Waffe zu gelangen, sobald der eigentliche Besitzer erst einmal ein Dämon geworden war. Daraghs Seelenwaffe war seine Feder, auch wenn er diese seit Monaten nicht mehr als solche gebraucht hatte. Nachdem er, wieder einmal das Leben und die wachsende Verzweiflung des alten Besitzers – der am Ende in ein monströses Baumwesen verwandelt worden war – durchlebt hatte, trat er endlich dem Dämon entgegen. Dieser hielt inne und wandte sich ihm nun zu. Als er die Zähne fletschte, bemerkte Daragh, dass die Zähne rasiermesserscharf waren, genau wie die Klauen, die aussahen, als könnten sie ihn problemlos, ohne jeden Einsatz von Mühen, in Streifen schneiden. Dennoch spürte er keinerlei Furcht vor dem Kommenden, denn er wusste genau, dass er diesen Kampf gewinnen könnte, so wie auch alle anderen bisher. Der Dämon knurrte, als er ihn betrachtete und wiederholte das noch einmal lauter, als Daragh seinen Stab schwang und ihn damit zum Angriff aufforderte. Es dauerte einen kurzen Augenblick, aber dann sprang der Wolf tatsächlich auf ihn zu, um den Kampf zu eröffnen. Noch vor wenigen Monaten, etwas mehr als einem Jahr vielleicht, war ihm seine Fertigkeit zu schreiben abhanden gekommen und damit, aus unerklärlichen Gründen, auch seine typischen Lazarus-Fähigkeiten, die sie alle eigentlich zum Kämpfen benötigten. Aber Daragh war flexibel und vor allem war er entschlossen gewesen, nicht einfach aufzugeben, also hatte er bis zum Umfallen trainiert – und nun waren seine kämpferischen Leistungen etwa gleichauf mit denen der schwächsten Lazari. Eigentlich keine große Sache, aber für ihn durchaus ein Erfolg und vor allem in dieser Sache gerade unheimlich praktisch. Auch wenn er keinerlei Zauber nutzen konnte, gelang es ihm immerhin, den feindlichen Angriffen auszuweichen und selbst mit dem Stab anzugreifen. Durch die dicke Haut des Wolfs waren seine Schläge zwar nicht sonderlich wirkungsvoll, aber es genügte offenbar, um den Dämon wütend zu machen – und ein wütender Dämon neigte gern dazu, unvorsichtig und ganz einfach zerstörbar zu werden. Bis dahin ließ ein einfacher Prankenhieb des Wolfs eine tiefe Furche in der Straße entstehen. Daragh wich nach hinten aus, als das Wesen nach ihm schnappen wollte und streckte den Stab quer vor. Als der Dämon das Maul wieder schloss, klemmte er den Stab zwischen seine Zähne, wobei es glücklicherweise zu keinen Schäden an der Waffe kam. Daragh ließ sie sicherheitshalber aber wieder los und wich noch einmal zurück. Der Stab begann in einem rötlichen Licht zu glühen, als nun der Dämon den Erinnerungen des eigentlichen Besitzers ausgesetzt war. Er warf den Kopf zurück, stieß ein lautes Knurren aus, das mindestens genauso verwirrt wie wütend schien. Während dieser Phase waren die Dämonen selbst für Daragh verwundbar – und dass er das einmal herausgefunden hatte, war sein einziges Geheimnis, um gut zu werden. Er hob leicht die Hand, um einen Bogen darin entstehen zu lassen. Die Erinnerungen, die mit dieser Waffe verbunden waren, fühlten sich stets friedlich an, fast schon freundlich, weil der Punkt fehlte, an dem die Besitzerin verzweifelt war, deswegen mochte er sie besonders und setzte sie gern für den letzten Angriff ein. Auch wenn er keinen Munition dafür in der Hand hielt, legte er den Bogen an und spannte die Sehne, worauf ein flammender Pfeil erschien. Er nutzte die Gelegenheit, als der Dämon sich noch einmal aufbäumte und dabei seinen Brustkorb freilegte und ließ die Sehne los. Der Pfeil zog einen glühenden Schweif hinter sich her und traf den Wolf mitten in die Brust. Im ersten Moment schien dabei keinerlei Schaden zu entstehen, aber einen Augenblick später breitete sich Licht auf dem gesamten Wesen auf – bis es in einer gleißenden Funkenexplosion vollkommen lautlos verschwand. Lediglich der Stab blieb übrig, fiel zu Boden und löste sich auf, bevor es diesen erreichte. Gleichzeitig ließ Daragh den Bogen verschwinden und blickte sich dann in jede Richtung um, aber auf dem Hauptplatz war nichts mehr wahrzunehmen. Irgendwo in der Stadt konnte er Schreie vernehmen, aber er war sich nicht sicher, ob das an den Dämonen lag oder ob nur die Panik noch nicht abgeflaut war. Von Marama und Zashi war aber weiterhin nichts zu sehen. Möglicherweise gab es also wirklich noch weitere und sie waren gerade damit beschäftigt, sie zu beseitigen – doch der Gedanke endete rasch, als er bemerkte, dass eine blaue Kugel auf ihn zuschwebte. Die Energie-Signatur des Lazarus-Orb erkannte er, noch bevor er die Stimme von Zashi hörte: „Ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung, Daragh. Ich weiß jetzt, wer der Beschwörer ist! Wenn du Marama triffst, nimm dich vor ihr in acht! Sie ist es, die versucht, uns alle umzubringen.“ Daragh kam nicht umhin, diese Wendung als etwas zu klischeehaft zu empfinden. Wäre er für die Geschichte verantwortlich, hätte er eine gänzlich unbekannte Person hinzugezogen, nicht aber gerade die Lazarus, die allgemein dafür bekannt war, sich in tiefer Trauer zu befinden, seit ihr Partner ein Dämon geworden war und die bei den anderen als unberechenbar galt. „Bleib am besten dort, wo du bist, während ich mich um sie kümmere.“ Damit endete die Nachricht und das Orb verschwand wieder. In einem Kampf gegen Dämonen war es in Ordnung, unterentwickelte Fähigkeiten zu besitzen, aber sobald Lazari gegeneinander kämpften – was glücklicherweise nicht sehr häufig vorkam – war es unsinnig, sich nur auf Taktik oder die Dummheit seines Feindes zu verlassen. Solange er also nicht seine alten Fertigkeiten wieder erlangte, müsste er sich gar nicht erst mit Marama anlegen und wirklich in Sicherheit bleiben. Also blieb ihm erst einmal nichts anderes übrig, als sich zu setzen und darauf zu warten, dass Zashi alles erledigte oder noch ein Dämon vorbeikam und sich dabei zu wünschen, dass Marama nicht plötzlich auftauchte. Sie fand sogar, dass sie sich gerade am sichersten Ort der Welt befand. Zu Beginn der Flucht hatten sich ihr und Nolan noch einige andere Standbesitzer angeschlossen, sich aber bald in andere Richtungen begeben, so dass sie beide nun allein waren. Inzwischen hatte er auch ihre Hand losgelassen, aber der ernste Gesichtsausdruck verschwand nicht mehr. Dieser Blick, so schien es ihr, verhieß aber auch Sicherheit. An seiner Seite war sie tatsächlich davon überzeugt, dass ihr nichts geschehen könne. Er war fast wie ... Ein geborener Held. Sie waren allerdings auch noch keinen Gefahren begegnet, vor denen er sie hätte beschützen müssen, das empfand Raelyn schon einmal als gut. Er allerdings wohl nicht. „Es ist zu ruhig.“ „Und das ist kein gutes Zeichen“, stellte sie fest. In Büchern geschah nach solchen Aussagen immerhin nie etwas Gutes – aber Nolan schmunzelte plötzlich amüsiert. „Genau das sage ich auch immer. Deswegen haben mein bester Freund und ich früher immer viel Lärm veranstaltet – und dann haben wir Ärger bekommen.“ Er hob die Arme und seufzte theatralisch. „Die Erwachsenen verstehen das einfach nicht.“ „Wir sind auch erwachsen.“ „Wir sind nicht auf diese Art erwachsen.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Also ich zumindest nicht.“ Sie war sich bei sich selbst nicht so sicher, aber darum ging es im Moment immerhin nicht. „Wo wären wir eigentlich am Sichersten?“ „Ich suche gerade nach-“ Nolan unterbrach sich selbst und legte den Kopf in den Nacken. Raelyn folgte seinem Beispiel, konnte aber nichts sehen, was erklären würde, dass er verstummt war. Sie wollte fragen, was los sei, aber da legte er bereits einen Finger an seine Lippen, ohne sie anzusehen, sein Blick war immer noch auf den Himmel gerichtet. Er bedeutete ihr lautlos, in eine Gasse zu gehen, was sie auch sofort tat, um dort, den Rücken gegen die Mauer gepresst, darauf zu warten, dass etwas geschehen würde. Nur wenige Augenblicke nachdem sie sich hingestellt hatte, hörte sie, wie etwas auf die Straße sprang und mit leichten Schritten auf Nolan zulief. Ein Blick in sein Gesicht verriet ihr, dass sein Gegenüber ihn wohl durchaus verwunderte, dennoch bemühte er sich, das nicht zu zeigen. Als der Angreifer in ihr Blickfeld trat, war sie ebenfalls überrascht. Es war kein Mensch, dafür aber ein Wesen, das wie eine schwarze Raubkatze anmutete und das sich in aller Seelenruhe auf Nolan zubewegte. Lediglich die grünen Augen, die in der Dunkelheit glühten, verrieten, dass es sich bei diesem Wesen um kein normales Tier handelte. „Was bist du?“, fragte Nolan. „Und was willst du?“ Bislang schien es nicht feindlich gesinnt, fand Raelyn jedenfalls. Aber nachdem die Stadt wegen einem seltsamen Brüllen in Panik geraten war, wollte sie mit ihrer Einschätzung nicht allzu vorschnell sein. Sie wollte Nolan dennoch raten, vorzutreten und das Wesen einfach zu tätscheln, aber er sah so angespannt aus, dass sie sofort wusste, dass er anders darüber dachte – und er behielt tatsächlich recht. Plötzlich brachen zahlreiche Fangarme aus dem Rücken des Wesens, so viele, dass Raelyn Mühe hatte, sie alle zu zählen und deswegen rasch wieder aufgab. Die Arme bewegten sich, als wären sie einem Windhauch ausgesetzt, schienen sich dabei aber gleichzeitig so zu positionieren, dass sie Nolan ergreifen könnten. Er bemerkte das ebenfalls und hechtete deswegen kurzentschlossen dem Körper des Wesens entgegen. Die Arme peitschten durch die Luft, verfehlten ihn um Haaresbreite, verwickelten sich teilweise ineinander und verursachten Schmerzen bei dem Wesen, als es versuchte, diese mit Gewalt wieder zu entwirren. Raelyn erhaschte einen flüchtigen Blick auf Nolans sehr zufrieden wirkendes Gesicht, er war nur noch einen Schritt von dem Körper entfernt – und in diesem Moment wickelte sich einer der Arme um seinen Körper. Nolan stieß einen erschrockenen Laut aus, was das Wesen ausnutzte, um ihm eine seltsame Flüssigkeit aus der eigenen Schnauze in seinen geöffnete Mund zu spritzen. Er gab einen gurgelnden Laut von sich und nur einen Moment später schien er – hoffentlich nur – sein Bewusstsein verloren zu haben. Sein Körper hing plötzlich schlaff im Fangarm, der ihn mühelos nach oben hob. Raelyn wollte herausstürmen, ihm helfen, irgendwie – aber sie wurde sich bewusst, wie hilflos sie selbst war. Es gab nichts, was sie tun könnte, außer zu hoffen, dass er wirklich noch am Leben war und dass sie nicht auch noch zum Ziel werden würde. Allerdings drehte das Wesen sich einfach um, nachdem es Nolan aus der Nähe begutachtet hatte und lief langsam davon, ohne Raelyn auch nur einen Blick zu widmen. Sie wartete einen kurzen Moment, bis die Schritte verstummt waren, dann kam sie wieder aus der Gasse hervor, aber es war gemeinsam mit Nolan verschwunden. Unschlüssig stand sie da und überlegte, was sie nun tun sollte. Einem solchen Untier könnte sie nichts entgegensetzen, sie konnte nicht kämpfen, kannte keine Kämpfer und alles in allem waren ihre einzigen bescheidenen Fähigkeiten gerade nicht hilfreich. Dieser Gedanke trieb ihr fast die Tränen in die Augen – aber da hörte sie bereits eine Stimme hinter sich, die sie aus ihren Gedanken zurückholte: „He, alles okay?“ Als sie sich umdrehte, sah sie sich einem jungen Mann mit braunem Haar und blonden Strähnen gegenüber. Das war an und für sich kein ungewöhnlicher Anblick, wenn man in einer Stadt wie Gladshem lebte, aber ihn fand sie durchaus ... seltsam, ohne dass sie genau hätte sagen können, aus welchem Grund das so war. Da er allerdings ein Schwert an seiner Hüfte trug, ging sie davon aus, dass es sich bei ihm um einen Kämpfer handelte und genau einen solchen konnte sie gerade gebrauchen. Sie deutete in die Richtung, in die das Wesen verschwunden war. „Ein Monster hat gerade jemanden mitgenommen.“ Zu ihrer Erleichterung wurde er sofort hellhörig. „Wo hat es ihn hingebracht?“ „Ich weiß nicht. Wo würdest du jemanden hinbringen, wenn du ein Monster wärst?“ Seltsamerweise lächelte er plötzlich, als sie diese Frage stellte, ehe er enthusiastisch antwortete: „Oh, ich würde ihn zu meinen ganzen Freunden auf dem Hauptplatz bringen. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass man was fängt, nicht wahr?“ Dieser Satz erinnerte sie so sehr an den Entführten, dass es sie nicht weiter überrascht hätte, wäre dieser Mann hier einmal mit Nolan befreundet gewesen. Aber das empfand sie dann doch als zu großen Zufall. „Nun, es wäre eine Möglichkeit, ja.“ „Dann werde ich dort nachsehen.“ Allerdings bewegte er sich immer noch kein bisschen, was sie sofort als „Du hast keine Ahnung, wie du von hier aus zum Hauptplatz kommst, oder?“ erkannte. „Nicht die geringste!“, rief er lächelnd aus, als wäre er glücklich, dass sie es von selbst bemerkt hatte. „Ich weiß nicht mal, wie ich hierher gekommen bin.“ „Ich bringe dich hin“, bot sie an. Immerhin war ihr auch daran gelegen, dass Nolan gerettet wurde – nicht zuletzt, weil er ihr immer noch ein Essen schuldete. Ihr Gegenüber bedankte sich überschwänglich und stellte sich als Landis vor, ehe sie gemeinsam losliefen, um zum Hauptplatz zu kommen. Dabei hoffte Raelyn, dass sie Nolan dort wirklich finden würden, dass es ihm gut ging und dass dieser Landis wirklich etwas tun könnte, um ihm zu helfen. Kapitel 8: Von Dämonen und Verrätern ------------------------------------ In der Dunkelheit zu warten, dass irgendetwas geschah, war nicht sonderlich gut für Daraghs Nerven. Er hoffte fast schon, dass ein Dämon oder Marama aus den Schatten treten würde, damit zumindest irgendetwas geschah. Aber nichts von beidem trat ein, während er auf der Bühne saß, die der Dämon stehen gelassen hatte. Nicht einmal Landis, Aidan oder Nadia kehrten zurück, aber er nahm das nicht als schlechtes Zeichen wahr. Wenn er die Augen schloss und sich darauf konzentrierte, spürte er kaum noch dämonische Energie und diejenige, die noch wahrnehmbar war, schien nicht feindlich zu sein. Das kam nicht selten vor, immerhin gab es genug Dämonen aus anderen Welten, die sich unter Menschen aufhielten, aber solange sie nicht aggressiv wurden, boten sie keine Gefahr, deswegen wurden sie von den Lazari ignoriert – und genau das tat Daragh in diesem Moment auch. Von einem Kampf zwischen Marama und Zashi war auch nichts zu spüren, aber eigentlich war er sich gar nicht so sicher, ob man das bemerken müsste – immerhin war er noch nie wirklich bei solchen Kämpfen dabei gewesen, da sie wirklich außerordentlich selten waren. Normalerweise versuchten Lazari zusammenzuhalten, immerhin teilten sie ein Schicksal und selbst wenn es zu Auseinandersetzungen kam, unterhielt man sich darüber oder feindete sich einfach mit Blicken an, statt sich direkt zu bekämpfen. Als er darüber nachdachte, fragte er sich auch wieder, warum Marama sie verraten sollte. War ihr Ziel wirklich Nolan? Aber warum sollte sie sich dann gerade mit dem Lazarus anlegen, der in die Zukunft sehen und damit vermutlich ihre Pläne durchkreuzen könnte? Und warum hatte sie ihnen dann im Vorfeld geholfen? Egal, wie er es betrachtete, es machte einfach keinen Sinn. Möglicherweise verstand er einfach nicht, was in ihr vorging, immerhin war er noch nie gezwungen gewesen, derart zu trauern und er hoffte auch, dass es dabei bleiben würde. Wer weiß schon, was das mit einem macht? Aber dennoch fiel es ihm unendlich schwer, diese Sache zu verstehen. Eine plötzliche Bewegung aus einer der anderen Straßen ließ ihn hellhörig werden. Sofort stellte er sich wieder aufrecht hin und blickte aufmerksam in diese Richtung. Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit, sie lief vornübergebeugt und schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können, so dass sie sich sogar an den Wänden abstützen musste. Als sie Daragh erblickte, lief sie mit schlurfenden Schritten auf ihn zu und hielt sich dabei die Seite. Aber erst als sie kurz vor ihm stand, erkannte er sie auch: „M-Marama ...“ Sie sah verletzt und erschöpft aus, ihr weißes Hemd war rötlich verfärbt und auch ansonsten verschmutzt, auf ihrem Gesicht fanden sich ebenfalls rote Spuren, doch die dazugehörigen Wunden waren entweder verheilt – oder es war gar nicht ihr Blut. Er wich ein wenig zurück, als sie die Hand nach ihm ausstreckte. Auch wenn sie ihm im Moment weder feindselig, noch überhaupt kampfbereit erschien, wollte er kein Risiko eingehen. „Ist alles in Ordnung mit dir, Daragh?“ Ihre Stimme klang tatsächlich sorgenvoll, aber gerade war er nicht gewillt, darauf einzugehen, solange er die Situation noch nicht kannte. „Warum sollte etwas nicht mit mir in Ordnung sein?“, fragte er daher, um mehr herauszufinden. Sie bemerkte seinen skeptischen Blick und runzelte die Stirn. „Ich hatte gedacht, er würde dich auch angreifen.“ „Ich habe den Dämon schon besiegt“, erwiderte er. Doch sie meinte offenbar etwas anderes, denn sie schüttelte ungeduldig mit dem Kopf. „Kein Dämon. Ich rede von Zashi!“ Das weckte allerdings nur noch mehr Misstrauen in seinem Inneren. „Warum sollte Zashi mich angreifen? Er ist mein Freund.“ Sie war also in einen Kampf mit ihm geraten, das erklärte ihre Verletzungen, aber wo war er dann? Von ihm war immerhin nichts zu sehen, aber Daragh konnte sich auch nicht vorstellen, dass er gegen sie im Kampf verloren hatte. Nicht, wenn er Angriffe vorhersehen und dabei dennoch in gewisser Weise flexibel genug bleiben konnte, um auf Überraschungen zu reagieren. Solange Daragh ihn kannte, hatte er noch keinen Kampf verloren, egal wie knapp er vor einer Niederlage gestanden hatte. „Zashi hat uns verraten“, zischte Marama. „Er selbst hat die Dämonen beschworen!“ Die Worten trafen Daragh überraschend hart in die Brust und schnürten diese zu. Aber er konnte und wollte sie noch nicht glauben. „Zashi sagte, du bist die Verräterin.“ Und dieser hatte immerhin an einen Orb gedacht, im Gegensatz zu Marama, die einfach hier auftauchte und von ihm verlangte, das zu glauben, vor allem nachdem sein langjähriger Partner etwas ganz anderes sagte. Marama stellte sich aufrecht hin, hielt die Hand aber immer noch auf ihre Seite gepresst. „So, tut er das?“ Daragh wich noch einen Schritt zurück und ließ den Bogen wieder in seiner Hand erscheinen. Drohend legte er ihn an und zielte damit auf Marama. „Und ich sehe keinen Grund, ihm nicht zu glauben.“ Zumindest keinen triftigen, selbst wenn es da immer noch Kleinigkeiten gab, die er sich nicht erklären konnte und die einfach keinen Sinn machen wollten. Er hoffte, dass sie ihm Gegenargumente bringen, ihm ihre Sicht erklären würde – und sie brachte ihm diese auch sofort: „Ich kann nicht einmal Dämonen beschwören!“ Doch das überzeugte ihn nicht. „Zashi kann es auch nicht.“ Zumindest war er davon nie Zeuge geworden – und eigentlich war er sich nicht einmal sicher, ob es einem Lazarus überhaupt möglich sein konnte. Bei Marama war er automatisch davon ausgegangen, dass ihre tiefe Trauer sie näher an die Verzweiflung brachte und ihr diese Fähigkeit deswegen ermöglichte – zumindest war ihm einmal erklärt worden, dass es so funktionierte. Sie seufzte leise, aber deutlich frustriert. „Wenn ich die Verräterin wäre, hätte ich dich schon längst einfach ausschalten können – im Gegensatz zu dir kann ich immer noch Magie wirken.“ Um das zu demonstrieren ließ sie auch sofort farblose Funken um sich entstehen, die auf einen nahenden Zauber hindeuteten. Er erinnerte sich daran, wie er früher einmal selbst dazu fähig gewesen war, wie überlegen man sich fühlte, sobald man erst einmal die Elemente zu beherrschen lernte – aber das war eine Sache aus der Vergangenheit und nun stellte es eine Bedrohung für ihn dar. Doch gerade als Daragh den Pfeil loslassen wollte, um sich vor dem Angriff zu verteidigen, ließ Marama den Zauber wieder sterben, die Funken verschwanden. „Und das war meine beste Gelegenheit dafür“, sagte sie. „Also lass diese Feindseligkeiten, bevor ...“ Ihre Stimme erstarb und in der eingetretenen Stille konnte Daragh Schritte hören. Er wandte halb den Kopf und erkannte Zashi, der gerade aus einer anderen Straße kam. „Da bist du ja“, entfuhr es Daragh, er ließ den Bogen wieder sinken und den Pfeil verschwinden. Zashi lächelte sofort, als er seine Stimme hörte und lief schneller auf ihn zu. „Daragh, du lebst noch! Ich bin so erleichtert! Diese verdammten Dämonen haben mich aufgehalten!“ In seiner Gegenwart fühlte Daragh sich sofort wesentlich sicherer, was ihn weiter dazu antrieb, seinem Partner zu vertrauen, statt Marama. Er erwiderte das Lächeln und wandte sich dann wieder der Frau zu. Zashi ließ den Fächer, den er zum Kämpfen nutzte, in seiner Hand erscheinen und blickte Marama dann herausfordernd an. „Bevor du ihm etwas antun kannst, musst du erst einmal an mir vorbei.“ „Ich habe auch kein Interesse daran, mit dir zu kämpfen“, erwiderte sie ruhig. „Ich appelliere noch einmal an dich, Zashi! Stell dich Cerise und akzeptiere die Strafe für deinen Verrat!“ „Wer uns hier verraten hat, ist doch eindeutig!“ Daragh wich ein wenig zur Seite und blickte immer wieder zwischen ihnen hin und her. Sie wirkten beide sehr überzeugend und auch wenn Zashi gerade aggressiv zu sein schien, so erklärte sich das doch einfach damit, dass er sich einer Verräterin gegenübersah. Zwischen den Augen der beiden schienen regelrecht Funken zu sprühen, aber Daragh schob diesen Gedanken weit fort, da er nicht glauben wollte, dass es so etwas wirklich in der Realität geben könnte. „Das ist doch sinnlos“, sagte Marama schließlich. „Wenn du mich nicht angreifen willst, werde ich das einfach tun!“ Damit hob sie die Hand, um ihre Waffe zu beschwören – doch Daragh riss den Bogen wieder hoch und spannte die Sehne. „Das würde ich nicht tun! Wenn du auch nur eine falsche Bewegung gegenüber Zashi machst, werde ich dich töten!“ Obwohl er sich immer noch nicht sicher war, wer von den beiden nun der Verräter war – oder ob es einen solchen überhaupt gab und nicht jemand anderes sie gegeneinander auszuspielen versuchte – konnte er nicht zulassen, dass sie seinem Partner schadete. Und selbst wenn ihre Fähigkeiten seine überragten, würde sie nicht gleichzeitig Zashi angreifen und seinen Pfeil abwehren können, jedenfalls nicht in ihrem Zustand. Marama hielt tatsächlich inne, blickte ihn aber mit derart viel Hass an, dass er für einen Moment wirklich der Überzeugung war, dass es sich bei ihr um die Verräterin handelte. „Oh, Daragh“, rief Zashi fröhlich aus. „Ich wusste doch, dass du zu mir halten würdest~.“ Doch schon einen Atemzug später wandelte seine Stimme sich, jede Lebhaftigkeit verschwand daraus, die Kälte ließ Daragh unwillkürlich frösteln: „Weil du einfach ein liebenswerter – und bald toter – Vollidiot bist.“ Verwirrt sah er zu Zashi hinüber, bemerkte dessen seltsam freudloses Grinsen, doch er konnte nichts dazu sagen, nicht einmal darüber nachdenken. Plötzlich wurde er von etwas gepackt, er ließ erschrocken den Bogen fallen und bemerkte dann, dass es Ranken waren, die sich um seinen Körper schlangen. Sie schienen direkt aus den Schatten auf dem Boden zu brechen und verhärteten sich, je mehr er sich zu bewegen versuchte, deswegen gab er es schließlich auf und blickte Zashi lieber ratlos an. „Was soll das?“ Er hoffte, ein Anzeichen im Gesicht seines Partners zu finden, das ihm verriet, dass es sich hierbei nur um ein Missverständnis handelte, um einen Plan, in den er nicht eingeweiht worden war, damit seine Reaktion glaubwürdiger war. Doch dieser hob nur einen Zeigefinger, dabei sah er immer noch Marama an. „Du bleibst da jetzt ruhig stehen, während ich mich um diesen Störenfried hier kümmere.“ Sie schwieg, das Gesicht wütend verzogen und bewegte sich immer noch nicht. Zashi lachte humorlos. „Tja, meine liebe Marama, du befindest dich immer noch in einer vertrackten Situation. Wenn du jetzt eine Dummheit machst, muss der arme kleine Daragh dran glauben. Willst du das?“ Erst nachdem er das gesagt hatte, ließ sie ihre Hand wieder sinken. Er lächelte, aber selbst das wirkte nun vollkommen freudlos und vielmehr bösartig spottend. „Gutes Mädchen.“ Die Frage nach dem Warum hämmerte in Daraghs Kopf, sein Nacken war derart angespannt, dass er Schmerzen bekam. Warum verriet Zashi sie? Was war plötzlich mit ihm los? Ein Geräusch lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf die Raubkatze, der zahllose Fangarme aus dem Rücken gewachsen waren, und die gerade mit langsamen Schritten den Hauptplatz betrat. „Ah“, sagte Zashi, dann lachte er leise. „Dieser Dämon kommt wie gerufen – kein Wunder, er gehorcht mir ja auf's Wort.“ Inzwischen war Daragh sogar bereit, zu glauben, dass Zashi von einem Feind kontrolliert wurde oder dass es sich bei dieser Person hier gar nicht um seinen Partner handelte, aber er fand keinen weiteren Anhaltspunkt darauf. Ohne jede Logik, die seine Theorie stützen könnte, zerschlugen seine Gedanken sich selbst. Schließlich blieb die Raubkatze stehen und setzte sich, ihre Arme senkten sich ein wenig – und da fiel Daragh auf, dass eine Person in diesen gefangen war. „W-wer ist das?“ „Das“, verkündete Zashi stolz, „ist der bisherige zukünftige Heilsbringer der Lazari!“ Es war wirklich eine Falle!, fuhr es Daragh durch den Kopf. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er vor wenigen Tagen mit Zashi darüber gesprochen hatte, wie besorgt sie beide gewesen waren,wie sehr darauf erpicht, Nolan zu retten und die Falle nicht zuschnappen zu lassen – und nun stellte sich heraus, dass gerade die Person, der Daragh mehr vertraute als jeder anderen, ihn ins offene Messer hatte laufen lassen. Der Gedanke rammte ihm eine eiskalte Klinge in die Eingeweide, unwillkürlich versuchte er erneut, sich zu befreien, aber die von den Ranken verursachten Schmerzen ließen ihn sofort wieder innehalten. Zashi schmunzelte, dabei wirkte er immer noch spöttisch. „Aber wenn ich mit ihm fertig bin, wird er niemanden mehr retten.“ „Was sind denn bitte Lazari?“, fragte Landis flüsternd. Raelyn wusste es genausowenig, deswegen konnte sie auf diese Frage nur mit den Schultern zucken. Eigentlich gefiel ihr nicht, dass sie das alles beobachteten, während sie sich gerade einmal in den Schatten einer Mauer duckten, aber bislang wirkten alle drei so mit sich selbst beschäftigt, dass keine Gefahr bestand, entdeckt zu werden. Sie hatte alle drei sofort erkannt, deswegen war sie umso verwirrter, was diesen Kampf anging. Als sie die drei das letzte Mal zusammen gesehen hatte, waren sie jedenfalls keine Feinde, sondern Kollegen gewesen, aber nun bekämpften sie sich offenbar. Zumindest hätte sie spätestens in diesem Moment bemerkt, dass sie keine Psychologen waren, wenn sie es nicht bereits wüsste. Schon allein, dass sie alle drei in der Dunkelheit leicht zu glühen schienen und deswegen so deutlich sichtbar waren, bildete einen guten Hinweis. Aber das Thema war eigentlich gerade ein ganz anderes. Raelyn deutete zu dem Wesen hinüber, das Nolan noch immer festhielt und nach Zashis Worten zu urteilen lebte er also noch. „Da ist er. Kannst du ihm jetzt helfen?“ Landis blinzelte mehrmals und kniff dann die Augen zusammen, als würde er damit wirklich seine Sicht verbessern können. „Jedenfalls nicht direkt. Die anderen drei sind zu nah bei ihm, der eine da würde mich sofort entdecken und dann entweder mir was antun oder den anderen oder uns allen.“ Dass Daragh noch lebte, bemerkte Raelyn auch, lag höchstwahrscheinlich daran, dass die beiden sich schon länger kannten, dass diese Marama noch lebte, musste damit zusammenhängen, dass Zashi seine Überlegenheit demonstrieren wollte. Landis' Blick wanderte über den Platz in eine andere Straße, dann lächelte er. „Ah, meine Freunde sind da!“ Sie sah ebenfalls hinüber, war aber unfähig, etwas in der Dunkelheit zu entdecken, weswegen sie sich fragte, wie er dort überhaupt etwas wahrnehmen konnte. Aber sie vertraute darauf, dass er wirklich die Wahrheit sagte. „Ich muss zu ihnen, damit wir zusammen etwas unternehmen können.“ Er sprach nicht davon, dass sie beide hinübergehen müssten, deswegen sah Raelyn ihn nun wieder mit gerunzelter Stirn an. „Du willst aber nicht einfach nur verschwinden und ihm seinen Schicksal überlassen?“ „Natürlich nicht“, sagte er sofort, als wäre er wirklich empört. „Als ob ich irgendjemanden im Stich lassen würde, der meine Hilfe braucht. Warte einfach hier.“ Ohne ihr die Gelegenheit zum Antworten zu geben, huschte er in eine Gasse davon, um auf die andere Seite zu kommen, wie Raelyn hoffte. Während er sich also mit seinen Gefährten traf, blickte sie wieder auf den Platz, um zu beobachten, wie es weiterging. „Das kannst du nicht tun!“, brauste Marama gerade auf. „Ja“, bekräftigte Daragh sie sofort. „Ich dachte, wir warten darauf, dass er uns in ein neues Zeitalter führt und uns von unserem Fluch erlöst.“ Raelyn verstand nicht, von welchem Fluch er sprach. Aber da sie nun über ihre letzten Begegnungen mit ihm nachdachte, fiel ihr auf, welch schwere Traurigkeit in seinen Augen verborgen gewesen und stets von ihr ignoriert worden war, weil sie geglaubt hatte, dass es sie nichts anginge. Zashi blickte zwischen den beiden hin und her, dann stieß er ein gut hörbares Seufzen aus. „Ihr würdet das nicht verstehen. Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe.“ „Mich interessiert nicht, was du gesehen hast!“, entgegnete Marama. „Ich kann nicht zulassen, dass du ihm schadest! Es widerspricht dem Prinzip eines Lazarus!“ „Und was willst du dagegen tun?“ Statt einer Antwort fuhr sie ruckartig herum und rannte auf den Dämon zu. Ein helles Licht erschien in ihrer Hand, wandelte sich in einen Speer, dessen Klinge drei verschieden lange Zacken aufwies und dessen Griff mit grünen Stoffbahnen umwickelt war. Damit wollte sie das Wesen angreifen, ungeachtet Daraghs Schicksal, was bei Raelyn beinahe zu einem empörten Schrei geführt hätte – doch was in diesem Moment geschah, schnürte ihr direkt die Kehle zu. Die Fangarme des Dämons, die nicht noch immer Nolan hielten, wandelten sich in spitze Speere und schossen allesamt gleichzeitig, aus verschiedenen Richtungen, auf Marama zu. Sie wich aus, wirbelte den Speer, um die Angreifer abzuwehren und versuchte dabei, weiterhin zum Hauptkörper vorzudringen. Doch gerade als sie es schaffte, einen der Arme abzutrennen, traf ein anderer sie direkt in die Seite. Keuchend hielt Marama inne und nur einen Wimpernschlag später war sie von allen Spitzen, gut einem halben Dutzend, durchbohrt. Raelyn presste sich eine Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu dämpfen, während sie das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen betrachtete. Für einen Augenblick konnte sie nicht glauben, dass diese Frau wirklich tot war, nachdem sie eine Sekunde zuvor noch derart heftig gekämpft hatte ... aber nun bewegte sie sich nicht mehr und Raelyn konnte es immer noch nicht fassen. „Marama!“ Im selben Moment, in dem Daragh ihren Namen rief, verschwand ihr Speer wieder. Der Dämon warf sie zu Boden, als wäre sie nur unnötiger Ballast, dann zogen sich die Fangarme wieder zurück, wobei nun erst Blut spritzte, und ließen die Spitzen verschwinden. „Nein!“, rief Daragh weiter aus. „Warum hast du das getan?!“ Zashi wandte sich ihm zu. „Ich habe mich um die einzige Person gekümmert, die mich hätte aufhalten können. Deswegen habe ich sie auch im Vorfeld ins Boot geholt. Es wäre ungut gewesen, wenn sie überraschend aufgetaucht wäre, nur weil sie in der Nähe war – schon allein, weil sie dann direkt Verstärkung mitgebracht hätte.“ Sie glaubte, regelrecht vor sich sehen zu können, wie Daragh tief durchatmete, um sich zu beruhigen. Zashi, der ja in seiner Nähe stand, schien das sogar wirklich zu bemerken. „Versuchst du, deine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen? Braver Daragh.“ Er streckte die Hand aus und tätschelte den Kopf des Gefangenen. „Aber das wird bald nicht mehr notwendig sein.“ „Warum tust du das?“, fragte Daragh mit erstickter Stimme. „Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe“, wiederholte Zashi seine Worte von zuvor. „Nolan ist derjenige, der die Lazari von ihrem Fluch erlöst – aber damit verhängt er nur ein wesentlich größeres Unheil über den Rest der Welt.“ Raelyn verstand nicht so recht, was das bedeuten sollte, über welchen Fluch sie überhaupt sprachen und wie Nolan mit dem Aufheben eben diesem, allen anderen schaden könnte. Glücklicherweise, für sie, ging es Daragh genauso: „Wovon redest du eigentlich?“ „Das muss dich nicht mehr interessieren.“ Mit langsamen Schritten ging Zashi auf Nolan zu. Dieser wurde gerade von dem Dämon vorsichtig auf dem Boden abgesetzt. Dabei wachte er nach wie vor nicht auf. Wenige Schritte von ihm entfernt blieb Zashi wieder stehen und ließ eine unförmige Klinge, die aus Kristall zu bestehen schien, in seiner Hand erscheinen. „Nachdem ich mich um ihn gekümmert habe, bist du dran, Daragh – und danach jeder andere Lazarus.“ Er legte den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus. Aus dieser Entfernung konnte Raelyn es nicht so genau sehen, aber sie war überzeugt, dass er die Augen geschlossen hatte, als er verkündete: „Ich werde ihr neuer Heilsbringer sein!“ Für einen kurzen Atemzug schien ihn eine Aura von Überlegenheit und Hochmut zu umgeben und sogar deutlich sichtbar zu sein – aber als Raelyn blinzelte, war das Gefühl wieder verschwunden. „Red keinen Unsinn!“, fauchte Daragh und verzog das Gesicht, als etwas ihm offenbar Schmerzen zufügte. „Du zerstörst alles, was Kieran aufgebaut hat!“ „Kieran war ein Idiot“, erwiderte Zashi über seine Schulter hinweg. „Er hatte keine Ahnung, weil ihm der Überblick fehlte. Und deswegen ist er im Endeffekt auch gestorben.“ Er hob die die Hand mit der Waffe. Raelyn blickte sich suchend um, hoffte, dass Landis endlich etwas tun würde, doch von ihm oder seinen Begleitern war weit und breit nichts zu sehen. Daragh war noch immer gefesselt und bewegungsunfähig. In diesem Moment blieb ihr nichts anderes übrig, wenn sie nicht einfach nur zusehen wollte, was immerhin der Grund war, wegen dem sie überhaupt hier war. Also verließ sie ihr Versteck und trat ebenfalls auf den Hauptplatz. „Hör auf damit! Das reicht jetzt!“ Zashi wandte sich ihr zu und lächelte überraschend warm. „Oh, da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du tauchst gar nicht mehr auf.“ Während sie nur verwirrt blinzeln konnte, hörte sie, wie Daragh ihr zurief, dass sie weglaufen sollte. Doch bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte, irgendeinen Schritt zu machen, wurde ihr Körper ebenfalls von Ranken umschlungen. „Eh ...?“ Sie sahen aus wie Pflanzen, fühlten sich aber keineswegs so an. Die Stellen, an denen sie auf ihrer bloßen Haut auflagen, begannen innerhalb von Sekunden zu brennen und machten das Gefühl, gefangen zu sein, damit noch unerträglicher. Zashi neigte ein wenig den Kopf und ließ die Klinge wieder sinken. „Du bist der Trumpf, den ich brauche, damit Daragh stillhält – offenbar interessiert es ihn ja nicht, wenn er selbst Schmerzen hat.“ Als er das sagte, fiel ihr auch auf, dass Daragh weiterhin versuchte, sich zu befreien, obwohl sein Gesicht vor Anstrengung und Schmerz bereits verzogen war. Aber immerhin schien er sich bereits teilweise losgerissen zu haben, denn er stand nun einige Meter weiter links als zuvor. „Vielleicht denkt er ja anders darüber, wenn du diejenige bist, die seine Schmerzen erleidet.“ Ehe sie fragen konnte, was er damit meinte, fuhr ein heftiges Brennen durch ihren gesamten Körper. Sie stieß einen Schrei aus, der in diesem Moment mehr aus Überraschung, als aus Schmerz herrührte, aber er war geeignet, um Daragh wieder zum Stillstehen zu bringen. Zashi lächelte darüber zufrieden. „Schon viel besser. Wenn ich nämlich wegen einem von euch sein Herz verfehle, könnte es ziemlich schmerzhaft für den Guten werden und das wollen wir ja nicht.“ Damit hob er die Klinge wieder, sein Lächeln nahm einen geradezu bestialischen Zug an. „Leb wohl, Nolan Lane!“ Kapitel 9: Der Plan eines Verräters ----------------------------------- Für den Bruchteil einer Sekunde hielt Zashi inne, die Klinge erhoben, den Blick starr auf Nolan gerichtet. Und in diesem flüchtigen Moment durchlebte Daragh eine Phase der Hoffnungslosigkeit, die ihm bis dahin gänzlich unbekannt gewesen war und die ihn über eine Klippe in den Abgrund zu stoßen versuchte, in dem es nur noch Verzweiflung gab. Sein langjähriger Vertrauter und Partner hatte ihn betrogen und sie alle verraten, um einen Plan durchzuführen, der so wahnwitzig war, dass Daragh nicht im Mindesten verstand, was er sich daraus erhoffte. Noch dazu war sein gesamter Glaube an Nolan als Heilsbringer in Frage gestellt worden. Wenn es keine Hoffnung für die Lazari gab, keine Zukunft – vielleicht war es dann wirklich besser, sie alle, inklusive Nolan, direkt zu töten. Noch nie zuvor war ihm seine Anima derart deutlich in seinem Inneren erschienen wie in diesem Sekundenbruchteil, nie zuvor war er derart kurz davor gewesen, einfach nachzugeben und ein Dämon zu werden, Zashi so in seinem Plan zu unterstützen und dabei selbst einen Fluch auf die gesamte Menschheit zu legen. Doch bevor er den letzten Schritt über die Klippe machen konnte, nahm er eine Bewegung wahr, begleitet von einer Energie, die ihm wieder neue Hoffnung schenkte. Eine Kette schoss direkt an seinen Augen vorbei und wickelte sich um Zashis erhobenen Arm, um ihn ruckartig zurückzureißen. Er stieß einen Fluch aus, als er zu Boden fiel und die Kristallklinge verschwand. Erst dann löste sich die Kette wieder, verharrte für einen Moment vor Daraghs Gesicht, worauf er von Hoffnung durchflutet wurde, als würde eine gütige Person ihm eine Hand auf den Kopf legen und ihm versichern, dass alles gut werden könne, wenn er nun nicht aufgab. Eine Millisekunde lang glaubte er sogar, jemanden vor sich zu sehen, aber das Bild verschwand, bevor er es begreifen konnte, dann zog die Kette sich gänzlich zurück. Eigentlich interessierte Daragh durchaus, woher sie gekommen war, aber im selben Moment hörte er das Zischen von Pfeilen, die direkt neben ihm einschlugen – und dann bemerkte er, dass die schwarzen Ranken durchtrennt worden waren, worauf die kümmerlichen Reste sofort von ihm abfielen. Er zögerte keine Sekunde, hastete zu Nolan hinüber und stellte sich zwischen ihn und Zashi, um ihn zu beschützen, falls es sein musste. Dafür ließ er den Stab wieder in seiner Hand erscheinen – bei einem Gegner, der die Zukunft vorhersah, war der Bogen nutzlos – und sah dann erst zu Raelyn hinüber. Dieser kam gerade Nadia zur Hilfe, die ihre Ranken mit einem Naginata zerteilte, um sie zu befreien und sich dann zu erkundigen, ob alles in Ordnung wäre, was Raelyn direkt bejahte. Daragh atmete erleichtert auf und konzentrierte sich dann wieder auf Zashi, dessen Aufmerksamkeit auf den dazukommenden Landis gerichtet war, die Kette schwebte noch immer um seinen Körper und endete in seinem Schwert. Irgendwo, da war Daragh sich sicher, verbarg sich auch Aidan, der ihm mit seinen Bogen geholfen hatte. „Wer seid ihr?“, fragte Zashi so gehässig, wie ihn noch niemand jemals zuvor erlebt hatte. „Was wollt ihr hier?!“ Seiner Reaktion nach zu urteilen konnte Daragh sofort ausmachen, dass diese drei nicht in Zashis Visionen vorgekommen waren und somit keinen Platz in seinem Plan fanden. Das war durchaus ungewöhnlich, denn auch wenn seine Vorhersagen nicht immer ganz verlässlich waren und manchmal Dinge ausließen, so vergaßen sie niemals solch wichtige Informationen. „Wir sind niemand Wichtiges“, erwiderte Landis und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Aber wir wollten auch nicht einfach zusehen, wie du hier jemanden tötest.“ Während Zashi leise knurrte, betrachtete Daragh die Kette genauer. Er fragte sich, wie es funktionieren mochte, dass die Glieder dort im Schwertgriff verschwanden, aber er antwortete sich schließlich selbst damit, dass es eine magische Kette war und er deswegen keine Logik anzuwenden bräuchte. Daragh blickte hinter sich, als er bemerkte, dass jemand sich an Nolans Körper zu schaffen machte und sah dann, dass es nur Nadia und Raelyn waren, die gerade versuchten, ihn fortzubringen. Zashi fiel das nicht auf, da er gerade noch damit beschäftigt war, Landis böse anzustarren, weswegen Daragh sofort reagierte. Kaum hatten die beiden es geschafft, Nolan tatsächlich einige Meter weit zu stützen, nutzte Daragh das bisschen an magischer Energie, das er noch besaß, um Maramas Körper an Nolans bisherigen Platz zu befördern und einen Tarnzauber auf sie zu legen, damit sie genau so aussah wie der Mann zuvor. Solange Zashi abgelenkt war, dürfte das genügen, hoffte er. Und Landis tat sein Bestes, um die Aufmerksamkeit weiter auf sich zu ziehen. „Oh, keine Ahnung, was dein Problem ist, wirklich. Aber du kannst nicht einfach herumrennen und Leute töten.“ „Was geht dich das denn überhaupt an?“, fragte Zashi gereizt. „Als ob einer wie du meine Pläne verstehen würde!“ Landis ließ sich davon nicht beeindrucken. „Als ob du wüsstest, was ich für einer bin.“ „Ich weiß alles.“ Zashi drückte die Brust raus, als wolle er sich wie ein Vogel aufplustern und sich damit den Respekt verschaffen, den er seiner Ansicht nach wohl verdiente. Doch Landis blieb auch darauf vollkommen unberührt. „Wenn du gewusst hättest, dass wir eingreifen, wärst du doch jetzt nicht in dieser Situation, oder?“ Wütend holte Zashi mit dem Arm zu einer bogenförmigen Bewegung aus und schleuderte Landis eine Druckwelle entgegen. Doch sein Gegenüber bewegte sich kein Stück. Ein helles Blitzen erschien dafür und löste den Zauber direkt wieder auf. Während Zashi offenbar nicht verstand, wie das sein konnte und ihm weitere Wellen entgegenwarf, konnte Daragh beobachten, wie sich die Kette immer wieder bewegte, um jede einzelne in einem hellen Licht zu neutralisieren – und jedes Mal, wenn es erschien, war Daragh davon überzeugt, für einen flüchtigen Augenblick eine weitere Person zu sehen. Aber sie verschwand immer viel zu schnell, als dass er sie erkennen könnte. Aber ich kenne diese Energie! Ich kenne sie! Wenn ich nur wüsste, woher ... „Das reicht jetzt!“, rief Daragh schließlich, als er die leicht rötliche Aura bemerkte, die sich um Zashis Körper herum bildete. Egal wie fähig Landis sein mochte und welche Kraft auch in dieser Kette steckte, wenn Zashi wirklich ernsthaft zu kämpfen gedachte, war nur noch ein Lazarus in der Lage, es mit ihm aufzunehmen, selbst wenn er die fremden Aktionen nicht vorhersehen könnte. Dafür gab es gerade keine großen Alternativen, also müsste Daragh versuchen, den anderen zumindest Zeit zu verschaffen, die sie benötigen könnten, um Nolan zu retten. Endlich wandte Zashi sich ihm wieder zu, seine Wut schien nun aber vergessen, stattdessen wirkte er amüsiert. „Du willst es mit mir aufnehmen, Daragh? Nein, wie süß. Vergiss nicht, dass ich jede deiner Waffen kenne und sämtliche deiner Bewegungen.“ „Das mag sein“, erwiderte er, während Landis den Wink tatsächlich nutzte, um an ihm vorbeizugehen und zu den anderen zu kommen, ohne dass Zashi ihn aufhielt. Neben Daragh hielt Landis noch einmal kurz inne, er nickte ihm zuversichtlich zu, worauf er sich wieder mit Hoffnung durchströmt fühlte, mit der Gewissheit, dass er gewinnen könne, wenn er nur lange genug durchhielt. Dann ging Landis weiter und verließ den Platz, um Nadia, Raelyn und Nolan zu folgen. Als Zashi ebenfalls bemerkte, dass die beiden Frauen verschwunden waren, fiel sein Blick direkt auf Maramas Körper, den er – glücklicherweise – wirklich nicht als solchen erkannte, stattdessen wirkte sein Lächeln wieder zufrieden: „Ah, sie können vielleicht sich selbst in Sicherheit bringen, das stört mich nicht, solange sie mir den Heilsbringer hier lassen. Immerhin bin ich noch nicht mit ihm fertig. Und die anderen knöpfe ich mir einfach ein andermal vor.“ Er nickte sich selbst zu und ließ dabei seinen Fächer in seiner Hand erscheinen, was Daragh mit einem äußerst unguten Gefühl erfüllte. Schon immer hatte er den anderen dafür beneidet und bewundert, wie fähig er im Umgang mit dieser Waffe war. Wenn Zashi damit zu kämpfen begann, wirkte das Schlachtfeld vielmehr wie eine Tanzbühne und es war kaum einem Gegner möglich, dem zu entkommen. Dennoch durfte er nicht aufgeben. Also wirbelte er den Stab und hielt ihn dann abwehrend vor sich. „Aber du vergisst, dass ich deinen Kampfstil genauso gut kenne, Partner.“ Auch wenn es Raelyn nicht gefiel, hatte Nadia sie schließlich davon überzeugt, in einem kleinen Park stehenzubleiben und dort zu warten. Sie saß nun auf derselben Bank, auf der Nolan lag, mit seinem Kopf auf ihrem Schoß, damit er nicht zu hart liegen müsse, wie Nadia erklärte. Während Raelyn versuchte, möglichst ruhig zu bleiben und dabei immer wieder durch sein Haar strich, stand Nadia nur wenige Schritte entfernt und blickte sich wachsam um. Eigentlich hatte sie sich diesen ganzen Tag – und vor allem den Abend – ganz anders vorgestellt, besonders nachdem Nolan ihr eigentlich hatte ein Essen spendieren wollen. Die Stellen, an denen die Ranken sie berührt hatten, brannten noch immer und waren leicht gerötet, sie hatte ihr Notizbuch mit dem Beginn der neuen Geschichte verloren. Aber vielmehr machte ihr Gedanken, dass jemand versuchte, Nolan umzubringen. Dass jemand ihn als Heilsbringer bezeichnete und ihm dennoch vorwarf, einen Fluch auf die Welt zu legen. Dass jemand tatsächlich so größenwahnsinnig war, zu glauben, dass er ein neuer Erlöser sein könnte, indem er einfach jeden anderen umbrachte. Daraghs eigentlicher Beruf trug dann auch zu ihrer Verwirrung bei. Sie verstand noch nicht genau, was er eigentlich tat und warum er es tat, aber sie war sich auch nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte oder ob sie ihn fragen dürfte, sollte sie ihm noch einmal begegnen. „Wird er bald wieder aufwachen?“ Für einen Moment glaubte Raelyn, dass Nadia mit ihr gesprochen hatte, aber als sie den Kopf hob, bemerkte sie, dass Landis zu ihnen aufgeschlossen hatte. Die Kette war nun nicht mehr zu sehen, aber sein Gang war noch immer derart selbstsicher wie zuvor. Er schritt an Nadia vorbei und blickte auf Nolan hinab. „Hat er noch Puls?“ Raelyn nickte, worauf er endlich Nadia antwortete: „No ist hart im Nehmen, natürlich schafft er das.“ Dabei lächelte er seltsam bedrückt, als könne er sich nicht entscheiden, ob er sich freuen oder traurig sein sollte über diesen Umstand. Sie ahnte ja nicht, dass es etwas ganz anderes war, das ihn dabei beschäftigte. „Kennt ihr euch denn?“, fragte Raelyn ihn irritiert. Er wandte sich wieder ihr zu und nickte. „Ja, aber klar. Wir waren als Kinder die besten Freunde. Haben uns in den letzten Jahren ziemlich auseinander gelebt und sollten uns jetzt lieber nicht mehr treffen, deswegen sollten wir auch besser verschwinden.“ Raelyn hätte gerne gefragt, wie sich beste Freunde so sehr auseinander leben konnten, dass es besser war, wenn sie sich später nicht mehr begegneten, aber sie wollte sich nicht zu sehr in die Geschichte der beiden einmischen. „Ich etwa auch?“, fragte Nadia mit gerunzelter Stirn. Er sah wieder zu ihr, wobei sein Lächeln diesmal eine etwas genervte Nuance annahm. „Ja, natürlich du auch. Willst du Aidan etwa sich selbst überlassen? Der ist noch auf dem Hauptplatz, um eingreifen zu können, falls was geschieht.“ Raelyn verstand auch nicht im Mindesten, weswegen die drei sich überhaupt in diese Sache einmischten, wenn sie doch anscheinend nichts damit zu tun hatten, außer dass zumindest einer von ihnen Nolan kannte. Aber wirklich darüber nachdenken wollte sie eigentlich auch nicht. Dafür waren die ganzen Ereignisse dieser Nacht nun doch ... zu viel gewesen. Zumindest war die Stadt wieder still, also war die Panik wohl endlich abgeflaut und hoffentlich hatten sich alle in Sicherheit bringen können. Zumindest bislang war sie immerhin keinen Verletzten begegnet oder war über Tote gestolpert. Das Argument mit ihrem Bruder, im Verbund mit dem Versprechen, dass Raelyn und Nolan auf jeden Fall in Sicherheit waren, überzeugte Nadia schließlich davon, dass sie ebenfalls gehen sollte. „Was soll ich ihm denn sagen, wenn er wieder aufwacht und eine Erklärung verlangt?“, fragte Raelyn, ehe die beiden gehen konnten. Landis hielt noch einmal kurz inne, während Nadia einfach weiterging, und neigte nachdenklich den Kopf. „Sag ihm einfach, er hat sehr lebhaft geträumt. Das kennt er von früher. Sein Vater und ich haben ihm das öfter erzählt.“ Ehe sie noch etwas fragen konnte, folgte Landis der bereits vorausgegangenen Nadia und so verschwanden beide rasch aus ihrer Sicht. Sie neigte den Kopf und wollte eigentlich seufzen, aber selbst dafür fühlte sie sich gerade zu müde, deswegen schloss sie die Augen, um sich nur ein bisschen auszuruhen – und war innerhalb weniger Sekunden bereits eingeschlafen, während ihre Hand immer noch in Nolans Haar ruhte. Daragh hatte einerseits recht behalten und sich andererseits geirrt: Zashis Kampfstil mit dem Fächer war wirklich wie ein Tanz, dem man sich nicht so einfach entziehen konnte – aber er kannte diesen Stil nicht so gut, wie er gehofft hatte. Immer wieder wurde er von den rasiermesserscharfen Rändern des Fächers getroffen, sein Gesicht und seine Arme brannten bereits aufgrund der verursachten Wunden und es schien Zashi nicht im Mindesten Anstrengung zu kosten. Dieser wich außerdem auch jedem seiner Angriffe mühelos aus, so dass er ihn nicht einmal mit seinem Stab streifen konnte. In der puren Verzweiflung ignorierte er schließlich die eigene Deckung, als er erneut angriff. Er sah, wie der Fächer auf seine Kehle zielte, glaubte bereits, verloren zu haben – doch da wurde Zashi von einem Pfeil in den Arm getroffen und taumelte mit einem Schmerzensschrei zurück. Er ließ den Blick schweifen, schaffte es dabei aber nicht den Schützen zu finden, weswegen er wütend knurrte. Dann hob er die Hand, worauf sich um sie beide, Maramas Körper und den gesamten Kampfplatz ein quadratisches rotes Schild bildete. „Nur damit uns niemand mehr stören kann.“ Dann setzte er wieder zum Angriff an, aber diesmal wechselte Daragh seine Strategie und verlagerte sich darauf, auszuweichen, statt selbst anzugreifen. Aber statt sich auf dieses Ausdauerspiel einzulassen, entstanden Funken um Zashi und im nächsten Moment wurde sein Gegner von einem heftigen Wind direkt gegen die Barriere geschleudert. Daraghs Rücken schmerzte, er bekam kaum noch Luft und vor seinen Augen tanzten Sterne, durch die er Zashi kaum noch erkennen konnte. Deswegen schaffte er es auch nicht, dem nächsten Angriff auszuweichen und erntete dafür einen schmerzhaften Schnitt, der sich quer über seinen linken Unterkiefer zog. Daragh presste sich die Hand auf die Wunde, er wollte fluchen, wusste aber, dass jede weitere Bewegung seines Kiefers nur dafür sorgen würden, dass die Blutung und die Schmerzen sich verstärkten. Zashi tänzelte inzwischen leichtfüßig zurück und hob den Fächer wieder waagerecht vor sich. „Du schaffst es einfach nicht, sieh es ein. Also tritt beiseite, damit ich mich um Nolan kümmern kann und danach um dich.“ Daragh blickte ihn finster an, erwiderte darauf aber nichts. Offenbar konnte Zashi sich auch so denken, was er sagen wollte, denn er antwortete darauf: „Ich möchte, dass du siehst, wie ich ihn töte, wie ich dir jede Hoffnung nehme, dass du eines Tages nicht als Dämon enden wirst – aber ich tue das nicht, weil ich dich hasse, im Gegenteil.“ Diese Aussage ließ Daragh tatsächlich fragend die Augenbrauen heben. Zashis darauf folgendes Lächeln ließ ihn wieder an die alten Zeiten denken, die wesentlich länger her schienen, als es eigentlich der Fall war und ihn mit Nostalgie füllten. „Du liegst mir so sehr am Herzen, dass ich dich nicht sofort getötet habe – obwohl mir das inzwischen möglich gewesen wäre. Ich habe nicht einmal Raelyn getötet, obwohl mir auch das möglich gewesen wäre. Deswegen hatte ich eigentlich gehofft, dass du mir beistehen würdest, sobald ich der neue Heilsbringer werde.“ Daragh zog die Brauen zusammen. „Wie sollte ich dir denn helfen?“ Immerhin war er wirklich kein guter Kämpfer, sobald es gegen Lazari ging, also wäre er vollkommen überflüssig, deswegen konnte er das nicht glauben und schätzte stattdessen eher, dass sein Gegenüber ihn, aus welchem Grund auch immer, in einen Dämon wandeln wollte. Diese Erkenntnis ließ ihn die Augen weit aufreißen. Zashis Lächeln wurde wieder so überheblich wie zuvor, er sah gedankenverloren in die Entfernung. „Du hast es verstanden! Mit dir als meinem Dämon werde ich die Gilde innerhalb kürzester Zeit gereinigt haben! Ich werde sie alle vor der Furcht erlösen, eines Tages ein Dämon werden zu müssen und gleichzeitig werde ich die gesamte Menschheit retten!“ „Du bist wahnsinnig ...“, flüsterte Daragh. Und er fragte sich, warum ihm das nie zuvor aufgefallen war. Nachdem er so viele Jahre mit seinem Partner verbracht, meist im selben Zimmer mit ihm geschlafen hatte und es ihm stets möglich gewesen war, ihn zu beobachten, müssten da Hinweise gewesen sein, die nur von ihm übersehen worden waren. Dinge, die er stets als unwichtig betrachtet und beiseite geschoben hatte. Kleine Gesten oder kurze Sätze, die sich so einfach auf Zashis verdrehten Charakter schieben ließen. Wäre es ihm möglich gewesen, das alles zu verhindern, wenn er das alles bemerkt hätte? Zashi fixierte seinen Blick wieder auf ihn. „Ich bezeichne es lieber als ambitioniert.“ Plötzlich erklang ein hohes Pfeifen, das Daragh in den Ohren schmerzte und ihn leise stöhnend in die Knie sinken ließ. Zashi schien davon nicht im Mindesten betroffen und fuhr herum, um auf Maramas Körper zuzugehen, der für ihn immer noch aussah wie Nolan, wie Daragh sicherstellte. Vor ihr blieb Zashi wieder stehen und blickte prüfend auf sie hinab. Erst in diesem Moment ließ das Pfeifen endlich wieder nach, ließ Daragh allerdings halb taub zurück, zumindest fühlte er sich so. Dennoch versuchte er, Zashi zu beobachten und blinzelte immer wieder die verschwimmende Umgebung fort. Der andere beschwor noch immer keine Waffe, während er diesen Körper betrachtete. Plötzlich fuhr er herum und starrte Daragh wutentbrannt an. „Du hast ihnen erlaubt, mit Nolan zu entkommen?! Und du versuchst mich mit diesem billigen Trick hereinzulegen?!“ „Bislang hat es doch gut funktioniert“, erwiderte Daragh schulterzuckend. Mit einem Schrei schleuderte Zashi ihm eine weitere Druckwelle entgegen, die ihn nun gänzlich zu Boden warf. Sein Rücken schmerzte dadurch wesentlich mehr als zuvor und in Verbindung mit der Verletzung an seinem Kiefer fühlte er sich langsam zu erschöpft, um weiterzukämpfen. Ihm war vielmehr nach Schlafen, am besten so lang wie möglich – und es sah aus, als würde Zashi ihm das nun endlich erfüllen, wenngleich auf seine eigene Art und Weise. Mit wütenden Schritten ging er auf Daragh zu, dabei ließ er noch im Stehen das Kristallschwert in seiner Hand erscheinen. „Damit endet jeder Bonus, den du hattest! Dachtest du wirklich, ich würde zulassen, dass du mich derart zum Narren hältst?!“ Daragh erwiderte nichts darauf und starrte ihn einfach nur hasserfüllt an, worauf Zashi die Klinge hob. „Fein, du wolltest es so!“ Er blinzelte nicht einmal und nur eine Sekunde später ließ sein Gegner die Waffe niedersausen. Daragh hörte, wie sie aufschlug und den Asphalt spaltete, aber er spürte keinen Schmerz, was ihn stutzen ließ. Wenn er genau darüber nachdachte, fühlte er plötzlich gar keinen Schmerz mehr und er saß sogar aufrecht, wie ihm nun auffiel und konnte so beobachten, wie Zashi ganz am anderen Ende der Barriere stand und ratlos zu Boden sah. Erst als er das festgestellt hatte, blickte er neben sich und entdeckte eine Person, die dort stand. Er hob langsam den Kopf, um an den Beinen hinaufzusehen, auch wenn er die schwarze Hose durchaus zu erkennen glaubte. Der graue Mantel, der eine schwarze Weste und ein weißes Hemd unter sich verbargen, sagte ihm dann eigentlich bereits alles, was er wissen musste. Dennoch hielt er erst inne, als er am Kopf des anderen angekommen war. Das weiße Haar bildete einen Kontrast zu der gebräunten Haut, die Brille ließ den Blick seiner goldenen Augen noch bedrohlicher wirken. „Jii ...“, entfuhr es Daragh erleichtert. Allerdings war er ratlos, was der andere hier machte. Er war der Arzt der Gilde und eigentlich kein Kämpfer, deswegen verstand Daragh im Moment noch nicht, was das sollte – aber es erklärte immerhin, wieso er nicht mehr verletzt war. „Alles in Ordnung mit dir?“ Jii sah ihn nicht einmal an, als er das fragte, sein Blick galt einzig Zashi, der inzwischen herumfuhr, um sie böse anzufunkeln. Statt auf die Frage zu antworten, erhob sich Daragh einfach, um sich dem Kampf weiterhin zu stellen, auch wenn er nicht glaubte, dass Jii seine Hilfe benötigte. „Was tust du hier?!“, fauchte Zashi. „Und wie bist du durch die Barriere gekommen?“ Diese war tatsächlich immer noch intakt. Aber Jii ließ sich davon nicht beeindrucken und hob die Schultern. „Marama hat mich unterrichtet, dass du sie angegriffen hast – und diese Barriere kann einen Mystischen wie mich nicht aufhalten.“ Eigentlich lebten die Mystischen auf dem Nordkontinenten, sie waren Teil eines übermenschlichen Clans, aber Jii half dennoch der Gilde in Király, auch wenn niemand so recht wusste, wieso und er sprach auch nie darüber. Also blieb ihnen allen nur, anzunehmen, dass er eben seine Gründe besaß. Zashi griff sich seufzend an den Kopf. „An dich habe ich gar nicht mehr gedacht.“ „Ja, das passiert häufiger, als man denkt.“ Jii zuckte noch einmal mit den Schultern. „Aber genau deswegen muss ich ja jetzt hier sein, damit du daran erinnert wirst, dass Gedankenlosigkeit zur Niederlage führt.“ „Das wollen wir ja erst noch sehen“, erwiderte Zashi und streckte ihm die Kristallklinge entgegen. Jii zog ein leicht gebogenes Schwert hervor, das lediglich auf einer Seite geschärft war und bedeutete Daragh dann, zurückzubleiben. „Ich kümmere mich schon darum.“ Er fühlte sich aufgeregt, als der Arzt ihm das mitteilte, denn es bedeutete, dass er einer der wenigen war, die jemals zu sehen bekommen würden, wie Jii kämpfte. Da es derart selten vorkam, war es wirklich ein großes Ereignis für ihn. Zashi sprintete direkt vor, um anzugreifen – doch nur ein Zwinkern später befand Jii sich bereits an einem ganz anderen Punkt als zuvor, ohne dass Daragh gesehen hatte, wie das geschehen war. Selbst als Zashi ihm nachsetzte, geschah es immer wieder, dass Jii einfach verschwand, um dann woanders zu erscheinen. Das alles tat er ohne jede Teleportationsmagie zu wirken, wie Daragh erkannte, während er das beobachtete. Stattdessen schien es ihm jedes Mal so, als würde für einen kurzen Moment die Zeit stehenbleiben. Das war allerdings nur eine Theorie, die er nicht bestätigen konnte, aber er war überzeugt, dass es die einzige Möglichkeit für den Arzt war, derart kämpfen zu können. „Bleib endlich stehen!“, fauchte Zashi, nach einem weiteren erfolglosen Angriff. Jii schmunzelte ein wenig, als er genau wie sein Gegner innehielt. „Hast du etwa ein Problem damit, mich zu treffen? Ich bin nicht umsonst derjenige, der geschickt wird, wenn ein Lazarus die Nerven verliert und einen Putsch plant.“ Es war Daragh vollkommen neu, dass so etwas schon öfter vorgekommen war, aber es war sehr gut möglich, dass die Gilde es einfach nur unter den Teppich kehrte, um die Moral der anderen Mitglieder nicht zu gefährden. In dieser Situation konnte Daragh es allerdings gut nachvollziehen. Würden die Lazari davon wissen, dass es öfter ihresgleichen gab, die sich gegen ihre Brüder und Schwestern wandten, wäre die Welle von Verzweiflung, Hass und Misstrauen nicht mehr aufzuhalten. Zashi knurrte leise und ließ dann seinen Fächer verschwinden. Im selben Moment zerbrach die Barriere und fiel in Gestalt glitzernder Splitter zu Boden. Als Daragh die Hand ausstreckte, um einige von ihnen aufzufangen, zerplatzten sie, als sie in Kontakt mit seiner Haut kamen, und verwandelten sich in glänzenden Staub, der verschwand, ehe er den Boden berühren konnte. „Offenbar hat es keinen Sinn, gegen dich zu kämpfen“, gab Zashi zu. „Also werde ich meinen Plan erst einmal auf Eis legen – aber du hast noch nicht gewonnen!“ Damit fuhr er herum und war schon einen Atemzug später verschwunden. Daragh erhob sich rasch, als die Bedrohung fort war und stellte sich neben Jii, der sein unbenutztes Schwert wieder einsteckte. „Willst du ihn entkommen lassen?“ „Im Moment kann er ohnehin nichts mehr tun. Nolan ist gut beschützt und jeder andere Lazarus ist davon unterrichtet, dass Zashi ein Verräter ist, von dem man sich fernhalten soll.“ In diesem Fall dürfte eine Vision ihm bereits verraten haben, dass es vorerst sinnlos war, gegen andere Lazari anzutreten. Es gab einfach zu viele und wenn diese gemeinsam gegen ihn antraten, würden nicht einmal seine seherischen Kräfte ihm helfen. „Wer beschützt Nolan denn?“, fragte Daragh ratlos. Bislang war ihm niemand aufgefallen, der ihm geholfen haben könnte, immerhin war er von einem Dämon angegriffen und beinahe getötet worden – und er glaubte nicht, dass Landis immer vor Ort sein könnte, um zu helfen. Jii lief langsam auf Maramas Leichnam zu und hob dabei die Schultern. „Naturgeister, wenn mich nicht alles täuscht. Ich interessiere mich nicht wirklich für die Dinge, die nichts mit Lazari zu tun haben.“ Dann kniete er sich neben die Tote und stieß ein tiefes Seufzen aus. „Welch Verschwendung. Es hätte nicht mehr lange gedauert, bis Marama verzweifelt wäre. Sie hatte zugestimmt, dass ich sie kurz davor sezieren darf.“ Die Vorstellung grauste Daragh so sehr, dass er zurückweichen musste. „Uhm ... warum hast du es nicht früher geschafft, wenn du die Zeit anhalten kannst?“ Jiis Kopf ruckte abrupt herum, er schob die Brille wieder auf ihre richtige Position, ehe er antwortete: „Das Anhalten der Zeit verringert meine Lebensenergie, die werde ich doch bestimmt nicht opfern, um das hier zu verhindern.“ Dabei vollführte er eine ungenaue Handbewegung, die wohl Marama einschließen sollte, ehe er wieder aufstand. „Ich werde sie einfach in ihrem jetzigen Zustand sezieren müssen.“ Und nur eine Sekunde später war ihr Körper bereits verschwunden, Daragh wollte sich nicht einmal vorstellen, was nun mit ihr geschehen würde. Dann wandte Jii sich ihm wieder zu. „Wir sollten in euer Zimmer gehen. Es ist viel zu spät, um noch zur Gilde zurückzukehren.“ Wie er im Moment sprach, schien er nicht im Mindesten von den Ereignissen betroffen zu sein – und Daragh wünschte sich, ihm würde es genauso gehen. Er fühlte sich gerade immer noch der Verzweiflung nahe, erinnerte sich aber deutlich an das angenehme Gefühl von Hoffnung, das von Landis' Schwert ausgegangen war und das beruhigte ihn zumindest ein wenig und brachte ihm die Erschöpfung näher, als die Resignation. „Ja, das sollten wir wohl wirklich.“ Jii begab sich bereits, ohne jede Erklärung, in Richtung des Gasthauses, während Daragh noch zu der Stelle hinüberging, an der Raelyn zuvor gestanden hatte. Nun da die Bedrohung verschwunden war, erinnerte er sich wieder an sie und hoffte, dass es ihr gut ging, dass sie es geschafft hatte, in Sicherheit zu kommen und sie fortan von Zashi in Ruhe gelassen wurde. Auch wenn er sie kaum kannte, mochte er sie immerhin und sie hatte sein Lieblingsbuch geschrieben, was für jemanden wie ihn ein wichtiger Fakt war. Würde ihr etwas zustoßen, nur weil sie ihn gekannt hatte, wäre das unverzeihlich für ihn. In diesem Moment interessierte ihn allerdings etwas anderes weitaus mehr und das lag hier direkt auf dem Boden. Es war ein Notizbuch, wie er sofort erkannte und er nahm an, dass es jenes war, das sie ihm eigentlich hatte zeigen wollen, das Buch mit ihrer neuen Geschichte. Sie muss es verloren haben. Also hob er es auf, um es ihr zurückzubringen – und es auch selbst zu lesen, wenn er später Gelegenheit dazu bekam. Vorerst wandte er sich, mit dem Buch in der Hand, einfach nur um, damit er Jii endlich folgen und dann hoffentlich bald schlafen könnte. Auch wenn er gar nicht erst zu hoffen wagte, dass er überhaupt einen erholsamen Schlaf haben würde, nach allem, was in dieser Nacht geschehen war. Kapitel 10: Zeitlos ------------------- Sein Schlaf war wirklich nicht erholsam. Er war durchzogen von Albträumen, an die er sich am nächsten Tag gar nicht erinnern wollte, die ihn aber erschöpfter zurück ließen als er noch vor dem Schlafen gewesen war. Als der Morgen graute, erwachte er aufgrund seiner trockenen Kehle und einem schmerzhaften Brennen, das seinen ganzen Körper durchzog und ihm kaum erlaubte, sich zu bewegen. Beim ersten Mal war er bei diesem Gefühl in Panik geraten, hatte hektisch Luft geschnappt und sich gefragt, ob er sterben würde und falls ja, warum so plötzlich und schmerzhaft. Doch inzwischen war er das bereits derart gewohnt, dass er sich nach dem ersten Schreck sofort beruhigte, tief und regelmäßig durchatmete und die Augen öffnete. In seinem Blickfeld flimmerten helle Lichtflecken, die beunruhigende Muster an die Decke über ihm zeichneten. Bei seinem zweiten Anfall hatte er versucht, diese Musterungen zu deuten und darin Zukunftsvisionen für seinen bevorstehenden Tod zu erkennen. An diesem Tag störte ihn das nicht mehr. Dass er sich allerdings nicht bewegen konnte, weil das Brennen dann nur noch schlimmer wurde, störte ihn durchaus, denn es half ihm nicht, diese unangenehmen Schmerzen loszuwerden. Früher war ihm Zashi stets zur Hilfe geeilt, aber auf diesen konnte er sich nun nicht mehr verlassen. Zashi war ein Verräter, sie würden nie wieder Partner sein. Allein der Gedanke daran ließ nun auch seine Augen brennen. Das lag allerdings nicht daran, dass sie bei den Anfällen immer schmerzten, er fühlte sich nur derart ausgetrocknet, dass er nicht weinen konnte. Plötzlich spürte er, wie jemand sich neben ihn setzte und dann – nicht sonderlich rücksichtsvoll – seinen Oberkörper anhob. Im nächsten Moment wurde ihm eine Tasse an die Lippe gesetzt, er gehorchte dem herrischen „Trink schon!“ und ließ die darin enthaltene Flüssigkeit sofort seine Kehle hinabfließen. Das Brennen ebbte augenblicklich ab, hinterließ aber ein unangenehmes, taubes Gefühl, das, wie er wusste, noch einige Stunden anhalten dürfte. Als die Tasse geleert war, stellte Jii diese ab und ließ ihn wieder auf das Bett hinunterfallen. Der Arzt erhob sich, stemmte die Hände in die Hüften und bewegte seinen Kopf ein wenig hin und her, als würde er seinen Nacken entspannen wollen. „Warum bist du eigentlich so unvernünftig?“, fragte er dann. „Ich habe dir schon zigmal gesagt, dass du den Tee regelmäßig trinken sollst.“ Daragh entschuldigte sich murmelnd. Seit er seine Fähigkeiten verloren hatte, war es ihm nicht mehr möglich, wie ein normaler Lazarus zu kämpfen, was unweigerlich dazu führte, dass sein natürlicher Instinkt aktiv wurde. Jeder Lazarus besaß diesen, sobald er als solcher erwacht war. Er sollte sicherstellen, dass der Dämonenjäger auch wirklich seiner Bestimmung folgte und die Menschen bewahrte, zumindest war es ihm so einmal erklärt worden. Wer nicht kämpfte, nicht seine Fähigkeiten einsetzte, wurde von dem Instinkt angetrieben, zu töten und zu zerstören und wer auch darauf nicht reagierte, erlitt diese grässlichen Schmerzen. Warum bei Daragh stets die Phase der Zerstörung übersprungen wurde, verstand niemand, aber er schob auch das darauf, dass er seine Lazarus-Fähigkeiten nicht mehr einsetzen konnte. Dieser Tee, den Jii ihm verabreicht hatte, diente der Beruhigung von Lazari, die, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr in der Lage waren, zu kämpfen oder eben nicht mehr derart wie es sein sollte. „Ich habe in den letzten Tagen nicht daran gedacht“, erklärte er schließlich. „Normalerweise war es Zashi, der mich immer dazu antrieb.“ Das führte ihn wieder zu der Frage, wie sein Freund ihm das hatte antun können. Sie hatten sich aufeinander verlassen, dem jeweils anderen das eigene Leben anvertraut – nur um nun in dieser Situation zu sein. „Hättest du das gedacht?“, fragte Daragh. Jii hob eine Augenbraue, während er auf ihn hinabsah. „Was meinst du?“ Da das Brennen endlich gänzlich schwand und das taube Gefühl nicht mehr so schlimm war, schaffte er es, sich aufzurichten, um sich auf das Bett zu setzen, statt nur darin zu liegen. Damit fühlte er sich Jii nicht mehr so fern, als er antwortete: „Ist dir irgendetwas an Zashi aufgefallen, das darauf hinwies, dass er uns verraten wird?“ Er neigte den Kopf, als er darüber nachzudenken schien, dabei stemmte er die Hände in die Hüften, wirkte aber immer noch seltsam locker. „Eigentlich nicht. Ich war deswegen selbst ziemlich überrascht. Bei den meisten Lazari ist der Verrat sehr früh zu erkennen, aber Zashi verstand sich gut darin, andere zu täuschen.“ Das war bis zum Schluss so gewesen, bemerkte Daragh. Hätte er sich nicht selbst verraten, wäre sein Plan, was Daragh betraf zumindest, mit Sicherheit aufgegangen, so sehr hatte er ihm das Schauspiel abgekauft und ihm vertraut. „Zashi sagte, wenn wir gesehen hätten, was er sah, würden wir seine Entscheidung gutheißen ...“ Jii schnaubte. „Welch ein Unsinn.“ Es klang, als hätte er Erfahrung damit gemacht. Aber der Arzt führte das nicht weiter aus und Daragh traute sich auch nicht wirklich, an diesem Punkt einzuhaken. Wenn Jii über ein Thema nicht reden wollte, tat er das auch nicht und wer ihn dann zu drängen versuchte, bekam nur vollkommene Bosheit als Antwort – was wohl der Grund war, weswegen so viele Lazari ihn nicht mochten, sie bedrängten ihn, mit guten Absichten, gewiss, und bekamen dann die Quittung dafür. In diese Kategorie wollte Daragh allerdings nicht fallen, also erinnerte er sich lieber an eine wesentlich unverfänglichere Frage, die ihn schon seit vorgestern beschäftigte: „Hast du eigentlich eine Taschenuhr?“ Das verwunderte Jii offenbar, aber er griff dennoch in die Tasche seiner Weste und holte tatsächlich eine goldene Uhr hervor. „Habe ich, aber sie wird dir kaum die Zeit mitteilen.“ Der Deckel war vollkommen schmucklos, aber als Jii ihn aufspringen ließ, bemerkte Daragh, dass das Ziffernblatt im Inneren durchsichtig war, so dass der Blick direkt auf das mechanische Getriebe fallen konnte. Es bewegte sich allerdings nicht mehr, die Zeiger standen auf fünf vor zwölf. „Warum trägst du eine nicht funktionierende Taschenuhr mit dir?“, fragte Daragh nach eingehender Betrachtung und überlegte gleichzeitig, ob das wohl mit Raelyns Frage im Zusammenhang stand. Vielleicht kannte der Arzt ja wirklich eine Tätigkeit für die man eine Taschenuhr, ob funktionierend oder nicht, benötigte. Jii hielt die Uhr wieder so, dass er sie selbst betrachten konnte. Dabei nahm sein Gesicht einen überaus sanften Zug an, den man sonst nicht von ihm zu sehen bekam, nicht einmal, wenn man sein Patient und möglicherweise schwer verletzt war. Er blickte niemals sanft, immer unterkühlt und professionell, wie man es eher von jemandem erwartete, der nicht so viel mit Menschen arbeitete. „Es ist ein Andenken“, erklärte er schließlich, aber es klang viel zu routiniert, um wirklich wahr zu sein. „Deswegen trage ich sie immer bei mir. Zu viel mehr dient sie nicht mehr.“ „Fällt dir irgendeine Tätigkeit ein, für die man eine Taschenuhr benötigen könnte?“ Jii hob eine Augenbraue. „Bitte?“ „Nur so ein Gedanke.“ Daragh beschloss, lieber aufzugeben. „Aber hey, sag mal … du warst vielleicht erst später da, aber ich habe da etwas gespürt während des Kampfes.“ „Und was?“ Er klang nicht sonderlich interessiert, aber Daragh wollte es wissen, deswegen fuhr er fort: „Ein Mann, der Nolan zu Hilfe kam, hatte ein Schwert bei sich, an dem war eine Kette befestigt, die sich gänzlich frei zu bewegen schien.“ Jii runzelte die Stirn, sagte aber nichts. „Als die Kette bei mir war, spürte ich so etwas wie Hoffnung. Was war das?“ „Ich habe keine Ahnung.“ Die Antwort kam so schnell, mit einem Unterton, der Daragh verriet, dass es nicht die Wahrheit war. Vielleicht wusste er es nicht sicher, aber er hatte garantiert eine Idee, worum es sich handeln könnte. Aber auch bei diesem Thema wollte Daragh lieber nicht zu sehr in ihn eindringen, weswegen er nun derjenige war, der schwieg. Schulterzuckend steckte Jii die Uhr wieder ein, dann kehrte er lieber zu einem anderen Thema zurück: „Sobald es dir wieder besser geht, verlassen wir die Stadt und gehen nach Abteracht. Wir können es uns nicht leisten, noch lange hier zu sein.“ Also müsste er auch Raelyn wieder verlassen. Aber vielleicht war das auch besser so. Als Lazarus war er ohnehin kein guter Umgang für einen Menschen. Er würde ihr nur noch ihr Notizbuch bringen und dann- Ihr Notizbuch! Sein Blick huschte zu dem Nachttisch neben dem Bett, dort lag noch immer das kleine Buch, das er in der Nacht zuvor gefunden hatte. Bislang war da noch keine Gelegenheit gewesen, hineinzusehen, aber während er sich erholte, gab es nicht viel anderes zu tun. Jii schien seinen Blick zu bemerken, kommentierte das aber nicht, sondern wandte sich ab. „Ich werde im anderen Zimmer warten. Wenn du bereit bist, komm einfach zu mir.“ Damit verließ er den Raum wieder. Kaum war er weg, zweifelte Daragh für einen Moment wieder daran, dass er überhaupt hier gewesen war. Warum konnte diese ganze Sache nicht einfach nur ein Traum sein? Ein furchtbar grässlicher Albtraum, der ihn zur Verzweiflung treiben wollte? Er kämpfte gegen das taube Gefühl in seinem Körper an und griff nach dem Notizbuch. Eigentlich war dies der beste Beweis dafür, dass die Ereignisse nicht nur seinem Geist entsprangen. Und gleichzeitig käme es einem Vertrauensbruch gleich, wenn er einfach ohne ihre Erlaubnis hineinsah. Aber könnte sie ihm denn wirklich böse sein, wenn er sich über das neueste Werk seiner Lieblingsautorin neugierig zeigte? Sie müsste es ja auch nie erfahren. Das überzeugte ihn schließlich, das Notizbuch zu öffnen. Die feine, geschwungene Handschrift, die, seiner Meinung nach, zu Raelyn passte, lud geradewegs zum Lesen ein, auch wenn es sich auf den ersten Seiten nur um eine kurze Auflistung verschiedener Namen und Begriffe handelte. Da stach ihm auch das Wort Taschenuhr ins Auge, gefolgt von Albtraum. Von Neugierde getrieben blätterte er weiter und stieß dabei schließlich auch auf Sätze, wie Traumbrecher bekämpfen Albträume und Taschenuhren das Herz der Traumbrecher. Während er weiterblätterte, entdeckte er immer wieder Begriffe oder Namen, die unterstrichen waren, die ihm ohne jeden Kontext aber nichts sagten. Manchmal hatte Raelyn auch kleine Zeichnungen angefertigt, vermutlich wenn sie gerade ohne Ideen gewesen war oder einfach nur irgendetwas Lustiges auf die Seiten hatte zaubern wollen. Daragh musste schmunzeln, als er diese kleinen Skizzen betrachtete, auch wenn er manche der Witze noch nicht verstehen konnte. Aber es genügte ihm, zu wissen, mit welcher Leidenschaft und Hingabe Raelyn daran gearbeitet hatte – und allein das war schon gute Laune wert. Danach folgten Anfänge der Geschichte, die aber immer wieder abgebrochen worden waren. Er kannte dieses Gefühl und konnte sich daher gut vorstellen, was genau ihr durch den Kopf gegangen war, wann immer sie erst einmal ein paar Sätze geschrieben hatte. Er selbst fand allerdings jeden dieser Anfänge außerordentlich gut. Der Stil war nicht mehr derart ungeschliffen wie damals, wirkte aber dafür immer noch locker und geradezu beneidenswert verträumt. So sehr, dass er langsam daran zweifelte, dass er aus berechtigten Gründen der Federmagier genannt wurde. Man sollte lieber ihr den Titel verleihen. Aber sie ist kein Lazarus, rief er sich selbst ins Gedächtnis. Und das ist auch gut so. Dennoch war er überzeugt, dass sie diesem Titel viel eher Rechnung tragen könnte. Vielleicht sollte er ihn ihr einfach ehrenhalber verleihen, gemeinsam mit seiner Feder. Er müsste ihr ohnehin dieses Buch zurückbringen. Bei so viel Arbeit, wie sie hier hineingesteckt hatte, freute es sie sicher, es wieder in den Händen zu halten. Das dürfte Jii zwar nicht gefallen, da er unbedingt nach Abteracht zurückkehren wollte, aber dafür müsste er Daragh Zeit lassen. Danach gab es auch keinen Grund mehr für ihn, sich der Rückkehr zu verweigern. Notfalls müsste er Jii auch einfach dieses Buch zeigen, damit ihm bewusst wurde, wie wichtig es war. Auf einer Seite mittendrin fand er auch den letzten Anfang und der letzte Satz davon, war das beste Argument, das er Jii gegenüber bringen könnte, wenn dieser sich weigerte: Dafür wird meine Zeit immer reichen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)