Dear Life von RedSky (Fortsetzung zu "Dear Loser") ================================================================================ Kapitel 4: Debut ---------------- In regelmäßigen Abständen verschwand der pinkfarbene und nach Kirschen schmeckende Lolli zwischen den Lippen, wurde sekundenlang von der Zunge verwöhnt, schließlich wieder für wenige Augenblicke freigelassen, nur um kurz darauf wieder in der Schnute der Naschkatze zu verschwinden. Die schlanken, hellen Finger drehten den dünnen Stiel gleichmäßig und doch voller Abwesenheit. „Und plötzlich war er einfach weg!“ Sceana saß auf dem Fußboden in Pata's Zimmer (in letzter Zeit bevorzugte er Fußböden als Sitzmöglichkeit) und erzählte ihm gerade von seinem Erlebnis mit dem Schlägertypen, dem er vor wenigen Stunden begegnet war. „Und ich hab nix gemacht, hab keinen Ton von mir gegeben, ich schwör's!“ Er wusste nicht warum, aber irgendwie ließ ihm dieser Typ keine Ruhe mehr, seit er dessen auffälliges Verhalten beobachtet hatte. Pata, sich und seinem Gast gerade frisch aufgebrühten Tee einschenkend, hörte aufmerksam zu. „Und das war wo?“ „Da in der Nähe von der Sangwangsimni Station“, nuschelte Sceana zwischen den Schneidezähnen hindurch, die gerade den oberen Bereich des Lollistiels festhielten. Seine Hände griffen nach dem Becher, führten ihn zu seinen Lippen und hätte fast den Lolli aus seinem Mund in den Tee plumpsen lassen, völlig vergessen habend, dass die Süßigkeit noch zwischen Zunge und Gaumen platziert war. Gerade noch rechtzeitig griff er nach dem Stiel und nahm den Lolli aus dem Mund. Pata musste unwillkürlich schmunzeln, als er diese Szene beobachtete. Es erinnerte ihn ungemein an seinen besten Freund hide, der von Zeit zu Zeit ähnliche Missgeschicke heraufbeschwörte. „Hauptsache er hat dich in Ruhe gelassen“, lenkte Pata wieder auf ihr Gespräch zurück, bevor er selbst zu seinem Becher griff. „Na, ich bin kein Baby mehr“, protestierte Sceana, der sich von dieser Bemerkung leicht bevormundet fühlte. „Ich war auch mal in 'ner Bande...!“ Augenzwinkern. „Trotzdem frag ich mich, wieso der mich gesehen hat....“ „Deine Haare vielleicht? Die leuchten ja ziemlich... Vielleicht hast'e damit seine Aufmerksamkeit auf dich gezogen.“ Es klang leicht seltsam, diese Bemerkung aus Pata's Mund zu hören, hatte er doch selbst knallrot gefärbte Haare, sogar fast den gleichen Ton wie der Jüngere. Nur war die Farbe aus Pata's Haaren schon wieder leicht ausgewaschen und das 'Leuchten', das Sceana noch vorweisen konnte, war bei ihm nur ein matter Farbfilm. „Kein Plan....“ Sceana nippte etwas abwesend an seinem heißen Getränk. Im nächsten Augenblick riss jedoch die schrille Türklingel die beiden aus ihren Gedanken. Pata begab sich zur Tür und noch bevor er wieder zurück in sein eigenes Zimmer kam, hatte hide sich im Flur schon längst an ihm vorbei geschlängelt und betrat Selbiges triumphierend jauchzend, in den Händen drei weiße Tüten mit gebratenem Hähnchen. „Mittagspause!“, krähte er und pflanzte sich noch in voller Montur auf den Boden. „Oder Frühstück, wie ihr wollt.“ Mit einem ebenfalls freudigem Lautausstoß stellte Sceana seinen Teebecher beiseite und griff nach einer der eingepackten Leckereien. Als Letzter erreichte Pata sein Zimmer mit dem typisch leicht zerknirschtem Ausdruck, der jedes Mal sein Gesicht zierte, wenn hide ihn zu Hause so überrumpelte und ihm nicht mal Zeit für irgendeine Reaktion gab. Daran konnte man sich einfach nicht gewöhnen, davon war Pata überzeugt. Und dennoch ließ er es jedes Mal auf's Neue zu, hatte seinem Freund noch kein einziges Mal den Zutritt verwehrt. Der Geruch, der sich binnen weniger Sekunden in seinen vier Wänden ausgebreitet hatte, verriet ihm schon den Inhalt der Tütchen, noch bevor hide und Sceana Selbigen ausgewickelt hatten. „Hast wieder den Hühneronkel überfallen?“ Pata's flapsige Bezeichnung für einen von hide's Lieblings-Imbissläden. „Klar! Einer muss es ja machen!“, lautete die Antwort, die schon wie selbstverständlich aus hide's Mund purzelte, bevor er im nächsten Augenblick seine Zähne in das gegrillte Hähnchenfleisch schlug. Mit vollem Mund kauend schlug er anschließend mit der flachen Hand ein paar Mal auf den Boden neben sich, fast so als wolle er einen Hund dazu auffordern, sich neben ihn zu setzen. Nur dass diese Aufforderung in diesem Falle Pata galt – und der kam der Aufforderung sogar kommentarlos nach. Sceana beobachtete, wie sich die beiden Langzeitfreunde auch ohne Worte miteinander verstanden und er spürte fast schon soetwas Ähnliches wie Neid dabei. Wünschte er sich doch heimlich, auch diesen Status bei hide zu haben – oder zumindest einen Vergleichbaren. In seinem jungen Herzen gab er die Hoffnung nicht auf, hide einmal ähnlich nah sein zu können wie Pata es war. Später am Nachmittag fand man sich noch zu den Bandproben zusammen, die in einem kleinen Kellerraum statt fanden, den Tusk erst vor Kurzem ausfindig gemacht und angemietet hatte. Auch die folgenden Tage verliefen ziemlich ähnlich: Meist traf sich das Quartett im Verlauf des Vormittags im besagten Keller, bis in den Abend hinein wurde geprobt und anschließend ging es noch in irgendeine Billig-Kneipe oder man klaute ein paar Flaschen Soju aus dem Supermarkt oder der Tankstelle. Schließlich ging fast ihr ganzes Geld für die Miete des Kellers und die Instandhaltung der Instrumente drauf, da konnte man für die vergnüglichen Dinge im Leben schonmal schnell wieder in die Kleinkriminalität abdriften. Und schließlich war der Tag gekommen, an dem sie ihren Auftritt im 'Mudcrutch' hatten. Der Laden war, wie so häufig, gerammelt voll und den Jungs wurde erst jetzt, einer halben Stunde vor ihrem Auftritt, so richtig bewusst, was sie hier überhaupt erwartete. Es war ein riesen Unterschied Gast zu sein und sich einen Act anzukucken – oder selbst da vorne auf der Bühne zu stehen. Lediglich Tusk wurde nicht von ständiger Nervosität gequält. Mit seiner früheren Band Zi:Kill hatte er schon einige Auftritte absolviert. Im 'Mudcrutch', in anderen Läden. Und sogar vor Zi:Kill's Zeiten stand er schon auf der Bühne – meist lediglich von einem Support-Drummer begleitet. Für ihn entwickelte sich die Bühne zu einer zweiten Heimat. Doch auch mit diesen Erfahrungen in der Hinterhand – für Seth et Holth war dies der erste Auftritt vor Publikum, das erste, gemeinsame Zusammenspiel vor einer wertenden Masse. Das ließ auch Tusk nicht kalt. Aber er behielt wohl am besten die Kontrolle über seine Gefühle, ganz anders als die übrigen Drei. Pata, generell ja eher schweigsam, sprach derzeitig noch weniger als sonst, ging dafür aber unermüdlich auf und ab, was für ihn doch sehr untypisch war. hide rasselte alle paar Sekunden von einer Gefühlslage in die nächste, quasselte für Zwei und war, kaum dass er sich euphorisch über das Bevorstehende geäußert hatte, im selben Augenblick auch schon wieder den Tränen nahe. Ähnlich erging es Sceana, nur verbal nicht ganz so aktiv, dafür war ihm alle naselang speiübel. Und plötzlich war es soweit, plötzlich standen alle Vier auf der kleinen Holzbühne – hide und Pata an ihren Gitarren, Sceana am Bass und Tusk hinter den Drums -, plötzlich schien der ganze Laden so riesengroß und das Publikum so unzählig, plötzlich wurde von ihnen erwartet zu spielen. Und sie spielten. Auch wenn sich später keiner der Vier mehr an die ersten paar Sekunden erinnern sollte. Sie spielten zuerst fast mechanisch und obwohl Tusk den Rhythmus so lebendig wie möglich vorzugeben versuchte, wirkten Pata, hide und Sceana anfänglich wie erstarrt. Standen wie eingefroren da, den Blick stur geradeaus oder auf ihr Instrument gerichtet. Ihre Finger schienen das einzig lebendige an ihnen zu sein. Doch kurz vor Beendigung des ersten Liedes hatte sich der Knoten bei allen Beteiligten plötzlich wie von Geisterhand gelöst. Die Angespanntheit und Nervosität war wie weggeblasen – und das hörte man auch. Schon in den zweiten Song fiel die Band mit viel mehr Energie und Elan ein. Sceana, der sich bis dato noch im Schatten hinter hide und Pata versteckt gehalten hatte, verließ diesen Platz und wirbelte herum, fast wie von der Tarantel gestochen. Auch bei hide setzte nun das Gummiballsyndrom ein und Pata zeigte zumindest schonmal eine gelöstere Mine. Das veränderte Verhalten der Jungs spiegelte sich natürlich auch im Publikum wieder: War dieses anfänglich noch sehr reserviert und abwartend gewesen, fiel es nun immer mehr und mehr in den Enthusiasmus von Seth et Holth mit ein. Das wiederum spornte die vier Freunde zu noch größeren Leistungen an und schon bald wurde klar, dass die Bühne, zumindest für Sceana, fast schon zu klein war. Der quirlige Rotschopf wirbelte herum wie nichts Gutes und das Spielen seines Basses verlief wundersamerweise fehlerfreier als gewöhnlich. Immer wieder peilte er hide an und stellte sich beim Spielen dicht neben ihn, ja, schmiegte sich regelrecht an ihn und platzierte ein Mal sogar kurz seinen Kopf auf dessen schmale Schulter. In diesen Momenten hatte er alles vergessen, was in der Vergangenheit je geschehen war. Es gab für ihn gerade nur die Gegenwart und die fühlte sich schön an. Er fühlte Verbundenheit, er fühlte Freundschaft – und er fühlte Glück. Genau das, wonach er sich schon immer von Grund auf gesehnt hatte. Jetzt hatte er es. Hier und jetzt. Sceana's vor Freude glitzernde Augen warfen ihre Blicke auf das Publikum. Und dann sah er ihn. Diese blondgescheckten, fransigen Haare. Dieser direkte, unverfrorene Blick. Er war es. Der Junge aus der Gasse, der Schläger der ihn entdeckt hatte. Fast hätte Sceana vor lauter Schreck vergessen, weiter zu spielen. In allerletzter Sekunde fing er sich doch noch und setzte wieder ein, ohne den aktuellen Song langfristig zu ruinieren. Doch die Verstörtheit bekam er in den nächsten Minuten erst einmal nicht mehr so schnell aus dem Gesicht gewischt. Was machte dieser Typ hier? Wer war das? Drei Zugaben. Damit hatte keiner rechnen wollen. Seth et Holth waren der neue Publikumsmagnet im 'Mudcrutch' – und das schon nach ihrem Debut-Auftritt! Die Vier Jungs waren vollkommen überwältigt und der Applaus und das Gejubel wollten gar nicht mehr abreißen. Die Luft brannte und dank der berühmten nichtfunktionierenden Klimaanlage in diesem Laden, hätte man die Menschen untereinander mit ihrem Schweiß zusammenkleben können. Enthusiastisch warf Tusk hinter seinem Drumkit erst einen, dann den anderen Drumstick in die Menge. So wie man es immer auf großen Konzerten sah. Nur dass es im kleinerem Stil ebenso gut funktionierte. Sceana, der sich genauso freute wie seine Kollegen, hatte in dem Getümmel zu ihren Füßen gerade wieder das Gesicht dieses Jungen entdeckt. Seine Augen verfolgten ihn aufmerksam, wie er sich durch das enge Gewusel schlängelte... - und plötzlich verrutschte sein Blick drastisch, als ihm hide ungebremst an den Hals sprang! Sceana quietschte und keuchte vor Überraschung, aber auch vor Freude, erwiderte die herzhafte Umarmung, die hide ihm gerade schenkte. Der Blonde kriegte sich gar nicht mehr ein und hätte Sceana vermutlich am Ende noch zerquetscht, wenn dieser ihn nicht irgendwann sanft von sich gedrückt hätte. „Mach mich nicht kaputt, ihr braucht mich noch!“, lachte er, fiel hide im nächsten Moment aber doch wieder in die Arme und ließ den Glücksgefühlen uneingeschränkt freien Lauf. Es fühlte sich gut an, so dicht an seine Brust geschmiegt zu sein, es fühlte sich gut an, das Getose und Gejauchze um sich herum zu hören....es fühlte sich alles gut an.....! Er löste sich jedoch noch einmal von ihm, fuhr sich mit der Hand die roten Strähnen aus dem schweißnassen Gesicht und wollte seine Augen noch ein Mal die Menschenansammlung nach diesem einen speziellen Gesicht abscannen lassen. Aber schon im nächsten Moment wurde er von hinten in eine weitere Umarmung gezogen, diesmal von den kräftigen Armen Tusk's. Und auch Pata reihte sich in die Verteilung freudiger Ausdrucksweisen ein und knuffte den Jüngsten ungewöhnlich herzlich an sich. Sceana's Aufmerksamkeit war gänzlich von seinem ursprünglichen Ziel abgelenkt, versank statt dessen in Freude und Glück. Seine Augen musterten die helle Decke, ohne dass er sie wirklich sah. Seine Pupillen bewegten sich wie in einer Beobachtung, ohne dass er ein Ereignis wahr nahm. Hisashi lag auf der innersten Seite des breiten Bettes, direkt an der Wand. Sie war in einem matten, inzwischen leicht angegrautem Himbeerton gestrichen, im Gegensatz zur Decke. Die war weiß. Hisashi hatte eine Hand locker auf seinem Bauch ruhen; sein vollbekleideter Körper verschwand halbwegs unter der Bettdecke. Er atmete so flach, dass ein Fremder, der diese stumme Szenerie beobachtete, ihn für tot hätte halten können. Würden seine Augen sich nicht bewegen. Er hatte ihn gehen lassen. Und noch immer hallte die aggressive Stimme und die harten Worte in seinem Kopf wieder. Die Vorwürfe, die Anschuldigungen, die Beleidigungen. Und das alles nur, weil er das Vorhaben des Anderen für zu gefährlich gehalten hatte. Weil er dieses Mal nicht mitziehen wollte. Obwohl er sich ihm doch so selten widersetzte. Für gewöhnlich tat er es nie. Doch wenn er es tat, endete es früher oder später immer so wie jetzt. Er blieb allein zurück. Mit seinen Ängsten, seinen Fragen, seiner Hilflosigkeit. Und seinem Unverständnis für die heftigen Reaktionen des Anderen. Hisashi drehte seinen Kopf ein Stück zur Seite. Sein Blick fiel auf ein Chaos, welches bereits eine halbe Ewigkeit andauerte, vor einer Stunde jedoch noch mehr zugenommen hatte. Sein Schlafzimmer sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall lag irgendwas herum, was andere Menschen vermutlich an ganz anderen Orten platziert hätten, doch Hisashi kannte inzwischen kaum noch andere Orte dafür. Diverse Klamotten, benutzte als auch unbenutzte, lagen im gesamten Zimmer verstreut, auf dem Boden, über dem Bettgestell oder der stets halb offenen Kleiderschranktür hängend. Im Kleiderschrank selbst befand sich diverser Papierkram, Unterlagen, Werkzeug sowie ein kaputter Notenständer und Stromkabel. Der Spiegel, der die gesamte, und stets geschlossen gehaltene, linke Schranktür zierte, war kaputt. Seit einer Stunde. Hisashi's Blick fiel auf ein schwarz eingeschlagenes Buch, das mitten auf dem Boden lag. Daneben ein weißes Hemd. Das Hemd, das nicht ihm gehörte sondern ihm. Es würde noch nach ihm riechen, würde er seine Nase daran halten. Er wusste es. Genauso wie das Kissen neben seinem Kopf noch nach ihm roch. Atsushi. Wieso nur lief es jedes Mal so? Jedes Mal, wenn er ihm widersprach? Wenn er Bedenken in seine Pläne mit einwarf? Als würde er ihm seine eigene Meinung verbieten wollen. Hisashi's Augenlider senkten sich minimal. Vielleicht wollte er das ja wirklich... Ein milder Windstoß drang durch das gekippte Fenster und wirbelte für einen Moment die rote Gardine auf. Die Schatten dieses kurzen Schauspiels fingen sich auf der gegenüberliegenden Wand wieder. Hisashi verfolgte sie nur beiläufig. Eine leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, er solle aufstehen. Doch sein Herz war schwer. Damit ließ es sich nur mühselig aufstehen. Wie spät es jetzt wohl gerade war? Seine einzige Uhr, die er besaß, befand sich im anliegendem Wohnzimmer und so konnte er sich im Moment nur an der Sonne orientieren. Die verriet ihm, dass der Tag bereits schon fortgeschritten war; vielleicht war es gerade Mittag oder auch schon Nachmittag. Er hatte heute noch nichts gegessen. Er wollte zusammen mit Atsushi was essen, doch dann kam der Streit. Die harschen Worte. Hisashi schloss die Augen. Er wollte nicht auf den Anderen böse sein. Warum aber quälte Dieser ihn so? Die messerscharfen Züge, der tödliche Blick. Eine Hand griff rasant nach dem Kissen neben sich und drückte es sanft gegen das eigene Gesicht. Er konnte ihn noch riechen. Er sog jeden Geruchspartikel regelrecht in sich auf, versuchte krampfhaft, ihn somit so nah wie nur irgendmöglich bei sich zu haben. In diesen Momenten, in denen er nicht bei ihm war. Atsushi. Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann öffnete Hisashi wieder seine Augen, ließ seinen Blick nochmal sporadisch durch das kleine Zimmer gleiten, als wollte er sich vergewissern ob er immernoch die alleinige Person in diesem Raum war. Schließlich erhob er seinen Körper und schaffte es doch noch aus dem Bett. Ohne Umwege, da er ja bereits bekleidet war, steuerte er die Küche an, um sich dort an Cornflakes und Milch zu vergreifen, mit denen er es sich keine zwei Minuten später im Wohnzimmer gemütlich machte. Er pflanzte sich mit seiner Cornflakesschüssel in den komfortablen, dezent geschwungenen Sessel, der, leicht schräg stehend, Richtung Fernseher wies. Doch das Gerät blieb aus. Abwesend beförderte Hisashi statt dessen die angeweichten Cornflakes Löffel für Löffel in seinen Mund. Drogen. Wie war Atsushi nur auf die Idee gekommen, Drogen verkaufen zu wollen? Und dann auch gleich dieses richtig harte Zeugs. Nicht Gras oder Koks – nein, diese neue Droge, die so heftigst reinhauen sollte. 'Fall-in'. Schneller als Speed, härter als Extasy. Die neue Goldgrube, sowohl für Konsumenten als auch für Dealer. Und Atsushi wollte damit handeln. Tat es vermutlich auch. Vielleicht sogar gerade jetzt, in diesem Moment. Denn allein mit seinen Bedenken würde er den Anderen nie von solch einer potentiellen Einnahmemöglichkeit abhalten können, das wusste Hisashi. Dass er bei dieser Drogensache an die Polizei, an die Strafen und an die mögliche Aufenthaltsdauer im Gefängnis dachte, war Atsushi völlig egal. Er interessierte sich nicht dafür, wie viel man von den Bullen für den Handel mit Drogen aufgebrummt bekam, denn er hielt sich stets für cleverer als die stumpfsinnige Polizei. Und bisher war er es auch immer gewesen. Aber was, wenn dieser Zustand nicht ewig anhielt? Was, wenn die Bullen ihn bei einem großen Ding doch mal dranbekämen? Sowohl Drogenhandel als auch Drogenkonsum galt in Süd-Korea als schweres Delikt und wurde gnadenlos hart bestraft. Gerüchten zufolge sollte mancher Dealer von der Justiz sogar schon hingerichtet worden sein, doch Hisashi wusste nicht, inwiefern diese Behauptungen stimmten oder doch nur als Abschreckung galten. Er würde sich von soetwas zu schnell manipulieren und einschüchtern lassen, hatte Atsushi ihm erst vorhin, bei ihrem letzten Streit, wieder einmal vorgeworfen. Er sei zu ängstlich und würde ihm nicht genug Vertrauen schenken. Er sei zu schwach. Dabei stimmte das doch gar nicht, er vertraute ihm! Er vertraute ihm wie keinem anderen Menschen auf der Welt. (Genau genommen vertraute er generell keinem anderen Menschen außer Atsushi.) Es war nie seine Absicht gewesen, den Anderen mit seinen gelegentlichen Zweifeln zu verletzen. Ganz im Gegenteil, er machte sich doch nur Sorgen. Sorgen um das Wichtigste das er besaß. Seine Liebe zu Atsushi. Und vermutlich war es diese Liebe, die seine Zweifel an Atsushi's Vorhaben im Verlauf ihrer Streitereien immer wieder zu Selbstzweifel umwandelte und am Ende gab er sich stets selbst die Schuld für das, was zwischen ihnen vorgefallen war. Das metallene Geräusch das erklang, wenn ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt und anschließend umgedreht wurde, drang durch das herrschende Schweigen der Wohnung und riss Hisashi aus seinen Gedanken. Augenblicklich wand er seinen Kopf in die Richtung, aus der das unerwartete Geräusch kam, bevor er zwei Sekunden später aufsprang und zur Wohnungstür rannte. Als er sie erreicht hatte, stand Diese bereits halb offen. In ihrem Rahmen präsentierte sich Atsushi, den Türknauf noch in der Hand und dem wohlbekannten, selbstgefälligen Grinsen im Gesicht, kaum dass er Hisashi erblickt hatte. Dieser starrte ihn nur an, mit unverkennbarer Überraschung. „Hast gedacht, ich lass dich alleine?“, raunte der großgewachsene und schlanke Schwarzhaarige im düsteren Ton. Seine tiefdunklen Augen fixierten den Blonden und hatten soeben wieder die Kontrolle über ihn zurück erlangt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)