Dear Life von RedSky (Fortsetzung zu "Dear Loser") ================================================================================ Kapitel 1: two egyptian gods ---------------------------- Punkt. Damit war der Text fertig. hide ließ den Stift fallen und sammelte das halbe Dutzend beschrifteter Zettel zusammen, die wild um ihn herum auf dem Boden verteilt lagen. Flüchtig blätterte er sie noch ein mal durch und sortierte sie. Dabei stellte er jedoch die Abwesenheit von Seite drei fest. Der Blondschopf sah leicht verwirrt um sich – und erblickte in eineinhalb Meter Entfernung hinter sich seinen kleinen Bruder sitzend, der der festen Überzeugung war, Seite drei eigne sich super zum dran rumknabbern und ansabbern. „Hiroshi~!“ Mit einem Satz war er bei dem Kleinkind, das ihn nur mit der altbekannten Unschuldsmiene angrinste und dem Papier in seinen Händen mehr und mehr knitterige Falten verpasste. „Nix da – das ist hide's! Niiicht Hiroshi's!“, schimpfte der große Bruder im gespielt strengem Ton und zubbelte ihm das Stück Papier aus den Patschehänden, um es wieder in Sicherheit und in die Obhut seiner Zettelkollegen auf seinem Arm zu bringen. Dann rauschte er aus dem Zimmer und schlüpfte im Flur in seiner schwarzen Stiefel. „Ich geh zu Tusk!“, brüllte er durch die Wohnung seiner Mutter zu, die sich in einem der anderen Räume aufhalten musste. „Bleibst du über Nacht wieder weg?“, ertönte die fürsorgliche Stimme seiner Mutter aus dem hinteren Teil der Wohnung. „Weiß noch nicht!“, lautete die nicht sonderlich aussagekräftige Antwort und damit verließ er die Wohnung, hüpfte durch's Treppenhaus und machte sich auf den Weg zu seinem Bandkollegen und Freund. Mit wacher Aufmerksamkeit huschten Tusk's Augen interessiert über die Zeilen. Als er jedoch auf Seite drei angekommen war, verschob sich plötzlich eine Augenbraue leicht nach oben. „Was is'n damit passiert?“, erkundigte er sich und begutachtete kurz die abgerissene obere Ecke, die noch ein wenig feucht war. Auch musste er die Falten mit der Handfläche aus dem Papier bügeln, um den darauf enthaltenen Text mit den notierten Akkorden entziffern zu können. hide grinste schief. „Mein kleiner Bruder.“ Er saß schräg auf Tusk's Bett und lutschte an einem Erdbeerlolli herum. Heimlich musterte er dabei die Rückenansicht des Anderen. Registrierte jede noch so kleine Regung des schmächtigen Körpers unter dem dunklen Hemd. Jedes Zucken der zotteligen Haarsträhnen, wenn Tusk auch nur minimal den Kopf bewegte. Manchmal hatte hide den Wunsch, seine Arme fest um ihn zu schlingen und ihn an seinen Körper zu drücken. Ihn innigst zu umarmen, bis ihm die Luft weg blieb. Er wusste, das war eine kindliche Fantasie, und doch geisterte sie regelmäßig durch seinen Kopf. Es war nun schon ein paar Monate her, dass sie gemeinsam diese Band gegründet hatten, in der auch Sceana und, natürlich, Pata mitspielten. Trotzdem kam es dem Blonden immer noch vor wie ein Traum und er schwebte nach wie vor auf Wolke sieben. Zwar war das Quartett noch weit entfernt von dem, was sie einmal erreichen wollten – nämlich mit ihrer 'Kunst', wie hide es immer nannte, soweit über die Runden zu kommen, dass sie alle davon leben konnten und sich am besten nie mehr mit etwas anderem als Musik beschäftigen zu müssen – aber der Grundstein war allein mit der Bandgründung ja schon gelegt. „Wir brauchen übrigens endlich mal 'nen Namen“, riss Tusk den Träumer aus seinen Gedanken, während er noch immer seine Nase in dem halben Dutzend Papiere zu stecken hatte. „Und zwar irgendwas Einprägsames.“ hide blinzelte. „Also nicht einfach nur 'The Cats' oder 'The Elephants'.“ hide blinzelte ein zweites Mal. „Wie kommst du jetzt auf Katzen und Elefanten?“ „Nur so.“ Er war beim letzten Blatt angekommen. „Waren nur Beispiele um dir zu zeigen, was ich meine.“ Der knapp ein Jahr ältere hide begann plötzlich zu grinsen. „Wie wäre es mit 'X'?“ Tusk's Zottelkopf drehte sich wie in Zeitlupe um, bis seine dunklen Augen das Gesicht des Freundes fixierten. Er wusste, dass dieser Vorschlag, eine Anspielung auf den Namen der Bande, in der hide zuvor Mitglied war, nur ein Scherz und somit nicht ernst gemeint war. Dennoch überkam ihm bei der bloßen Vorstellung schon eine leichte Gänsehaut. „Vergiss es. Kein Bock auf Stress mit Yoshiki.“ - Der Boss von X. Beziehungsweise von dem, was davon noch übrig war. „Dann nehmen wir 'Sister's no Future'! Oder 'Sister's no X'?“ Tusk musste lachen. „Ich hätte nichts sagen sollen, man!“ Doch hide's Kopf fing jetzt erst an richtig loszulegen und er ging sämtliche Ideen, die er bezüglich Bandnamen hatte, im Schnelldurchlauf durch. „.....was hältst du von 'Seth et Holth'?“ Nun legte Tusk die Zettel gänzlich beiseite und blickte ihn abermals mit diesen durchbohrenden, verständnislosen Augen an. „Was soll das denn nun wieder heißen?“ Irgendwie konnte er den geistigen Wirrungen dieses Jungen nicht immer folgen. „Zwei ägyptische Götter. Eigentlich sind das Brüder“, begann hide mit seiner Aufklärung. „Sie stritten über die Thronfolge, nachdem ihr Vater gestorben war. Sie kämpften ewig lang und Seth fand immer wieder neue Tricks, um Holth endlich zu besiegen, hat ihm dann auch die Augen ausgerissen und in der Erde vergraben.“ Tusk warf unauffällig einen kurzen Blick auf den neuen Ring an hide's Finger, den ein Augapfel zierte. „Das Gericht der Götter befand Holth aber letzten Endes als Sieger und Seth wurde im Himmel zum Gott des Unwetters und durfte dort so viel Terror machen wie er wollte. Der Donner sei seine Stimme, heißt es. In manchen Mythen sticht Seth Holth aber auch nur ein Auge aus, das 'Mondauge', weil das als 'das gesunde Auge' gilt. Aber Holth hat auf jeden Fall immer sein Augenlicht zurück bekommen von Thot, dem Gott der Toten. Und Holth ist in Ägypten einer der stärksten und angesehensten Götter, hat die Funktion des Beschützers und so.“ Nach diesem Schwall aus Informationen, brauchte Tusk einige Momente um alles Gehörte geistig zu verarbeiten. „Kann es sein, dass du 'Horus' meinst?“, fragte er dann schließlich. „Holth, Horus – klingt doch beides gleich!“ Und berücksichtigte man die japanische Aussprache, hatte hide sogar Recht. Tusk jedoch schien immer noch nicht so ganz überzeugt zu sein. „Und was soll das 'et' bei 'Seth et Holth' bedeuten?“ „Das lateinische 'und'. Passt klanglich besser zwischen Seth und Holth als das englische 'and'.“ hide empfand seine Erklärung als völlig verständlich. Sein Gegenüber brauchte dafür wohl noch ein bisschen. „Ich frag nachher mal Pata und Sceana, was die davon halten“, beendete er schließlich die Diskussion. Sie saßen nun bereits schon seit einer halben Stunde lang zu viert um den Tisch in der Kneipe und Pata hatte bereits seine dritte Zigarette zwischen den Fingern, aber zu dem Vorschlag von hide, bezüglich ihres zukünftigen Bandnamens, hatte er sich immer noch nicht geäußert. Und der Blonde wurde langsam ungeduldig. Immer wieder stupste er unter dem Tisch mit der Spitze seines Stiefels Pata's Schienbein an, um irgendeine Reaktion aus ihm rauszukitzeln und ihn zum reden zu bewegen. Warf immer wieder hoffnungs- und erwartungsvolle Blicke in seine Richtung. Doch Pata's Gesicht blieb durchgehend emotionslos, wie so oft. Seine Augen schenkten dem Freund schon die ganze Zeit über keinerlei Aufmerksamkeit, wie so oft. Manchmal fragte man sich wirklich, ob er überhaupt noch bei der Sache war, so abwesend wie er tat. Wie so oft. „Pata, jetzt sag doch mal!“ hide's ungeduldiges Gequengel fiel etwas lauter aus. Tusk und Sceana, die beide neben dem Gitarristen saßen, blickten Diesen fast gleichzeitig an. Dann schwenkten ihre Blicke zeitlich leicht versetzt ebenfalls zu Pata, der nun wiederum langsam seinen Kopf hob. Sein Blick wirkte träge, vielleicht anhand des bisher konsumierten Alkohols. „Du hast echt 'ne Macke.“ Da hatte hide seine Reaktion. Wenn sie auch etwas anders ausfiel, als der Junge mit der Zimmerpalmenfrisur sie sich ausgemalt hatte. Er blinzelte. „Ist das jetzt gut oder schlecht?“ Pata's Mimik veränderte sich kein Stück, während seine Hand nach dem halbvollen Glas mit der künstlich rot eingefärbten Flüssigkeit griff und zu seinen Lippen führte. Auch blieb sein Blick auf dem Freund ruhen, bis er das Glas wieder abgestellt hatte. „Abgesehen davon, dass die Grammatik fehlerhaft ist und die Leute sich 'n Knoten in die Zunge drehen werden bei dem Versuch, den Namen auszusprechen.“ hide starrte den Freund wie ein Auto an. Seit wann legte Pata Wert auf Dinge wie korrekte Grammatik? Pata's Mundwinkel zuckten bei diesem Anblick unwillkürlich und ein kaum wahrnehmbares Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Aber der Name fällt auf und sowas brauchen wir.“ Das hide-Auto mutierte schlagartig zu einer Grinsekatze. Er war glücklich darüber, dass sein Vorschlag solch positive Resonanz erhielt, auch wenn Pata ihn kurz vor'm Ziel nochmal auf die Folter gespannt hatte. Aber das war einfach Pata und hide war schon froh darüber, dass er damals überhaupt mit in dieses Band-Projekt eingestiegen war. Vermutlich hatte er es auch nur wegen ihm getan. „Dann ist der Name jetzt offiziell?“, wollte Sceana wissen und bearbeitete mit den Schneidezähnen den grasgrünen Strohhalm in seinem Glas. „Würd' sagen, ja“, meinte Tusk und blickte kurz in die kleine Runde. „Es sei denn, jemand hat noch 'ne andere Idee.“ „Hat keiner!“, trompetete hide voreilig heraus, um sich seine Idee zu sichern, was ihm von den anderen Dreien freundschaftliche Lacher einbrachte. „Okay. Dann sind wir jetzt 'Seth et Holth'! Passt auch, ich hab für nächste Woche nämlich 'n Auftritt für uns an Land ziehen können, im 'Mudcrutch'“, berichtete Tusk, der sich, aufgrund seiner organisatorischen Fähigkeiten, um das ganze Management der Band kümmerte. „Im 'Mudcrutch'? Geil!“ hide war vollauf begeistert. In dem Laden war Tusk mit seiner früheren Band auch mal aufgetreten und hide hatte sich den Auftritt angesehen – damals noch heimlich, aufgrund der früheren Bandenrivalität. Das 'Mudcrutch' war nicht sehr groß, dafür aber berühmt für ihre nie funktionierende Klimaanlage. Dennoch war dieser Ort ideal und äußerst beliebt bei kleineren Bands, die noch ganz am Anfang ihrer Karriere standen, denn das 'Mudcrutch' war immer gut besucht – selbst an Tagen an denen keine Band auftrat. Publikum war dort also jedem Musiker garantiert. Die vier Jungs saßen noch eine knappe Stunde lang an ihrem Tisch, schlürften an ihren Getränken und besprachen den weiteren Verlauf ihres Vorhabens. Bis sie sich schließlich einvernehmlich zum Aufbruch einigten. Jeder von ihnen hatte etwas Alkoholisches getrunken, doch nur bei hide hatte es deutlich spürbarere Folgen. Waren Tusk, Pata und Sceana noch recht klar bei Verstand, setzte bei hide bereits leichtes Lallen ein, sobald er zu sprechen begann. Aus früheren Erfahrungen hatte Pata gelernt, dass man hide möglichst nicht alleine lassen sollte, wenn Dieser Alkohol im Blut hatte, da er in solchen Situationen oft genug sein eigenes Handeln nicht mehr kontrollieren konnte. Um so mehr wunderte er sich, als sein Freund sich selbst dazu einlud, bei Tusk zu übernachten – noch bevor Pata ihr eigenes zu Hause überhaupt erwähnt hatte. Auch Tusk zeigte ein Stückchen Verwunderung über seinen zukünftigen Gast. „Ach ja? Wieso weiß ich denn davon nix?“ „Siehste, ich kenn' dein' Tagesplan noch bevor du ihn selbs' erfährst“, grinste hide und taumelte dabei leicht gegen den Zottelhaarigen mit dem dunklen Stirnband. Sceana musterte hide ein wenig misstrauisch. Irgendwie kam ihm dessen Vorwand, mit zu Tusk zu gehen, leicht fadenscheinig vor. In Wirklichkeit hatte der Jüngste der Vier heimlich gehofft, ein Stückchen des Heimwegs mit hide gemeinsam gehen zu können. Pata wäre dann zwar auch anwesend gewesen, schließlich hatten hide und Pata den gleichen Heimweg, da sie im selben Haus wohnten. Doch das hätte Sceana nicht gestört. Er verbrachte gerne Zeit in hide's Nähe, nutzte regelrecht jede Minute, die sich dafür nur bot. Seine heimlichen Schwärmereien für den Blonden hatten nicht aufgehört, ganz im Gegenteil; seit sie gemeinsam diese Band gegründet hatten und automatisch zusammen arbeiteten, fand er ihn noch toller als zuvor. hide war Sceana's heimlicher Held. Aber der Held hatte für den Restabend eindeutig schon was Anderes vor und davon schien ihn auch niemand mehr abhalten zu können. So trennte sich das Quartett vor dem Laden, Pata und Sceana bogen die eine Richtung ab, während hide und Tusk den genau entgegengesetzten Weg einschlugen. “Wieso wolltest eigentlich mit zu mir kommen? Du und Pata wohnt doch näher dran als ich“, erkundigte sich Tusk schließlich, als sie schon ein Stückchen gegangen waren, wobei er hide dabei schon zwei Mal davon abhalten musste, vom Gehweg auf die Straße abzudriften. „Ach, tun wir?“, lallte er mit leichter Erschöpfung in der Stimme und blinzelte seinen Gesprächspartner an. „Hab'sch vergessen.“ Und so abwegig war diese Behauptung gar nicht mal, da hide's Hirn in Verbindung mit Alkohol schnell abschalten konnte. Ob er dafür jedoch tatsächlich schon genug intus hatte, war schwer zu sagen. Nach einem gut zwanzig minütigen, nächtlichen Spaziergang erreichten sie auf jeden Fall Tusk's Wohnung. Dieser verschaffte ihnen beiden Zutritt zum Treppenhaus, in welchem sie die Treppen im Dunkeln erklommen, da die Beleuchtung mal wieder defekt zu sein schien – was in letzter Zeit auffallend häufig vorkam. Im dritten Stockwerk angekommen, schloss Tusk die Wohnungstür auf und schob hide vorsichtig ins Innere der Zwei-Raum-Behausung, bevor er hinter sich selbst die Tür wieder leise ins Schloss drückte. Durch die angelehnte, nicht ganz geschlossene Tür seines Mitbewohners fiel ein gelber Fetzen Licht, der den Flur nur spärlich beleuchtete. Wahrscheinlich lernte er noch für die Uni. Tusk dirigierte hide in sein eigenes, kleines Zimmer und schloss dort ebenfalls kurz darauf die Tür. Doch kaum hatten seine Finger mit einer routinierten Bewegung nach dem Schalter seiner kleinen Nachttischlampe gegriffen um Diesen zu betätigen, wurde er von hide mit einem mal zu Boden gerissen. Scheinbar hatte der Junge sein Gleichgewicht verloren, Alkohol sei Dank. Tusk fand sich auf den Knien und Schienbeinen kauernd wieder, während hide sich an seinen Schultern festgeklammert hatte und irgendwie etwas schief an ihm hing. Er wollte sich gerade erkundigen, ob es dem Anderen noch gut ging, aber dazu kam er schon gar nicht mehr. Denn ohne jede Vorwarnung spürte er völlig unverhofft die Lippen des Älteren auf seinen Eigenen, und kurz darauf folgte die Zunge.... hide glitt sanft mit der Zungenspitze über die geschwungenen Lippen des Jungen, den er schon so lange bewunderte, bevor er seine eigenen Lippen auf deren legte und sie mit einem Kuss versiegelte. Seine Zunge drang in Tusk's Mundhöhle ein, fühlte die windschiefen Zähne, von denen jeder sich seinen eigenen Platz gesucht hatte, spürte die warme und weiche Zunge des Anderen. Liebkoste eben diese. Doch erhielt er keine Reaktion auf seine Taten, keine Erwiderung...kein gar nichts. Er schmeckte die Wärme und Geborgenheit....aber sie empfing ihn nicht. Statt dessen realisierte er irgendwann eine Ladung Finger an seiner Schulter, die ihn sanft aber bestimmend von seinem Ziel wegdrückten. Im fahlen Licht der Nachttischlampe sah er Tusk's dunkle Augen, eingerahmt von ein wenig schwarzer Schminke und umspielt von verwirrten, ungleich langen Haarfransen, die ihm ins Gesicht fielen. Eine dunkle, angeraute Stimme durchschnitt die Stille. „hide....was machst du da?“ Kapitel 2: mistake? ------------------- hide leckte sich über die Lippen wie eine Katze nach der Mahlzeit. Als würde er mit der Zunge die Reste des nicht erwiderten Kusses einzufangen versuchen. Seine Augen waren die eines unschuldigen Betrunkenen, einer Person die nicht mehr wusste, was sie tat. Das Lächeln der Narrenfreiheit lag auf seinem Gesicht. Eine Antwort auf seine eben gestellte Frage erhielt Tusk nicht. Er kuckte sich hide's Schauspiel noch einen Augenblick lang an, dann erhob er sich und trabte hinüber zu seinem Bett, von dem er die zerwühlte Decke zurück schlug. „Ich glaube, du solltest dich hinlegen.“ Tusk beugte sich zu dem Blonden hinunter, griff ihm unter die Arme und hob ihn mit einiger Mühe – hide dachte nämlich nicht im Entferntesten daran, mal ein bisschen mitzuhelfen, geschweige denn sich leichter zu machen – hoch, um ihn gleich darauf in sein Bett zu verfrachten. Er zog ihm noch fürsorglich Jacke und Stiefel aus, dann deckte er den Freund locker zu. All das ohne jegliche Berührungsängste. Tusk war weder Homophob noch reagierte er auf irgendeine Art von Körperkontakt überempfindlich. Er schob hide's Reaktion auf den Alkohol. Vielleicht würde sich der andere morgen früh schon gar nicht mehr an seine unüberlegte Tat erinnern können. Tusk wand sich von dem Freund ab um sich selbst einem Teil seiner Klamotten zu entledigen. Dass er dabei genauestens beobachtet wurde, ahnte er nicht. hide's Augen scanten den Jüngeren regelrecht ab. Beobachteten die Finger, die mit flinken und geübten Bewegungen das Stirnband aufknoteten und vom Kopf entfernten. Beobachteten wie die schlanken Hände die dünne Jacke über die knochigen Schultern schoben und zu Boden fallen ließen. Beobachteten wie eben diese Hände die Schuhe von den Füßen schoben und die Hose aufknöpften, die nur wenige Momente später gleich neben der Jacke auf dem Boden lag. hide schloss die Augen. Tusk hatte sich wieder umgedreht und stieg, mit Shorts und T-Shirt wesentlich spärlicher bekleidet als der Andere, zu hide ins Bett. Scheinbar hatte er keinerlei Bedenken, dass hide sich noch mal an ihm vergreifen könnte. Zumal er davon aus ging, dass der Alkohol hide sowieso schon ins Traumland geschickt hatte. Er drehte sich mit dem Rücken zu ihm und schloss die Augen, die Decke bis über die Schulter gezogen. Obwohl vom Alkohol nach wie vor beeinflusst, blieben hide's Augen nun lange Zeit offen. Starrten auf den ihnen zugewandten Rücken. Konnten erkennen, wie sich die Wirbelsäule ansatzweise unter dem Shirt abzeichnete. Als hide am nächsten Morgen aufwachte, merkte er sofort dass er alleine war. Schon mit dem ersten Augenaufschlag, als er das helle Tageslicht das kleine Zimmer fluten sah, spürte er Tusk's Abwesenheit. Und doch blickte er, wie aus Reflex, neben sich. Die Wand. Irgendwie lag er viel zu dicht an der Wand...auf der anderen Seite spürte er aber wiederum, wie sein rechter Arm aus dem Bett hing. hide hob ansatzweise den Kopf – und erkannte den Grund für seine überraschende Pose. Sein Körper lag völlig quer, mit großzügig ausgestreckten Armen und Beinen, im Bett. Solche Posen nahm er im Schlaf nur ein, wenn er Alkohol im Blut hatte. Ob er Tusk mit seiner nächtlichen Wühlerei vertrieben hatte, kam es ihm plötzlich in den Kopf. hide blinzelte nochmal rüber zum Fenster, in dessen Rahmen ein altes Laken festgeklemmt war, das bei Bedarf notdürftig als Gardine diente. Es war so still in der ganzen Wohnung. Er hörte keinen Laut. Nur ab und an einen Vogel im Hinterhof, zu dem das Zimmer rausging und dessen Gezwitscher auch durch das geschlossene Fenster noch zu vernehmen war. hide blieb noch einige Momente bewegungslos liegen, bevor er sich dann doch mal aus den Laken puzzlete und seine Füße auf den Boden stellte. Kaum folgten denen seine Augen, erinnerte er sich wieder an Tusk's Klamotten, die er vergangene Nacht achtlos auf den Boden hat liegen lassen, nachdem er sich ausgezogen hatte. Jetzt lagen sie nicht mehr da. Nicht einmal mehr die Schuhe. Der Hausherr war also wohl nicht nur mal kurz auf Klo gegangen, sondern scheinbar schon längere Zeit weg. hide wackelte mit den Zehen, die noch in seinen Socken steckten. Er hatte keine Kopfschmerzen. Für einen Kater hatte er gestern Abend auch nicht genug getrunken. Der Junge erhob sich und streckte sich leicht, warf nochmals einen flüchtigen Blick quer durch den Raum, bevor er Selbigen verließ und durch die Wohnung in die kleine Küche tappste. Dort traf er auf Tusk's Mitbewohner, der an dem kleinen, abgenutzten Küchentisch saß und über seine Uni-Unterlagen hing, neben sich einen großen Becher mit inzwischen nur noch lauwarmen Kaffee stehend. „Morgen“, begrüßte hide ihn nuschelnd aber freundlich, während er den Kühlschrank ansteuerte und im nächsten Augenblick mit aufmerksamen Blick den Inhalt inspizierte. Der einfach aber gepflegt gekleidete Junge mit dem Kurzhaarschnitt sah von seinen Unterlagen auf und starrte den Blonden an – beziehungsweise seinen Rücken, denn der Rest wurde gerade von der offenen Kühlschranktür verdeckt. „Morgen“, erwiderte er dann schließlich nach einigem Zögern die Begrüßung. Obwohl er hide nicht zum ersten Mal in dieser Wohnung sah, war dessen Anblick für ihn jedes Mal auf's Neue wie ein kleines Abenteuer. Zwar war er die Extravaganz von Tusk schon längst gewöhnt, doch hide schien für ihn noch eine Steigerung zu sein. Der blonde Gitarrist war inzwischen fündig geworden und krabbelte mit einer Schale in der linken Hand wieder aus dem Kühlschrank heraus. „Is' nicht deins, oder?“, fragte er wie beiläufig und hielt die Schale, deren Inhalt ein Gemisch aus gekochten Spaghetti, Ei und nicht ganz klar definierbarem Gemüse war, kurz in die Luft. Takashi, so der Name des braven Studenten, schüttelte nur wortlos den Kopf. Seine Augen blieben nach wie vor an hide, insbesondere an hide's gebleichten, in alle Himmelsrichtungen abstehenden, Haaren hängen. Wie kam man nur auf die Idee solch einer seltsamen und aufwendigen Haarpracht...? hide hatte sich indes schon längst dem Herd zugewandt und den Inhalt der Schüssel – vermutlich die Reste von Tusk's Essen vom Vortag – in einen kleinen Stieltopf befördert, um das Essen für sich aufzuwärmen. Dieses Verhalten, das für Takashi so befremdlich und, obwohl er hide schon kannte, noch immer gewöhnungsbedürftig war, war für hide selbst pure Normalität. Frei nach dem Motto: Wen's stört, der hat Pech gehabt. „Sag mal...hast du Tusk heute morgen zufällig schon gesehen?“, wollte der Blonde nebenher wissen und wand sich wieder Takashi zu. Der Student schüttelte abermals den Kopf. In seinen Augen sammelte sich jedoch plötzlich Verwunderung. „Warum fragst du? Du hast doch heute bei ihm geschlafen.“ „Ja...aber irgendwie lag ich heute Nacht im Koma und ich hab nicht mitbekommen, wann er gegangen ist.“ So die offizielle Version. Der Typ musste ja nichts von seinem nächtlichen Annäherungsversuch, der deutlich missglückt war, wissen. Takashi zuckte kurz mit den Schultern. „Tut mir Leid. Ich weiß nicht, wo er ist.“ Er wirkte leicht betroffen im Angesicht der Tatsache, hide nicht weiter helfen zu können. Eben dieser musterte den adretten Studenten. Anerzogene Höflichkeit. Wie war Tusk nur auf diesen Vogel als Mitbewohner gestoßen? Die Gedanken rissen jedoch abrupt ab als er hinter seinem Rücken plötzlich energisches Gebrutzel vernahm. Er wirbelte herum und griff nach einem Kochlöffel, um den Topfinhalt, der langsam begann anzuschmoren, umzurühren. Nach seinem Frühstück, das hide noch in der WG-Küche am Tisch direkt neben Takashi verdrückt hatte, verließ er Tusk's Bleibe und zog durch die Straßen Seoul's die jetzt, inzwischen mitten am Tag, ihre tägliche und gewohnte Hektik präsentierten. Schien diese Stadt doch nie zu schlafen, so sah sie bei Tageslicht völlig anders aus als bei Nacht, wo sie ein gänzlich fremdes Gewand angelegt zu haben schien. Der junge Musiker stiefelte über vielbelaufene Zebrastreifen, passierte begrünte Gehwege und mehrere Zeitungsläden, bis er sein Ziel, die Miethausreihe in der sanften Straßenkurve, erreicht hatte. Durch das Treppenhaus gelangte er rasch in die Wohnung, in der er mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder lebte. „Hey Mom...bin wieder da und gleich wieder weg!“, rief er durch die Räume, kaum dass er den Flur betreten hatte. Seine Mutter steckte den Kopf aus dem Badezimmer, in welchem sie gerade die gewaschene Wäsche aufhing. „Willst du denn vorher gar nichts essen?“, fragte sie leicht verwundert, mit einem feuchten, hellgelben Lätzchen ihres jüngeren Sprößlings in den Händen. hide winkte ab. Er wusste, sie meinte es nur gut mit ihm, aber manchmal ging ihm ihre Fürsorge doch ein kleines bisschen zu sehr auf die Nerven. „Hab schon“, kam die knapp gehaltene Antwort, während er in sein Zimmer watschelte um noch nach etwas zu suchen. „Außerdem geh ich ja nur hoch zu Pata.“ Seine Finger durchwühlten einige Stapel seiner Unterlagen und übrigem Krempel, tasteten sein zerwühltes Bett ab, bis er das, was er suchte, schließlich gut sichtbar mitten auf seinem Schreibtisch erblickte. Er steckte das Tape in seine Jackentasche. „Sag mal, Mom....hat sich Tusk hier gemeldet?“, wollte er plötzlich wissen, als er sein Zimmer wieder verließ und sich in die Richtung seiner Mutter zubewegte. „Tusk? Nein. Aber bei dem warst du doch, denke ich?“ hide-Mama griff in das Körbchen neben sich, um nach zwei Wäscheklammern zu angeln. „Ja...aber er war heute morgen schon weg bevor ich wach war. Hatte wohl noch was zu erledigen“, nuschelte hide und seine Hand fuhr sich dabei verräterisch kratzend an den Hinterkopf. „Dachte, er hätte sich vielleicht hier gemeldet... - Na, is' ja auch egal!“ Er merkte, dass er aufpassen musste, wollte er sich nicht wieder um Kopf und Kragen sabbeln. „Ich bin dann mal weg!“ Und schon stapfte hide wieder aus der Wohnung raus, hüpfte ein paar Treppenstufen hinauf und stand wenige Augenblicke später ein Stockwerk höher vor Pata's Tür. Nachdem er geklingelt hatte, öffnete ihm kurze Zeit später sein Freund mit den roten Zotteln vor dem Gesicht. „Hey...! Kater überstanden?“, grinste Pata und ließ den Anderen rein. „So dicht war ich gar nicht!“, protestierte hide sogleich, hüpfte aber, ohne sich an weiteren Streitigkeiten aufzuhalten, durch die Wohnung bis in Pata's Zimmer. Dort saß auch noch jemand: Sceana. Im Schneidersitz und mitten auf dem Fußboden. „Hoi!“, begrüßte der Älteste der Drei das Nesthäkchen und hob kurz die flache Hand. Im nächsten Augenblick hatte er sich auch schon neben Sceana auf den Boden gepflanzt und wartete auf Pata, der in seinem üblichen Trott hinterher geschlichen kam. Sogleich zubbelte er das Tape aus seiner Tasche. „Hier, ich hab was für euch.“ Und er reichte das kleine Tonband Pata, noch bevor Dieser sich auch zu ihnen setzen konnte. Pata nahm die Cassette entgegen, besah sie sich kurz. Außer mit hide's Namen auf beiden Seiten war das Ding nicht beschriftet. Er wendete sich zu seinem Cassettenrecorder um und fütterte Selbigen. Sceana, der die kurze Reise des Tapes mit aufmerksamen Augen mitverfolgt hatte, lauschte gespannt. Ein leises Rauschen. Ein Rascheln. Dann erklang der scheppernde Klang einer E-Gitarre, die eine anfänglich immer wiederkehrende Melodienfolge spielte. Erst nach dem vierten Durchgang nahm das Instrument einen etwas anderen Klangverlauf an, wirkte zeitweilig noch etwas unsicher. Pata und Sceana hörten der Aufnahme interessiert zu. Nach knapp eineinhalb Minuten war der leicht verschrobene Klangzauber vorbei. hide blickte erwartungsvoll von einem Freund zum anderen. Er war neugierig, wie die beiden sein neues Werk bewerteten. Pata nickte knapp. „Nicht schlecht...“ Sceana ließ seiner Begeisterung da schon freieren Lauf, was er sowieso immer tat, wenn es um eine von hide's Ideen ging. „Das klingt krass, man! Wann hast du das aufgenommen?“ „Vorgestern Abend.“ „Warum hast du uns das nicht schon gestern gezeigt?“ An Sceana's Stimme konnte man unverkennbar raushören, wie gut ihm allein schon dieses kleine Demo gefiel. hide zwinkerte ihm zu. „Glaubst du, ich spiel eines unserer Tapes in 'ner Kneipe?“ Pata grinste. „Danach hätten wir den Laden garantiert für uns alleine gehabt...!“ Für diese Bemerkung kassierte er von hide einen mittelsanften Boxhieb gegen den Oberarm. „Außerdem waren gestern andere Sachen zu besprechen. - Übrigens: Wisst ihr zufällig, wo Tusk ist?“ Der Themenbruch kam so unerwartet, dass er wiederum kaum auffiel. Nun erntete er aber doch erstaunte Blicke von den anderen beiden. „Wieso, du warst doch bei ihm“, wunderte sich Pata. hide hatte gerade das Gefühl, er würde in einem Déjà vu feststecken. „Ja...! Aber heute morgen war er weg!“ Er beabsichtigte es gar nicht, aber seine Stimme wurde nun doch etwas gereizter im Klang; ging es ihm doch zunehmend auf die Nerven, sich immer wiederholen zu müssen. Pata sah nicht das Problem, das sich für hide ergab. Wie könnte er auch. „Aber unter der Dusche hast du schon nachgekuckt, ja?“ hide's Augen formten sich zu schmalen Katzenschlitzen und funkelten den Anderen missmutig an. Hielt er ihn neuerdings für vollkommen bekloppt? „Hat er dir keine Nachricht geschrieben, oder sowas?“, schaltete sich nun Sceana ein als er die zunehmende Spannung zwischen den beiden spürte. „Ne... Sein Mitbewohner hat auch keinen blassen Schimmer“, beichtete der Blonde und sein eben noch brüsker Blick wandelte sich schlagartig in Abwesenheit und leichte Besorgnis. Er hatte den Kuss von letzter Nacht nicht vergessen. Seine Gedanken schlichen sich immer wieder dahin zurück und er hatte Angst, dass Tusk aus eben diesem Grund verschwunden war. Dass er zu weit gegangen war und ihn verschreckt hatte. Dabei wollte er doch gar nichts böses! Er wollte lediglich dem Jungen näher kommen, für den er schon die ganzen, vielen Monate so sehr geschwärmt hatte. Sogar noch zu verfeindeten Bandenzeiten, in denen Pata sich zeitweilig aus eben diesen Gründen von ihm abgewandt hatte. Heute, hier und jetzt mit Tusk in der selben Band zu spielen war für hide das mit Abstand Größte. Er war ihm in diesen paar Monaten, in denen sie 'Seth et Holth' aufgebaut hatten, so uneingeschränkt nahe gekommen. Mental. Und er wollte auch die körperlichen Grenzen überschreiten. Irgendwie. Zumindest hatten sich diese Fantasien schon seit einiger Zeit in seinem Kopf fest gesetzt und fühlten sich dort auch allen Anschein nach zu Hause. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass es Tusk vielleicht gar nicht so erging, dass er vielleicht gar nicht das gleiche Verlangen, die gleichen Sehnsüchte oder Fantasien wie hide hatte. Daran hatte der Blonde irgendwie nie gedacht. Diese Gedanken waren auch der Grund dafür, dass hide sich nach gar nicht mal so langer Zeit wieder von seinen Freunden verabschiedete mit der fadenscheinigen Behauptung, noch etwas erledigen zu müssen. Pata und Sceana waren beide sichtlich verwundert und blickten dem Blonden etwas zweifelnd hinterher, als dieser wieder die Wohnung verließ. Der Gitarrist trabte rastlos durch die staubigen Straßen seines Viertels. Seine Füße bewegten sich wie von alleine, er musste gar nichts dafür tun. Selbst die Richtung schienen sie selbst zu bestimmen. Somit hatte hide uneingeschränkte Möglichkeiten, sich nur auf seine Gedanken, die sich natürlich ausschließlich um Tusk drehten, zu konzentrieren. Den beiden Anderen mochte er vorhin nichts sagen. Er konnte schließlich nicht abschätzen, was die davon halten würden. Er wusste ja noch nicht einmal, was Tusk von der ganzen Aktion hielt und er konnte ihn auch nicht einmal fragen, da er nicht wusste wo er war! Naja, ganz stimmte das auch wieder nicht. Pata's Reaktion konnte er sich durchaus ausmalen. Der wäre ganz bestimmt nicht so glücklich darüber gewesen, dass er mit Tusk rumknutschte. Mit einem Kerl. Mit seinem Erzfeind. Seinem Ex-Erzfeind. Es hatte Pata anfänglich einiges an Überwindung gekostet zu akzeptieren, dass hide sich nicht nur von X losgesagt hatte, sondern auch noch mit dem Typen etwas aufbauen wollte, gegen den sie als X kurz zuvor noch gekämpft hatten. hide war überglücklich und unsagbar dankbar als er realisierte, was für eine Mühe Pata sich gab, mit Tusk klar zu kommen als sie die Band gründeten. Und inzwischen gingen Pata und Tusk miteinander um wie zwei gute Freunde. Wie zwei Freunde die nie in ihrem Leben miteinander verfeindet waren. Und dennoch...nagten die Zweifel an hide. Die Erinnerungen von früher kamen wieder in ihm hoch, wie er sich heimlich zu Tusk's Live-Auftritten geschlichen hatte und Pata ihn dabei mehrfach erwischt hatte. Ein Mal war es besonders schmerzhaft ausgegangen, im wahrsten Sinne des Wortes. Pata hatte ihn geschlagen, ihn angeschrien und schlussendlich auf offener Straße alleine zurück gelassen. Das war mit Abstand einer der schmerzhaftesten Momente in hide's Leben gewesen und noch immer spürte er die Klaue, die sich um sein Herz schloss, wenn er diese Szene in seinem Kopf erneut abrief. Er wollte soetwas kein zweites Mal erleben. Hinzu kam noch, dass er absolut nicht abschätzen konnte, ob Pata homophob war oder nicht. Er hatte Pata nie mit einer Freundin oder einem Freund gesehen, war sich nicht einmal sicher, ob Pata soetwas überhaupt je gehabt hatte. Und er selbst war bisher nur mit Mädchen liiert gewesen. Naja, liiert konnte man das eigentlich auch nicht nennen... Die Mädchen, die er sich bisher geangelt hatte, waren nie länger als ein paar Wochen an seiner Seite zu sehen gewesen. Dann hatte er meist keine Lust mehr auf sie gehabt. Die längste 'Beziehung', wenn man überhaupt davon sprechen konnte, hielt in etwa drei Monate. Blicke auf Jungs hingegen hatte er bisher nur heimlich geworfen. Nie hatte er darüber gesprochen. Er sah auch keinen Sinn darin, schließlich war es nie zu näherem Kontakt mit solch Einem gekommen. Bis jetzt. hide hob seinen Kopf, sah geradeaus. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen musste sich der Nachmittag allmählich seinem Ende entgegen neigen. Vielleicht war Tusk inzwischen wieder zu Hause. Er sollte nochmal zu ihm gehen. Und das tat er im nächsten Augenblick auch, bog um die Ecke und steuerte sein neu angepeiltes Ziel an. Es dauerte vielleicht eine Viertelstunde, die ihm jedoch lediglich wie wenige Minuten vorkam, dann stand er auch schon vor dem Haus in dem Tusk wohnte. Ohne zu zögern drückte sein Finger auf den Klingelknopf neben dem beschrifteten Namensschildchen, auf denen, mit unsauberer Handschrift, die beiden Namen 'Nakamura/Itaya' prangten. Er wartete. Länger als ein normaler Mensch vor einer verschlossenen Tür warten würde. Und trotzdem passierte nichts. Niemand öffnete ihm. Takashi war bestimmt noch in der Uni. Und Tusk ganz offenbar doch noch nicht wieder zu Hause. hide starrte die Tür an. Was hatte er nur getan? Was, wenn Tusk nie wieder zurück kam? Was, wenn er mit dem Kuss alles kaputt gemacht hatte? Sie standen doch alle gerade erst am Anfang der Verwirklichung ihrer Träume, das konnte doch jetzt nicht mit einem Mal einfach so aus sein? hide's Herz pochte, sein Magen fühlte sich flau an. In seinem Kopf herrschte Endzeitstimmung. Kapitel 3: erubescence ---------------------- Es war etwas Knallrotes, das Tusk im Augenwinkel wahr nahm und seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er wand seinen Kopf ein Stück, schaute genauer hin – und richtig, da stand Sceana. Vor einem Laden an einem Ständer, seine Hände die diversen Tücher durchwühlend. Tusk überquerte die schmale Straße um zum Jüngeren zu gelangen. „Hey, Sceana!“ Der Angesprochene drehte sich flink in die Richtung um, aus der die Stimme kam, und sah sofort in Tusk's freundliches Gesicht. „Hey...!“ Tusk musterte kurz den Ständer mit den daran befestigten Tüchern, die in unterschiedlichen Farben und Mustern vertreten waren. Dann ein kurzer, prüfender Blick auf Sceana. „Neues Stirnband?“ Der Rothaarige nickte schief grinsend. „Meins geht langsam Schrott. Hier.“ Und er hob über seinem linken Ohr ein Stück seiner Haare an, um Tusk die marode Stelle seines Stirnbandes zu zeigen, an der der Stoff schon mehrfach eingerissen war. Auch die bereits verrichteten provisorischen Näharbeiten konnten dem zunehmenden Zerfall des Textils nicht dauerhaft Stand halten. Tusk musste grinsen. Sceana band sich sein Stirnband genauso wie hide. „Wenn du in dem Laden hier nicht fündig wirst, sag Bescheid. Ich hab noch Eins, das trag' ich kaum, das kannst du dann haben wenn du willst.“ „Echt? Cool!“, freute sich der Rotschopf. „Hat hide dich übrigens auftreiben können?“, wechselte er urplötzlich das Thema, da ihm nun in Tusk's Anwesenheit wieder hide's seltsamer Abgang von vorhin einfiel. Tusk blinzelte etwas verwirrt. „Huh? Wie meinst du das?“ „hide war vorhin bei Pata und mir und wollte wissen, ob wir wüssten wo du bist. Obwohl er gestern Abend doch mit zu dir gegangen ist“, erklärte er. Er konnte nicht leugnen, dass er interessiert an hide's Beweggründen von vorhin war und die Neugierde konnte man ihm im noch so jungem Gesicht ablesen. Tusk hingegen stolperte geistig gerade. hide war auf der Suche nach ihm gewesen...? Warum? Nur weil er heute früh die Wohnung verlassen hatte, ohne ihm vorher Bescheid zu geben? Oder war etwas passiert, von dem er wissen sollte? Aber dann hätte Sceana doch sicherlich auch Kenntnis darüber und könnte es ihm mitteilen. Sein Blick driftete in die Abwesenheit, glitt an seinem Gesprächspartner vorbei. Oder....war es etwa wegen dem Kuss? Dem Kuss von letzter Nacht...? Er hatte angenommen, hide war zu betrunken und wüsste nicht mehr, was er da tat. Sollte das etwa ganz anders gewesen sein? In Tusk's Mund machte sich gerade ein seltsamer Geschmack breit. „...hey...Tusk....alles klar?“ Die Stimme des Anderen drang langsam wieder an sein Ohr. Der Junge mit den zerstrubbelten, dunklen Haaren und dem abwesendem Blick blinzelte abermals und seine Augen fanden wieder zurück ins Hier und Jetzt. „Was..? Ja...alles in Ordnung“, behauptete er mit noch immer leicht benommener Stimme, doch als er Sceana's Gesicht sah erkannte er, dass dieser ihm seine Aussage nicht abkaufte. Tusk grinste. „Sorry Kleiner, ich war gerade woanders. Ich glaub, ich werd' mal hide suchen gehen.“ Und schon wand er sich wieder ab und überquerte abermals die kleine Straße, ließ den Bassisten von Seth et Holth alleine zurück. Schon aus einiger Entfernung konnte er die schwarzgekleidete Person erkennen, die zusammengekauert an der Seite des Stufenvorsprunges vor dem Hauseingang saß. Die langen, hellblonden Haare waren, wie immer, ein starker Kontrast zu der einheitlich dunkel gehaltenen Kleidung, die nur hier und da kleine, rote Verzierungen erlaubte. Tusk nahm unweigerlich minimal an Geschwindigkeit zu, als er hide dort sitzen sah. Und selbst als er ihn schließlich erreicht hatte, schien dieser ihn nicht zu registrieren und starrte nach wie vor, den Kopf in beide Hände gestützt, auf den Boden vor seinen Füßen. „Wartest schon lange?“ Der Blonde riss schlagartig den Kopf hoch, als er so unerwartet diese vertraute Stimme wahr nahm! Seine Augen waren aufgerissen und starrten sein Gegenüber beinahe schon ehrfürchtig an. „Tusk!“ „Schon seit siebzehn Jahren“, feixte er, da ihn hide's Blick doch irgendwie amüsierte. Im nächsten Moment hatte er jedoch völlig unerwartet eben diesen Jungen an seinem Hals hängen und zwei Arme um seinen Brustkorb klammernd, die ihm das atmen nicht gerade erleichterten. „Tusk, es tut mir Leid! Ehrlich, ich wollte dich nicht erschrecken! Ich wollte dich nicht verletzen oder sonstwas!“ Die Verzweiflung sprudelte mit den Worten nur so aus hide raus. Tusk jedoch war diese überschwängliche und offenbarende Begrüßung ein Stückchen zu viel und er drückte hide mit sanfter Gewalt von sich. „Wenn du mich zerquetschst, kann ich dir nicht mehr zuhören“, ächzte er und befreite sich aus dem Klammergriff, setzte sich anschließend auf den Stufenvorsprung des Hauseinganges, auf dem bis vor wenigen Sekunden noch hide geparkt hatte, und angelte sich seine Zigarettenpackung aus der Tasche. hide, ein wenig perplex darüber dass Tusk so ruhig blieb und ihn wegen dem Kuss nicht blöd anmachte, setzte sich auch wieder hin und sah zum Anderen herüber. Zwischen ihnen beiden war gut ein Meter Abstand, sodass man den Hauseingang noch problemlos passieren konnte. Tusk steckte sich derweil eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt hide seine Packung hin, während er mit der anderen Hand nach dem Feuerzeug suchte. hide nahm das Angebot wortlos an, ließ sich seinen Glimmstängel kommentarlos von Tusk mitanzünden, nachdem dieser der eigenen Zigarette Feuer gegeben hatte. Die ersten paar Züge verliefen schweigend. „Dachtest du, ich sei abgehauen oder warum hast du mich gesucht?“, durchbrachen Tusk's Worte schließlich die Stille und er sah hide an. Dieser wand sein Gesicht ebenfalls dem Anderen zu, allerdings nur für wenige Sekunden. Dann sah er wieder vor sich in die Ferne – beziehungsweise auf den gegenüberliegenden Häuserblock – und begann zögerlich zu erklären: „Ich hatte Angst.“ Kurze Pause. „Du warst heute morgen nicht da, ich hab dich nicht weggehen hören und Takashi wusste auch nicht, wo du bist.“ Er nahm abermals einen Zug und blies den nikotinhaltigen Rauch gedehnt wieder aus. „Dann war ich bei Pata, aber weder er noch Sceana hatten was von dir gehört.“ Nun wand er seinen Kopf wieder Tusk zu und sah ihn an. „Du hattest mir nicht mal was aufgeschrieben.“ Dieser Satz klang nicht vorwurfsvoll, vielmehr – hilflos. „Ich hab gedacht, ich hab alles kaputt gemacht...!“ Seine Stimme wurde zunehmend leiser, fast heiser. Tusk hörte ruhig zu, bis sich zum Schluss hin ein kleines Lächeln auf seine Lippen legte. „Dummkopf“, quittierte er den letzten Satz. „Glaubst du, ich lass mich von sowas aus der Bahn werfen? Ich war heut' morgen weg weil ich was Wichtiges zu erledigen hatte. Nämlich unseren Auftritt für nächste Woche klären.“ Mit dieser simplen und völlig vorwurfsfreien Erklärung hatte hide nun gar nicht gerechnet und das sah man ihm auch deutlich an. Er brauchte einige Momente, bis er die aufgenommenen Worte richtig zuordnen konnte. Dann aber erhellte sich sein Gesicht schlagartig. „Heißt das, du bist mir nicht böse?“ „Gibt es einen Grund, dir böse zu sein?“, stellte Tusk die Gegenfrage. Verlegen lächelnd wand hide seinen Blick wieder ab, hoffte, die Schamröte noch unterdrücken zu können. „Aber hide“, setzte Tusk nochmal an und lenkte somit den Blick des Anderen wieder auf sich, „ich hätte den Kuss auch nicht erwidert, wenn du nüchtern gewesen wärst.“ Zack. Das saß. hide sah ihn nur an. Tusk erwiderte den Blick mit tiefster Ruhe. Der Blonde hatte so sehr gehofft, dass Tusk dieses Thema nun nicht mehr ansprach, nachdem er gedacht hatte, alles sei wieder in Ordnung. Es war ihm so peinlich, vom Anderen so offensichtlich ertappt worden zu sein. „Hast schon lange niemanden mehr abbekommen?“, fragte Tusk schließlich mit einem verständnisvollem Lächeln auf den Lippen, nachdem sie sich ein Weilchen nur schweigend gegenseitig in die Augen geschaut hatten. Nun brach hide den Blickkontakt doch sehr abrupt ab, starrte wieder zu Boden. Die Situation wurde gerade immer peinlicher! ...obwohl die Frage gar nicht mal so unberechtigt war; seine letzte Freundin...nein, Freundin konnte man das nicht nennen. Aber das letzte Mädchen, bei der er zum Zug gekommen war, lag auch schon wieder ein paar Monate zurück. „Kann schon mal passieren“, meinte Tusk und schien die wachsende Scham des Anderen nicht zu bemerken, tätschelte nur freundschaftlich hide's Schulter. Dieser wusste darauf nicht so wirklich zu reagieren. Irgendwie fühlte sich diese Berührung in Verbindung mit der aktuellen Situation merkwürdig an. „Aber Jungfrau bist du nicht mehr, oder?“ Eigentlich war die Frage mehr als kleiner, aufmunternder Scherz gemeint, doch bei hide führte sie zu einer Art Schock, der wie ein stark aufgeladener, elektrischer Blitz durch seinen Körper fuhr. Hätte er in diesen Momenten etwas im Mund gehabt, er hätte sich gnadenlos daran verschluckt. Um diese starken Gefühle bestmöglich zu kaschieren, lachte hide laut auf. „Man ey, natürlich nicht!“ Wobei er sich gerade äußerst unsicher war, auf welche seiner Körperregionen die Frage nach der Jungfräulichkeit bezogen war. Eine beschauliche Ruhe hätte an diesem sonnigen Vormittag in der kleinen Wohnung herrschen können – wenn nicht die dröhnenden und mehr als ein Mal völlig schiefen Bassklänge durch die Räume gehallt wären. Sceana kämpfte einmal mehr mit seinem Instrument. Zum Glück seines Vaters war Selbiger nicht zu Hause – er arbeitete so gut wie jeden Tag in seinem kleinen Kiosk – und das gelegentliche Hämmern und Klopfen der Nachbarn gegen Decke und Wände hörte er schon gar nicht mehr. Was er jedoch ebenso wenig hörte war die richtige Tonfolge, denn er verspielte sich andauernd und ständig waren seine Finger in einer Position wieder zu finden, in die sie nicht gehörten. Irgendwann brach Sceana sein Spiel, das inzwischen wirklich nicht mehr schön klang, ab und legte sich seinen Bass flach auf den Schoß, während er das Instrument gedankenverloren betrachtete. Er hatte sich das Geld für das gute Stück damals zusammen geklaut. Ein wenig Geld stammte noch aus den Sister's no Future-Zeiten, die Straßengang in der er involviert war bevor diese zerbrach. Doch den Großteil der benötigten Geldsumme hatte er sich selbst zusammen geklaut, um sich dieses Prachtexemplar kaufen zu können. Und obwohl er das Bandenleben bereits hinter sich gelassen hatte, hatte er wegen des Geldes kein schlechtes Gewissen. Er hatte dafür schließlich niemanden überfallen und das war, verglichen mit früheren Zeiten, durchaus ein Fortschritt. Außerdem hätte er auch nicht gewusst, wie er anders in kürzester Zeit an solch ein Instrument hätte heran kommen sollen. Sceana's Fingerspitzen strichen verträumt über den glatten, königsblauen Lack, der in seiner Farbintensität einer Kornblume in voller Pracht gleichkam. Die Farbe seines geliebten Instruments erinnerte ihn immer wieder an hide. Sie strahlte die gleiche überzeugende Intensität aus wie die Augen des blonden Gitarristen. Die Augen, die sie alle voran zu treiben schienen. Er hatte es schon oft beobachten können: hide's Augen waren stets voller Tatendrang, sein Körper voller Energie. Sein Körper....jede Bewegung hatte er sich inzwischen schon eingeprägt. Heimlich, versteht sich. Er mochte es, wie sich hide's Körper bewegte. Sceana spürte schon wieder diese kribbelnde Wärme in seine Wangen schießen. Schluss jetzt – nicht schon wieder rot werden! Obwohl er alleine war und niemand ihn hier sah, wollte er seiner Schamröte gar nicht erst eine Chance geben. Er stand auf und lehnte seinen Bass gegen die Wand, ging dann weiter bis zum Flur und schlüpfte in seine Turnschuhe. Er brauchte frische Luft. Da das Üben im Moment nicht funktionieren wollte und er sonst nichts Geistreiches zu tun hatte, entschloss er sich einfach durch die Gegend zu stromern. Wohin auch immer ihn seine Füße tragen würden. Doch kaum draußen auf der Straße und wenige Meter gegangen, kehrten Sceana's Gedanken an seinen Schwarm zurück. Früher hatte er sich oftmals versucht auszumalen wie es wohl wäre, hide, den blonden Wirbelwind, als großen Bruder zu haben. Für Sceana als Einzelkind war diese Fantasie doppelt reizvoll: Nicht nur aus Sympathie zu dem Anderen, sondern auch weil er sich schon unzählige Male in seinem Leben gefragt hatte, wie es sich wohl anfühlen mochte einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Jetzt, seit ein paar Monaten, spielten sie zusammen in einer Band, hatten so gut wie jeden Tag miteinander zu tun. Und es hatte sich etwas verändert. Nein, eigentlich hatte es sich nicht direkt verändert; es war vielmehr intensiver geworden. Die Gefühle die er hatte, jedes Mal wenn er hide nur sah – oder sich direkt neben ihm befand. Sie waren stärker geworden, intensiver, ließen ihn öfter in Tagträume versinken als früher. Er fand hide toll. Aber es war nicht mehr nur das einfache 'toll-toll', es war inzwischen schon mindestens zu einem 'super-toll' heran gewachsen. Sceana sog die Luft der abgelegenen Seitenstraßen ein, durch die er streifte. Sein Weg durchlief eine leichte Steigung, der Asphalt unter seinen Füßen war von diversen Rissen und gelegentlichen Schlaglöchern durchzogen. An den dreckigen Wänden der alten Gebäude links und rechts prangten Graffiti. Es war sein altes Viertel, es war fast so wie früher. Mit dem winzigen Unterschied, dass er nicht mehr zu den hoffnungslosen Straßenkids zählte, die sich ihre Zeit mit Raubüberfällen und Prügeleien vertrieben. Statt dessen war er nun einer dieser hoffnungslosen Kids, die ihren utopischen Träumen hinterherrannten und Rockstar werden wollten. Naja, das '-star' konnte man sicher streichen, 'Rock' alleine würde es auch tun. Schlagartig musste er an seinen Vater denken und ein kleines, zynisches Lächeln bildete sich in seinem Mundwinkel, als er sich an die erste Reaktion seines alten Herren erinnerte, wie dieser seine neu definierten Zukunftspläne aufgenommen hatte: Zuerst hatte sich seine Mine gar nicht verändert, ganz so als hätte er nicht verstanden, was sein Sohn ihm versuchte zu erklären. Dann wandelten sich seine Züge in deutliche Verwirrung und wurden letzten Endes mit einem verständnislosem Kopfschütteln quittiert. Seit dem hatten sie nie wieder darüber gesprochen. Sceana hatte es hingenommen, war es gewöhnt, dass sein Vater nicht viel sprach und schon gar nicht über irgendwelche Lebensträume. Vielleicht hatte er selbst als junger Mann mal welche gehabt, die sich für ihn aber nicht verwirklichen ließen. Sceana wusste es nicht. Aber spätestens seit der Krebserkrankung seiner Mutter, als er gerade mal neun Jahre alt war, und dem zwei Jahre später eintreffendem Tod hatte Sceana begriffen, dass er zukünftig für sich selbst einstehen musste, da es niemand anderes mehr tun würde. Er hatte sich schnell daran gewöhnt und wurde gleichzeitig auch früh selbstständig – zwangsläufig. „Nein!! Aaah...!“ Das verzweifelte Aufschreien aus der nächsten Seitenstraße riss Sceana schlagartig aus seinen Gedanken. Er blickte vom Boden auf und starrte in die Richtung, aus der er die angstgetränkten Laute vernommen hatte. Er blieb für einen Moment lang stehen, lauschte. Das klang eindeutig nach Prügelei. Die Geräusche waren ihm vertraut genug. Er überlegte kurz. Er hatte den Nuttenstrich noch nicht erreicht, also konnte es sich in dieser Gegen eigentlich nur um Streitigkeiten zwischen Dealer und Junkie handeln. - Oder ein ortsunkundiger Trottel, dem seine Unwissenheit schon von Weitem anzusehen war, hatte den Fehler gemacht und sich hierher verirrt. Sceana huschte zur betreffenden Häuserwand, hinter deren Ecke sich das ziemlich schmerzhaft klingende Szenario abspielen musste, und spähte vorsichtig um den Neunzig Grad Winkel des Backsteingebäudes. Seine Augen erblickten einen Jungen mit blondbraungescheckten Haaren, größer als er selbst, der ohne jegliche Hemmungen immer und immer wieder mit der geballten Faust auf sein Opfer einschlug. Blinder Hass war ihm ins Gesicht geschrieben und bei dieser gnadenlosen Anwendung von Gewalt war die Frage, ob er sein Opfer eigentlich noch als Mensch oder als Punchingbag ansah, berechtigt. Das Opfer, ebenfalls ein nicht gerade kleinwüchsiger Junge, setzte sich nicht einmal ansatzweise zur Wehr, ließ die Faustschläge des Anderen nur noch auf sich einprasseln. Vielleicht war er auch bereits zu nichts anderem mehr fähig. Sein Gesicht war blutüberströmt, sein Hemd hing ihm halb aus der Hose und war im Brustbereich weit aufgerissen. Klägliches Keuchen und Gurgeln war das Einzige, was noch aus seinem Mund kam, in dem mit Sicherheit auch schon ein paar Zähne fehlen dürften. Sceana wusste nicht was es war, aber plötzlich, wie aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung, riss der Blondgescheckte seinen Kopf zur Seite in seine Richtung und starrte ihn an. Sceana starrte nur völlig perplex zurück, war über diese unvorhergesehene Reaktion zu überrascht um noch nachträglich in Deckung zu gehen. Und für diesen kurzen Moment hielt der Typ in seiner Prügelei inne. Es sah fast so aus, als hätte jemand den laufenden Film auf 'Pause' gedrückt. Standbild. Doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Schon im nächsten Moment löste sich die eingefrorene Szenerie, der Typ ließ von dem blutigen Opfer ab und schien regelrecht Hals über Kopf zu flüchten. Dabei rempelte er jedoch Sceana an; so stark, dass dieser sich fast auf dem Boden wiederfand. „Pass auf, du Wichser!“, brüllte der Kerl ihn dabei noch an, dann rannte er weiter und war in Windeseile hinter der nächsten Ecke verschwunden. Sceana sah ihm nur völlig verdaddert und irritiert hinterher, bis seine Augen ihn verloren. Was war denn das jetzt? Wer war das und warum flüchtete er vor ihm? Sceana durchkramte sein Gedächtnis, doch er konnte sich nicht daran erinnern, diesen Jungen hier schonmal gesehen zu haben. Ein leises Stöhnen riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Er schaute abermals um die Ecke, zum ehemaligen Kampfplatz. Das Opfer saß mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden, Arme und Beine völlig lasch von sich gestreckt. Den Kopf zur Seite geneigt, die Augen fast geschlossen. Er sah wirklich übelst zugerichtet aus. Kapitel 4: Debut ---------------- In regelmäßigen Abständen verschwand der pinkfarbene und nach Kirschen schmeckende Lolli zwischen den Lippen, wurde sekundenlang von der Zunge verwöhnt, schließlich wieder für wenige Augenblicke freigelassen, nur um kurz darauf wieder in der Schnute der Naschkatze zu verschwinden. Die schlanken, hellen Finger drehten den dünnen Stiel gleichmäßig und doch voller Abwesenheit. „Und plötzlich war er einfach weg!“ Sceana saß auf dem Fußboden in Pata's Zimmer (in letzter Zeit bevorzugte er Fußböden als Sitzmöglichkeit) und erzählte ihm gerade von seinem Erlebnis mit dem Schlägertypen, dem er vor wenigen Stunden begegnet war. „Und ich hab nix gemacht, hab keinen Ton von mir gegeben, ich schwör's!“ Er wusste nicht warum, aber irgendwie ließ ihm dieser Typ keine Ruhe mehr, seit er dessen auffälliges Verhalten beobachtet hatte. Pata, sich und seinem Gast gerade frisch aufgebrühten Tee einschenkend, hörte aufmerksam zu. „Und das war wo?“ „Da in der Nähe von der Sangwangsimni Station“, nuschelte Sceana zwischen den Schneidezähnen hindurch, die gerade den oberen Bereich des Lollistiels festhielten. Seine Hände griffen nach dem Becher, führten ihn zu seinen Lippen und hätte fast den Lolli aus seinem Mund in den Tee plumpsen lassen, völlig vergessen habend, dass die Süßigkeit noch zwischen Zunge und Gaumen platziert war. Gerade noch rechtzeitig griff er nach dem Stiel und nahm den Lolli aus dem Mund. Pata musste unwillkürlich schmunzeln, als er diese Szene beobachtete. Es erinnerte ihn ungemein an seinen besten Freund hide, der von Zeit zu Zeit ähnliche Missgeschicke heraufbeschwörte. „Hauptsache er hat dich in Ruhe gelassen“, lenkte Pata wieder auf ihr Gespräch zurück, bevor er selbst zu seinem Becher griff. „Na, ich bin kein Baby mehr“, protestierte Sceana, der sich von dieser Bemerkung leicht bevormundet fühlte. „Ich war auch mal in 'ner Bande...!“ Augenzwinkern. „Trotzdem frag ich mich, wieso der mich gesehen hat....“ „Deine Haare vielleicht? Die leuchten ja ziemlich... Vielleicht hast'e damit seine Aufmerksamkeit auf dich gezogen.“ Es klang leicht seltsam, diese Bemerkung aus Pata's Mund zu hören, hatte er doch selbst knallrot gefärbte Haare, sogar fast den gleichen Ton wie der Jüngere. Nur war die Farbe aus Pata's Haaren schon wieder leicht ausgewaschen und das 'Leuchten', das Sceana noch vorweisen konnte, war bei ihm nur ein matter Farbfilm. „Kein Plan....“ Sceana nippte etwas abwesend an seinem heißen Getränk. Im nächsten Augenblick riss jedoch die schrille Türklingel die beiden aus ihren Gedanken. Pata begab sich zur Tür und noch bevor er wieder zurück in sein eigenes Zimmer kam, hatte hide sich im Flur schon längst an ihm vorbei geschlängelt und betrat Selbiges triumphierend jauchzend, in den Händen drei weiße Tüten mit gebratenem Hähnchen. „Mittagspause!“, krähte er und pflanzte sich noch in voller Montur auf den Boden. „Oder Frühstück, wie ihr wollt.“ Mit einem ebenfalls freudigem Lautausstoß stellte Sceana seinen Teebecher beiseite und griff nach einer der eingepackten Leckereien. Als Letzter erreichte Pata sein Zimmer mit dem typisch leicht zerknirschtem Ausdruck, der jedes Mal sein Gesicht zierte, wenn hide ihn zu Hause so überrumpelte und ihm nicht mal Zeit für irgendeine Reaktion gab. Daran konnte man sich einfach nicht gewöhnen, davon war Pata überzeugt. Und dennoch ließ er es jedes Mal auf's Neue zu, hatte seinem Freund noch kein einziges Mal den Zutritt verwehrt. Der Geruch, der sich binnen weniger Sekunden in seinen vier Wänden ausgebreitet hatte, verriet ihm schon den Inhalt der Tütchen, noch bevor hide und Sceana Selbigen ausgewickelt hatten. „Hast wieder den Hühneronkel überfallen?“ Pata's flapsige Bezeichnung für einen von hide's Lieblings-Imbissläden. „Klar! Einer muss es ja machen!“, lautete die Antwort, die schon wie selbstverständlich aus hide's Mund purzelte, bevor er im nächsten Augenblick seine Zähne in das gegrillte Hähnchenfleisch schlug. Mit vollem Mund kauend schlug er anschließend mit der flachen Hand ein paar Mal auf den Boden neben sich, fast so als wolle er einen Hund dazu auffordern, sich neben ihn zu setzen. Nur dass diese Aufforderung in diesem Falle Pata galt – und der kam der Aufforderung sogar kommentarlos nach. Sceana beobachtete, wie sich die beiden Langzeitfreunde auch ohne Worte miteinander verstanden und er spürte fast schon soetwas Ähnliches wie Neid dabei. Wünschte er sich doch heimlich, auch diesen Status bei hide zu haben – oder zumindest einen Vergleichbaren. In seinem jungen Herzen gab er die Hoffnung nicht auf, hide einmal ähnlich nah sein zu können wie Pata es war. Später am Nachmittag fand man sich noch zu den Bandproben zusammen, die in einem kleinen Kellerraum statt fanden, den Tusk erst vor Kurzem ausfindig gemacht und angemietet hatte. Auch die folgenden Tage verliefen ziemlich ähnlich: Meist traf sich das Quartett im Verlauf des Vormittags im besagten Keller, bis in den Abend hinein wurde geprobt und anschließend ging es noch in irgendeine Billig-Kneipe oder man klaute ein paar Flaschen Soju aus dem Supermarkt oder der Tankstelle. Schließlich ging fast ihr ganzes Geld für die Miete des Kellers und die Instandhaltung der Instrumente drauf, da konnte man für die vergnüglichen Dinge im Leben schonmal schnell wieder in die Kleinkriminalität abdriften. Und schließlich war der Tag gekommen, an dem sie ihren Auftritt im 'Mudcrutch' hatten. Der Laden war, wie so häufig, gerammelt voll und den Jungs wurde erst jetzt, einer halben Stunde vor ihrem Auftritt, so richtig bewusst, was sie hier überhaupt erwartete. Es war ein riesen Unterschied Gast zu sein und sich einen Act anzukucken – oder selbst da vorne auf der Bühne zu stehen. Lediglich Tusk wurde nicht von ständiger Nervosität gequält. Mit seiner früheren Band Zi:Kill hatte er schon einige Auftritte absolviert. Im 'Mudcrutch', in anderen Läden. Und sogar vor Zi:Kill's Zeiten stand er schon auf der Bühne – meist lediglich von einem Support-Drummer begleitet. Für ihn entwickelte sich die Bühne zu einer zweiten Heimat. Doch auch mit diesen Erfahrungen in der Hinterhand – für Seth et Holth war dies der erste Auftritt vor Publikum, das erste, gemeinsame Zusammenspiel vor einer wertenden Masse. Das ließ auch Tusk nicht kalt. Aber er behielt wohl am besten die Kontrolle über seine Gefühle, ganz anders als die übrigen Drei. Pata, generell ja eher schweigsam, sprach derzeitig noch weniger als sonst, ging dafür aber unermüdlich auf und ab, was für ihn doch sehr untypisch war. hide rasselte alle paar Sekunden von einer Gefühlslage in die nächste, quasselte für Zwei und war, kaum dass er sich euphorisch über das Bevorstehende geäußert hatte, im selben Augenblick auch schon wieder den Tränen nahe. Ähnlich erging es Sceana, nur verbal nicht ganz so aktiv, dafür war ihm alle naselang speiübel. Und plötzlich war es soweit, plötzlich standen alle Vier auf der kleinen Holzbühne – hide und Pata an ihren Gitarren, Sceana am Bass und Tusk hinter den Drums -, plötzlich schien der ganze Laden so riesengroß und das Publikum so unzählig, plötzlich wurde von ihnen erwartet zu spielen. Und sie spielten. Auch wenn sich später keiner der Vier mehr an die ersten paar Sekunden erinnern sollte. Sie spielten zuerst fast mechanisch und obwohl Tusk den Rhythmus so lebendig wie möglich vorzugeben versuchte, wirkten Pata, hide und Sceana anfänglich wie erstarrt. Standen wie eingefroren da, den Blick stur geradeaus oder auf ihr Instrument gerichtet. Ihre Finger schienen das einzig lebendige an ihnen zu sein. Doch kurz vor Beendigung des ersten Liedes hatte sich der Knoten bei allen Beteiligten plötzlich wie von Geisterhand gelöst. Die Angespanntheit und Nervosität war wie weggeblasen – und das hörte man auch. Schon in den zweiten Song fiel die Band mit viel mehr Energie und Elan ein. Sceana, der sich bis dato noch im Schatten hinter hide und Pata versteckt gehalten hatte, verließ diesen Platz und wirbelte herum, fast wie von der Tarantel gestochen. Auch bei hide setzte nun das Gummiballsyndrom ein und Pata zeigte zumindest schonmal eine gelöstere Mine. Das veränderte Verhalten der Jungs spiegelte sich natürlich auch im Publikum wieder: War dieses anfänglich noch sehr reserviert und abwartend gewesen, fiel es nun immer mehr und mehr in den Enthusiasmus von Seth et Holth mit ein. Das wiederum spornte die vier Freunde zu noch größeren Leistungen an und schon bald wurde klar, dass die Bühne, zumindest für Sceana, fast schon zu klein war. Der quirlige Rotschopf wirbelte herum wie nichts Gutes und das Spielen seines Basses verlief wundersamerweise fehlerfreier als gewöhnlich. Immer wieder peilte er hide an und stellte sich beim Spielen dicht neben ihn, ja, schmiegte sich regelrecht an ihn und platzierte ein Mal sogar kurz seinen Kopf auf dessen schmale Schulter. In diesen Momenten hatte er alles vergessen, was in der Vergangenheit je geschehen war. Es gab für ihn gerade nur die Gegenwart und die fühlte sich schön an. Er fühlte Verbundenheit, er fühlte Freundschaft – und er fühlte Glück. Genau das, wonach er sich schon immer von Grund auf gesehnt hatte. Jetzt hatte er es. Hier und jetzt. Sceana's vor Freude glitzernde Augen warfen ihre Blicke auf das Publikum. Und dann sah er ihn. Diese blondgescheckten, fransigen Haare. Dieser direkte, unverfrorene Blick. Er war es. Der Junge aus der Gasse, der Schläger der ihn entdeckt hatte. Fast hätte Sceana vor lauter Schreck vergessen, weiter zu spielen. In allerletzter Sekunde fing er sich doch noch und setzte wieder ein, ohne den aktuellen Song langfristig zu ruinieren. Doch die Verstörtheit bekam er in den nächsten Minuten erst einmal nicht mehr so schnell aus dem Gesicht gewischt. Was machte dieser Typ hier? Wer war das? Drei Zugaben. Damit hatte keiner rechnen wollen. Seth et Holth waren der neue Publikumsmagnet im 'Mudcrutch' – und das schon nach ihrem Debut-Auftritt! Die Vier Jungs waren vollkommen überwältigt und der Applaus und das Gejubel wollten gar nicht mehr abreißen. Die Luft brannte und dank der berühmten nichtfunktionierenden Klimaanlage in diesem Laden, hätte man die Menschen untereinander mit ihrem Schweiß zusammenkleben können. Enthusiastisch warf Tusk hinter seinem Drumkit erst einen, dann den anderen Drumstick in die Menge. So wie man es immer auf großen Konzerten sah. Nur dass es im kleinerem Stil ebenso gut funktionierte. Sceana, der sich genauso freute wie seine Kollegen, hatte in dem Getümmel zu ihren Füßen gerade wieder das Gesicht dieses Jungen entdeckt. Seine Augen verfolgten ihn aufmerksam, wie er sich durch das enge Gewusel schlängelte... - und plötzlich verrutschte sein Blick drastisch, als ihm hide ungebremst an den Hals sprang! Sceana quietschte und keuchte vor Überraschung, aber auch vor Freude, erwiderte die herzhafte Umarmung, die hide ihm gerade schenkte. Der Blonde kriegte sich gar nicht mehr ein und hätte Sceana vermutlich am Ende noch zerquetscht, wenn dieser ihn nicht irgendwann sanft von sich gedrückt hätte. „Mach mich nicht kaputt, ihr braucht mich noch!“, lachte er, fiel hide im nächsten Moment aber doch wieder in die Arme und ließ den Glücksgefühlen uneingeschränkt freien Lauf. Es fühlte sich gut an, so dicht an seine Brust geschmiegt zu sein, es fühlte sich gut an, das Getose und Gejauchze um sich herum zu hören....es fühlte sich alles gut an.....! Er löste sich jedoch noch einmal von ihm, fuhr sich mit der Hand die roten Strähnen aus dem schweißnassen Gesicht und wollte seine Augen noch ein Mal die Menschenansammlung nach diesem einen speziellen Gesicht abscannen lassen. Aber schon im nächsten Moment wurde er von hinten in eine weitere Umarmung gezogen, diesmal von den kräftigen Armen Tusk's. Und auch Pata reihte sich in die Verteilung freudiger Ausdrucksweisen ein und knuffte den Jüngsten ungewöhnlich herzlich an sich. Sceana's Aufmerksamkeit war gänzlich von seinem ursprünglichen Ziel abgelenkt, versank statt dessen in Freude und Glück. Seine Augen musterten die helle Decke, ohne dass er sie wirklich sah. Seine Pupillen bewegten sich wie in einer Beobachtung, ohne dass er ein Ereignis wahr nahm. Hisashi lag auf der innersten Seite des breiten Bettes, direkt an der Wand. Sie war in einem matten, inzwischen leicht angegrautem Himbeerton gestrichen, im Gegensatz zur Decke. Die war weiß. Hisashi hatte eine Hand locker auf seinem Bauch ruhen; sein vollbekleideter Körper verschwand halbwegs unter der Bettdecke. Er atmete so flach, dass ein Fremder, der diese stumme Szenerie beobachtete, ihn für tot hätte halten können. Würden seine Augen sich nicht bewegen. Er hatte ihn gehen lassen. Und noch immer hallte die aggressive Stimme und die harten Worte in seinem Kopf wieder. Die Vorwürfe, die Anschuldigungen, die Beleidigungen. Und das alles nur, weil er das Vorhaben des Anderen für zu gefährlich gehalten hatte. Weil er dieses Mal nicht mitziehen wollte. Obwohl er sich ihm doch so selten widersetzte. Für gewöhnlich tat er es nie. Doch wenn er es tat, endete es früher oder später immer so wie jetzt. Er blieb allein zurück. Mit seinen Ängsten, seinen Fragen, seiner Hilflosigkeit. Und seinem Unverständnis für die heftigen Reaktionen des Anderen. Hisashi drehte seinen Kopf ein Stück zur Seite. Sein Blick fiel auf ein Chaos, welches bereits eine halbe Ewigkeit andauerte, vor einer Stunde jedoch noch mehr zugenommen hatte. Sein Schlafzimmer sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall lag irgendwas herum, was andere Menschen vermutlich an ganz anderen Orten platziert hätten, doch Hisashi kannte inzwischen kaum noch andere Orte dafür. Diverse Klamotten, benutzte als auch unbenutzte, lagen im gesamten Zimmer verstreut, auf dem Boden, über dem Bettgestell oder der stets halb offenen Kleiderschranktür hängend. Im Kleiderschrank selbst befand sich diverser Papierkram, Unterlagen, Werkzeug sowie ein kaputter Notenständer und Stromkabel. Der Spiegel, der die gesamte, und stets geschlossen gehaltene, linke Schranktür zierte, war kaputt. Seit einer Stunde. Hisashi's Blick fiel auf ein schwarz eingeschlagenes Buch, das mitten auf dem Boden lag. Daneben ein weißes Hemd. Das Hemd, das nicht ihm gehörte sondern ihm. Es würde noch nach ihm riechen, würde er seine Nase daran halten. Er wusste es. Genauso wie das Kissen neben seinem Kopf noch nach ihm roch. Atsushi. Wieso nur lief es jedes Mal so? Jedes Mal, wenn er ihm widersprach? Wenn er Bedenken in seine Pläne mit einwarf? Als würde er ihm seine eigene Meinung verbieten wollen. Hisashi's Augenlider senkten sich minimal. Vielleicht wollte er das ja wirklich... Ein milder Windstoß drang durch das gekippte Fenster und wirbelte für einen Moment die rote Gardine auf. Die Schatten dieses kurzen Schauspiels fingen sich auf der gegenüberliegenden Wand wieder. Hisashi verfolgte sie nur beiläufig. Eine leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, er solle aufstehen. Doch sein Herz war schwer. Damit ließ es sich nur mühselig aufstehen. Wie spät es jetzt wohl gerade war? Seine einzige Uhr, die er besaß, befand sich im anliegendem Wohnzimmer und so konnte er sich im Moment nur an der Sonne orientieren. Die verriet ihm, dass der Tag bereits schon fortgeschritten war; vielleicht war es gerade Mittag oder auch schon Nachmittag. Er hatte heute noch nichts gegessen. Er wollte zusammen mit Atsushi was essen, doch dann kam der Streit. Die harschen Worte. Hisashi schloss die Augen. Er wollte nicht auf den Anderen böse sein. Warum aber quälte Dieser ihn so? Die messerscharfen Züge, der tödliche Blick. Eine Hand griff rasant nach dem Kissen neben sich und drückte es sanft gegen das eigene Gesicht. Er konnte ihn noch riechen. Er sog jeden Geruchspartikel regelrecht in sich auf, versuchte krampfhaft, ihn somit so nah wie nur irgendmöglich bei sich zu haben. In diesen Momenten, in denen er nicht bei ihm war. Atsushi. Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann öffnete Hisashi wieder seine Augen, ließ seinen Blick nochmal sporadisch durch das kleine Zimmer gleiten, als wollte er sich vergewissern ob er immernoch die alleinige Person in diesem Raum war. Schließlich erhob er seinen Körper und schaffte es doch noch aus dem Bett. Ohne Umwege, da er ja bereits bekleidet war, steuerte er die Küche an, um sich dort an Cornflakes und Milch zu vergreifen, mit denen er es sich keine zwei Minuten später im Wohnzimmer gemütlich machte. Er pflanzte sich mit seiner Cornflakesschüssel in den komfortablen, dezent geschwungenen Sessel, der, leicht schräg stehend, Richtung Fernseher wies. Doch das Gerät blieb aus. Abwesend beförderte Hisashi statt dessen die angeweichten Cornflakes Löffel für Löffel in seinen Mund. Drogen. Wie war Atsushi nur auf die Idee gekommen, Drogen verkaufen zu wollen? Und dann auch gleich dieses richtig harte Zeugs. Nicht Gras oder Koks – nein, diese neue Droge, die so heftigst reinhauen sollte. 'Fall-in'. Schneller als Speed, härter als Extasy. Die neue Goldgrube, sowohl für Konsumenten als auch für Dealer. Und Atsushi wollte damit handeln. Tat es vermutlich auch. Vielleicht sogar gerade jetzt, in diesem Moment. Denn allein mit seinen Bedenken würde er den Anderen nie von solch einer potentiellen Einnahmemöglichkeit abhalten können, das wusste Hisashi. Dass er bei dieser Drogensache an die Polizei, an die Strafen und an die mögliche Aufenthaltsdauer im Gefängnis dachte, war Atsushi völlig egal. Er interessierte sich nicht dafür, wie viel man von den Bullen für den Handel mit Drogen aufgebrummt bekam, denn er hielt sich stets für cleverer als die stumpfsinnige Polizei. Und bisher war er es auch immer gewesen. Aber was, wenn dieser Zustand nicht ewig anhielt? Was, wenn die Bullen ihn bei einem großen Ding doch mal dranbekämen? Sowohl Drogenhandel als auch Drogenkonsum galt in Süd-Korea als schweres Delikt und wurde gnadenlos hart bestraft. Gerüchten zufolge sollte mancher Dealer von der Justiz sogar schon hingerichtet worden sein, doch Hisashi wusste nicht, inwiefern diese Behauptungen stimmten oder doch nur als Abschreckung galten. Er würde sich von soetwas zu schnell manipulieren und einschüchtern lassen, hatte Atsushi ihm erst vorhin, bei ihrem letzten Streit, wieder einmal vorgeworfen. Er sei zu ängstlich und würde ihm nicht genug Vertrauen schenken. Er sei zu schwach. Dabei stimmte das doch gar nicht, er vertraute ihm! Er vertraute ihm wie keinem anderen Menschen auf der Welt. (Genau genommen vertraute er generell keinem anderen Menschen außer Atsushi.) Es war nie seine Absicht gewesen, den Anderen mit seinen gelegentlichen Zweifeln zu verletzen. Ganz im Gegenteil, er machte sich doch nur Sorgen. Sorgen um das Wichtigste das er besaß. Seine Liebe zu Atsushi. Und vermutlich war es diese Liebe, die seine Zweifel an Atsushi's Vorhaben im Verlauf ihrer Streitereien immer wieder zu Selbstzweifel umwandelte und am Ende gab er sich stets selbst die Schuld für das, was zwischen ihnen vorgefallen war. Das metallene Geräusch das erklang, wenn ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt und anschließend umgedreht wurde, drang durch das herrschende Schweigen der Wohnung und riss Hisashi aus seinen Gedanken. Augenblicklich wand er seinen Kopf in die Richtung, aus der das unerwartete Geräusch kam, bevor er zwei Sekunden später aufsprang und zur Wohnungstür rannte. Als er sie erreicht hatte, stand Diese bereits halb offen. In ihrem Rahmen präsentierte sich Atsushi, den Türknauf noch in der Hand und dem wohlbekannten, selbstgefälligen Grinsen im Gesicht, kaum dass er Hisashi erblickt hatte. Dieser starrte ihn nur an, mit unverkennbarer Überraschung. „Hast gedacht, ich lass dich alleine?“, raunte der großgewachsene und schlanke Schwarzhaarige im düsteren Ton. Seine tiefdunklen Augen fixierten den Blonden und hatten soeben wieder die Kontrolle über ihn zurück erlangt. Kapitel 5: BITCH ---------------- Übereifrig hasteten die schwarzen Stiefel durch das Treppenhaus, nahmen die Stufen mit großen Sätzen und nur wenige Augenblicke später presste sich eine äußerst ungeduldige Hand auf den Klingelknopf, der mit dem Namen 'Matsumoto' beschriftet war. Babygeschrei hörte man aus dem Inneren der Wohnung, es setzten näher kommende Schritte ein und schließlich öffnete sich die Tür. „Ja?“ Eine Frau mit einem weinenden Kleinkind auf dem Arm präsentierte sich dem unangemeldetem Besucher. „Entschuldigen sie bitte meinen Überfall, Frau Matsumoto, aber ist hide da? Ich muss ihn mal ganz dringend sprechen!“ „Natürlich! Einen Moment...“, entgegnete die Frau lächelnd und war kurz aus dem Blickfeld des noch im Hausflur stehenden Jungen verschwunden. Man hörte zeitweilig wieder nur das Endlosgejammer des kleinen Hiroshi und es dauerte eine ganze Weile, doch dann tauchte hide schließlich doch noch im Türrahmen auf. Und sofort konnte man auch erkennen was der Grund für sein dezentes Tempo war: Es herrschte Katerstimmung. „Tusk...? Was los, so früh?“, brummte hide verschlafen und mit einer Stimme, die einem kaum die Chance gab, die Worte zu verstehen. Der Angesprochene hob leicht eine Augenbraue. „So früh? Es ist nach Zwei! Nachmittags!“ hide reagierte auf diese Information lediglich mit einem abwesendem Kopfkratzen. „Wir haben ein Angebot bekommen!“, fing Tusk daher gleich aufgeregt an, da er gerade irgendwie keine große Lust hatte, den verkaterten Freund über die aktuelle Uhrzeit detaillierter aufzuklären. Zumal seine Neuigkeiten, mit denen er extra hierher geeilt war, auch viel wichtiger waren. „Gestern Abend hat uns Einer von Inroad Records gesehen und dem haben wir so gut gefallen, dass er uns einen Vertrag über drei Singles geben will!“ Die einzige Regung die hide zeigte war ein leichtes Zucken der Nase. „Wenn sich die Scheiben gut verkaufen, will er sogar ein ganzes Album mit uns aufnehmen!“ Tusk sprühte nur so vor Enthusiasmus. Ganz im Gegensatz zu hide. Der stand nach wie vor ziemlich unbeeindruckt in T-Shirt und knappen Shorts mitten in der Tür und blickte den Anderen aus verquollenen, halb geöffneten Augen an, als wartete er immernoch auf die ach so wichtigen Neuigkeiten. Nachmittags um irgendwas nach Zwei. Tusk hatte sich weiß Gott ein klein wenig mehr Begeisterung vom Gitarristen vorgestellt und die eigene Freude und Überschwang wurde gerade von Frust und leichter Enttäuschung in die Mangel genommen. „Ey, wenn's dich nicht interessiert, sag Bescheid. Dann kann ich gleich ein Stockwerk höher gehen zu Pata“, maulte er und der bis eben noch vorhandene Eifer war aus seinem Gesicht gewichen. „Selbst der ist zu mehr Ausdruck der Freude fähig als du im Moment.“ Daraufhin erwiderte hide nun überhaupt nichts mehr und wüsste man es nicht besser, hätte man meinen können dieser Junge, der da in der Tür stand, sei eine aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett entwendete Statur. Tusk rechnete schon damit, dass der Andere mit seinem Deliriumblick im Stehen einfach eingeschlafen war. „hide!!“, fuhr er ihn deswegen etwas barsch und ungeduldig an, dass es im ganzen Treppenhaus deutlich widerhallte. „...hat uns Einer von Inroad Records gesehen und dem haben wir so gut gefallen, dass er uns einen Vertrag über drei Singles und, wenn die sich gut verkaufen, ein ganzes Album geben will!“, ratterte hide nun plötzlich in doppelter Geschwindigkeit und fehlerfrei runter, als Tusk's Laune so spürbar zu sinken drohte. Anschließend wanderte jedoch wieder die eine Hand Richtung Hinterkopf und kratzte Selbigen durch die Zottelmähne hindurch. „Sorry Tuski, aber ich bin gerade noch nicht wieder so ganz da...“ Seine Stimme hatte wieder das normale Tempo eingenommen und trug abermals die nuschelnde Schwere des Katers mit sich. Er war so abwesend, dass er nicht einmal registrierte, wie er Tusk genannt hatte und selbst dessen verdutzter Gesichtsausdruck beim Erklingen dieses ungewöhnlichen Kosenamens entging ihm. „Okay, ich seh schon“, seufzte Tusk schließlich und gab sich geschlagen, „du hattest wieder ein paar Bier zuviel.“ Er vergrub seine Hände tief in den Hosentaschen. Bei hide war er im Moment wirklich an der falschen Adresse, um seine Freude über ihre Aussichtschancen teilen zu können. „Sorry“, murmelte der Ältere nochmals, spürte er doch, dass die gegebene Situation eine ganz andere Reaktion von ihm erwartete. „Ich geh dann hoch zu Pata“, verabschiedete Tusk sich und wand sich von der Tür ab, um die nächsten Treppenstufen besteigen zu können. hide schloss die Tür wieder und schlurfte leise stöhnend durch den Flur zurück in sein Zimmer. Wenigstens hatte sein kleiner Bruder endlich aufgehört zu plärren. War ja nicht auszuhalten gewesen, der Lärm. Er hatte seine Zimmertür noch nicht einmal hinter sich angelehnt, da fiel sein Blick schon auf sein Bett. Und auf den Rücken, der da in seinem Bett lag. hide blinzelte. War das jetzt eine Halluzination? Hatte er noch so viel Alkohol im Blut? Seine Augen, schlagartig gar nicht mehr so müde, musterten den Rücken eingängig und stellten fest, dass dieser zu einem ganzen Körper gehörte. Und dieser Körper kam ihm auch noch irgendwie bekannt vor. Ungläubig trat er zögerlich ein, zwei Schritte näher an das Bett – und genau im gleichen Moment regte sich der Körper plötzlich und wand sich halbwegs zur Seite, präsentierte dem Betteigentümer somit, unter Unmengen knallroter, zerwuselter Haare, sein Gesicht. Es war Sceana. hide traf es wie ein Schlag. Was hatte der Kleine hier in seinem Bett zu suchen? Wie kam der da rein, verdammt? Seine unabgeschminkten, leicht verschmierten Lippen schmatzten leise, sein Geist blieb jedoch im Traumland und so sah Sceana, wie er in seinem übergroßen T-Shirt so dalag, aus wie ein unschuldiger Engel, dem man nichts anhaben konnte. hide stand noch eine ganze Weile so da und starrte fassungslos auf den Freund, den er vorher tatsächlich nicht in seinem Zimmer, geschweige denn in seinem Bett, wahrgenommen hatte. Seine Augen starrten noch immer. Starrten und konnten sich von den geheimnisvollen, dunklen Tiefen nicht losreißen. Und obwohl sie nach jeder Streitigkeit früher oder später immer wieder zueinander gefunden hatten, wirkte Hisashi in diesem Moment so, als könne er nicht glauben, wer da vor ihm stand. Atsushi überwand die letzte kleine Distanz zwischen ihnen, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und stellte sich unverschämt dicht vor Hisashi. So dicht, dass dessen Brustkorb seinen Eigenen beim Ein- und Ausatmen berührte. Mit einer Hand ergriff er Hisashi's Gesicht, fuhr mit der Daumenkuppe zärtlich über die linke Wange, auf der mit schwarzen Buchstaben das Wort 'BITCH' eintätowiert war. „Dachtest du wirklich, ich würde meine kleine Schlampe alleine lassen?“, wisperte er düster aber liebevoll. Hisashi's Körper war zuerst wie gelähmt, doch schon im nächsten Augenblick durchströmte ihn das so wohlbekannte Gefühl von Vertrauen, welches er dem Anderen bedingungslos gegenüber aufbrachte, kaum dass dieser die altbewährten Knöpfe drückte. Es war schon regelrecht ein blindes, gedankenloses, ja für manche vielleicht sogar ein selbstzerstörerisches Vertrauen, das er dem Anderen schenkte. Doch es war seine Verbindung zum Leben. Und endlich löste sich seine Starre und mit einem leisen Seufzer der Erleichterung ließ er sich gegen Atsushi's Brust sinken, hielt sich mit den Händen vorsichtig an dessen Schultern fest. Er hatte ihn wieder bei sich, seinen schwarzen Engel. Seinen düsteren Halt in dieser unübersichtlichen Welt. Er spürte die Wärme des anderen Körpers, spürte wie sich die langen, starken Arme beschützend um ihn legten und mit solch einer Sanftheit an sich pressten, als sei er aus Glas und könnte jeden Moment zerbrechen. Hisashi schloss die Augen. Er würde für seinen Engel alles tun. „Vergiss was ich gesagt habe“, flüsterte Atsushi ihm ins Ohr. Das sagte er jedes Mal, nachdem sie sich gestritten hatten. Und wie jedes Mal nickte Hisashi daraufhin nur. Wie jedes Mal glaubte er ihm. Weil er auch gar nichts anderes glauben wollte. Er wollte nur den warmen Körper spüren. Die Wärme, die ihn vor dem Auskühlen schützte. Diese wohlige Wärme...die ihm alles bedeutete. Er registrierte anfänglich gar nicht, dass sein Körper in Richtung Schlafzimmer geschoben wurde. Seine nackten Füße bewegten sich wie von ganz alleine auf dem Holzboden. Erst als er schon kurz vor dem Bett stand, bemerkte er seine neue Position. Doch für einen Richtungswechsel war es schon zu spät. Er wurde bestimmend auf die Matratze gepresst und fand sich kurz darauf in waagerechter Lage wieder, Atsushi auf seinen Hüften sitzend. Dieser griff auch sofort nach seinen Händen, legte sie über Kreuz und anschließend in Handschellen, welche stets am Fußende des Bettrahmens hingen. Nicht in Gepolsterte, mit weichem Plüsch oder Ähnlichem. Nein, es waren die Kalten, die aus bloßem, nacktem Metall. Die die sich unbarmherzig an die Haut schmiegten und unermüdlich ihre unüberwindbare Macht demonstrierten. Hisashi blickte nach oben. In die Augen seines dominanten Liebhabers. In die Augen, die ihn so gekonnt zu züchtigen wussten wie die Handschellen. Er verlor sich in ihnen. Sein Liebster durfte alles mit ihm machen, alles. Atsushi wusste um seinen Status und genoss ihn. Seine gierigen Blicke fuhren über Hisashi's Körper und empfanden diesen als viel zu eingepackt. Und schon machte er sich daran sein Opfer zu entblößen, riss ihm das Hemd auf um seine hungrige Zunge in wilden Bahnen über die nackte Brust fahren zu lassen, vergriff sich jedoch schon im nächsten Moment an der Hose und zog sie ihm mit herrischen Griffen aus. Ja, so bloß und ungeschützt wollte er den Anderen sehen. Sein Herz gierte, sein Geist gierte – er wollte mehr. Er wollte alles an ihm. Atsushi's Hand griff zielstrebig zwischen die Beine des Hilflosen und befingerte die sonst so verborgene Körperöffnung. Sogleich spreizten sich die schlanken Schenkel des Blonden bereitwillig. Ja, er sollte ihn dort anfassen... Sein Körper war nur für ihn da, er sollte mit ihm anstellen was immer er wollte. Er sollte ihn benutzen wie auch immer es ihm gefiel. Leises, leicht verschämtes Stöhnen drang durch Hisashi's Lippen, das doch so willig und voller Hingabe klang. Seine Hände wanden sich ein Stück in den Handschellen. Sie gaben nicht nach, keinen Millimeter. Behielten ihn fest im Griff. Und seine Beine spreizten sich noch ein Stückchen mehr, präsentierten dem Anderen ohne Scheu und schon fast stumm bettelnd die angriffbarsten Stellen. Seine Überlegenheit auskostend, trieb Atsushi ihm kurzerhand zwei Finger in den Eingang. Das plötzliche Aufkeuchen, das daraufhin an seine Ohren drang, war für ihn eines der süßesten Geräusche die er kannte. Und es trieb ihn weiter an. „Du brauchst es wieder...“, gurrte er mit einem sicheren Lächeln auf den Lippen und stieß im geübten Rhythmus mehrfach zu. „Du hast schon viel zu lange darauf gewartet.“ Hisashi reagierte auf diese Worte nur mit weiterem Stöhnen, das die Zimmerlautstärke jedoch nach wie vor nicht überschritt. Atsushi wusste das zu ändern. Binnen weniger Augenblicke hatte er seinen Schwanz ausgepackt, der sich schon überraschend einsatzbereit zeigte, und tauschte seine Finger gegen das harte Stück Fleisch aus. Hisashi schrie auf. Ob vor Schmerz oder Lust, hätte ein Außenstehender nicht sagen können. Sein Körper wand sich und bebte unter den dominanten Stößen, die er empfing. Er empfing sie ebenso willig wie den Schlag ins Gesicht und den kurz darauf folgenden, harten Kuss. Sie nahm ihm sprichwörtlich den Atem, die Zunge die in seiner Mundhöhle räuberte. Aber er ließ es zu. Nein, er genoss es regelrecht. Genoss es beansprucht zu werden, genoss es benutzt zu werden. Ja, benutzt... Benutzt zu werden vom Anderen....der mit ihm alles machen konnte.... Hisashi spürte die kräftigen Hände, die über seinen Brustkorb strichen und seine Nippel so reizvoll traktierten, dass es fast schon weh tat. Seine Nippel waren doch so empfindlich...! Und diese Finger wussten ganz genau, worauf er wie reagierte. Als seien es die Finger des Teufels. Er wand seine Handgelenke in den eisernen Fesseln, die Ketten klangen laut am metallenen Bettgestell. Er kam hier nicht weg, er kam hier nicht raus....er musste es ertragen....und das war gut...! Endlich löste Atsushi den Kuss auf und gewährte ihm somit wieder mehr Sauerstoff, den er schon so sehr benötigte. Aber gleichzeitig bedauerte er auch den aufgelösten Kuss, hätte er diese wilde Zunge in seinem feuchten Mund noch gerne länger gespürt und als Gegenzug dafür sein Leben gegeben. Er wollte doch nur Eines und das war ihn zu spüren. Alles andere war unwichtig. Atsushi stieß immer härter und immer schneller zu, bearbeitete das enge Loch, das schon so oft bearbeitet wurde, als würde er es zum ersten Mal vögeln. Bekam nicht genug von dieser heißen, unbarmherzigen Enge die seinen Schwanz fast in die Mangel zu nehmen schien. Aber er würde gewinnen! Weil er immer gewann! Düster und hungrig starrte er auf das hilflose Gesicht vor sich und kostete den Anblick aus. Den Anblick dieser ergebenen Augen, dieser blassen Haut, dieser geröteten und steifen Nippel... Alles war Seins! Alles gehörte ihm an diesem wunderschönen Körper, der unentwegt nach ihm schrie, egal wo er war. „Dreckige Hure...“, entwich es seinen Lippen und Hisashi's Blick, der ihn daraufhin traf, spiegelte die ergebene Zustimmung dieser Worte wieder. Ohne auch nur einem Hauch von Zweifel. Diese gnadenlose Ergebenheit trieb Atsushi fast in den Wahnsinn. Er musste aufpassen aus Reflex nicht etwas zu tun, was sein Spielzeug unter Umständen kaputt machen könnte. Also lenkte er seine ganze brodelnde Energie in seinen Unterleib und stieß immer wieder zu...immer wieder...immer wieder..... Es war kein Sex zur Versöhnung. Es war Sex aus purem Besitzanspruch. Kapitel 6: chimpira - the enquiry --------------------------------- „Was machst du hier?“ hide hatte sich inzwischen seinem Bett mitsamt dem unerwarteten Gast in Selbigem genähert, stand dicht vor ihm. Sceana, noch immer liegend aber nicht mehr schlafend, blickte ihn beinahe unschuldig an. „Aufwachen.“ Mit dieser Schlagfertigkeit hatte hide nicht gerechnet und er blinzelte mehrmals, während sein vernebeltes Hirn noch versuchte, die Verbindung zwischen seiner Frage und der erhaltenen Antwort zu erkennen. Sceana streckte sich derweilen und schmatzte wieder leise, so als sei sein Körper noch nicht wieder ganz im hier und jetzt. Nur seine Augen sahen erstaunlich klar aus, dafür dass er die vergangene Nacht alkoholschwanger verbracht hatte. Er erhob seinen Oberkörper, indem er sich mit den Unterarmen abstützte, und musterte hide. Jetzt wusste er was Pata mit dem Satz 'Der wird morgen tot sein' in Bezug auf den Gitarristen gemeint hatte. „Du hast gesagt, ich kann mit zu dir, als wir heute früh aus dem Laden raus waren“, half der Jüngere ihm auf die Sprünge. hide ließ sich schließlich auf der Bettkante nieder. Doch Sceana's Hilfestellung wollte bei ihm nicht fruchten. „Echt? Hab ich...?“, nuschelte er nur, scheinbar mehr zu sich selbst und sein Blick driftete wieder in verträumte Abwesenheit. Sceana's Augen ließen nicht von ihm ab, betrachteten ihn eine ganze Weile; schweigend. Studierten das volle, geblichene und zerzauste lange Haar, das ihm über den Schultern hing und einen starken Kontrast zu dem schwarzen, ausgewaschenen T-Shirt gab. Die helle, glatte Haut die an jeder entblößten Stelle des Körpers, an der er sie entdecken konnte, so zart aussah und regelrecht zum Anfassen einlud. Die haselnussbraunen Augen, die normalerweise nur so von Lebensenergie sprühten, auch wenn sie im Moment jeweils zur Hälfte von den Lidern bedeckt wurden. Die wunderschönen Lippen, nicht zu voll, nicht zu schmal und von solch einer scheinbaren Unberührtheit und Reinheit, dass man sie gar nicht außer Acht lassen konnte. Diese Lippen......die solch eine Anziehungskraft ausübten......als wollten sie unbedingt geküsst werden........ Sceana erhob seinen Oberkörper und wand ihn dem schräg auf der Bettkante sitzenden hide zu, drehte mit einer Hand dessen Gesicht in eine, für ihn günstige, Position und küsste ihn. Spürte die zarten Lippen, verschaffte sich Zutritt zu der Mundhöhle und ließ seine Zunge in Selbige eintauchen. Erkundete das unbekannte Territorium, schmeckte noch leichte Spuren von Bier. hide zögerte anfänglich, dann begann er jedoch den Kuss zu erwidern. Eine Hand fasste an Sceana's schmale Schulter. Sein warmer Atem kitzelte den Jüngeren im Gesicht. Sceana schmiegte sich ein ganzes Stück dichter an seinen Schwarm, spürte dessen Wärme, spürte die geblichenen Haare auf seiner Haut. Schlang haltlos beide Arme um den Hals des Anderen. War ihm so nah wie sonst keiner. Konnte dessen Herzschlag spüren, den Rhythmus seiner Atmung. Registrierte, wie sich die Hand hide's auf seinen Rücken legte. Spürte den leichten Druck. Die Nähe, die unendliche Nähe die er sich immer gewünscht hatte, jedes Mal wenn er hide's Anwesenheit beiwohnte. Die Zunge war ganz weich, ebenso weich wie die Lippen. Und alles war ganz warm. Und schmeckte so nach ihm. Würde er nicht nach Bier schmecken, dann ganz bestimmt nach Erdbeeren, da war der Rothaarige sich sicher. hide war eine einzige, verbotene Frucht, die nur vernascht werden wollte. Zumindest lief das so in Sceana's Kopf ab. In Wirklichkeit aber hatte sich der Jüngere keinen Millimeter näher an ihn heran gewagt; er lag noch immer in der selben Position im Bett, mit den Unterarmen abgestützt, wie zuvor. Und hide's Augen starrten noch immer das selbe Loch in den Boden - wie zuvor. „Hab ich dich letzte Nacht eigentlich begrabscht, oder so?“, durchbrach seine Stimme dann aber plötzlich die Stille des Raumes. Sceana's Herz schlug schneller. Er starrte hide zuerst sichtlich irritiert an, bemühte sich aber gleich darauf, seine Irritation zu überdecken. „Nein, wieso?“, lautete die bemüht lässig klingende Gegenfrage. „Mmmh...“ Das Loch, welches der Blonde in den Boden starrte, musste inzwischen schon riesige Ausmaße angenommen haben. „Nur so.....“ Seine Hand fasste an seine Stirn und rieb sie sich, wodurch sein Blick sich endlich von dieser einen, fiktiven Stelle löste und der gestarrte Abgrund die Möglichkeit hatte, wieder zu einer Ebene zusammen zu wachsen. „Wenn ich getrunken hab passiert sowas manchmal.“ Na toll. Sceana blinzelte. Warum hatte es nicht passieren können? „Wollen wir hoch zu Pata, was essen?“, versuchte Sceana abzulenken, bevor er riskierte sich womöglich noch um Kopf und Kragen zu quatschen. Außerdem musste er sein wildes Herz wieder zur Besinnung bekommen und das gelang am allerwenigsten mit Fantasien darüber, was hide mit ihm im besoffenem Zustand alles hätte anstellen können. Pata..... In hide's Kopf klingelte irgendwas, wenn auch noch weit entfernt. Pata....war da nicht irgendwas...? - Ach ja... „Uhm...wir kriegen 'nen Plattenvertrag.“ hide bekam es heute einfach nicht mehr hin, die Sätze sinngemäß aufeinander folgen zu lassen, wie es in einem normalen Gespräch für gewöhnlich üblich war. Die Konfusion seiner Gesprächspartner war ihm somit für den Rest des Tages sicher. Sceana gab dafür gerade mal wieder ein schönes Beispiel ab, als er den Älteren mit offen stehendem Mund und ungläubigen Blick anglotzte wie eine neuentdeckte Tierart. „Wir kriegen was?“ hide hob träge seinen Kopf und lugte unter seinen blonden Fransen hervor. „'n Plattenvertrag“, wiederholte er, als sei es das Alltäglichste der Welt. Und der Rotschopf hatte bis zu dieser Sekunde tatsächlich noch an einen Verhörer geglaubt. Fassungslos wendete er seinen Blick von ihm ab, bevor er ihn in der nächsten Sekunde doch wieder aufnahm. „Woher weißt du das, verdammt?“ Sollte etwas an dieser Behauptung mit dem Vertrag dran sein, trieb es ihn gerade in den Wahnsinn, dass hide bei dem Thema so seelenruhig bleiben konnte. Das durfte doch nicht wahr sein! „Tusk war eben da... Einen von Inroad Records scheinen wir wohl unwissentlich bezirzt zu haben.“ Seine Stimme war noch immer schwer und schleppend. So konnte man schnell den Verdacht erlangen, dass hide sich über die Bedeutung seiner eigenen gesprochenen Worte gar nicht wirklich im Klaren war. Der folgende Satz ließ diese Vermutung jedoch wieder in sich zusammen fallen: „Ich glaube er wollte, dass ich mich mehr darüber freue...“ Seine Fingerkuppen rieben flüchtig die rechte Schläfe. Verfluchte Kopfschmerzen..... Sceana fühlte sich gerade irgendwie verarscht. Als würde er sich im falschen Film befinden. Doch er gab schließlich auf, sich über hide's ungewöhnliches Verhalten in Anbetracht der gegebenen Aussichten zu wundern. Statt dessen übersprang er diesen Punkt und wiederholte seinen Vorschlag von vor ein paar Minuten: „Und? Woll'n wir nun hoch zu Pata?“ Jetzt erst setzte bei hide das quengelnde Murren ein, dass man bei einem Verkaterten eigentlich schon spätestens bei Tusk's Auftritt erwartet hätte, bisher aber stur ausgeblieben war. Dabei ließ er sich zur Seite kippen und verdeckte sein Gesicht hinter beiden Händen. „Mmmmmh......ich will nirgends hin~....“ Sceana blickte auf den Älteren herab, der nun zusammengeknäult neben ihm lag. Dessen Kopf war so dicht neben seinen Beinen platziert, dass ein paar blonde Strähnen des Gitarristen Sceana's nackte Schenkel bedeckten. Das Geschnatter der Jugend Seoul's war der dominante Part der Geräuschkulisse im Eiscafé, während im Hintergrund die aktuellsten Popsongs erklangen. Die jungen Bedienungen, überwiegend Studentinnen, huschten in ihren aufgeknöpften Blusen und mit ihren beladenen Tabletts wie die Arbeiterameisen durch den Raum, um die Bestellungen schnellstmöglich aufzunehmen und die Kunden zu vollster Zufriedenheit zu stellen. „Und wie geht’s deiner Cousine?“ Atsushi's geschlossene Hand schob sich langsam aber fließend über die runde Tischplatte. Entließ ein kleines, zusammengefaltetes Stück Papier, als sie sich öffnete und kurz darauf wieder zurück zog. Eine andere Hand legte sich sogleich über das bloßgelegte Papierstück und schob es behutsam und bemüht unauffällig Richtung Körper seines Besitzers. „Gut“, erklang eine nervöse und kratzig klingende Stimme als Antwort. Der Junge mit den mit Gel gestylten Haaren und der Sonnenbrille im Gesicht war kaum älter als Atsushi. Unruhig kaute er auf einer nicht brennenden Zigarette herum, während sein Blick sich nicht von der Tischfläche losreißen konnte. Atsushi wartete. Geduldig. Der Junge kaute. Und ließ seine Hand dann schließlich doch noch in seiner Lederjacke verschwinden. Nicht nur, um das geheime Stück Papier unsichtbar werden zu lassen, sondern auch um ein kleines Bündel Geldscheine zum Vorschein kommen zu lassen und es, wie zuvor Atsushi das Papier, über den Tisch zu schieben. Atsushi grinste zufrieden. Er wusste, dass man dem Jungen manchmal nur ein bisschen Zeit geben musste. Aber bezahlen tat er immer. Seine Hand nahm das Geld in Empfang, zählte es kurz nach und ließ es zufrieden in die eigene Tasche gleiten. „Was machen deine Eltern? Alles in Ordnung?“, fragte er scheinheilig, bevor er nach dem Eiskaffee griff und seine Lippen den Strohhalm einfingen. In Wirklichkeit interessierte es ihn einen Scheißdreck, wie es den Eltern dieses Junkies ging. Genauso wenig interessierte ihn seine Cousine. Oder gar das Empfinden des Jungen selbst. Es war alles nur ein getürktes Scheingespräch das notwendig war. Der kleine Junk traute sich, nach einem schlechten Erlebnis, nicht mehr auf offener Straße Drogen zu kaufen. Er wollte seine Dealer stets inmitten einer Menschenmenge treffen. Und da der Junge gut zahlte, ließ Atsushi sich darauf ein. „Alles super...meine Mom hat wieder 'nen Job“, log der Gefragte, immer noch die Tischplatte anstarrend, die angekaute Zigarette derweilen zwischen den Fingern geklemmt. Er fand ihn unheimlich. Er fand diesen Kerl da vor sich einfach unheimlich. Er blieb die ganze Zeit über so ruhig – und das machte ihn selbst unruhig. Nervös. Er hatte solch eine ungeheure Ausstrahlung, wie er sie bei keinem seiner vorherigen Dealer je erlebt hatte. Er hatte guten Stoff, keine Frage – aber der Rest an ihm....blieb unheimlich. Der Junge mit der Gelfrisur nahm seine unangezündete Zigarette in den Mund als würde er einen Zug von nehmen wollen, kaute jedoch in Wirklichkeit nur einige Male monoton mit den Schneidezähnen auf dem bereits stark bearbeiteten Ende. Er konnte dem Kerl kaum in die Augen blicken, solch einen Respekt hatte er vor ihm. Der Junkie war jedoch nicht der Einzige, dem Atsushi's starke Ausstrahlung auffiel. Nur zwei Tische von Dealer und Käufer entfernt saß ein knochiger, blondgescheckter Junge, der sein erspähtes Ziel durch das lebhafte Gewusel der Gäste und der Bedienungen hindurch beobachtete. Seinen Kopf nicht zu weit in die entsprechende Richtung gedreht, sodass er seinen Blick jederzeit sofort unauffällig abwenden konnte, sollte einer der Zwei doch mal zu ihm rüber kucken. Es war Sugizo. Einsam an einem Tisch sitzend und vor sich einen großen, halbleeren Eisbecher stehen habend, den Löffel noch in der Hand, aber nicht mehr essend. Seine Augen konzentrierten sich vorrangig auf den Typen mit den langen, schwarzen Haaren. Der Typ, der die Drogen vertickte. Er wirkte professionell, wirkte sicher. Ob er mit der Yakuza in Verbindung stand? Oder eine eigene Bande besaß? Seine Bewegungen waren geschmeidig, er zögerte in keiner seiner Handlungen. Dieser Mensch musste einen starken Charakter haben, entschied Sugizo. Wenn er bei der Yakuza war, dann hatte er ganz bestimmt nicht den niedrigsten Rang. Dafür wirkte er einfach zu eigen. - Hey, wenn der Kerl Drogen vertickte, vielleicht konnte er dann noch einen Boten gebrauchen! Die Idee solch eines Jobs gefiel Sugizo, Yakuza hin oder her. Er musste nur wieder Fuß fassen, denn alleine ging man in dieser Gesellschaft gnadenlos unter. Das bekam er derzeitig am eigenem Leib zu spüren, und das sogar extremer als es ihm oftmals lieb war. Als sich damals die alte Bande, von der er Mitglied war, 'Snakebite', aufgelöst hatte, versuchten er, sein Freund J und ein weiteres Bandenmitglied, Kyo, zunächst eine eigene Bande zu repräsentieren. Doch dieser Versuch trug zu keinem großen Erfolg bei. Schon nach kurzer Zeit tauchte Kyo immer seltener auf und sein Geisteszustand wurde zunehmend abwesender. Bis er eines Tages schließlich ganz weg blieb. Somit blieben nur noch er und J übrig; gemeinsam bemühten sie sich, ihr Leben zu bestreiten. Irgendwie. Aber schließlich kam der Tag, an dem er sich auch von seinem letzten übrig gebliebenen Freund trennen musste: J verschwand spurlos. Sugizo wusste nicht, wo er abgeblieben war, suchte ihn, fand ihn nicht und gab schließlich auf. Von diesem Moment an war er allein. Ein ausgesetzter, räudiger Hund, der auf den Straßen Seoul's versuchte irgendwie zu überleben. Sugizo wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich plötzlich ein junges Mädchen vor seinen Tisch stellte – und nicht wieder verschwand. Etwas irritiert wand er schließlich seinen Kopf in ihre Richtung und blickte ihr ins Gesicht. Es war die Bedienung. Ein leicht beschämtes Lächeln lag auf ihren vollen, knallrot angemalten Lippen. „Ich hab dann gleich Feierabend... Kann ich dich schon abkassieren?“, fragte sie höflich, das große Geschäftsportemonaie in beiden Händen haltend. Da war er wieder. Einer der leidigen Momente, der Geld verlangte. Sugizo verzog sein Gesicht, schob seine Hand in die rechte Hosentasche und kramte ein paar stark verknitterte Geldscheine hervor, die er dem Mädchen genau so gab. Die Bedienung entknitterte die Scheine, zählte nach. Ihre Gesichtszüge verrieten Unzufriedenheit, vielleicht sogar Enttäuschung. Scheinbar hatte sie mit Trinkgeld gerechnet, Welches Sugizo ihr jedoch nicht ausgehändigt hatte. Dieser schien genau diese Reaktion schon vorhergesagt zu haben und fokussierte sie nur mit einem sturen „Von-mir-kriegst-du-nicht-mehr-Geld“-Blick. Er wusste, dass viele junge Bedienstete, besonders die Weiblichen, in solchen Läden nur spärlich bezahlt wurden und teilweise schon auf das Trinkgeld angewiesen waren, um über die Runden zu kommen. Doch er sah nicht ein das Leben irgendwelcher fremder Mädchen mitzufinanzieren, während er zeitweilig selbst am Hungertuch nagte. Sollte sie sich doch einen besser bezahlten Job suchen wenn sie in Diesem nicht ausreichend verdiente, fand er. Somit begrüßte er es auch, als sie mit ihren zerknitterten Scheinen endlich wieder davonwackelte und ihn in Ruhe ließ. Konnte er seine Aufmerksamkeit wieder ungestört – hey, Moment! Wo war der eine Typ hin? Es saß nur noch der Langhaarige am Tisch, den Sugizo bis vor wenigen Augenblicken noch heimlich observiert hatte. Der Andere mit den gestylten Haaren und der Sonnenbrille war verschwunden. Er musste in dem Augenblick gegangen sein, als diese dumme Pute ihn abgelenkt hatte. - Na egal, der, um den es ihm eigentlich ging, saß ja noch da. Und das nach wie vor äußerst entspannt, wie Sugizo feststellte. Der Blondgescheckte erhob sich mit geschmeidigen Bewegungen von seinem Stuhl und bewegte sich entschlossen auf sein Ziel zu, schlängelte sich durch ein paar Gäste hindurch und nahm ungefragt vor dem Fremden platz. Von Diesem erntete er daraufhin auch sogleich einen fragenden, jedoch nicht verwirrten Blick. Und jetzt erst sah Sugizo überhaupt mal das Gesicht des Langhaarigen. Von seinem alten Platz aus hatte er ihn nur von hinten beobachten, dafür aber das Gesicht des Bebrillten gut sehen können. Sein Gegenüber sah richtig gut aus, entschied er für sich, während er dessen Blick stur Stand hielt. Er sagte kein Wort, schaute ihm nur in die geheimnisvollen, dunklen Tiefen, die auf jeden Beobachter fast schon soetwas wie eine magnetische Wirkung zu haben schienen. Atsushi erwiderte diesen Blick ebenso stur, wenn auch mit weniger Verbissenheit. Er wusste nicht, wer dieser Punk war oder was er von ihm wollte. Doch dass er was wollte war offensichtlich. Er hatte diesen typischen Schleier in den Augen den alle Menschen hatten, wenn sie etwas Bestimmtes von jemanden erhofften oder erwarteten. Dass der Typ nichts sagte irritierte ihn in keinster Weise. Ganz im Gegenteil: Er fand es amüsant, dass sich jemand ihm in einem Schweigeduell stellen wollte. Nur dass er ziemlich gut in solchen Situationen war und der Andere somit schon in der Sekunde halb verloren hatte, in der er dieses stumme Duell gestartet hatte. Aber sollte der Punk es ruhig versuchen; er hatte Zeit. Seine Sturheit konnte Sugizo einige Zeit lang aufrecht erhalten, doch dann musste er einsehen, dass er auf diese Tour nicht weiterkam. Und er wollte weiter kommen. Also wechselte er zum Frontalangriff über. „Kannst'e noch jemanden gebrauchen?“ Er bemühte sich so lässig wie möglich zu klingen. Atsushi hob ansatzweise eine Augenbraue. Diese Regung und die seiner Lippen beim sprechen des Folgenden, waren zunächst seine einzigen Reaktionen: „Wofür?“ Der Blondgescheckte machte eine scheinbar unwillkürliche, zuckende Kopfbewegung. „Um die Junks zu versorgen.“ In diesen Momenten wünschte er sich regelrecht, Atsushi sei tatsächlich einer von der Yakuza. Auch wenn er, zumindest zu Anfang, einem der niedrigsten Ränge angehören würde, so sei er dann doch Teil eines großen Ganzen, einer 'Familie' in der man achtete und geachtet wurde. Zumindest war die Yakuza in Sugizo's Augen immer eine große Familie, in der man den nötigen Schutz fand. Denn der räudige Straßenköter wünschte sich nichts sehnlicher als eben diesen Schutz. Wie abwegig er auch sein mochte. In Atsushi hingegen machte sich gerade Begeisterung breit für das, was er hier erlebte. Da tauchte aus dem Nichts ein Junge auf, der ihm allen Ernstes beim Verticken von Drogen behilflich sein wollte? Und Hisashi jammerte rum, das Geschäft sei zu gefährlich? - Wen kümmerte die Gefahr, wenn es für dieses Geschäft genug Abnehmer gab! Und die gab es zweifelsohne – jetzt sogar auf beiden Seiten, wenn der Typ da vor ihm wirklich taff genug war um die Ware an den Mann zu bringen. Die Gedanken in Atsushi's Kopf drohten sich gerade zu überschlagen. Wenn er Laufburschen wie diesen da beschäftigte, die zuverlässig genug waren (und wenn sie es nicht waren, konnte man sie mit den richtigen Mitteln noch dazu erziehen), könnte er einen größeren Kundenkreis aufbauen. Ergo würde auch mehr Geld fließen! Und diese Idee gefiel ihm nur zu gut. Atsushi musterte den Jungen kurz. „Hast Erfahrung?“ „Klar“, log Sugizo großkotzig und hoffte im selben Moment, diese Unwahrheit würde niemals ans Tageslicht geraten. Atsushi schob seinen Ärmel ein kleines Stück hoch und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Komm heute Abend um sieben zur alten Hwangbo-Fabrik in Dongdaemun-gu.“ Dann erhob er sich und, ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, verschwand er mit wehendem Mantel aus dem Café. Neben seinem halbleeren Glas ein paar Geldscheine auf dem Tisch liegen lassend. Kapitel 7: Just a single word ----------------------------- Sugizo hatte sich mehrfach den Weg erfragen müssen, denn das nähere Gebiet um die alte und stillgelegte Hwangbo-Fabrik in Dongdaemun-gu gehörte nicht zu seinen täglichen Routen. Zudem war er auch immer wieder am überlegen ob der Typ, dessen Name er nicht einmal kannte, wirklich dort auftauchen würde. Es gab genug schräge Vögel, die kurzzeitig ihren Terminplan änderten – oder gar keinen hatten. Er gehörte gelegentlich selbst dazu. Als Sugizo jedoch schließlich in die entscheidende Straße einbog, in der das alte Fabrikgebäude stand, erkannte er seine Verabredung schon von Weitem. Die Straße lag etwas abgeschieden und war größtenteils verlassen, was den Anblick des einsam dastehenden Langhaarigen vor dem bereits bröckelnden Gebäude nur noch mysteriöser erscheinen ließ. Die Luft war schwül und stickig und Sugizo fragte sich, warum der Kerl bei solchen Temperaturen überhaupt diesen langen, schwarzen Mantel trug. Natürlich, es unterstrich sein geheimnisvolles und undurchschaubares Erscheinungsbild zusätzlich, aber er stellte es sich dennoch unbehaglich darin vor. „Pünktlich bist du ja schon mal“, begrüßte Atsushi den Anderen, als der ihn schließlich erreicht hatte. Er war kein Freund von langen Reden und so schob er eine Hand in die tiefe Seitentasche seines Mantels und schon im nächsten Moment kamen drei kleine Plastikbeutelchen zum Vorschein. Er hielt sie seiner Verabredung hin. Sugizo blinzelte als er die Ware unter die Nase gehalten bekam. In jedem der drei Beutel war ein weißes Pulver. Und er war sich gerade nicht sicher, um welche Drogen es sich hierbei handelte. Es gab mehrere Möglichkeiten und er wollte wissen was er zugesteckt bekam. Wenn er es schon verkaufen sollte. Aber den Anderen einfach fragen? Damit würde er seine Unwissenheit preis geben. Und er wollte keine Schwäche zeigen! Zudem dürfte es reichlich fragwürdig aussehen, wenn er sich erkundigte um was für Drogen es sich hier handelte, wenn er wenige Stunden zuvor noch behauptet hatte, er sei ein erfahrener Drogendealer. Sugizo's Gesicht jedoch verriet seine Gedanken und weil Atsushi keine Lust darauf hatte, dass der Andere aus Unwissenheit womöglich noch Scheiße baute, half er ihm auf die Sprünge. „Das ist Speed.“ Schlagartig wechselte Sugizo's Blick von den Plastikbeuteln in der fremden Hand zu Atsushi's Gesicht. Er war aufgeflogen. Fuck! Doch entgegen der Befürchtung des Blondgescheckten wand sich der Bemantelte nicht von ihm ab. Ganz im Gegenteil, er drängte ihn regelrecht dazu, die Ware endlich anzunehmen. Während Sugizo das tat und alle drei Speed-Portionen in seiner Hosentasche verschwinden ließ, erteilte Atsushi ihm seine Aufgabe. „Drei Mal Stoff - für drei Kunden. Den Ersten findest du gleich hier in der Nähe, bei der Cheongnyangni-Station. Gegenüber ist eine Bank mit einem schmalen Seitenweg an der linken Seite. Den gehst du durch bis du wieder links abbiegen musst. Dann bist du in so 'ner Art Sackgasse und da wartet er auf dich.“ Sugizo versuchte, so schnell wie möglich in Gedanken mitzuschreiben. „Der Zweite wartet in Seongdong-gu: Nähe der Sangwangsimni-Station, die Backsteinhauszeile auf der linken Seite, drei Seitenstraßen vom Strich entfernt.“ Die Adresse kannte Sugizo nur zu gut: Dort hatte er vor ein paar Tagen diesen Typen verprügelt bis der nur noch geröchelt hatte; und viel Geld hatte er auch nicht dabei gehabt. „Und Nummer Drei ist in Gangseo-gu, Hwagok-dong, kurz vor der östlichen Straßeneinmündung zum Woojangsan-Park.“ Der Dealer in spe starrte sein Gegenüber ungläubig an. „Ich soll nach Gangseo-gu? Das liegt ganz am anderen Ende der Stadt, man!“ „Ist das ein Problem für dich?“ Atsushi zeigte sich sichtlich unbeeindruckt von diesem kleinen Protest. Das merkte auch Sugizo und sein Blick senkte sich. „Nein, natürlich nicht...“, nuschelte er murrend. „Gut. Deine erste Verabredung hast du nämlich auch schon in einer halben Stunde. Cheongnyangni-Station. In Seongdong-gu musst du um elf sein und Gangseo-gu ist morgen früh um neun fällig. Wir treffen uns zwei Stunden später wieder hier. Machst du deine Sache gut, nehm' ich dich auch in Zukunft als Kurier.“ „Was kriege ich für die drei Touren?“, wollte Sugizo wissen. „Keinen Arschtritt, wenn du sauber arbeitest“, entgegnete Atsushi mit einem düsteren Grinsen auf den Lippen. Das war nicht die Antwort die er sich erhofft hatte und Sugizo musste ein missmutiges Knurren unterdrücken. Das hieß also, dass er für die nächsten vierzehn Stunden für nichts arbeitete. „Und danach?“, setzte er noch einmal an. „Kommt drauf an, wie gut ich mich auf dich verlassen kann.“ Atsushi schien sich seiner Sache äußerst sicher zu sein, sonst würde er nicht so mit ihm spielen. Das registrierte auch der Blondgescheckte und es machte ihn wütend. Als er sah wie sich der Schwarzhaarige gerade, ohne weitere Worte, von ihm abwenden wollte, fiel ihm doch noch etwas Wichtiges ein. „Ey...! Wie heißt du überhaupt?“ Der Gefragte hielt mitten in seiner Bewegung inne, wand seinen Kopf zurück zu Sugizo und fixierte ihn mit finsteren Blick. „Atsushi.“ Damit verschwand er binnen weniger Momente auch schon hinter der nächsten Ecke und Sugizo hätte nicht geglaubt, eine Person in solch einer menschenleeren Gegend wie Dieser so schnell aus den Augen verlieren zu können. Sceana hatte im späteren Verlauf des Tages schließlich doch noch aus dem Bett gefunden und sich hinauf in die Wohnung von Pata und seinem Onkel begeben. - Ganz im Gegenteil zu hide: Der war schon wieder eingeschlafen, kaum dass Sceana die warmen Laken verlassen hatte. Und so wie es aussah, würde hide bis in die Nacht hinein auch nichts anderes tun – womöglich würde er erst am nächsten Morgen zurück zu den Lebenden finden, das wusste man bei ihm nie so genau. Sceana jedenfalls lag in Pata's Zimmer ausgestreckt mit dem Rücken auf dem Boden, nachdem er das erste Mal an diesem Tag etwas zu Essen bekommen hatte – aufgewärmtes Curry vom Vortag. Pata saß auf seinem Bett und zog seiner Gitarre neue Saiten auf, während im Hintergrund „Zeroes“ von David Bowie dudelte. Tusk war längst schon wieder gegangen und Sceana hatte ihn nur durch Zufall noch kurz beim rothaarigen Gitarristen antreffen können. Der Banderfahrenste hatte noch einiges an Organisatorischem zu regeln, unter anderem ihr bevorstehendes Treffen mit dem Typen von Inroad Records. Und während Bowie in mäßiger Lautstärke darüber philosophierte, wie die zahnlose Vergangenheit sich erkundigte wie es einem erging, erkundeten Sceana's Augen die hellgestrichene Zimmerdecke. Wenn er seine Augäpfel weit nach oben drehte, konnte er von dieser Position aus sogar Pata's Kopf erkennen. „Seit wann kennst du hide eigentlich?“ Pata blickte nicht von seiner Arbeit auf. „Schon lange.“ Das war jetzt nicht ganz die Antwort, die Sceana sich erhofft hatte. Etwas genauer hätte die Information schon ausfallen können. Doch plötzlich kamen von Pata noch ein paar nachträgliche Worte. „Er ist damals mit seiner Mutter von Gangseo-gu hierher gezogen.“ Seine Finger widmeten sich der nächsten Saite, die ausgewechselt werden musste. Mit seiner Mutter.... Von Hiroshi war keine Rede gewesen, vielleicht war hide's Mutter zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal schwanger gewesen. - Was Sceana auf die nächste Frage brachte. „Und hide's Vater?“ Pata schien kurz zu zögern bevor er antwortete: „Musst du hide fragen.“ Aha. Also war das offensichtlich ein Thema, über das nicht so gerne geredet wurde. Zumindest nicht von Pata. Ohne darüber nachzudenken sprudelte die nächste Frage einfach aus seinem Mund. „Haben hide und Hiroshi den gleichen Vater?“ Nun hielt Pata doch noch in seinem Tun inne, hob den Kopf und schaute den auf dem Boden Liegenden leicht irritiert an. „Ja, wieso?“ „Nur so“, wich Sceana aus als ihm im Nachhinein klar wurde, wie ungeschickt er seine Frage gestellt hatte. Wieso redete er eigentlich um den heißen Brei herum, nur weil er was über hide wissen wollte? - Vermutlich weil er, trotz Niederlegung der Kriegswaffen seit Beendigung der Fehde zwischen X und Sister's no Future, immernoch einen heiden Respekt vor Pata hatte. Und er schnell begriffen hatte, dass Pata und hide eine sehr innige Brüderschaft verband. Der Junge mit dem lilablauen Stirnband drehte sich vom Rücken ein Mal halb um sich selbst und landete auf seinem Bauch, immernoch auf dem Boden vor Pata platziert. „Wie hast du ihn kennen gelernt?“ Diese Frage klang wie von einem naiven Kind an seine Eltern gerichtet. Ebenso einen naiven Eindruck machten in diesem Moment auch seine wachen Augen, die nun auf Pata gerichtet waren. Auf Pata's Gesicht, welches schon längst wieder den Wirbeln und dem Hals seiner Gitarre zugewand war, tauchte ein flüchtiges Lächeln auf. „Ließ sich nicht vermeiden. hide fiel auf.“ Kurze Pause. „So einen schrägen Vogel gab's in diesem Haus vorher nicht.“ Sceana konnte sich vorstellen was Pata meinte. „Und wie lange wohnst du schon hier?“ „Schon lange.“ Irgendwie hatte Sceana gerade ein Déjà vu. „Seit ich in Südkorea bin.“ Mit fachmännischem Blick und geübtem Gehör kontrollierte Pata, ob die hohe E-Saite auch noch gewechselt werden musste. „Dann kanntet ihr euch auch schon vor X?“ Der Jüngere winkelte seine Beine an, überschlug sie rücklings und ließ sie, über dem Po schwebend, leicht wippen. „Mmh“, machte Pata bestätigend. „Er hat irgendwann Wind davon bekommen, was ich für Musik hab. Seitdem kam er fast täglich zu mir hoch um Musik zu hören.“ Irgendwie klang das hohe E doch leicht schnarrend. Egal wieviel er am Wirbel herum drehte. Also doch auswechseln. „Und X?“ Sceana hatte sein Gesicht inzwischen in seine Hände gestützt. Der Ältere hob abermals kurz den Kopf, warf seinem Zuhörer einen prüfenden Blick zu. Dann war die Saite wieder wichtiger. „Du kannst einem echt Löcher in den Bauch fragen“, brummte er. Und zuerst sah es so aus, als sollte der neugierige Bassist diesmal keine Antwort erhalten, denn Pata ließ sich mit Selbiger erst einmal Zeit. Schließlich sprach er aber doch: „Ich brauchte Geld und sollte für Yoshiki 'nen Job erledigen. Es war 'ne einmalige Sache. Dachte ich.“ Er nahm eine neue hohe E-Saite aus der bereits aufgerissenen Verpackung. „Aber dann bin ich bei X hängen geblieben. hide hat davon Wind bekommen und wollte mitmachen. Der is' mir die erste Zeit nachgerannt wie ein Köter...“ Die letzten Worte klangen leicht abwesend und in Gedanken versunken. Das entging auch Sceana nicht. Und er hatte erhebliche Schwierigkeiten damit, sich das Bild vorzustellen. hide als jemand, der anderen hinterher rannte... Er kannte hide immer nur als jemanden, der eigenständig dachte und handelte und stets alles hinterfragte. Jemand, der eigentlich viel mehr dafür geschaffen war eine Führungsposition einzunehmen, als sich führen zu lassen. Die Position des ergebenen Hündchens passte da nicht rein..........und plötzlich tauchten in Sceana's Kopf Bilder auf, die mit dem eigentlichem Thema nicht mehr viel gemein hatten. 'Hündchen' und 'devot' waren die Schlüsselwörter und das Schlimme daran war, er konnte gegen diese Bilder in seinem Kopf gar nichts tun! Ein breites, albernes Grinsen wuchs auf seinem Gesicht heran und diese völlig abstrakten Bilder vor seinem inneren Auge bersteten in einem lauten Gelächter, als hätte man ihm soeben den Witz des Jahres serviert. Pata, die dünne Saite noch mitten im einspannen, hielt in seinen Bewegungen inne und starrte seinen Gast mit völligem Unverständnis an. 'Doesn't matter where you try to go (doesn't matter, doesn't matter). Doesn't matter who we really are (doesn't matter, doesn't matter).' Am darauffolgenden Abend, gut vierundzwanzig Stunden später, betraten Seth et Holth die Cocktailbar. Und obwohl der Abend erst begonnen hatte, war der Laden schon gut besucht. Die vier Jungs bahnten sich einen Weg durch das Getümmel und ergatterten ein freies Plätzchen an einem der etwas abgelegenen Stehtische. Diese waren, passend zur allgemeinen Strand-Deko der Bar, mit grünen plastikplahnenähnlichen Gebilden 'überdacht' (ein Palmenblätterdach mimend), an den Seiten von braunen Stämmen gehalten. Hier waren sie nun also verabredet, mit jemanden von Inroad Records. hide hatte sich über die gewählte Location zwar schon von Anfang an gewundert, wartete aber erst einmal ab. Tusk bestellte für alle Vier Cocktails – achtete aber pingeligst genau darauf, möglichst Geringprozentiges zu erhalten. Zum Einen hatte hide seinen letzten Kater gerade erst auskuriert und er wollte ihm nicht gleich schon wieder den Nächsten auf den Hals hetzen, und zum Anderen sollte das hier eigentlich ein geschäftliches Treffen werden. In solchen Momenten zählte ein klarer Verstand – kein Vernebelter. Obwohl er sich jetzt schon vornahm, den 'Long Evening' irgendwann einmal zu probieren. Gerade als er mit den vier vollen Gläsern zurück zu ihrem Tisch kam, gesellte sich im selben Augenblick noch eine weitere Person hinzu: nicht sonderlich groß, schlank, die kurzen Haare zurückgekämmt, die obersten Knöpfe des Hemds geöffnet (ohne irgendwie anstößig zu wirken). Tusk erkannte ihn sofort und er musste sich bemühen, zwei der Cocktails beim Abstellen nicht zu verschütten, so sehr stieg sein Pegel der Aufregung mit einem Mal in die Höhe. „Tasuka kun?“ Der Fremde schaute den Dunkelhaarigen interessiert an. Tusk setzte sofort zu einer kleinen Verbeugung an, kaum dass sein Name gefallen war. „Min Ho ssi!“ Seine Augen klebten fortan an dieser Person. „Schön, dass ihr euch so kurzfristig Zeit nehmen konntet“, freute sich Min Ho und seine Blicke streiften ein Mal jeden in der Runde. Als das fremde Augenpaar Pata erreicht hatte, deutete dieser schließlich auch eine kleine Verbeugung an. Nur ganz kurz und flüchtig; er kannte diesen Typen immerhin nicht und er ging bei fremden Menschen anfänglich immer auf Distanz – egal ob sie von einer Plattenfirma kamen oder nicht. Sceana, völlig fasziniert von dieser neuen Situation, tat es Pata gleich. Seine zögerlichen Reaktionen basierten jedoch viel mehr auf geistige Abwesenheit statt auf Vorsicht dem Anderen gegenüber. Der einzige in der Runde, der sich nicht verbeugte, war hide. Mit klaren, reservierten Augen und einem hellwachen Kopf beobachtete er Min Ho genauestens. Er wusste nicht was es war, aber irgendwas an dieser Person machte ihn misstrauisch. Und seit wann gebärdete sich Tusk eigentlich so devot? Das tat er doch sonst nicht... Nur weil dieser Kasper bei einem Label arbeitete und Interesse an ihnen zeigte? „Kann ich ihnen was zu trinken bringen?“, wollte Tusk wissen, während seine aufmerksamen Augen kaum von Min Ho's Seite weichen wollten. „Ja, gerne! Ich nehme einen Mambo.“ Und kaum hatte der Gefragte seine Antwort kund getan, war Tusk auch schon in Richtung Theke abgerauscht. Dem Zottelhaarigen schlug das Herz auf Hundertachtzig. Er konnte es immer noch nicht fassen, es war einfach zu schön um wahr zu sein! Das erste Label hatte bei ihnen angeklopft, stand sprichwörtlich in der Tür – es war nur noch eine Frage der Zeit, wann Seth et Holth den Durchbruch erlangen würden! Da war er sich ganz sicher! Die harte Arbeit sollte sich gelohnt haben. Den Hohn und Spott, dem man als Außenseiter ausgesetzt war, war es wehrt gewesen. Seine nachträgliche Bestellung gab er daher auch mit ziemlich undeutlich genuschelter Stimme auf, sodass das Barmädchen kurz zögerte, bevor sie sich an die Zubereitung des gewünschten Cocktails machte (nochmal nachzufragen traute sie sich ganz offensichtlich nicht). Mit seinen Gedanken war Tusk schon längst auf Wolke Sieben.... Sie waren nur noch wenige Schritte von ihrem Ziel, als Band richtig wahr und vor allem ernst genommen zu werden, entfernt. Das spürte er...! Bald würden die Bühnen, auf denen sie spielten, wachsen, würde sich ihr Songrepertoire, welches sie vortrugen, erweitern... - Und sie würden ihre eigene Scheibe in Händen halten können! Ihre eigene Scheibe! Diese Vorstellung ergab ein solch surreales Bild, dass Tusk's inneres Auge sich daran nicht satt sehen konnte. Das Mädchen, das mit ihrem zierlichen Körperbau hinter der Bar fast schon deplatziert wirkte, musste den Jungen mit den Zottelhaaren schon anstupsen damit dieser registrierte, dass sein bestellter Cocktail schon längst vor ihm auf der Theke bereit stand. Aus seinen Tagträumen erwachend nahm Tusk das Glas und trabte damit zurück, durch das stetig zunehmende Getümmel an Leuten, zu seinen Jungs. Min Ho nahm das Glas mit der leuchtend orangefarbenen Flüssigkeit sofort entgegen, als es ihm von Tusk gereicht wurde. „Danke, Tasuka kun.“ Sogleich nahm er den ersten, großen, kostenden Schluck, leckte sich daraufhin flüchtig über die Lippen. Es schien zu schmecken. „Also Jungs, ich habe euch gesehen! Und wie Tasuka kun es euch bestimmt schon berichtet hat, bin ich begeistert von euch und eurer Musik!“, begann er euphorisch zu schwärmen. Auf Tusk's Gesicht zauberte dieses Lob ein geschmeicheltes Lächeln; mit Sceana passierte das Gleiche. „Ihr habt echtes Potential und mit ein bisschen Hilfe von mir werdet ihr noch besser sein!“ Seine Augen waren stets darauf bedacht, jedem der vier Jungs möglichst gleich viel Aufmerksamkeit zu schenken. „Sowas wie euch habe ich nämlich schon lange gesucht. Wisst ihr, Bands gibt es in dieser Stadt viele, junge Bands, die den gleichen Erfolg suchen wie ihr. Hartnäckige Jungs, die sich den Arsch aufreißen für ein paar tausend Won pro Auftritt.“ Er nahm erneut einen Schluck. „Aber ihr, ihr seid etwas Besonderes. Das habe ich sofort gemerkt, als ich euch im 'Mudcrutch' spielen gesehen habe. Ihr habt richtig Power!“ Jegliche Hinterfragungen, Zweifel oder Misstrauen, die Tusk unter normalen Umständen getätigt hätte, waren passé. Nie hätte er sich träumen lassen, dass sie sich schon so früh erlauben konnten, nach den Sternen zu greifen. Doch da waren sie auf einmal, groß und klar und deutlich....man musste nur noch die Hand nach ihnen ausstrecken... Min Ho lehnte sich lässig mit den Unterarmen auf die Tischplatte. „Wenn wir es richtig angehen – und bei Inroad Records wird alles richtig angegangen – können wir schon bald eure erste Single auf den Markt bringen!“ Wieder sah er von Einem zum Anderen. „Wie würde euch das gefallen?“ „Na super natürlich!“, kam es von Sceana ohne zu zögern und seine Augen leuchteten inzwischen genauso euphorisch wie Tusk's. Auch Pata konnte sich bei der Vorstellung ein Lächeln nicht mehr verkneifen. Er dachte an seine eigenen Platten und wie es wäre, im Plattenladen plötzlich zwischen den Scheiben seiner Idole eine Scheibe der eigenen Band zu finden. Nur hide zeigte keinerlei Regung. „Ich sichere euch auf alle Fälle drei Singles zu! Wenn sich die ersten beiden gut verkaufen, können wir auch schon bedenkenlos ein ganzes Album aufnehmen. Aber bei euch hab ich gar keine Zweifel, dass sich die Scheiben nicht gut verkaufen. Ihr seid super und das werden eure Fans genauso sehen!“ Min Ho lächelte jedem einzelnd optimistisch zu. „Ich bring euch groß raus, das verspreche ich euch!“ Aus seiner Hemdtasche zog er ein sauber gefaltetes Blatt Papier hervor. „Den Vertrag habe ich auch schon dabei.“ Tusk's Herz pochte wie verrückt. Es tat fast schon weh. Der Mann von Inroad Records registrierte die Blicke seiner vier zukünftigen Schützlinge, die allesamt auf das Papier gerichtet waren, welches er mit Bedacht genau in die Mitte des Tisches legte. „Ihr werdet ein großes Stück vom Kuchen abbekommen, nicht nur die Krümel.“ Er verlieh seiner Stimme Nachdruck. „Also, seid ihr dabei?“ Tusk war fest davon überzeugt, vor Glück sterben zu müssen. Sein Herz machte gerade einen Luftsprung. Seine Lippen öffneten sich. „Nein.“ Eine einzige Stimme. Nur ein einziges Wort. Alle starrten hide an. Kapitel 8: chimpira - little prick ---------------------------------- Alle Augen waren auf hide gerichtet. Nicht nur seine Jungs, auch Min Ho starrte den Blonden ungläubig und verwirrt an. Keiner sagte ein Wort. Bis Tusk sich aus seiner Starre löste und hide grob am Arm packte. „Wir sind gleich wieder da“, verkündete er und sein Blick, an den Mitarbeiter von Inroad Records gerichtet, wirkte schon fast entschuldigend. Ohne weitere Diskussionen zog er den älteren Freund aus der Cocktailbar hinaus auf die Straße. Mit ernster Mine stellte er ihn dort zur Rede. „Sag mal, was soll das? Du kannst doch gar nicht mehr besoffen sein und getrunken hast du hier auch noch nichts.“ Und obwohl sein Gesprächspartner gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, fiel er ihm sogleich ins noch nicht einmal ausgesprochene Wort. „Das hier ist kein Spiel! Das ist unsere Chance! Und du bist gerade dabei sie kaputt zu machen! Warum?“ hide sah den aufgebrachten Jungen ruhig an. „Ich trau ihm nicht. Ich hab ein ungutes Gefühl.“ Tusk fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. „Das ist alles??“, keifte er aufgebracht und seine Stimme driftete fast in Hysterie über. „Weil dir seine Nase nicht passt, willst du uns die Chance versauen??“ „Hör zu, wenn ich etwas sage“, erwiderte hide auf diesen Ausbruch, erstaunlicherweise immernoch in einer sehr gelassenen Tonlage. „Seine Nase geht mir am Arsch vorbei und du müsstest mich eigentlich soweit kennen um zu wissen, dass ich Menschen nicht aus einer Laune heraus beurteile. Aber der Kerl wird uns schmieren, das spüre ich.“ Das erschreckende an diesen Worten war, dass sie absolut ernst gemeint zu sein schienen und es nicht den geringsten Hinweis auf einen hide-typischen Scherz gab. Und genau das war es auch, was Tusk etwas stutzig werden ließ. Obwohl er es andererseits auch nicht wahr haben wollte. Denn wer wollte auch schon freiwillig seinen eigenen Traum wie eine Seifenblase zerplatzen sehen? Etwas unschlüssig stand er deswegen auch erst mal da, musterte hide, als suche er doch noch irgendwo einen winzigen Hinweis dafür, dass er es nicht so meinte wie er es sagte. Doch er sollte nichts finden. hide spürte das. „Tusk....ich will mit Seth et Holth genauso weiter kommen wie du. Wie wir alle. Das weißt du.“ Seine Stimme wurde weicher wie sie es nur wurde, wenn er vertraut mit guten Freunden sprach. Er trat einen halben Schritt auf ihn zu, stand nun ziemlich dicht vor ihm. Ihre Nasenspitzen waren weniger als eine Handlänge voneinander entfernt. „Aber ich will keinen Knebelvertrag mit einer Firma eingehen, die uns nur ausnimmt und kurz darauf eiskalt wieder fallen lässt.“ Tusk's Blick wurde bei diesen Worten schmerzhaft. Man konnte an seinen Augen ablesen, was sich in seinem Kopf gerade abspielte. Und man sah in ihnen sogar noch den kleinen, verzweifelten Versuch, das einstürzende Kartenhaus vor dem kompletten Zusammenbruch zu bewahren. Wenigstens das Grundgerüst zu retten. Doch es misslang. Er spürte hide's Hand auf seiner Schulter. „Wir schaffen es, wir kriegen unsere Chance. Aber nicht mit ihm.“ Tusk senkte den Kopf. Die letzte Karte war gefallen. Neun Uhr morgens. Wer bestellte sich für neun Uhr morgens Drogen? Diese Frage schoss Sugizo schon mindestens zum dritten Mal durch den Kopf, während er mitten im Berufsverkehr mit dem Bus nach Gangseo-gu fuhr. Es war warm und stickig und der Junge mit den unsauber geschnittenen blondbraunen Haarfransen verfluchte diesen Auftrag jetzt schon. Wegen einer verdammten Bestellung quer durch diese gottverdammte Stadt fahren – und dann auch noch in solch ein Loch wie Gangseo-gu! Er kannte diesen Teil der Stadt kaum, aber er mochte ihn jetzt schon nicht. Das Babygeschrei aus der hintersten Reihe ging ihm tierisch auf die Nerven. Was hatte um die Uhrzeit ein Baby im Bus zu suchen?! - Und was war die Frau neben ihm so nervös, dass sie sich immer wieder nicht vorhandene Haare aus dem Gesicht wischte und ihn dabei ständig mit dem Ellenbogen anstieß? Sugizo war froh als er endlich aussteigen konnte. Die letzten Häuserblocks bis zum Woojangsan-Park ging er zu Fuß. Den Weg hatte er sich vorher auf der Karte angekuckt. Er hoffte nur, dass der Junkie auch pünktlich war; Sugizo hatte absolut keinen Bock in dieser Drecksgegend auch nur eine Minute länger als notwendig zu warten. Missmutig kickte er eine leere Cola-Dose vor sich her. Als er das nächste Mal seinen Kopf hob, konnte er den Park schon sehen. Jetzt hieß es, nichts wie hin und so schnell wie möglich wieder weg. Mit wachem Blick scannten seine Augen die nähere Umgebung ab. Um diese Zeit hielten sich hier nicht viele Leute auf. Für seinen Geschmack sogar schon zu wenige, denn er konnte niemanden ausmachen, der wie ein wartender Junkie aussah. Na super...sollte der Typ ihn etwa versetzt haben? Seine eh schon angekratzte Laune verschlechterte sich augenblicklich noch mehr. Dennoch ging er weiter, bog mit gedrosseltem Tempo in den östlichen Eingang des Parks ein. - Da, der könnte es sein! Ein unruhig wirkender Kerl, die Kapuze seines Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen, immer wieder wenige Meter auf und ab gehend. Sugizo steuerte direkt auf ihn zu. Der Kapuzentyp registrierte ihn, hielt in seinen Bewegungen inne. Las dessen Augen. Und identifizierte ihn schnell als das was er war. Das Geld hatte er schon in seiner Hand. Als Sugizo erkannte, dass sein Gegenüber wusste wer er war, holte er unauffällig das kleine Plastiktütchen hervor. Mit fließenden Bewegungen zog der Kapuzenmann seine zur Faust geballte Hand aus der Kängurutasche seines Sweaters und tauschte schnell und routiniert seine Geldscheine gegen die ersehnte Droge ein. Sugizo ließ das Bündel Geld rasch in seiner eigenen Tasche verschwinden. Sein Blick haftete jedoch noch weiter auf den fremden Kerl und schon war sein Mund wieder schneller als sein Verstand. „Is' das jetzt dein Frühstück?“ Er meinte die Drogen. Der Kapuzenmann sah ihn verständnislos an. Scheinbar begriff er nicht, worauf genau sich die Frage bezog. Sugizo machte eine knappe, nickende Kopfbewegung. „Das Speed.“ Der Fremde fing an zu lachen. Dabei warf er seinen Kopf spontan so tief in den Nacken, dass die Kapuze drohte ihm vom Kopf zu rutschen. „Du bist echt 'n Neuling, hab ich sofort gesehen!“ War ja schön, dass der Andere so gute Laune hatte – aber was zum Teufel meinte er damit? Sugizo verstand kein Wort. Das verrieten auch seine Augen. Mit der freien Hand wurde die schützende Kopfbedeckung wieder zurecht gerückt. „Du hast nicht mal 'ne Ahnung was du überhaupt vertickst, hä?“ Er grinste breit. „Hast echt geglaubt, das sei Speed? Wer hat dir denn den Müll erzählt?“ Ja, definitiv. Dieser junge Herr amüsierte sich gerade prächtig. Und zwar auf seine Kosten. Und so etwas hasste Sugizo wie die Pest! „Atsushi!“, zischte er, einen Tick zu laut als es in dieser Situation angebracht gewesen wäre. Der Kapuzenmann gluckste auf. „Ja...wahrscheinlich, damit du den Stoff nicht selbst nimmst und ihn brav weitergibst! Das ist 'Fall-in', man! Dagegen ist Speed 'n Witz...!“ Der Typ machte sich über ihn lustig. Und das konnte er nicht ab....das konnte er nicht ab......! Blitzartig packte er sein Gegenüber am Kragen und starrte ihn hasserfüllt an. Was konnte er dafür, dass Atsushi ihm nicht die richtigen Informationen gegeben hatte? Was konnte er dafür, dass er noch nie etwas von diesem Stoff gehört hatte, von diesem 'Fall-in'? Der Junkie jedoch zeigte sich in keinster Weise irgendwie beeindruckt von diesem Übergriff. Ganz im Gegenteil. „Kleiner, Atsushi wird überhaupt nicht davon begeistert sein, wenn seine Kunden vom eigenen Kurier verprügelt werden...!“ „Mir scheißegal! Und nenn' mich nicht 'Kleiner'!“, fauchte er mit bedrohlichem Ton, während er dem Gesicht des Anderen noch näher kam. Ein schnippisches Grinsen formte sich auf Kapuzenmann's Lippen. „Das wird dir gar nicht mehr so egal sein, wenn er dir die Kehle aufschlitzt...!“ Sugizo hielt inne. Ihm fiel wieder ein, wie er bei Atsushi's Anblick im Eiscafé an die Yakuza denken musste. War er womöglich tatsächlich einer von ihnen...? Wenn schon solche Drohungen wie Kehle aufschlitzen die Runde machten? - Ach verdammt! Er stieß das Großmaul mit Wucht von sich und wand sich rasch ab, stapfte mit großen Schritten wieder davon. Das Geld hatte er, also was sollte er sich noch länger mit diesem Typen rumärgern? Eben dieser Typ torkelte, von Sugizo's Stoß getrieben, konnte sich aber noch fangen um einen Sturz zu verhindern. Er sah dem Anfänger hinterher. „So unprofessionell wie du bist, nimmt Atsushi dich nie!“, brüllte er ihm noch nach. Sugizo versuchte, diese Worte zu ignorieren. Sie gar nicht erst bis zu seinem Verstand vordringen zu lassen. Er wollte nur noch weg von hier, von diesem Kerl, diesem Park, diesem Ort! Mit immer größer werdenden Schritten überquerte er die Straße, nur um sich kurz darauf in den anliegenden Seitenstraßen zu verlieren. Er blickte sich orientierungslos um, ging den selben Weg zurück, bog ab und fand sich abermals in einer völlig anderen Gegend wieder. Und das nicht nur ein Mal. Egal wie oft er irgendwo abbog, um irgendeine Ecke ging oder irgendeine Straße überquerte – er fand nicht mehr zurück. Er hatte sich binnen kürzester Zeit im westlichsten Teil Seoul's verlaufen. Sugizo schnaufte, fauchte, seufzte. Vergrub seine Hände immer tiefer in den Hosentaschen und strafte jedes Gebäude, an dem er vorbei kam, mit Blicken, als seien sie Schuld an seiner akuten Situation. Gangseo-gu. Er hasste es. Seine Schritte wurden langsamer und schließlich setzte er sich mit dem Rücken gegen eine alte Hauswand, die Beine angewinkelt und weit gespreizt. Die Sonne brannte, trotz der noch relativ frühen Tageszeit. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Kein einziger Luftzug verschaffte ihm Abkühlung. Das Viertel war nach wie vor nicht sonderlich belebt. Kein Wunder. In solch einer beschissenen Gegend.... Sugizo lehnte seinen Kopf nach hinten gegen die harte Steinmauer und blinzelte mit halb geschlossenen Augen gegen die Sonne. Was für ein verfucktes Leben war das nur... Hätte er auf der Straße eine geladene Knarre gefunden, er hätte sie sich unweigerlich gegriffen und den Lauf in seinen Mund platziert, abgedrückt. Er war ein streunender Hund geworden. Heimatlos, freundelos. Ohne jegliche Orientierung. So wie er sich hier in Gangseo-gu verlaufen hatte, so hatte er sich auch im Leben verlaufen. Seine Augenlider schlossen sich gänzlich. Wo waren die alten Zeiten nur geblieben? J, Inoran....Kyo. Sein großer Bruder, sein kleiner Bruder und sein Freund. Ja, sie waren für ihn wie Brüder gewesen.... J, der immer für alles eine Lösung gehabt hatte. Der immer wusste, wo es langging. Egal wie verstrickt die Situation war. J, der einem immer eine Schulter zum anlehnen geboten hatte, wenn man selbst nicht mehr konnte. J, der einem Schutz gab und einen Kraft tanken ließ. Dieser große Bruder war einfach verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich und unerwartet. Er hatte nie herausgefunden, was mit ihm passiert war. Von einem Tag auf den anderen wusste plötzlich niemand mehr, wo er steckte. Sein Schutz war weg. Inoran, sein drolliger, verpennter und verplanter kleiner Wuschelkopf mit den treuesten Augen, die er je gesehen hatte. Ino, sein kleiner Bruder dem er regelmäßig das nicht vorhandene Selbstvertrauen einzutrichtern versucht hatte. Ino, mit einer abartigen Passion für Orangensaft. Ino, den er mit der gleichen Fürsorge beschützt hatte, wie J ihn beschützt hatte. Ino, der irgendwann das Land verlassen musste und in ein fremdes Land – Japan – verfrachtet wurde. Ino, den er niemals wieder sehen würde weil er wusste, dass etwas Schlimmes mit ihm passiert war. Sein Schützling war weg. Kyo, sein guter Kumpel. Kyo, der treuherzige Junge, der um keinen Preis der Welt jemals seine Freunde verraten hätte. Kyo, der sich hoffnungslos in den Todfeind verliebt hatte. Kyo, den zum Schluss ein zunehmender Schleier aus Melancholie und Einsamkeit umgab, bis er ihn endgültig verschluckt zu haben schien. Denn auch Kyo blieb eines Tages verschwunden, ließ sich nicht mehr blicken. Sein Freund war weg. Er öffnete seine Augen. Noch immer schien die Sonne erbarmungslos auf ihn herab. Wofür lebte er überhaupt noch? Er hatte alles und jeden verloren, der ihm wichtig war. Sein müder Blick blinzelte zur Fahrbahn, die direkt vor ihm lag. Auf ihr fuhr nur selten mal ein Auto vorbei. Nicht einmal überfahren lassen hätte man sich hier können. Was für ein scheiß Viertel... Und dennoch machte er keinerlei Anstalten aufzustehen um diesen innerlich verfluchten Ort zu verlassen. Der Himmel zeigte sein schönstes Blau, doch Sugizo's Herz war tiefschwarz. Warum gab er sich überhaupt noch Mühe zu überleben? Er sollte hier sitzen bleiben und darauf warten, dass sein schwarzes Herz aufhörte zu schlagen. Er hatte alles verloren. Seine Familie hasste ihn vom Tag seiner Geburt an. Er hatte kein zu Hause. Keinen Ort, an dem er willkommen war. An dem man ihn wollte. Warum existierte er noch....? Die Welt brauchte keinen Sugizo.....das zeigte sie ihm doch jeden Tag auf's Neue. Er wand seinen Kopf zur Seite. Eine weggeworfene Getränkedose. Leer. Fast solch eine, die er vorhin noch vor sich her gekickt hatte. Seine Augen musterten das dünnwandige Blechgefäß lange. Weggeworfen, weil man es nicht mehr brauchte. Benutzt und verlassen. Versehen mit Kratzern und Beulen. Spuren der Vergangenheit. So lag sie nun da, auf dem staubigen Gehweg. Die Aluminiumhaut glänzte im Sonnenlicht. Ein seichter Windhauch strich durch Sugizo's Haar. Verwundertes Blinzeln. Sein Blick wand sich der Dose wieder ab, ohne einen anderen speziellen Punkt zu fixieren. Eine Brise der Erfrischung? Sollte es doch noch einen Funken der Hoffnung für ihn geben....? Seine müden Augenlider trafen lau aufeinander. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)