Straßenecken-Tête-à-Tête von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 1: Eiskalter Spätfrühling --------------------------------- „Kageyamaaaaaaaaaa!“ Hinatas Stimme hallte von den blanken Wänden der Sporthalle wider, unnötig laut, während der kleine Junge empört herumwirbelte. Mit quietschenden Sohlen überbrückte er die kurze Distanz zu Kageyama und baute sich vor ihm auf, die Arme weit ausgestreckt und der ganze winzige Körper vibrierte vor Empörung. „Was war das denn für ein Wurf?!“ Kei schnaubte, unverhohlen amüsiert, doch er versteckte sein Grinsen hinter einer unauffälligen Geste, mit der er seine Brille zurechtrückte. Seit ihrem letzten kleinen Stelldichein in der Turnhalle hatte Kageyama rigoros versucht, Kei zu ignorieren – wobei die Betonung hierbei eindeutig auf versucht lag. Er scheiterte gnadenlos, was nicht nur einmal bisher darin geendet war, dass Kageyamas Augen in die falsche Richtung blickten, wenn er seinem Job nachgehen sollte – und prompt scheiterte ein Wurf, den Kageyama eigentlich im Schlaf beherrschen sollte. Selbst Tanaka reagierte mit einem gewissen Maß an Verständnis, freundlichem Schulterklopfen und aufmunterndem „Don’t mind“. Hinata hingegen war der Frust schon jetzt deutlich anzumerken, obwohl das vielleicht der zweite Wurf war, der danebengegangen war. Kei hörte gar nicht zu, was genau das Freak-Duo da hinten lautstark diskutierte, Hinata laut, Kageyama lauter werdend, und am Ende wandten sich beide mit einem genervten Schnauben voneinander ab und kehrten zu ihrem Training zurück. Der nächste Wurf war akkurater.   Als Kei an der Reihe war, seine Schmetterbälle zu üben, hatte es sich mit den akkuraten Würfen schnell wieder. Der erste Wurf ging vollkommen daneben. Der zweite kam zu schnell, der dritte zu spät. Kageyama schien sich weigern zu wollen, überhaupt in seine Richtung zu blicken, soweit es nicht nötig war. Kei grinste dünn, grausam, als er den Blick fest auf den Schwarzhaarigen richtete. „Ist seine Königliche Hoheit sich zu fein, dem Pöbel zuzuspielen?“, fragte er in falscher Liebenswürdigkeit, seine Stimme war leise genug, dass außer Kageyama niemand seine Worte hören durfte. Mit einem Knurren wirbelte der herum, stapfte auf Kei zu und packte ihn am Kragen, dass die Nähte an seinem Shirt lautstark protestierten. Es sah aus, als wolle Kageyama etwas sagen, doch als Kei sein Handgelenk packte, um den Zug an seinem Kragen zu verringern, überlegte er es sich anders – wie von der Tarantel gestochen löste er sich, wirbelte herum und kehrte an seinen Platz zurück. „Weiter.“ Leichter gesagt als getan, befand Kei, als auch der nächste Wurf nur ganz knapp erreichbar für ihn war. Es störte ihn nicht. Er hatte längst auf dem Schirm, dass seine Königlichkeit ihm in Spielen nicht gern zupasste. Es war also kein großer Verlust, wenn sie nicht miteinander klarkamen.     Zu seinem Leidwesen stellte er viel zu bald fest, dass er der Einzige war, der das so sah.     Es war während des Aufräumens, ein paar Tage, nachdem die Stimmung zu kippen begonnen hatte, dass Sugawara ihn mit einem viel zu warmen, viel zu liebevollen Lächeln zu sich winkte. Kei riss sich nicht darum, die überall in der Halle verteilten Volleybälle aufzulesen, also drückte er seine bisher mickrige Ausbeute nur Yamaguchi in die Arme und schloss zu ihrem Vize-Captain auf, der ihn in die hinterletzte Ecke der Halle führte, in der es eindeutig weit ruhiger war als mitten im Geschehen. Er lächelte noch einmal, doch sein Lächeln war behutsamer geworden, fast ein wenig scheu, während er sich am Hinterkopf kratzte. Kei wartete, ruhig, während Sugawara die Hand wieder sinken ließ und in einem stummen Seufzen die Luft ausstieß, die Augen geschlossen. Als er wieder aufsah, war sein Blick wirklich ernst geworden, aber vor allem leuchtete Sorge in dem hellen Braun.   „Wir wollten euch die Gelegenheit geben, es selbst in den Griff zu bekommen“, eröffnete er in einem ruhigen, behutsamen Tonfall, so als habe er einerseits Sorge, Grenzen zu überschreiten, die er nicht zu überschreiten befugt war, und andererseits als sei er fest entschlossen, es trotzdem zu tun, weil es nötig war, „Aber langsam…“ Er brach ab und schüttelte den Kopf, sein Blick voller Kummer und Besorgnis. Kei hob die Augenbrauen, fragend, verschränkte die Hände lose vor dem Körper. Er wusste nicht, was diese Rede sollte, aber er hatte jetzt schon das dumpfe Gefühl, dass sie ihm nicht gefallen würde. Er mochte es allgemein nicht, sich von einem Senpai etwas sagen zu lassen. „Wir Senpai sind immer für euch da, Tsukishima-Kun. Wenn ihr Probleme mit eurer Beziehung habt – du und Kageyama-Kun, dann–“ – „Was?“ Keis Augenbrauen wanderten noch höher. Sein Blick, seine Mimik blieben nichtssagend, aber innerlich schwankte er zwischen platter Fassungslosigkeit und lautem Gelächter. Letztlich gewann das Gelächter, das in Form eines belustigten Glucksens aus Kei herausbrach.   „Es gibt keine Beziehung. Das war nur eine Wette.“   Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt. Sugawaras Blick war einen kurzen Moment vollkommen entgeistert, die braunen Augen groß und weitaufgerissen, dann verschwand mit einem Schlag der Erkenntnis jede Emotion aus seinem Gesicht. Keine Wärme, kein Ärger, nichts, das die üblicherweise ausdrucksstarke Mimik ausmachte, war noch übrig. Sugawaras Blick war so kalt, dass selbst Kei ein unangenehmer Schauer überkam. „Was soll das heißen?“ Selbst seine Stimme klirrte wie Eis, so leise, dass sie tonlos war. Kei wollte nicht wissen, was für unangenehme Gefühle die fehlende Lautstärke verbarg. Er straffte die Schultern, hakte die Finger ineinander, reckte das Kinn vor. Er lächelte, aus reiner Gewohnheit heraus, lächelte, weil das um einiges überlegener war, als Beunruhigung zu zeigen. „Es war eine Wette. Es gibt keine Beziehung, es gab nie eine, und es wird nie eine geben. Ich kann nichts dafür, dass Kageyama so einen kleinen Spaß unter Kollegen viel zu ernst nimmt.“ Für einen kurzen Moment war er fest überzeugt davon, dass Sugawara explodieren würde. Losbrüllen. Vielleicht zuschlagen. Der Drittklässler vor ihm war angespannt bis in die Haarspitzen, seine Ausstrahlung so frostig, dass die Antarktis dagegen kuschlig warm gewirkt hätte. Er explodierte nicht.   „Du wirst dich entschuldigen.“   Wieder leise, noch leiser gesprochen sogar. Trotzdem vibrierte seine Stimme hörbar vor unterdrückten Emotionen, mit denen Kei keine nähere Bekanntschaft machen wollte. Sugawara trat einen Schritt vor, in Keis Komfortzone, seine Augen waren kaum merklich verengt. „Du wirst dich entschuldigen. Du wirst dich entschuldigen, und du wirst dafür sorgen, dass du und Kageyama-Kun wieder miteinander funktioniert, sobald ihr auf dem Spielfeld steht. Sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass du dieses Team nur noch von den Zuschauertribünen aus siehst. Hast du das verstanden?“ Im ersten Impuls war Kei kurz davor, einfach zu gehen. Volleyball bedeutete für ihn nicht die Welt, nicht wie für all diese Idioten, die sich Arme und Beine metaphorisch dafür ausrissen, besser zu werden, weiter zu kommen, das Unvermeidliche hinauszuzögern und dann doch zu verlieren. Im zweiten Impuls meldete sich sein Stolz, und mit seinem Stolz kam Ärger. Ärger auf Kageyama und dessen Drama, Ärger auf Sugawaras Mutterinstinkte, Ärger auf Yamaguchi, der den ganzen Unfug überhaupt erst losgetreten hatte. Ärger auf sich selbst, weil es ihm egal sein sollte, aber nicht egal war. Er senkte den Kopf, in einer Bewegung, die so hektisch war, dass sie beinahe als Nicken durchgehen konnte, wandte den Blick von Sugawaras farblos braunen Eisaugen ab.   „Verstanden.“     Der Gedanke, sich bei Kageyama zu entschuldigen, stieß ihm bitter auf. Kei sah es nicht ein. Er war angefressen von Sugawaras Predigt, und uneinsichtig, wieso er sich überhaupt entschuldigen sollte für etwas, das von vornherein so offensichtlich hätte sein sollen. Er konnte nichts dafür, dass Kageyama die emotionale Intelligenz eines Steins besaß. Oder, um bei seinem königlichen Image zu bleiben, von einem Edelstein. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sich nicht entschuldigt. Ginge es nach Sugawara… Und so wenig Kei einsah, dass er tatsächlich eine Schuld trug, von der es sich zu befreien galt, so wenig wollte Kei Bekanntschaft machen mit all den mühsam verborgenen Gefühlen, die unter Sugawaras eisiger Fassade geschwelt hatten.   Als sie sich nach einem gemeinsamen Gang zu Coach Ukais Laden schließlich trennten, wie immer Hinata und Kageyama die ersten, die Abschied nahmen, spürte Kei Sugawaras Blick im Rücken, und ohne hinzusehen wusste er, dass der Kerl nicht zufrieden sein würde, wenn er sich nicht in Bewegung setzte. Er schnaubte leise, warf einen missgelaunten Blick in Yamaguchis Richtung. „Warte hier.“ Yamaguchi nickte, wenn auch etwas verdattert – er hatte absolut nichts von dem vorangegangenen Drama mitbekommen. Jede Nachfrage, was Sugawara denn gewollt hatte, hatte Kei mit einem „geht dich nichts an“ abgeschmettert, und wenn man Yamaguchi auch sonst nicht viel gutes nachsagen konnte, er kannte seine Grenzen, sobald es um Kei und seine Launen ging. Er fasste Kageyama ins Auge, bedeutete ihm mit einem stummen Kopfnicken, ihn zu begleiten. Es erstaunte ihn nicht, dass Kageyama folgte – er schien Kei nicht der Typ zu sein, der gern eine Szene vor dem ganzen Team machte. Genau wie Kei, übrigens, aber da hörte es mit den Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Ein paar Schritte vom Team entfernt blieben sie stehen, weit genug auf Distanz, um in Frieden reden zu können. Keis Blick zu der kleinen Menschentraube zeigte, dass Hinata schon abzog, und der Rest sich zu Kleingesprächen zusammenrottete. Selbst Sugawaras Aufmerksamkeit lag ganz taktvoll auf etwas anderem als ihnen. Kageyama sagte nichts. Sein Blick war feindselig wie noch nie, es lag eine Kälte darin, die neu war – eine Kälte, die aus Verletztheit geboren war, vermutete Kei, der nicht so ganz wusste, ob er darüber abfällig schnauben oder doch lachen sollte. Oder keins von beidem, denn der Anblick machte ihn irrational wütend. Entspannt ließ er den Kopf leicht zur Seite fallen, brachte ein Lächeln auf sein Gesicht, das genauso liebenswürdig wie falsch war. „Kageyama, ich möchte mich entschuldigen. Ich hätte dir gleich sagen sollen, dass es nur eine alberne Wette ist, dann hättest du dich nicht so sehr zum Idioten machen müssen.“ Kageyamas Blick entgleiste zwischen Wut und Entsetzen. Kei fuhr seelenruhig fort, ehe Kageyamas königlicher Verstand völlig aufarbeiten konnte, was er ihm gerade an den Kopf geworfen hatte: „Aber bitte, es muss doch nicht das ganze Team darunter leiden, nicht wahr?“ Kei lächelte noch einmal, und es sah sogar beinahe ehrlich freundlich aus.    „Du solltest es einfach vergessen.“   Kageyamas Antwort kam so plötzlich und unerwartet, dass Kei nicht reagieren konnte: Der Schlag saß, ehe er begriff, was passierte, und Kageyama hatte sich schon abgewandt, bevor der Schmerz überhaupt bis zu Keis Verstand durchgedrungen war. Kei verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse und zischte voller Abscheu, voller Ärger, und in seinem Magen rumorten Gefühle, denen er keinen Namen geben wollte, weil Kageyama nicht einmal diese Anstrengung wert war. Bis auf Yamaguchi war niemand mehr da, als er zurückkehrte zu dem Punkt, an dem vorhin noch die kleine Team-Traube gestanden hatte. Besagter Yamaguchi sah ihn als, als würde er ein Gespenst sehen, machte den Mund auf – „Halt die Klappe, Yamaguchi.“ Yamaguchi hielt die Klappe. Kei schnaubte, setzte sich in Bewegung und trat den Heimweg an.   Es war ein Segen, dass Yamaguchi konsequent die Klappe hielt. Selbst seine nervigen Abschiede sparte er sich. Kapitel 2: Gescheiterte Entschuldigung -------------------------------------- Kei hätte es selbst nicht für möglich gehalten, aber die Stimmung wurde nur noch schlechter. Kageyama schien es aufgegeben zu haben, ihn völlig ignorieren zu wollen, stattdessen begrüßte er Kei beim Morgentraining mit einem unverhohlen hasserfüllten Blick, der beinahe schon an eine wortlose Morddrohung grenzte. Besonders bedroht fühlte Kei sich allerdings nicht, und so lächelte er Kageyama nur nichtssagend zu, woraufhin der das Kunststück vollbrachte, noch mörderischer dreinzublicken; Kageyama sah aus, als wolle er ihm den Hals umdrehen, und Kei konnte sich nicht ganz entscheiden, ob er lachen oder lieber in Kageyamas hasserfülltes Gesicht schlagen wollte.   Er lachte.   Mit Beginn des Trainings blieb nicht mehr viel zu lachen übrig. Kageyamas anhaltende Inkompetenz war selbstverständlich erheiternd, aber der Witz ging schnell verloren, wenn jeder verpatzte Wurf einherging mit aufmunterndem Schulterklopfen und kameradschaftlichen Worten, während Sugawaras Blicke in Keis Rücken eisig brannten. Sein Mund war zu einem schmalen, missgelaunten Strich verzogen, doch er blieb still, während in der Halle Rufe, Aufmunterung und aufprallende Volleybälle von den Wänden widerhallten. Kei fand diese Stille fast noch beunruhigender als die letzte Konfrontation mit ihm. In der Hoffnung, Sugawaras Aufmerksamkeit damit entkommen zu können, konzentrierte er sich wieder auf das Training, das allerdings auch nicht ertragreicher werden wollte. Kei erwartete sich ohnehin nichts von den Schmetterübungen, so viel Wurftalent, wie Kageyama bisher schon gezeigt hatte. Aber dass der Ball gar nicht erst flog, das kam überraschend. Entgeistert sah er zu Kageyama hinüber, der den Ball, den er hätte weiterpassen sollen, in den Händen hielt, in seinem Blick lag eine Mischung aus Trotz und eisiger Ablehnung. Die ganze Halle war still. Selbst Hinata und Nishinoya hielten den Mund, starrten nur, und auf allen Gesichtern stand Unglaube geschrieben. Seine eigene Gesichtsentgleisung verbarg Kei hinter einer Geste des Brillehochschiebens, und als er die Hand wieder senkte, hatte er einen halbwegs neutralen Ausdruck auf sein Gesicht gebracht.   „So funktioniert das nicht“, durchbrach Tanaka bald die Stille, die sich wie ein Leichentuch immer schwerer auf sie niedergelegt hatte. Er trat vor und nahm Kageyama den Ball aus der Hand, den er dann unter den Arm klemmte, die andere Hand entschlossen in die Hüfte gestemmt. Er sah zu Nishinoya hinüber, der wortlos nickte, dann seufzte er. „Wenn ihr beide euren Ehekrach nicht–“ – „Wir haben keinen Ehekrach!“, fuhr Kageyama sofort dazwischen, der laute Ausruf dröhnte in der gesamten Turnhalle. Die plötzliche Lautstärke ließ Yamaguchi zusammenzucken, und Hinata, der immer noch fassungslos zu sein schien, ließ vor Schreck den Volleyball fallen, den er gerade in der Hand hielt. „Ryuu hat recht.“ Jetzt mischte sich Nishinoya ein. Kei sah nur aus dem Augenwinkel, wie Sugawara sich an einen der Zweitklässler wandte, der sich daraufhin wiederum in Bewegung setzte und kurze Zeit später trabte ein guter Teil des Teams auf respektvollen Abstand – eine absolut lächerliche Geste, die Kei die Nase rümpfen ließ. Als würden sie es aus fünf Schritten größerer Entfernung nicht auch alles hören. Zu seiner Überraschung knöpfte Nishinoya sich Kageyama vor, baute sich zu seiner ganzen mickrigen Größe auf, als er vor dem Kerl stand, die Hände genauso in die Hüften gestemmt wie Tanaka, was ihn ein bisschen wie eine lächerliche Karikatur des lächerlichen Glatzkopfes wirken ließ. Seine bernsteinfarbenen Raubtieraugen waren weit aufgerissen und aufmerksam auf Kageyamas Gesicht gerichtet. „Was auch immer hier abgeht – ich hab keine Ahnung, und es geht mich wahrscheinlich auch nichts an! –, du benimmst dich wie ein Idiot!“ Kei unterdrückte ein amüsiertes Schnauben, aber die Genugtuung zupfte trotzdem sichtbar an seinen Mundwinkeln. Es war eine nette Abwechslung, zwischen allem Mitleid und Verständnis einmal jemanden zu sehen, selbst wenn es nur Nishinoya war, der einsah, dass Kageyama sich idiotisch verhielt. Kei verstand nicht, wie er so ein Theater machen konnte über diese Farce. Es war kein Monat gewesen, den sie zusammen verbracht hatten. In so kurzer Zeit konnte man sich doch gar nicht emotional so sehr an einen anderen Menschen binden. Kei zumindest konnte es nicht, und es war eine Fähigkeit, die er auch nicht beherrschen wollte. Kageyamas Reaktion war stoisches Schweigen, während er auf Nishinoya hinuntersah, die Hände zu Fäusten geballt und sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, die so voll von Gefühlen war, dass es Kei viel zu mühsam war, sie auseinander zu sortieren. Er sah Wut, sah Verletztheit, und sah noch tausend andere Dinge, von denen er wirklich keinen Sinn sah, sie zu kategorisieren, denn Kageyamas Gefühle interessierten ihn nicht. „Du landest am Ende auf der Bank, wenn du so weiter machst! Nicht Tsukishima!“ Nishinoyas Enthüllung brachte Schweigen mit sich. Sawamura sah beinahe schuldbewusst aus, Sugawara unglücklich. Unglücklich. Sollte er nicht lieber froh sein, dass er seinen Platz als regulärer Spieler wiederbekommen würde? Kageyama erstarrte, und er sah so entsetzt aus dabei, als durchlebe er ein altes Trauma neu. Kei zweifelte nicht daran, dass er es tatsächlich tat, dass sich vor seinem inneren Auge die vernichtende Niederlage von Kitagawa Daiichi im letzten Jahr wieder abspielte, die Schmach, die damit einhergegangen war, auf die Bank verbannt zu werden, weil das eigene Team ihm den Rücken gekehrt hatte. Und nun ging es wieder genauso los. Oder war es gar schlimmer geworden? Kageyama legte sich seine Steine dieses Mal schließlich ganz bewusst selbst in den Weg. Mit einem undefinierbaren, verletzten Laut wirbelte Kageyama herum und stapfte in Richtung der Umkleiden davon.   „Warte, Kageyama!!!“   Hinter Kageyama verschwand Hinata und nach dem Knallen einer Tür herrschte plötzlich wieder Stille. Es war eine verärgerte, anklagende Stille, in der jeder unfreundliche Blick sich in Keis Richtung wendete und Yamaguchi zu Boden sah, als wäre der heute besonders spannend. Er war rot bis zu den Ohren, Scham und schlechtes Gewissen so klar in seinem Gesicht geschrieben, dass Kei am Liebsten gekotzt hätte. Sugawaras Blick war genauso anklagend wie die der anderen, doch immerhin fehlte die absolute Eiseskälte ihres letzten Gesprächs. Nur der kalte Zug um seine Mundwinkel erinnerte noch an eine Begegnung, auf die Kei eigentlich sein ganzes Leben lang hätte verzichten können. Er reckte das Kinn vor, neigte den Kopf leicht zur Seite – ein absolutes Sinnbild von Arglosigkeit und Unschuld. „Ich habe mich entschuldigt, Sugawara-San“, erklärte er freundlich. Die einzige Antwort, die er bekam, waren verengte Augen, deren Blick durch die freundliche Fassade hindurch zu blicken schien, dann nickte Sugawara langsam, doch Kei hatte nicht im Geringsten das Gefühl, dass die Geste ihm galt. Dadurch, dass Sugawara sich von ihm abwandte, ohne weiter auf ihn einzugehen, bestätigte sich sein Verdacht nur. „Das Morgentraining ist beendet“, verkündete er mit leiser Stimme in die betretene Stille hinein. Obwohl er leise sprach, war er eindrücklich genug, dass jeder Kopf sich in seine Richtung drehte. „Ennoshita, sorg bitte dafür, dass hier aufgeräumt wird. Daichi, ich möchte kurz mit dir reden.“   Es kam erst wieder Bewegung in die Überbleibsel des Teams, als Sugawara und Sawamura hinaus waren. Mit einem hörbaren Durchatmen klatschte Ennoshita in die Hände, gerade in dem Moment, als Nishinoya sich regte und dabei verdächtig so aussah, als hätte er noch mehr Zwergenweisheiten unter die normalgroß gewachsene Bevölkerung zu bringen. „Aufräumen“, bestimmte Ennoshita fest, warf Nishinoya einen mahnenden Blick zu, der ihn innehalten ließ, „Los. Kinoshita, geh nach Kageyama und Hinata sehen und sag ihnen, dass für heute Morgen Schluss ist! Tanaka, Nishinoya, sammelt die Bälle ein. Ihr wollt nicht, dass Daichi-San wütend wird.“ Der Blick des Zweitklässlers war auf beunruhigende Art freundlich, als er in die Runde sah und schließlich bei Tanaka und Nishinoya hängen blieb. Die beiden tauschten einen alarmierten Blick, dann nickten sie hektisch. „Wird gemacht, Chikara!“   Und weg waren sie. Kei schloss sich dem Aufräumkommando an, schweigend, nur einen kurzen Seitenblick warf er zu Yamaguchi hinüber, doch der schien noch sehr beschäftigt mit seinen Schuldgefühlen zu sein. Kei schnaubte, als er sich entfernte. Lächerlich.       Als er das nächste Mal die Turnhalle betrat, stand Yamaguchi beim Captain, die Schultern herabhängend und die Hände resigniert neben dem Körper liegend. Sawamuras Gesicht sah unheilverkündend streng aus. Sugawara war in ein Gespräch mit Kageyama vertieft, doch als Kei hereinkam, fiel sein Blick sofort in seine Richtung und die sonst so warmen Augen wurden spürbar kälter. Kei ahnte schon, was kommen würde, als dann auch noch der Blick des Captains auf ihn fiel und er ihm mit einer Geste bedeutete, zu ihnen herüberzukommen. Er beeilte sich nicht besonders dabei, die Sporthalle zu durchqueren. Sawamura und Yamaguchi warteten in einer vergleichsweise ruhigen Ecke, die etwas abseits von quietschenden Hallenschuhen und dem Aufprallen der Volleybälle lag. „Tsukishima.“ Kei nickte knapp zum Gruß und verhakte die Finger ineinander. Sein Gesicht war sorgfältig nichtssagend, um die Unzufriedenheit zu verbergen, die sich in seinen Blick schleichen wollte. Das Theater wurde langsam nicht nur lächerlich, sondern auch zu viel. Es war Kageyamas Problem, wenn er unfähig war, sich zusammenreißen, wegen – ja, warum eigentlich? Wegen so etwas lächerlichem wie einem gebrochenen Herzen? Kei unterdrückte ein Schnauben bei dem Gedanken. Nach nicht einmal einem Monat. Sicher doch. Sein Blick fiel auf Yamaguchi, der ihn unverhohlen anstarrte, die Augen groß und unglücklich und kleinlaut – jetzt gibt’s Ärger, Tsukki, schien sein Blick sagen zu wollen. Kei hob zur Antwort abfällig die Augenbraue. Sofort senkte Yamaguchi den Blick wieder, und die ganze Geste schrie Entschuldigung. Es war wirklich lächerlich. „Captain?“  Sawamuras Blick war streng, aber weitgehend nichtssagend. Nicht herausragend wütend, aber auch nicht herausragend freundlich, ein relativ typischer Blick, wenn es darum ging, jemanden zu maßregeln. „Suga hat mir alles erzählt“, eröffnete er das Gespräch, und er klang genauso ruhig, wie er aussah. Vielleicht wurde dieses Gespräch doch nicht so schlimm, wie Kei gefürchtet hatte. Bisher jedenfalls wirkte Sawamura um einiges angenehmer als Sugawara. „Ah.“ „Uhm. Captain–“ „WAS HABT IHR EUCH DABEI GEDACHT?!“ Sawamuras Stimme hallte so laut von den Wänden wider, dass selbst Kei zusammenzuckte – Yamaguchi fuhr natürlich völlig zusammen – und von der bis gerade noch präsentierten Contenance war auf dem Gesicht des Captains überhaupt nichts mehr zu finden. Wie ein klarer Kontrast zu Sugawara loderte in Sawamuras Blick glühend heißer Ärger, als er einen Schritt vortrat und damit so nahe kam, dass es unangenehm wurde. Obwohl Kei zu ihm hinuntergucken musste, fühlte er sich – klein. „Captain–“, setzte Yamaguchi noch einmal an, so in sich zusammengesunken, dass er gerade tatsächlich kleiner war als Sawamura, aber ein einziger Blick ließ ihn sofort wieder verstummen. Er senkte den Kopf noch weiter, zog die Schultern hoch und kniff die Augen zu, als würde er sich auf die Abreibung seines Lebens gefasst machen. Flucht- und Schutzreflexe, die typisch Yamaguchi waren, die Kei schon immer peinlich und erbärmlich gefunden hatte, und die Kei selbst völlig fremd waren. Er begegnete Sawamuras Blick stoisch ruhig, keine Miene verzogen. „Tsukishima.“ Keine Aufforderung, ein Befehl. Kei presste unwillig die Lippen aufeinander. Egal, was er jetzt sagte, es würde Sawamura kaum zufriedenstellen, und Kei hatte überhaupt keine Lust darauf, irgendeine Form von Reue zu heucheln, die er nicht verspürte. Kageyama war ein Idiot, der an seinem Leid eindeutig selbst Schuld war, und Kei war nicht sein Sündenbock. „Nichts“, erwiderte er nach einer kurzen Denkpause gleichgültig monoton. Was hätten sie sich auch dabei denken sollen? „Es ist eine Wette gewesen. Ein Spaß unter Freunden. Wer hätte denn ahnen können, dass seine Majestät–“ Klatsch! Keis Kopf ruckte zur Seite von der Wucht des Schlages und das Brennen seiner Wange zog sich hoch bis zu seinen Augen. Sein Kiefer schmerzte, und das lag nicht nur an den fest zusammengebissenen Zähnen. „Raus aus der Turnhalle“, grollte Sawamura, so leise, dass man ihn kaum verstand. Kei rührte sich nicht. Yamaguchi auch nicht, wobei Kei es eindeutig auf dessen Entsetzen schob, das ihm so klar im Gesicht geschrieben stand, dass man beinahe davon erschlagen wurde. „RAUS HIER!“ Diesmal reagierte Yamaguchi, zuckte zusammen und wich einen zittrigen Schritt zurück. Keis Hände krampften zusammen. „In nicht einmal einer Woche steht die Vorrunde vor der Tür. Dieses Team braucht niemanden, der nicht dazu beiträgt, dass wir diese Vorrunde auch überstehen! Raus hier. Ihr könnt wiederkommen, wenn ihr euch entschuldigt habt – ernsthaft!“   Yamaguchis Blick wurde nur noch entsetzter, er hob hilflos die Hände. „Captain–“ – „RAUS!“ Er fiel in sich zusammen. Kei schnaubte angewidert, wandte Sawamura den Rücken zu, bevor der sehen konnte, wie die sorgfältig monotone Maske bröckelte. „Wir gehen, Yamaguchi.“ – „Aber Tsukki–!“ – „Wir gehen.“   Kei wollte überhaupt nicht mehr wiederkommen. Kapitel 3: (Un)erwartete Entscheidungen --------------------------------------- Kei war schon seit der Grundschule nicht mehr sofort nach dem Unterricht nach Hause gegangen. Es war fremd, doch er weigerte sich, über irgendeine Alternative nachzudenken; weder wollte er zurück in den Volleyballclub, noch offiziell austreten und sich einen anderen Club suchen. (Er wüsste nicht einmal, was für einen. Es war sein Leben lang Volleyball gewesen.) Wie auch am Vortag trottete Yamaguchi neben ihm her, den Kopf gesenkt, schweigend. Er schien immer noch unglaublich geknickt zu sein über den Zusammenstoß mit Sawamura. Kei war immer noch wütend. Er konnte sich nicht so recht entscheiden, auf wen er am Meisten wütend sein wollte, aber er war wütend. Auf Kageyamas billiges Theater, auf Sugawaras Mutterallüren, auf Sawamuras absolut unkonstruktive Art der Problembewältigung, auf Yamaguchis unnötiges schlechtes Gewissen, das er viel zu offen spazieren trug. „…hey. Tsukki.“ Yamaguchis Stimme war leise, und als Kei den Kopf zu ihm drehte, sah er immer noch auf den Boden vor ihren Füßen. Nur kurz zuckten Yamaguchis Augen in seine Richtung, dann wandte er den Blick wieder ab. Der Anblick ließ Kei unwillig die Mundwinkel verziehen. Allein Yamaguchis duckmäuserisches Verhalten signalisierte schon unangenehm deutlich, dass da etwas auf ihn zukommen würde, auf das er dankend verzichten konnte. Noch eine Predigt? Eine halbgare Entschuldigung? Ein Gejammer darüber, dass er zurück in den Club wollte?   Eine Mischung aus allem, so wie Kei Yamaguchi kannte.   Zuerst einmal kam aber gar nichts, und die nächsten Meter wurden schweigend zurückgelegt. Kei machte sich nicht die Mühe, nachzuhaken. Wenn Yamaguchi reden wollte, sollte er reden, das tat er sonst schließlich auch ohne Extraaufforderung. Ganz davon abgesehen, dass Kei ohnehin lieber ohne unnötige Konversationen durch den Tag kam. Er würde nie verstehen, was diverse Herrschaften in seinem Umfeld daran fanden, den ganzen Tag mit unnötigem Geschwätz zu verbringen.   „Ich finde, der Captain hat Recht. Ein bisschen zumindest“, eröffnete Yamaguchi schließlich. Er blieb stehen, zog die Schultern hoch und den Kopf ein. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Irgendwo hörte Kei den Motor eines fahrenden Autos; in dem Geräusch ging sein leises Schnauben beinahe unter. Er war versucht, einfach weiterzugehen, doch er ließ es bleiben. Jahrelanges Zusammenhängen hatte ihm dann doch genug Toleranz Yamaguchi gegenüber eingebracht, dass er ihm zuhörte, wenn er wirklich etwas Wichtiges zu sagen hatte. „Nein.“ – „Tsukki!“ Keis Blick kehrte zu Yamaguchi zurück, scharf, missgelaunt. Es erstaunte ihn beinahe, dass Yamaguchi ihn inzwischen ansah, so fest, wie sein Blick eben werden konnte. Er schien selbst erstaunt über seinen Mut zu sein, denn in dem Moment, in dem ihre Blicke sich trafen, zuckte er verblüfft zurück, bevor er entschlossen die Schultern straffte. „Wir sind zu weit gegangen, Tsukki. Die Wette war keine gute Idee.“ Kei hob völlig unbeeindruckt die Augenbrauen und legte den Kopf leicht zur Seite. Und? Es war deine Idee, Yamaguchi. Yamaguchi zuckte unsicher die Schultern, ehe er sie weiter hochzog und den Blick doch wieder zu Boden wandte. Er schien mit sich zu hadern. Vermutlich fehlten ihm zu aller Unsicherheit auch noch die passenden Worte für das, was er eigentlich sagen wollte. Die Stille zog sich in die Länge, und Kei spielte wieder mit dem Gedanken, das Gespräch zu beenden, noch bevor es richtig angefangen hatte. Mit einem stummen Seufzen schob er die Hände in die Hosentaschen, verlagerte das Gewicht auf das andere Bein, und wartete. Sah zu, wie Yamaguchi weiter mit sich haderte, und versuchte nicht einmal, ihm zu helfen, denn eigentlich wollte Kei nicht hören, was da auch immer kommen mochte. Es kam trotzdem, nach einer gefühlten halben Ewigkeit, als Yamaguchi den Blick entschlossen wieder hob und das Kinn vorreckte. Seine ganze Körpersprache drückte Verkrampftheit und Angst aus, aber in seinen Augen lag eine Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit, die Kei gegen seinen Willen beeindruckte. „Ich will den Club wegen so etwas nicht verlieren, Tsukki!“   Kei schnaubte, dieses Mal ging das Geräusch nicht in irgendeinem Lärm der Umgebung unter. Der Volleyballclub bedeutete ihm nichts. Mit Sicherheit wusste Yamaguchi das. Kei machte mit, weil er gut darin war, und weil es irgendwie zur Angewohnheit und vertraut geworden war, weil er einen Schulclub brauchte – nicht, weil es ihm wichtig war. Er konnte gut und gerne verzichten, sich ständig mit diesen Leuten herumzuschlagen, die einfach nur laut und anstrengend und nervtötend waren, allen voran Hinata und Kageyama. Yamaguchi sollte es wissen. Yamaguchi sollte seine Antwort kennen. Ein Blick in Yamaguchis Gesicht zeigte – Yamaguchi wusste es, kannte seine Antwort. Trotzdem hatte er sich für diesen Schritt entschlossen. Keis Kiefer spannten sich unangenehm an, als er die Zähne zusammenbiss, die Hände in seinen Hosentaschen zu Fäusten geballt und der Blick in seinen Augen vermutlich noch weit unfreundlicher, als er es eigentlich gewollt hatte. Yamaguchi wich vorsichtig einen Schritt zurück. „Gut.“ Yamaguchi blinzelte, unsicher, entschuldigend, und da war Erkenntnis in seinem Blick, die ganz klar davon sprach, dass er wusste, was hier passierte. Kei wusste, er könnte sich jeden weiteren Kommentar sparen. Yamaguchi wusste. Und es machte Kei rasend vor Wut, deshalb wollte er sich jeden weiteren Kommentar nicht sparen. Und so lächelte er, das freundlichste, falscheste Lächeln, das er zustande bekam, löste seine eigene angespannte Haltung, um Gelassenheit zu heucheln.   „Viel Spaß in deinem Volleyballclub, Yamaguchi.“   „Tsukki–!“ Yamaguchi wollte noch irgendetwas sagen, hatte die Hand nach ihm ausgestreckt, aber kam nie nah genug, um ihn festzuhalten. Er kannte seine Grenzen. Kei hörte sich nicht an, was da noch kommen wollte. Vermutlich wusste er ohnehin schon gut genug, was Yamaguchi sagen wollte. Er kannte ihn. Kannte die Entschuldigungen und die Erklärungen, die auf Yamaguchis Zunge lagen gut genug, dass er sie sich selbst vorsagen könnte, wenn er es denn gewollt hätte – wollte er aber nicht. Er drehte sich um und ließ Yamaguchi einfach an der Straßenecke stehen, verloren und unglücklich, und irgendwo unter der oberflächlichen Genugtuung darüber, dass Yamaguchi dreinsah wie ein getretenes Hündchen, fühlte er sich insgeheim viel mehr danach, gegen die nächste Wand zu schlagen.     Der Volleyballclub bedeutete ihm nichts. Die besorgten Blicke, die Yamaguchi ihm über die nächsten beiden Tage zuwarf, wurden ignoriert. Die Tatsache, dass er nach der Schule alleine den Heimweg antrat (Yamaguchi war offensichtlich genug beim Captain zu Kreuze gekrochen), nahm er sogar weitgehend positiv auf – er hatte Ruhe und niemanden, der ihm unnötigerweise das Ohr abkaute. Die Musik auf seinen Ohren übertönte die fremde Stille gut genug, dass er sich nicht an ihr störte. Kei hatte nicht das Gefühl, dass ihm etwas fehlte ohne das nachmittägliche Training. Es war immer noch ungewohnt, natürlich, und seine Mutter begrüßte ihn mit verwirrten Blicken, wenn er so früh nach Hause kam, doch jede Frage in die Richtung wurde konsequent abgeschmettert, jede Sorge abgeblockt. Wahrscheinlich würde sie es irgendwann einfach nur noch als dumme Phase abtun und schulterzuckend hinnehmen. Mit dem Rest des Teams hatte er gar nichts zu tun. Einmal sah er Hinata auf dem Schulflur und der kleine Zwerg schien sofort etwas zu sagen zu haben – Kei wandte sich ab, bevor Hinata einen Ton herausbrachte, und als hinter ihm ein lautes „Tsukishima-Kun!“ ertönte, war er schon um die nächste Ecke verschwunden. Den Rest hörte er im nachmittäglichen Tumult gar nicht mehr. Als er Sugawara morgens begegnete, bekam er einen unerwartet freundlich-besorgten Blick zugeworfen, der Kei nur noch wütender machte. Wo auch immer das nun herkam – vermutlich war Sugawara besänftigt, weil wenigstens Yamaguchi wieder angekrochen war? –, er konnte dankend darauf verzichten. Alles in allem hatte Kei wirklich nicht den Eindruck, er würde etwas Wichtiges verpassen. Er wusste, dass die Vorrunde unmittelbar vor der Tür stand, aber er wusste auch, dass sie ohnehin unvermeidlich verlieren würden. Es war also nicht, als ließe er sich etwas Besonderes entgehen.     „Tsukki, du musst zum Spiel kommen“, forderte Yamaguchi, bevor er am Vortag der Vorrunden nach dem Unterricht zum Training aufbrach. Er forderte. Es war keine Bitte und keine Frage, und er schaffte es irgendwie sogar, nicht zusammenzuzucken, als Kei ihn mit einem vernichtenden Blick musterte. Kei verzog missgelaunt das Gesicht, während er seine Schultasche schulterte. Der Klassenraum war längst weitgehend leer, die meisten Schüler auf dem Weg zu ihren nachmittäglichen Clubaktivitäten oder auf dem Heimweg. Wenn Yamaguchi so weiter machte, kam er zu spät zu seinem heiligen Training. (Es war Kei egal.) „Warum sollte ich?“ Yamaguchis Augen leuchteten fast erleichtert auf – als hätte er die Frage erwartet und sich lange darauf vorbereitet, sie zu beantworten. Hinter seinem Rücken zog er ohne jedes Zögern Keis Clubjacke hervor, die er scheinbar achtlos in der Umkleide hatte liegen lassen, als er nach dem Zusammenstoß mit Sawamura abmarschiert war. Yamaguchi lächelte, und obwohl es schief war, war es unerwartet charismatisch für den scheuen, sommersprossigen Jungen.   „Weil du immer noch zum Team gehörst, Tsukki.“   Kei hasste es, dass er kein Gegenargument dafür hatte.   Schweigend griff er nach der Jacke, warf sie über die Schulter und stapfte aus dem Klassenraum. Er blieb Yamaguchi jede Antwort schuldig. Es war nicht, als hätte er Yamaguchi viel zu sagen. Trotzdem hörte er ein Lachen in der Stimme des Anderen, als er ihm hinterherrief:   „Bis morgen, Tsukki!“ Kapitel 4: Unliebsame Notwendigkeit ----------------------------------- Das letzte Mal, das Kei ein Volleyballspiel von den Tribünen aus gesehen hatte, hatte er sämtlichen Enthusiasmus für den Sport und jegliches Vertrauen in seinen Bruder verloren.   Für einen kurzen Moment kam ihm der Gedanke, was er dieses Mal verlieren würde, doch als er hinuntersah auf das Spielfeld, wo sich Team Karasuno gerade aufwärmte, wischte er die Überlegung weg mit der Erkenntnis, dass er ohnehin nichts zu verlieren hatte. Das Team war ihm egal. Der Sport war ihm egal. Das einzige, das er verlor, indem er hier herumsaß und sich den Unfug ansah, war ein bisschen Zeit, die er sonst musikhörend in seinem Zimmer verbracht hätte. Im Vergleich schien kaum jemand Interesse an dem Spiel zu haben; die Tribüne war weitaus gefüllter auf der Seite des zweiten Spielfeldes. Trotzdem sah Kei aus dem Augenwinkel, dass Aoba Jousais Captainriege und ein paar Erstklässler in der Nähe herumlungerten. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Karasuno es so weit bringen würde… Er schnaubte, wandte den Blick wieder ab und dem Spielfeld zu. Das gegnerische Team sah ungefähr genauso lächerlich aus wie Karasuno selbst. Tokonami sagte ihm nichts, und auch wenn Kei sich insgesamt nicht so sehr dafür interessierte, welche Teams auf der allgemeinen Fähigkeitenskala wo standen, zumindest die wichtigsten Namen hatte er natürlich gehört – und Tokonami gehörte eindeutig nicht dazu. Aber ehrlich, man sah es schon. Allein die Tatsache, dass das Team eigentlich gerade mal so als durchschnittlich groß zu bezeichnen war, labelte sie schon effektiv als Verlierer. Würden sie gegen das Team verlieren, wäre Kei beinahe enttäuscht. Ah, aber wenn seine Königlichkeit immer noch so sehr aus dem Takt gebracht war, war das natürlich eine ganz andere Sache. Wie tragisch.   Kageyama, scheinbar, schien allerdings in Form zu sein. Weder machte er beim Aufwärmtraining sichtbare Patzer, noch saß er bei Spielbeginn auf der Bank – die Ehre wurde wieder einmal Sugawara zuteil. Hatte Kei ursprünglich vielleicht noch so etwas wie Mitgefühl gehabt für den Frust, den Sugawara empfinden musste, von einem gerade erst ins Team gestolperten Erstklässler vom Platz vertrieben worden zu sein, so empfand Kei von dem Anblick inzwischen höchstens eine höhnische Genugtuung. Es erstaunte nicht, dass der Blocker, der seinen Platz in der Startaufstellung eingenommen hatte, nicht Yamaguchi war. Kei hatte von Narita als Spieler noch nicht viel gesehen, aber er hatte deutlich mehr Erfahrung als Yamaguchi, hatte mehr Erfahrung als Teil des Teams, und stand auch größenmäßig nicht zurück. Es war die bessere Wahl. Es hat sich ja wirklich für dich gelohnt, vor ihnen zu buckeln, huh? Was für ein Witz. Kei hatte das Bedürfnis, einfach wieder zu gehen – dann blickte Yamaguchi von seinem Platz auf der Bank aus hinauf und sah ihn. Trotz der Entfernung konnte Kei sehen, wie sich ein dämliches Grinsen auf Yamaguchis Gesicht breitmachte. Er selbst verzog die Mundwinkel abfällig, doch er blieb an seinem Platz. Er würde sich vor Yamaguchi nicht die Blöße geben und flüchten, oder wie auch immer Yamaguchi es interpretieren würde, wenn er ihm nun den Rücken zukehrte.   Mit einem genervten Seufzen lehnte er sich auf das Geländer und sah auf das Feld hinunter. Das Spiel wurde angepfiffen. Kei stellte sich darauf ein, dass es lang und langweilig werden würde.     Er hatte vergessen, wie ein Volleyballspiel aus der Ferne aussah.   Von hier oben hatte er das gesamte Spielfeld perfekt im Blick und keine Mühe, zu verfolgen, was passierte. Es wurde schnell deutlich, dass, wo Karasuno im Grunde nur ein durchschnittliches Team war, Tokonami wirklich schlecht war – und daran änderte auch nichts, dass sich Nishinoya und Tanaka wie Idioten aufführten, sodass Karasuno schon nach kurzer Zeit eine erste Abmahnung vom Schiedsrichter erhielt. Peinlich.   Früher einmal hatte Kei sich gerne Volleyspiele angesehen, seien es Fernsehübertragungen oder direkt von der Tribüne aus.   Heute fehlte jede Aufregung und jede Freude und jedes Mitfiebern, wenn er sah, wie der Ball übers Netz schoss und auf der anderen Seite, vorbei an Blockern und Verteidigern auf dem Boden aufprallte. Azumanes Angriffskraft war beeindruckend, aber sie ließ Kei ziemlich kalt. Ohne ihre so extreme, freakige Geschwindigkeit war auch Kageyamas und Hinatas Zusammenspiel nichts Besonderes.   Das Spiel war tatsächlich langweilig – wenn auch immerhin nicht sonderlich lang.     „Tsukkiiiiiii! Du bist wirklich gekommen!“ Yamaguchi sah außer Atem aus, obwohl er nur auf der Bank gesessen hatte. Womöglich lag es nur daran, dass er den gesamten Flur entlang gelaufen war, um Kei zu erwischen. Er hätte einfach auf der Tribüne bleiben sollen. Mit einem Schnauben schob er die Hände in die Hosentaschen. „Halt die Klappe, Yamaguchi.“ Yamaguchi grinste, Keis Blick wurde noch eine Spur unfreundlicher und er bereute, dass er hergekommen war. Er bereute es noch mehr, als plötzlich Hinatas Stimme hinter ihnen erklang: „Oi, Yamaguchi–“, er brach ab, als er Kei erblickte, kaum, dass er zu ihnen aufgeschlossen hatte, und im nächsten Moment warf er Yamaguchi einen Blick zu, der für Keis Geschmack ein bisschen zu vertraulich war – dass Yamaguchi allen Ernstes nur zurückgrinste, machte nichts besser. Und dann stand Hinata vor ihm, immer noch grinsend, und so übereifrig, wie der Kerl aussah, schien er kurz davor zu sein, Kei zu packen und irgendetwas zu tun, das Kei überhaupt nicht gefallen würde. „Tsukishima! Komm! Unser zweites Match ist gegen Datekou, wir können jeden Zentimeter gebrauchen!“ Keis Augenbrauen wanderten langsam in die Höhe, während er auf Hinata und sein erwartungsvolles Strahlen hinabblickte. Er könnte kotzen. Sich demonstrativ vorlehnend, als könnte er damit die fast dreißig Zentimeter Größenunterschied zwischen ihnen überbrücken, lächelte er Hinata zu, so freundlich, dass dem Jungen das Grinsen auf dem Gesicht gefror. „Ich möchte dich ja nicht enttäuschen, Kleiner, aber ich bin so wenig erwünscht, wie ich überhaupt Lust habe, zu partizipieren.“ – „Partiziwas?“ – „Mitmachen“, übersetzte Yamaguchi gutmütig, doch das gutmütige Lächeln auf seinem Gesicht verschwand schnell wieder und wurde ersetzt durch einen beunruhigten, bittenden Blick. „Tsukki, wir–“   „Du musst mitmachen.“   „Eh? Hinata?!“ Braune Augen fixierten Kei mit einem Blick, der so entrückt war, dass er sich nicht sicher war, ob Hinata gerade überhaupt irgendetwas sah und wahrnahm. Er verengte die Augen, während Yamaguchi zwischen ihnen hin und her sah, scheinbar selbst nicht ganz wissend, was er nun tun sollte. „Warum sollte ich?“ Warum sollte ich irgendetwas tun, dass du von allen Menschen mir vorschreibst? „Weil wir dich für den Sieg brauchen. Du bist besser als Narita-San, und“ – Hinatas Blick normalisierte sich langsam wieder, der Ausdruck seltsamer Entrücktheit wich einem großäugigen Staunen voller Begeisterung, die Kei gerade wirklich mehr als deplatziert fand, und irgendwie mischte sich zusätzlich Empörung in Hinatas Blick – „Und du bist so groß wie uwaaah und mit deinem Block kannst du wämm selbst gegen Datekous Riesen ankommen, und du musst!“ „Vergiss es.“ Kei verzichtete dankend. Jetzt noch mehr als vorher, aber allein Hinata zuzuhören löste in ihm ein Gefühl von Übelkeit aus. Er verstand es einfach nicht, wie irgendjemand, der bei klarem Verstand war, sich mit so viel hitzköpfigem Ehrgeiz in so eine Banalität wie eine billige Clubaktivität reinhängen konnte, die in drei Jahren nicht einmal mehr zu einer netten Anekdote reichen würde. Und dazu die unnötige Lautstärke und Hinatas ganze Art – es war widerlich.   „Kageyama braucht dich.“   „Was?!“ Yamaguchi nahm Kei die Worte aus dem Mund. Er konnte selbst nur auf Hinata hinabstarren, als wäre er verrückt geworden, doch der kleine Idiot begegnete seinem Blick mit einer absoluten, überzeugten Ruhe, die das ganze Thema gleich noch ein bisschen abstruser werden ließ. „Kageyama wird jeden Angreifer brauchen, den er kriegen kann. Narita-San ist überhaupt nicht gut auf ihn eingespielt, das ist das erste Mal, dass sie zusammen auf dem Spielfeld stehen, aber du – du bist das schon gewöhnt!“ „Hinata hat Recht, Tsukki.“ Worte, die Kei niemals aus Yamaguchis Mund hatte hören wollen. Aber in den letzten Tagen hatte Yamaguchi allgemein ein Talent dafür entwickelt, ihm Worte an den Kopf zu werfen, ohne die er sein Leben um einiges angenehmer hätte leben können. Er warf ihm einen säuerlichen Blick zu, sparte sich aber jeden verbalen Kommentar. Yamaguchi starrte ihn nur stur an, unnachgiebiger, als Kei ihn seit langem erlebt hatte. „Wir brauchen dich, Tsukki.“ Kei reckte das Kinn vor und versuchte, dabei weder allzu trotzig, noch allzu beleidigt auszusehen, obwohl er sich eigentlich beides fühlte. „Ihr vergesst beide, dass nicht ich derjenige bin, der sich weigert, mit mir zu spielen.“ – „Kageyama wird mit dir spielen!“, erwiderte Hinata im Brustton der Überzeugung, „Du musst dich doch nur bei ihm entschuldigen!“ – „Und genau das werde ich nicht tun.“ „Dann redet miteinander. Hier!“   Und ehe Kei noch etwas hätte sagen können, war Hinata weggerannt, ließ ihn und Yamaguchi stehen, und ganz unabsichtlich tauschte er einen genervten Blick mit Yamaguchi, der ihm für einen kurzen Moment da Gefühl gab, die ganze letzte Woche sei gar nicht erst passiert.     Das Gespräch, das Hinata indirekt schon angedroht hatte, fand am Ende draußen vor der städtischen Sporthalle Sendai statt. Kageyama stand ihm gegenüber, aggressiv und abweisend wie eh und je, und Kei lächelte, weil er nichts Besseres zu tun wusste. „Euer Majestät. Was für eine Ehre.“ – „Hör auf mit dem Scheiß!“, bellte Kageyama wütend, hatte schon einen Schritt auf ihn zugemacht, bevor er wieder innehielt und mit einem hasserfüllten Schnauben genau diesen Schritt wieder zurücktrat. Für einen langen Moment standen sie einfach so da, Kei auf Kageyama herabsehend, keiner von beiden geneigt, den Mund aufzumachen und das Gespräch voranzutreiben. Kei verstand ohnehin nicht, was die Farce sollte – seit wann tanzte Kageyama denn nach Hinatas Pfeife? (Seit wann war irgendjemand auf der Welt dumm genug, auf diesen kleinen Idioten zu hören?) Als auch nach mehreren Minuten des Schweigens nichts passierte, schnaubte Kei genervt, jedes halbwegs freundliche Schauspiel fallenlassend. „Was willst du? Erzähl mir nicht, dass seine Majestät den Nutzen des einfachen Pöbels einsieht und ernsthaft darauf zurückgreifen möchte.“ Stille. Kageyamas Gesicht, irgendwo zwischen Wut, Ärger, und viel zu großem Stolz, den er scheinbar gerade herunterzuwürgen versuchte, sprach eigentlich Bände. „Wie nobel, dass Ihr Eure königliche Würde für das Team opfert. Aber…“ Kageyama provozierte ihn einfach. Sein ganzes Gesicht war provozierend. Seine bloße Existenz trieb Kei zur Weißglut, und genau deshalb überbrückte er die kurze Distanz zwischen ihnen. Kageyama blieb stehen, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt und sein Blick starr und stolz. Kei wollte ihm diesen Blick aus dem Gesicht wischen. Er lehnte sich vor, grinste, als er sah, wie Kageyama sich mit jedem Zentimeter mehr versteifte. Kurz vor den Lippen des anderen hielt er inne. „Glaubst du wirklich, dass du mir zuspielen könntest, Tobio?“   Der Schlag, den Kei erwartete, blieb aus. Er war beinahe enttäuscht, dass er es nicht geschafft hatte, Kageyama so sehr aus der Fassung zu bringen, aber ein Blick in sein verkniffenes, hasserfülltes Gesicht war beinahe Entschädigung genug. Er schien wirklich schwer schlucken zu müssen, um seinen Stolz zu überwinden.     „Ich spiele zu jedem, der notwendig für den Sieg ist.“ Kapitel 5: Überraschende Erkenntnisse ------------------------------------- Die Blicke, die Kei bekam, als er die Ecke im Gang erreichte, in der sich Karasunos Jungen-Volleyballteam niedergelassen hatte, rangierten überall zwischen Erstaunen und Erleichterung. Yamaguchi strahlte, als versuchte er, Hinata Konkurrenz zu machen (absolut unmöglich), und Sawamura und Sugawara tauschten einen Blick, der Kei viel zu unangenehm an ein Elternpaar erinnerte, das erleichtert darüber war, dass ihr Problemkind seine Trotzphase überwunden hatte. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis Nishinoya auf ihm hing. „Tsukishimaaaaaaaa! Du hast dir ganz schön Zeit gelassen! Hast du wenigstens dein Trikot dabei?!“ Nein. Hatte Kei nicht. Warum sollte er auch? Aber ehe er das hätte sagen können – zuerst pflückte er ohnehin Nishinoya von sich und stieß ihn achtlos beiseite –, räusperte Yamaguchi sich verlegen. Er sah kleinlaut aus, als er zu Kei hinüberblinzelte, das Strahlen war ihm vergangen. „Um. Tsukki, deine Mutter bringt es vorbei.“   Nach diesem kurzen Austausch war alles wie immer.   Kei hätte auch nichts anderes erwartet. Während sie da hockten, teilweise noch mit Dehnübungen beschäftigt, teilweise ausruhend, wurde die Startaufstellung für das nächste Match durchgegangen. Es erstaunte niemanden, dass Narita seinen Platz auf der Bank zurückbekam und Kei stattdessen eingesetzt wurde. Sawamuras Blick, als Ukai die Aufstellung verkündete, war ernst und mahnend, und Kei ignorierte es vollkommen. Es war ihm egal, was sein Captain von ihm dachte. Oder der Rest des Teams. Es war nicht, als hätte er es nötig, auf dem Spielfeld zu stehen und live dabei zu sein, wenn Karasuno nun verlor. Datekou war ihm ein Begriff – ein Begriff, der vor allem davon ausging, Dass Datekou weit stärker war als Karasuno. Das Team zerstreute sich, nachdem die organisatorischen Belange geklärt waren. Yamaguchi verkündete, er würde Kei begleiten, als der schließlich zum Haupteingang der Halle trottete, um dort Mutter und Sportbekleidung in Empfang zu nehmen. Kei sparte sich den Protest, weil es letztlich doch vertrauter war, Yamaguchi bei sich zu haben. Nach einem kurzen Abstecher in die Umkleiden verschlug es sie nach draußen, wo sie im Schatten eines Baumes ein leichtes Mittagessen zu sich nahmen. „Weißt du, Tsukki, ich bin froh, dass du zurück bist.“ Yamaguchi sah zu ihm hinüber, und als er sich sicher war, dass er Keis Aufmerksamkeit hatte, grinste er bis über beide Ohren. „Es fehlt einfach etwas ohne dich!“ „Ich bin sicher, du bist der einzige, der das so sieht.“   Yamaguchi sah nicht überzeugt aus. Kei war umso überzeugter.   „Ich denke, Hinata mag dich“, fuhr Yamaguchi fort, während er mit spitzen Fingern sein Essen zerrupfte. Keis Augenbraue wanderte in ungeahnte Höhen, während er Yamaguchi ungläubig betrachtete. „Im Ernst! Aber gut, Hinata mag ja auch jeden?“ „Ihr seid ja ganz schön dicke geworden.“ Es hatte kein Vorwurf sein sollen, nicht wirklich, denn im Endeffekt war es Kei doch egal, was Yamaguchi tat, aber es kam vorwurfsvoll heraus und Yamaguchi machte es noch schlimmer, weil er beinahe ertappt blinzelte, ehe er den Blick senkte. „Er–“ – „Halt die Klappe, Yamaguchi.“ Was auch immer er war, Kei wollte es nicht hören. Mit einem Ruck erhob er sich von seinem Platz, nachdem sein Essen längst vertilgt war. Dehnübungen zu machen war eine gute Möglichkeit, Yamaguchi das Gesprächsende zu signalisieren, ohne ihm noch mehrmals den Mund verbieten zu müssen. Er sah aus, als wolle er sich unbedingt rechtfertigen wegen Keis unabsichtlichem Vorwurf. Dabei war es doch ganz alleine sein Ding, mit wem er sich anfreundete. (Kei musste seine Freunde ja nicht mögen.)     Auf dem Spielfeld zu stehen war seltsam. Kageyama, natürlich, ignorierte Kei, so gut es möglich war. Davon ab war alles wie immer: Nishinoya war ein Idiot, aber in seiner Idiotie schaffte er es, die angespannte Stimmung mühelos wieder zu lockern. Kei merkte erst im Nachhinein, wie sehr ihn die Stimmung selbst tangiert hatte. „Wir gewinnen“, murmelte Hinata. Es schien, als wolle er sich selbst davon überzeugen. Neben ihm stand Kageyama. Er nickte, fest entschlossen. „Wir gewinnen.“ Kei schnaubte angewidert. Sie waren doch beide ekelhaft. Ein Blick auf ihr gegnerisches Team sollte doch zur Genüge zeigen, dass sie keine Chance hatten – Datekous Spieler waren größtenteils wahre Hünen, und sie waren nun wirklich nicht umsonst als der Eiserne Wall bekannt. „Tsukki. Viel Erfolg!“   Mit Ende der Aufwärmphase schließlich war es vorbei mit den Glückwünschen und guten Zusprüchen, und während sich die Spreu vom Weizen trennte – der unnütze Ersatz auf die Bank, der Rest aufs Spielfeld –, fragte Kei sich eigentlich nur, wieso er sich darauf eingelassen hatte, hier mitzumachen. Vielleicht war es tatsächlich wegen Kageyama. Kei wollte sehen, wie seine Hoheit ihren Stolz herunterschluckte und zähneknirschend im Team mit ihm spielte – oder wie er wahlweise unterging, weil er es nicht schaffte.   Allerdings kristallisierte sich schnell heraus, dass es keine teaminternen Probleme brauchte, damit sie scheiterten – Datekou waren eindeutig das bessere Team. Während Kei selbst noch auf der Bank saß und beobachtete, weil Libero Nishinoya seinen Platz auf dem Feld innehatte, wurde klar deutlich, dass Karasuno weit unterlegen war. Vielleicht mochte sich etwas ändern, wenn Kageyama und Hinata auf ihre Freak-Angriffe zurückgriffen, doch Kei sah keine Möglichkeit, zu gewinnen. Ihm konnte es egal sein. Er hatte nichts anderes erwartet. Er verstand wirklich nicht, wie man sich so sehr reinhängen konnte für etwas, das einfach nicht funktionierte. „Tsukki. Sie planen etwas.“ Yamaguchis Schulter drückte gegen Keis, als er sich zu ihm hinüberlehnte, um ihm zuzuwispern. Sie waren Hinata und Kageyama, die gerade etwas abseits zusammengerottet standen. In dem Lärm der Sporthalle konnte Kei ihr Gespräch nicht hören, aber Hinatas ganze Körpersprache drückte Aufregung und Begeisterung aus, und zumindest das freudige Krähen schwebte bis zu ihm hinüber, auch wenn die Worte auf dem Weg verloren gingen.   Kageyama lächelte.   Kei hatte ernsthaft nicht gewusst, dass er das konnte. Kei wollte gar nicht erst glauben, dass er es konnte. Wann immer er an Kageyama dachte, hatte er das aggressive bis hasserfüllte Gesicht des anderen vor Augen, mal erzürnt über einen bösen Spott, mal wirklich eiskalt angewidert, wenn man ihn zu weit trieb. „Tsukki?“ – „Halt die Klappe, Yamaguchi.“   Es konnte Kei eigentlich doch auch egal sein.     Nishinoya schlug ihm auf die Schulter, als er Plätze mit Kei tauschte. Als wären sie alte Freunde. Oder Teamkameraden. Beides war lächerlich, und es nervte Kei. „Euer Hoheit“, begann er, kaum, dass er in Kageyamas Hörweite angekommen war, „Tut mir den Gefallen und spielt nicht so nah ans Netz. Ich kann dankend darauf verzichten, geblockt zu werden.“ Kageyama sah ihn an, und im ersten Moment sah er eisige Ablehnung in den blauen Augen. Es schien einen langen Moment zu dauern, bis sich Kageyama selbst daran erinnerte, dass er beschlossen hatte, Kei zuzuspielen, und dann wandte er mit einem unbestimmten Brummen den Blick ab. „Hah?“ Nicht, dass Kei das so stehen lassen würde. Er verkniff sich ein Grinsen, während er augenscheinlich gleichmütig (und innerlich sehr amüsiert) beobachtete, wie Kageyama sich irgendwie doch noch ein paar Worte abrang: „Ich hab gesagt, ich bin einverstanden.“ „Du solltest deutlicher reden. Aber natürlich. Ihr nehmt nicht gerne Befehle des Pöbels an, oder, Euer Majestät?“   Wäre Tanaka nicht sofort dazwischen gegangen, vielleicht hätte Kageyama zugeschlagen. Vielleicht hätte er sich auch im letzten Moment wieder besonnen. In jedem Fall stellte Kei fest, dass er dieses aufgebrachte und wutentbrannte Gesicht um einiges angenehmer fand als das völlig deplatzierte Lächeln, das er vorhin gesehen hatte.   Und dann flog der Ball. So egal Kei Volleyball auch sein mochte, jetzt, wo er mittendrin dabei war, nahm er es ernst genug, dass ihm Kageyama und alle lapidaren Spötteleien erst einmal egal wurden. Das hatte nach dem Spiel noch genauso gut seinen Platz. In gewisser Weise war es Routine. Volleyball bestand schlussendlich eben doch nur aus den gleichen Abläufen, die immer und immer wieder in verschiedenen Variationen abgespult wurden, und sie waren Kei vertraut. Selbst der Umstand, dass Hinata fast dauerhaft alle Aufmerksamkeit auf sich zog, war so natürlich geworden in der kurzen Zeit, in der Kei dieses nervige Kind kannte, dass es längst eine Selbstverständlichkeit war. Es störte Kei nicht. Hinata war ein ganz anderes Kaliber als er selbst. Mit dem kleinen Zwerg wollte er sich nicht vergleichen, denn er wusste, dass das Resultat dessen einfach nur erbärmlich wäre und das brauchte er nicht. Seine Position, wie sie war, reichte ihm. Den Ärger abwenden, solange Hinata in der hinteren Reihe war und auf seinen Einsatz wartete, und schließlich zusehen, wie Hinata sich zurück ins Rampenlicht drängelte, sobald er wieder vor dem Netz platziert war.     Sie gewannen das Spiel. Ungefähr nach der Hälfte der Zeit hatte Kei aufgehört, es für eine Unmöglichkeit zu halten, und schließlich hatte er jeden Zweifel beiseitegeschoben, dass sie scheitern könnten. Sie gewannen. Sahen sich Aoba Jousais Match an. Fuhren schließlich zurück zur Schule, um ein letztes Meeting vor dem Spiel am nächsten Tag abzuhalten, das sie gegen Aoba Jousai bestreiten mussten.   Auf der Busfahrt war es ruhig. Abgesehen von Kei schliefen sie alle. Nach zwei Spielen vermutlich wenig verwunderlich, dass sie müde waren. Nach nur einem Spiel wenig verwunderlich, dass Kei nicht eine ähnlich tiefe Erschöpfung verspürte. Er lehnte in seinem Sitz, starrte aus dem Fenster, ließ seine Gedanken wandern. Kageyama sah selbst im Schlaf aggressiv aus. Es erstaunte Kei nicht. Jetzt im Nachhinein konnte er sich gar nicht  mehr vorstellen, dass dieses Gesicht zu einer freundlichen Regung fähig war.   Hatte Kageyama nicht selbst beim Küssen noch aggressiv ausgesehen? (So genau hatte Kei gar nicht hingeschaut, wo er darüber nachdachte.)     Auf das Meeting folgte Feierabend. Der altvertraute Weg von der Schule hinunter am Sakanoshita-Markt vorbei, bis sich ihre Wege ganz selbstverständlich an der immer gleichen Straßenecke trennen würde. Die Stimmung war euphorisch von den vorangegangenen Siegen, heiter, ausgelassen. Sugawara lächelte, als Kei zufällig seinen Blick auffing. Als wollte er wortlos sagen es ist gut, dass du zurück bist. Allein dafür wäre Kei am Liebsten wieder gegangen.   Er ging nicht.   Er spazierte weiter mit diesen Leuten den Weg entlang, hörte ihren Gesprächen zu, ohne zuzuhören, und ignorierte Yamaguchis langweiligen Smalltalk, dem er noch nie wirklich aufmerksam gefolgt war, seit er ihn kannte. Hinatas und Nishinoyas Geschrei übertönte sie ohnehin alle.   „Tsukishima.“ – „Hmmmm? Euer Majestät spricht freiwillig mit dem Pöbel? Ihr werdet doch nicht etwa krank?“ Kageyamas Blick hätte die Hölle zufrieren lassen können. Kei grinste, verschränkte artig die Hände hinter dem Rücken. „Bitte, sprecht doch. Ich bin ganz Ohr für Eure königlichen Sorgen.“ Mit einer Geste wies Kageyama weg von der kleinen Gruppe. Zu der Straßenlaterne, unter der sie schon einmal gestanden hatten. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah so sehr danach aus, dass er nicht hier sein wollte, dass Kei sich ernsthaft fragte, wieso er das Gespräch überhaupt initiiert hatte. Aus der Ferne hörte er Hinata hinüberbrüllen, dass sie sich beeilen sollten; offensichtlich wollte er noch etwas von Kageyama. „Oikawa-San ist extrem stark. Er wird jede Schwäche ausnutzen, die er findet. Egal, wie klein sie ist.“ Es war nicht das erste Mal, dass Kei hörte, wie unglaublich schrecklich Oikawa Tooru war. Er hob unbeeindruckt die Augenbrauen. Was auch immer die Warnung ihm sagen wollte, es zog an ihm vorbei, und er war nicht bestrebt, der Bedeutung von Kageyamas Worten hinterher zu hetzen. Sein Gegenüber verzog die Mundwinkel. Unwillig. Drucksend. Kageyama wollte nicht sprechen. Schon den ganzen Weg über war er still gewesen, auch wenn Kei das über allen anderen Lärm nicht allzu intensiv bemerkt hatte. Er seufzte unwirsch. „Was willst du mir sagen?“   „Du bist eine Schwäche.“ Kapitel 6: Spontaner Richtungswechsel ------------------------------------- „Was.“   Kageyamas Blick war stoisch und entschlossen, emotionslos, kalt. Nicht einmal mehr herausragend aggressiv. Es war der Blick, den er fürs Volleyballspielen reservierte, wenn er völlig in seinem Element war und den Thron des einsamen Königs bestieg. Eine hochmütige Selbstverständlichkeit, die zu sagen schien ich weiß es besser, also knie nieder und gehorche mir. Kei war wütend. Angewidert. Er hätte kotzen können von Kageyamas Arroganz. Aber mehr noch als Wut und Ekel verspürte er einen so tiefen Unglauben, dass sein Gesicht ihn vermutlich schon als Entsetzen übersetzte.   „Du bist eine Schwäche“, wiederholte Kageyama, ruhig, eisig. Du bist nutzlos. Ich werde dir nicht zuspielen. Ich spiele nur denen zu, die zum Sieg verhelfen, und das wirst du nicht tun. Du wirst uns runterziehen. In den Worten lagen so viele Anschuldigungen, Vorwürfe und Beleidigungen, dass Kei nicht einmal wusste, wo er anfangen sollte, sich aufzuregen. Seit er Volleyball spielte, hatte niemand solche Worte zu ihm gesagt. Seit er Volleyball spielte, war er, ohne viel Arbeit da hineinstecken zu müssen, bewundert worden – seine Größe ließ ihn automatisch bessere Voraussetzungen haben als so viele der anderen Spieler, sein Verstand gab ihm einen zusätzlichen Vorteil, und weil er in gewissem Maße Talent besaß, hatte er sich nie herausragend anstrengen müssen, um eine Leistung zu erbringen, die höher war als die der anderen. Objektiv wusste Kei, dass er besser sein könnte, wenn er wöllte. Er könnte härter trainieren, er könnte sich mehr reinhängen, aber – es war nur ein Club. Warum sollte er? Was hatte er davon, sich um etwas zu bemühen, das ihm maximal einen netten Vermerk auf dem Zeugnis einbrachte? Kei hat sich sehr für seinen Club engagiert. Wie in der Grundschule. So ein Schwachsinn. Nach der High School war es vorbei mit dem Volleyball – er war kein Idiot, der ewig lange einem unerfüllbaren Traum nachrannte.   Er war nicht Akiteru.   Objektiv wusste er auch, dass er trotzdem weit davon entfernt war, schlecht zu sein. Gerade gemessen an Karasunos Standard war er einer der stärkeren Spieler, selbst wenn seine Annahmen nicht gut waren, selbst wenn sein Block unenthusiastisch war; er war besser als die Zweitklässler, das bewies alleine schon, dass er ohne Anstrengung einen Platz in der Startaufstellung bekommen hatte. Er war besser als Yamaguchi, der, obwohl er sich so intensiv reinhängte, trotzdem immer auf der Bank sitzen bleiben würde. Ihn nicht einzusetzen, bedeutete, entweder auf Narita zurückzugreifen, der kleiner war als Kei, eine weit geringere Reichweite hatte, und bei aller Erfahrung nicht halb so nützlich war, oder auf Yamaguchi, der eine noch viel schlechtere Wahl wäre – vor allem, wenn sie darauf setzten, ihn für Notfall-Aufschläge nutzen zu können. Kurzum: Kageyamas Verhalten war gerade unglaublich idiotisch. Die Tatsache, dass Kageyama völlig überzeugt von seinen Worten zu sein schien, auch ganz ohne jede Bitterkeit ihrer zerrütteten Beziehung, machte es nur noch idiotischer – und schlimmer, denn auch wenn Kei das niemals zugeben würde, er wusste, dass Kageyama keinen schlechten Kopf hatte, wenn es um Volleyball ging. Woher auch immer es kam, er glaubte wirklich, dass Kei das Team runterziehen würde. Dass er eine Schwachstelle war. Ein Klotz am Bein. Langsam, betont ruhig reckte Kei das Kinn vor, bis er deutlich auf Kageyama hinabsehen konnte. Die blauen Augen des Anderen glühten im Schein der Straßenlaterne, ohne irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, die über strenge Ablehnung hinausging.   „Euer Majestät. Ihr ändert eure Meinung verblüffend schnell. Heute noch wolltet Ihr unbedingt, dass ich mitspiele.“ Kei lächelte. Kageyamas stoisch ruhiger Blick verzog sich zu einer hasserfüllten Grimasse, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und die Mundwinkel weit nach unten gezogen. Keis Lächeln wurde breiter. Kageyama schwieg. „Nun… was auch immer Euer Majestät sagt. Ihr solltet das wohl vielmehr dem Captain verklickern als mir. Ich bin mir sicher, Sawamura-San wird begeistert sein.“ „Es ist nötig“, gab Kageyama frostig zurück. Er hob das Kinn, stolz und selbstüberzeugt, und die hasserfüllte Fratze wandelte sich wieder in etwas weit ruhigeres, entschlosseneres.   „Es ist völlig unmöglich, dass du gegen Oikawa-San spielen kannst.“   Kei fragte sich, warum. Kei fragte sich ernsthaft, woher Kageyama den Glauben nahm, er könne die Situation so perfekt einschätzen. Auf der anderen Seite wollte er es gar nicht wissen. Er brauchte keine Kageyama-Kritik. (Er brauchte gar nichts von Kageyama.) Und ehrlich? Warum sollte es ihn eigentlich stören? Er war nicht scharf darauf, zu spielen. Gegen Datekou mochten sie mit Glück und Ausdauer noch gesiegt haben, aber Seijoh waren ein ganz anderes Kaliber, von dem Kei fest überzeugt war, dass sie nicht zu schlagen waren. Er wusste, dass Oikawa ein unglaublich guter Spieler war, er wusste, dass Seijoh ein starkes Team waren und vermutlich die einzigen in ganz Miyagi, die auch nur eine Chance hatten, gegen Shiratorizawa zu gewinnen. Er deutete eine Verbeugung an, die vor Hohn und Spott nur so troff. Selbst Kageyama konnte es nicht übersehen – und er übersah es auch nicht, das war eindeutig in seinem Gesicht geschrieben.   „Ihr entschuldigt, Euer Hoheit, aber ich werde es mir sparen, Euren Untergang mit anzusehen. Ich möchte nicht wegen Ruhestörung aus der Halle fliegen, weil ich zu laut lache.“   Kageyama sah aus, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Kei lächelte in grimmiger Befriedigung, als der Schwarzhaarige sich ruckartig abwandte und wegmarschierte. Sein Abgang wurde von Hinatas Gebrüll untermalt, und als Kei schließlich auch zur Gruppe aufschloss, hörte er gerade noch, wie Kageyama sich an Sawamura wandte, weil er dringend mit ihm reden musste. Es war nicht schwer, zu erraten, worüber er reden musste. Sawamuras Blick ging sofort in Keis Richtung. Sugawara folgte. Während Sawamura eher skeptisch und unzufrieden aussah, dass sich da neue Probleme ankündigten, sah Sugawara ehrlich besorgt aus. Das ganze Drama war so greifbar, dass es unmöglich war, dass selbst solche intelligenzarmen Menschen wie Hinata es übersahen, doch ehe es zu ersten unnötigen Einmischungen kommen konnte, hatte Ennoshita Nishinoya an der Schulter gepackt, die andere Hand drückte Tanaka von der Gruppe weg. „Kommt, wir gehen schon mal vor. Müsst ihr nicht noch Hausaufgaben machen?“ Die Ablenkung reichte, damit die Zweitklässler geradezu die Beine in die Hand nahmen und flüchteten. Kei sah ihnen kurz mit einem Anflug von Genugtuung hinterher, während Nishinoyas Jammern über Hausaufgaben und schlechte Testergebnisse noch durch die Luft waberte. Dem Beispiel folgend verabschiedete sich auch Azumane, der es schaffte, Hinata wegzulotsen. Der kleine Idiot folgte ihm mit strahlenden Augen und dem Enthusiasmus eines kleinen Hündchens, dem man zu viele Leckerchen versprochen hatte.   „Yamaguchi, komm.“ Yamaguchi kam. Yamaguchi fragte, was passiert sei. Kei antwortete nicht, und das schien Antwort genug zu sein, dass Yamaguchi neben ihm schnell wieder in Schweigen verfiel. Er starrte unglücklich auf den Boden vor seinen Füßen, immer mal wieder einen Blick in Keis Richtung werfend. Er setzte noch ein paar Mal zum Sprechen an, doch schließlich gab er endgültig auf. An der üblichen Ecke blieben sie schließlich zum Abschied stehen. „Bis morgen, Tsukki.“ Es klang fast wie eine Frage. Wäre Kei nicht so angepisst, er wäre beeindruckt davon, wie gut Yamaguchi die ganze Situation begriffen hatte, ohne dass er ihm auch nur ein Wort gesagt hatte. Er schnaubte. Sparte sich jede Antwort und ließ Yamaguchi einfach stehen.   Er hatte ihm nichts zu erklären.     „Kei, musst du nicht langsam los?“ Er blickte von seinem Frühstück auf, desinteressiert und unwillig. Seine Mutter blickte ihn interessiert und lächelnd an. Hatte sie sich die letzten Tage noch Sorgen gemacht, weil Kei nach der Schule sofort heimgekommen war, so war davon jetzt nichts mehr übrig. Sie schien wirklich zu glauben, er sei über seine Phase hinweg. „Mh. Ja, ich geh gleich.“ Wohin auch immer. Aber Kei hatte keine Lust, seiner Mutter einen Grund zu geben, unnötiges Theater zu machen. Er stieß mit einem missgelaunten Seufzen die Luft aus und er hob sich von seinem Platz; der Appetit war ihm vergangen. Einmal draußen wusste er allerdings auch nicht unbedingt, wohin mit sich. Sicherlich nicht zur städtischen Sporthalle in Sendai. Irgendwohin, wo er Ruhe hatte. Musik hören. In der Gegend waren genug Grünflächen, wo man sich einfach niederlassen und abschalten konnte.   Nur das Abschalten wollte nicht funktionieren.   „Du bist eine Schwäche.“   Kageyama war ein Genie. Natürlich hatte er andere Maßstäbe. Kei sollte es nicht wundern. Kei wunderte es auch nicht, dass das ganze Team seinen Einschätzungen zweifelsohne folgen würde und niemand außer Yamaguchi ernsthaft hinterfragen würde, wieso er nicht spielte. Was ihn ernsthaft wütend machte und nicht los ließ, war die blanke Tatsache, dass er es hasste, zu verlieren. Als inkompetent dazustehen. Es war erbärmlich.   Es war erbärmlich, dass er keine Möglichkeit hatte, Kageyamas Einschätzung zu revidieren. Er wollte diesem widerlichen Idioten die selbstüberzeugte Arroganz aus dem Gesicht wischen. Er hasste Menschen, die ihn nicht für voll nahmen.     Es war eine Impulsentscheidung.   Kei wusste, dass sie dumm war, noch ehe er sie ausgeführt hatte, aber er befand, es wäre noch dümmer, einfach stehen zu lassen, was Kageyama für sich selbst und das ganze Team beschlossen hatte. (Kei war kein Teamspieler. Er brauchte kein Team. Es war ihm grundlegend egal, wenn man von seinem verletzten Stolz absah und der Tatsache, dass Kageyama der allerletzte Mensch auf Erden war, dem er jemals irgendetwas durchgehen lassen wollte.)   Trotzdem stand er jetzt hier und ein junger Mann mit einem freundlichen Lächeln und leichtem Bartschatten bat ihn, zu warten. Kei hakte die Finger ineinander, während er zusah, wie der andere wieder in der Sporthalle verschwand. Er hörte Stimmen durcheinander rufen, war sich sicher, in dem Wirrwarr irgendwo seinen Nachnamen zu hören. Kurze Zeit später stand er da. Hochgewachsen, aber kleiner als Kei, das gleiche Gesicht, nur viel freundlicher, das gleiche helle Haar. Keine Brille. Ein Blick, als würde er gerade einen Geist sehen, völlig ungläubig, verständnislos, und dahinter – hoffnungsvoll. Kei hatte das dringende Bedürfnis, einfach wieder abzudrehen. „Kei…? Was machst du hier? Mama hat gesagt, du hast heute ein Spiel–“ – „Ich muss mit dir reden.“   Es dauerte keine zwei Minuten, bis Akiteru sich bei seinem Team abgemeldet und die Hallenschuhe gegen Straßentreter eingetauscht hatte. Er führte Kei ein Stück von der Sporthalle weg, bis sie eine Bank erreichten, die im Schatten ein paar alter Bäume stand. „Setz dich. Und dann erzähl, kleiner Bruder.“ Akiteru sah immer noch aus, als könne er es nicht glauben. Fassungslos, und glücklich, und Kei hasste es, denn er war sicherlich der letzte, der Akiteru glücklich machen wollte. Er lehnte sich zurück, sah hinunter auf die Finger, die er im Schoß verknotet hatte, und wusste gar nicht so recht, was er eigentlich sagen sollte. Er würde Akiteru sicherlich nicht erzählen, was passiert war. Nichts davon. „Warum spielst du noch?“ Kei wusste es. Er hatte gehört, wie seine Mutter und sein Bruder darüber gesprochen hatten, bei einem der schrecklich befangenen Essen, die sie geteilt hatten, wenn Akiteru einmal nach Hause kam. (Kei vermied ihn wie die Pest. Er wollte seinen Bruder nicht sehen, wenn es nicht nötig war.) Einen langen Moment sah Akiteru ihn nur an. Dann lächelte er und lehnte sich ebenfalls zurück. Sein Blick, wo Kei zu Boden blickte, ging hinauf in den Himmel. „Du bist groß geworden.“ Nicht das, was Kei hatte hören wollen, und entsprechend runzelte er unwillig die Stirn. Er zuckte mit den Schultern, schnaubte herablassend. „Es hat geholfen, einen Platz in der Startaufstellung zu bekommen.“ – „Ehrlich?! Das ist großartig, Kei!!“ Kei sparte es sich, hinzuzufügen, dass ihm dieser Platz gerade abhandenkam. Es sollte ihm egal sein, aber es war ihm nicht egal, und obwohl die Worte schon auf seiner Zunge lagen, kamen sie nicht heraus. Er brummte nur unbestimmt.   Er mochte diesen Rollentausch nicht.   „Warum sollte ich aufhören?“ – „High School.“ Akiteru lachte. Es klang nicht ganz bitter, eher wehmütig und schuldbewusst. „Aber gerade deshalb höre ich nicht auf. Ich hab mich dumm verhalten. Ich habe Fehler gemacht, und ich war echt verdammt frustriert. Ich hab drüber nachgedacht, zu schmeißen. Aber – nein. Gerade weil ich ein Idiot war. Weil ich nie die Möglichkeit hatte, wirklich zu spielen. Weil ich dich so etwas Erbärmliches hab sehen lassen. Weil ich weiß, was Volleyball so besonders macht. Ich will nicht aufhören, ehe ich das nicht wieder haben kann.“ Kei blinzelte. Er sah in Akiterus stolz grinsendes Gesicht und wandte den Blick doch lieber wieder ab. Es ergab für ihn keinen Sinn. „Spielt ihr Turniere?“ – „Jup.“ Wieder ein Grinsen. Diesmal sah es scheu aus. „Diesmal bin ich wirklich Starter.“ Es war so leise, dass Kei es kaum hörte, obwohl er direkt neben ihm saß. Sollte es ihn kümmern? Alles, woran ihn Akiterus Worte erinnerten, war die Enttäuschung, die Welt, die für Kei zusammengebrochen war mit dem Lügenschloss seines Bruders. Machte es irgendetwas besser, dass Akiteru es schaffte, sich als nützlich hervorzutun in einem Team, das zweifelsohne nicht gut war? „Warum?“ „Ich will wirklich zufrieden sein können mit meiner Leistung. Bis ich das nicht schaffe, höre ich nicht auf. Ist das nicht normal?“ Kei seufzte still. War es das? Er empfand diesen Antrieb nicht. „Was hast du davon? Es ist doch nur ein Club. Du verdienst weder Geld damit, noch Anerkennung, noch irgendetwas anderes.“   „Muss ich auch nicht. Kei, weißt du? Wenn es etwas gibt, dass dir wirklich, wirklich wichtig ist… dann tust du es nicht, um gut dabei auszusehen. Oder weil du große Erfolgschancen hast. Du tust es, weil du es willst – und das auch dann noch, wenn es fruchtlos erscheint und du ewig nur auf der Ersatzbank sitzt.“ So wie Yamaguchi. Wenn man es so betrachtete, war Yamaguchi wahlweise beeindruckend, oder unglaublich erbärmlich. Kei hatte ihn noch nie als erbärmlich betrachtet.   „Du spielst auch noch. Musst du nicht eher dir die Frage stellen?“ Aber Kei hatte seine Antwort – er spielte aus Bequemlichkeit, und er konnte jederzeit aufhören. Zumindest war das bisher so gewesen. Jetzt aber… „Ich gönne ihm die Genugtuung nicht.“ Einen Moment sah es so aus, als wollte Akiteru nachfragen. Dann blinzelte er nur und zuckte die Schultern, lachend. Etwas in seinem Gesicht sagte das ist so typisch für dich, und Kei hasste diesen Blick, hasste die Selbstverständlichkeit, mit der Akiteru immer noch sein Bruder war, egal, wie sehr er sich von ihm zu distanzieren versuchte. Schwungvoll stand er auf, grinsend, streckte eine Hand nach Kei aus. „Dann trainiere! Willst du uns Gesellschaft leisten?“ „…“ Kei schnaubte. Er ergriff die Hand seines Bruders nicht.   „Ich hab eh nichts Besseres zu tun.“     Sie sprachen nicht mehr darüber, wieso Kei nicht bei seinem Spiel war. Kapitel 7: Erkenntnisreiche Niederlage -------------------------------------- Wir haben verloren.   Die Nachricht kam viel später, als Kei erwartet hatte. Dass Karasuno verlieren würde, stand für ihn völlig außer Frage, doch er hatte weit früher damit gerechnet, dass Yamaguchi ihm diese Nachricht mitteilen würde. Er glaubte nicht, dass sie ein allzu lang andauerndes Match gespielt hatten. Entweder, Yamaguchi hatte zu lange mit sich gehadert, oder aber, er hatte einfach zu lange gebraucht, um über seinen Tränenschleier hinweg die richtigen Tasten auf seinem Smartphone zu finden. Irgendwie war letzteres am Wahrscheinlichsten. „Was hast du da?“ Akiterus Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Fast ertappt steckte er sein Handy zurück in seine Tasche und stand wieder aus der Hocke auf. Eigentlich hatte er nur etwas trinken wollen, dann hatte er das Blinken seines Handys bemerkt, das gerade eine Nachricht empfing. „Yamaguchi.“ – „Tadashi? Wie geht es ihm? Seid ihr immer noch so dicke?“ Kei würdigte die Frage gar keiner Antwort. Er verhakte unruhig die Finger, sah an Akiteru vorbei, statt ihn anzusehen.   „Er hat mir geschrieben, dass wir verloren haben.“   „Es frustriert dich.“ Akiteru grinste. Es war kein spöttisches, herablassendes Grinsen, sondern voller Liebe und Mitgefühl – es war ekelhaft. Kei schnaubte abfällig. Es frustrierte ihn nicht. Es war nicht, als hätte er einen Unterschied am Matchausgang gemacht, insofern; wieso sollte es? Gegen einen Gegner, der logisch betrachtet einfach unschlagbar war, gewinnen zu wollen, war unglaublich dumm. Es wäre dumm, würde es ihm etwas ausmachen.   (Die Wahrheit war, Kei hasste es, zu verlieren.)   Akiteru schüttelte den Kopf. Er schmunzelte über einen Witz, den Kei gar nicht verstehen wollte, dann warf er ihm den Volleyball zu, den er in der Hand hielt. „Nächstes Mal zeigst du es ihnen.“   Kei zweifelte daran, dass nächstes Mal kommen würde. Und es war ihm egal. Er schnaubt nur, schüttelte den Kopf und schnaubte noch einmal. „Weißt du, du kannst jederzeit mit uns trainieren, wenn du möchtest.“ Akiteru ließ sich von seiner Laune gar nicht stören. Er lächelte aufmunternd, gewinnend. „Die Jungs mögen dich! Und sie sagen, du hast Talent. Außerdem würde ich mich freuen, ein bisschen mehr Zeit mit meinem süßen kleinen Bruder zu verbringen!“ Genau die Dinge, die Kei nicht wollte. Zeit mit Akiteru verbringen. Unnötiges Training, unnötige Anstrengung für etwas, das ihm in zwei Jahren auch nur noch egal sein würde. Er rümpfte die Nase und warf seinem Bruder den Ball zurück. „Ich sollte gehen.“ – „Wa–? Kei, nicht! Komm zurück! Bleib hier!!!“ Akiterus Gesicht entgleiste völlig, er streckte den freien Arm nach Kei aus, als wolle er ihn aufhalten. „Warum sollte ich?“ Akiterus Grinsen sagte ihm schon, dass Kei gar nicht hören wollte, was sein Bruder zu sagen hatte.   „Weil du gewinnen willst. Und du willst doch ihm eins auswischen, nicht wahr?“     Als Kei am Abend endlich nach Hause kam, war es viel zu spät und er viel zu müde.     Der nächste Schultag war nicht nur oberflächlich unangenehm. Kei traf Yamaguchi wie immer noch auf dem Schulweg. Er war von sich aus still. Verbissen. Missgelaunt. In sich gekehrt. Sein Gesicht erzählte trotzdem Geschichten der gestrigen Niederlage. „Du hast verkackt.“ Yamaguchi blieb abrupt stehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er sah aus, als würde gleich wieder losheulen. „Ich war völlig nutzlos!“ Er klang genauso frustriert, wie er aussah. Kei blinzelte nicht einmal. Was hatte er denn erwartet? Er trainierte erst seit kurzer Zeit seinen Aufschlag, natürlich funktionierte das nicht. Aber natürlich machte Yamaguchi sich Hoffnungen. Es war nichts Neues. Kopfschüttelnd setzte Kei seinen Weg fort, Yamaguchi hinter sich. Einige Minuten blieb es völlig still, bis es diesmal Yamaguchi war, der die Stille brach: „Du hast gefehlt, Tsukki.“ – „Ich kann darauf verzichten, die Bank zu wärmen.“ „Tsukki–!“ Yamaguchi schnaubte lautstark, resigniert. „Das wird nicht wieder passieren! Ich bin sicher, Kageyama hatte einen Grund.“ Diesmal war es an Kei, zu schnauben. Auf halbem Weg wandte der Laut sich in ein abfälliges Lachen.   „Natürlich. Seine Majestät hatte einfach keine Lust auf mein Gesicht.“   Bis zur Mittagspause war Yamaguchi wieder er selbst. Laut, nervig, penetrant. Weil es vertraut war, beschwerte Kei sich nicht übermäßig. Es war besser als die unnötig schlechte Laune, die Yamaguchi davor gehabt hatte. Auch wenn Kei es alles albern fand – so viel Aufhebens um ein verlorenes Spiel. So war das Leben. Und es war doch nur ein Club. Seine Gedanken wanderten zu Akiteru, während er sich mit seinem Mittagessen befasste. Akiteru, der immer noch spielte. Akiteru, der besser war, als Kei ihm jemals zugestehen würde. Akiteru, der nicht aufgegeben hatte aus dummen Gründen wie Sentimentalität und Stolz, und der glücklich damit war. Es war alles so abstrus und dumm, dass Kei überhaupt nicht in der Lage war, es zu begreifen. Und ein bisschen… sah er diese gleiche, stoische, leidenschaftliche Dummheit in Yamaguchi, der gerade sein Essen in sich hineinschaufelte, als gäbe es kein Morgen. Wieso war Kei eigentlich nur von Idioten umgeben? Es war unfassbar.   „Hm, Tsukki?“ „Nichts.“ Er schüttelte den Kopf, ließ seine Aufmerksamkeit zu seinem Essen zurückkehren. „Wir waren wirklich schlecht.“ Es war keine fünf Minuten wieder still, bis Yamaguchi zu plappern begann. „Also… nicht schlecht schlecht, aber… Seijoh sind so viel besser! Es war frustrierend. Wir konnten kaum etwas ausrichten und ich– Ich war nutzlos. Selbst Hinata und Kageyama wurden ausgehebelt, und das viel zu schnell!“ Keis Augenbrauen wanderten langsam in die Höhe. „Ihre Signale haben versagt.“ – „Ja. Seijoh hat sie total schnell geknackt.“ Yamaguchi lachte elend. Er ließ den Kopf in die Hände fallen und sah für einen Moment unglaublich müde aus. „Tsukki, weißt du? Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, wenn du da gewesen wärest. Aber– du hast trotzdem gefehlt. Ehrlich. Ich bin nicht der Einzige, der so denkt!“ Yamaguchis Kopf ruckte wieder hoch. Sein Blick war fester, als Kei erwartet hätte – aber in letzter Zeit überraschte Yamaguchi ihn doch viel zu oft damit, wie viel Rückgrat er beizeiten haben konnte. „Tsukki, lass uns nie wieder hängen! Egal, was Kageyama sagt!“   „Nächstes Mal zeigst du es ihnen.“   Kei schnaubte angewidert und rümpfte die Nase. „Halt die Klappe, Yamaguchi.“ Er wusste selbst nicht, was ungesagt zwischen den Worten verborgen lag, aber Yamaguchi schien etwas zu finden, das ihn wieder strahlen ließ. Er verbrachte eindeutig zu viel Zeit mit Hinata. (Es stand ihm.)   „Sorry, Tsukki!“     Die Stimmung beim Training war nicht halb so erdrückt, wie Kei erwartet hatte. Allgemein wirkten sie nicht völlig niedergeschlagen. Seitdem die Drittklässler mit einer deutlichen Verspätung in die Halle gestolpert waren, war die Stimmung sogar richtig gut. Kei verstand nicht, wieso sie weitermachten. Sie hatten eine Zukunft, um die sie sich kümmern sollten, etwas, das wichtiger war als ein nutzloser Club, und trotzdem saßen sie hier, hörten sich die Rede vom Coach an, während der berichtete, wie das Finale der Vorrunde geendet hatte. (Seijoh hatte gegen Shiratorizawa verloren. Absehbar. Es war die letzten Jahre immer so gewesen.) Sie saßen hier mit ernsten, entschlossenen Gesichtern, und schmiedeten Pläne, bei der Frühlingsmeisterschaft nach Tokyo zu kommen. Unrealistische, dumme Pläne, denen Kei überhaupt nichts abgewinnen konnte, genau wie dem ganzen Drama insgesamt.   Es war ermüdend. Kei seufzte. Kaum, dass Ukai seine Rede beendet hatte, raffte er sich auf, zusammen mit dem Rest des Teams. Obwohl er wenig Motivation zum Training hatte, war er froh, dass das große Gerede vorbei war. All die leeren Versprechen und Motivationsreden waren einfach gar nicht sein Ding. „Hey, Kageyama!“ Wobei sie immerhin dafür gesorgt hatten, dass Hinata still war. „Kageyamaaaaa! Kageyama-Kun, hey!“ Keine Reaktion. Jetzt, wo Kei darauf achtete, wirkte Kageyama, als wäre er tief in Gedanken versunken. Er starrte Löcher in die Luft, die irgendwo zwischen aggressiv und einfach nur nichtssagend aussahen. Hinata hüpfte vor sein Gesicht, um Aufmerksamkeit zu bekommen, wedelte demonstrativ mit der Hand davor herum. „Ka-ge-ya-ma-Kuuuun~!“, singsangte er noch einmal. Kageyama fuhr wütend auf. „Was willst du, Idiot?!“ „Oooooh, du hörst mich ja doch noch! Wie nett von dir!“   Kei sparte es sich, sich den Ehekrach des Freak-Duos anzuhören. Er verdrehte die Augen und gesellte sich lieber zu Yamaguchi, um mit dem Aufwärmen zu beginnen. Was auch immer Hinata und Kageyama zu debattieren hatten, es war nichts, das ihn anging, und nichts, das ihn interessierte, und das noch weniger, wo sie nun allen Ernstes nur darüber diskutierten, wieso Kageyama dem nervigen Springteufel nicht sofort zugehört hatte. Inzwischen war Kageyamas Gesicht wieder komplett auf Aggressivität getrimmt, so wie immer eigentlich. Es war einfach so viel glaubhafter als sein Lächeln.   „Was hast du mit dem Typen besprochen?“ Wieder Hinata. Zu laut, um diskret zu sein, obwohl er es wohl versuchte. Er sah aus großen, neugierig forschenden Augen zu Kageyama auf. Kei wollte gerade wirklich nicht in Kageyamas Haut stecken; Hinatas Blick war unangenehm aufdringlich, genau wie das ganze Gebaren des Winzlings, der schon fast an Kageyama klebte. „Was für ein Typ?“ – „Na, der Schalottenkopf von Seijoh! Dieser riesige, gemeine Erstklässler, der so gwaargh aussieht!“ Kageyama sah absolut ratlos aus. Er blinzelte, runzelte die Stirn, dann verfinsterte sich sein Blick plötzlich, als ihn offensichtlich eine Erkenntnis traf. „Das geht dich nichts an“, blaffte er zurück. „Das geht mich wohl was an, Bakageyama!!! Der Typ hat dir fast ne Liebeserklärung gemacht!“ – „Hat er nicht!!“ – „Ja, aber er hat gesagt, dass er mal in dich verknallt war!“   „ES GEHT DICH NICHTS AN!“   Die plötzliche Lautstärke ließ die gesamte Belegschaft zusammenfahren. Hinata war mit einem Schlag mucksmäuschenstill. Er sah entsetzt aus, ungläubig, dass Kageyama ihn so sehr anfuhr. Ein bisschen sah er aus, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen; Kei fand das unglaublich befriedigend. Weniger befriedigend fand er das ganze Thema. Verknallt? In Kageyama von allen Menschen? Es konnte doch niemanden geben, der ernstlich so absolut grenzdebil dumm war, oder? Kei schnaubte voller Ekel. „Tsukki–?“ Yamaguchis Blick war fragend. Vorsichtig. Das verletzt dich nicht, oder? Keis Augenbrauen hoben sich, sein Blick wurde gefährlich kalt. Yamaguchi zog die Schultern hoch und blinzelte entschuldigend. „I-ich mein ja nur…“ – „Halt. Die. Klappe.“ Aber irgendwie machte es Sinn. Kei lächelte dünn, grausam in Erinnerung an Kageyamas Entsetzen damals, als er ihm Gefühlslosigkeit im Umgang mit der (in Keis Falle nicht vorhandenen) Liebe des Pöbels vorgeworfen hatte. Kei hatte also wirklich ins Schwarze damit getroffen, huh?   „Es ist mir doch egal, welchem Pöbel seine Hoheit schon alles einen Korb gegeben hat.“   Aber er hätte es zu gerne gesehen und darüber gelacht. Vielleicht bekam er die Gelegenheit noch. Seijoh war schließlich kein Gegner, den sie nie wieder sehen würden. Für den Moment schob er damit jeden Gedanken zu dem Thema beiseite. Er war nicht zum Training gekommen, um sich in Klatsch und Tratsch zu verlieren, sondern, schlussendlich, um zu trainieren. Sie waren doch ohnehin schon völlig in Verzug durch alle Besprechungen und Königsdramen, so langsam war es genug der Trödelei.     Sie kamen trotzdem nicht dazu, das Training wirklich anzufangen; die Sporthallentür flog auf, noch ehe sie ihre Aufwärmübungen auch nur ernsthaft angefangen hatten, und Takeda stolperte wortwörtlich mit dem Gesicht voran in die Halle. (Es sah schmerzhaft aus. Kei verstand nicht, wieso der Lehrer sich so sehr reinhängte. Er hatte doch auch nichts davon.)   „Wir gehen, richtig? Nach Tokyo!!!“ Kapitel 8: Beginnende Veränderung --------------------------------- Tokyo, für Kei, bedeutete weniger eine großartige Gelegenheit, als einfach nur zusätzlichen unnötigen Tumult und Anstrengung, auf die er dankend verzichten konnte. Er sah den Wert einer Trainingsgruppe nicht wirklich. Statt das halbe Wochenende nach Tokyo hin und zurück zu fahren, könnten sie genauso gut in Miyagi trainieren, sich womöglich noch ein oder zwei Trainingsmatches organisieren, nachdem das inzwischen durchaus wieder möglich sein sollte mit Karasunos aktueller Reputation, und hätten vermutlich genauso viel gewonnen. Und das ganz ohne all das unnütze Drama.   Es war anstrengend, bevor Takeda ihnen enthüllte, dass sie ihre Prüfungen bestehen mussten, um an dem Camp teilnehmen zu können, und danach wurde es nur noch anstrengender. Zugegeben, es war unterhaltend. Kei zog eine gewisse Befriedigung aus der Verzweiflung, mit sich diverse Hohlköpfe plötzlich in ihre Lernarbeiten stürzten, aber gleichzeitig bedeutete das, dass der Clubraum so viel lauter und nervtötender wurde.   Nach dem ersten Abend, den Kei mit Kopfschmerzen zugebracht hatte, weil alles und jeder durcheinander zu schnattern schien, beschloss er, dass es für seinen Verstand das Gesündeste war, nach dem Training so schnell wie möglich abzuhauen, selbst wenn das bedeutete, dass er unnötig hetzen musste.   Es war ein guter Plan. Er war schon aus dem Clubraum hinaus, noch ehe Kageyama und Hinata angekommen waren. Noch meterweit nach draußen konnte er Nishinoyas empörte Ausrufe hören, weil wieder irgendeine Banalität nicht in seinen dummen Schädel ging. „Tsukki! Warte!!!“ Yamaguchis Stimme ließ Kei für einen Moment innehalten. Er hörte schwere, schnelle Schritte hinter sich, und es dauerte nicht lange, bis Yamaguchi aufgeschlossen hatte. Er klang kaum merklich außer Atem, als er lachte. „Es ist wirklich ganz schön laut. Aber immerhin lernen sie?“ Kei hob die Augenbrauen, sah Yamaguchi in einem Anflug von abfälligem Unglaube an. Sollte ihn das etwa kümmern? Für ihn war es wirklich kein Verlust, wenn diverse Störenfriede zuhause bleiben mussten.   Besonders auf Hinata und Kageyama konnte er dankend verzichten.   Besonders auf Kageyama konnte er dankend verzichten. Im Training benahm der sich zwar den Umständen entsprechend wieder ganz typisch, aber das hieß nicht, dass Kei seine letzten Allüren schon vergessen hatte. Er hätte bei dem Spiel gegen Aoba Jousai gar nicht dabei sein wollen, so war es nicht. Kageyamas Arroganz ging ihm trotzdem erheblich gegen den Strich. Es war Zeit, dass der gute König von seinem hohen Ross hinunterstürzte, und was eignete sich dafür besser, als die Schmach, ein oh so tolles Trainingscamp zu verpassen? „Meinetwegen können sie wieder damit aufhören“, kommentierte er dumpf. Yamaguchi neben ihm lachte hilflos. Kei ahnte, dass da noch etwas kommen würde, das er gar nicht hören wollte. Irgendein Kommentar dazu, dass das Team ohne sein Freak-Duo und seinen brillanten – und unglaublich ätzenden – Libero doch gar nicht weit kommen würde. Dass sie Hinata und Kageyama brauchten. Dinge, die Kei objektiv betrachtet selbst bewusst waren, die ihn ganz subjektiv gerade aber nicht kümmerten. Er warf Yamaguchi einen scharfen Blick zu, gerade, als der den Mund aufmachte, um zu sprechen. Er schloss ihn wieder mit einem ertappten Blinzeln, das Kei nur noch darin bestärkte, schon gewusst zu haben, was der andere von sich geben wollte. Er war so leicht zu durchschauen.   „Tsukishimaaaaaaaaaaaaaaaaaa!!!!“   Kei zuckte unwillkürlich zusammen, Yamaguchi neben ihm – nicht. Ein kurzer Seitenblick zeigte etwas auf Yamaguchis Gesicht, das verdächtig nach wissendem Schuldbewusstsein aussah und augenblicklich verfinsterte sich Keis Miene noch mehr. Statt stehen zu bleiben, um auf Hinata zu warten, dessen lautes Geplärre ihm vorauseilte, beschleunigte er seinen Schritt. Dass Hinata sie trotzdem einholte, kam nicht unerwartet, und Kei hatte auch keine Sekunde daran gezweifelt. Er musste es ihm aber genauso wenig auch noch vereinfachen. Was ihn erstaunte, war die Tatsache, dass er nicht alleine war.   Kageyama stand neben ihm, so angespannt, dass es schon beim Zusehen schmerzhaft wurde. Jede Faser seines Seins portraitierte seinen Unwillen, gerade überhaupt hier zu sein. Keis Mundwinkel zuckten amüsiert, während er stehen blieb, um auf ihre beiden neuen Gesprächspartner hinunterzusehen. „Solltet ihr nicht lernen? Oder habt ihr schon aufgegeben, nach Tokyo zu wollen?“ Hinatas Gesicht verzog sich zu einer empörten Grimasse. Kageyama regte sich nicht. Er schien nicht vorzuhaben, sich hier groß zu beteiligen, jedenfalls schloss Kei das aus der Tatsache, dass es Hinata war, der sich steifbeinig vor ihm verbeugte. „Tsukishima-Kun! Du musst mit uns lernen! Oder sag uns wenigstens, wie wir besser lernen können!!!“ Kei blinzelte. Er sah in Hinatas unwillig-hoffnungsvolles Gesicht, legte den Kopf schief, als müsse er über die Antwort nachdenken. Kageyama sah ihn nicht einmal an. Die Antwort lag eigentlich auf der Hand – natürlich wollte er nicht helfen. Andererseits war die Vorstellung tatsächlich unterhaltend, eine Möglichkeit zu haben, Kageyama zusätzlich zu erniedrigen. Er hob die Augenbrauen, lächelte betont freundlich. Hinata war wirklich dumm genug, um bei dem Anblick noch ein bisschen hoffnungsvoller dreinzuschauen.   „Nein.“   Seine Freizeit war ihm zu wertvoll, um sie mit Kageyama zu verbringen. „Ich hab keine Lust.“ – „Bitte!!! Tsukishima! Nur ein paar Minuten nach dem Training! Oder in den Pausen! Oder irgendwann! Du wirst überhaupt nicht merken, dass wir da sind, ehrlich!!!“ Ob er Hinata dazu bringen konnte, sich vor ihm auf die Knie zu werfen? So amüsant der Gedanke war, Kei hatte keinerlei Bedürfnis danach, ihm wirklich näher nachzugehen. „Komm schon, Tsukki. Ein paar Minuten sollten drin sein, oder? Wir müssen den Stoff doch eh selbst wiederholen.“ Verräter. Yamaguchi bekam einen absolut vernichtenden Blick zugeworfen, bevor Kei ihm die kalte Schulter zeigte. Wie lächerlich wäre es, etwas abzulehnen, das kein wirklicher Mehraufwand war, nur, weil er keine Lust auf die Beteiligten hatte? „Ich sehe nicht, wieso ich euch helfen sollte. Hinata, meinetwegen. Er hat immerhin gefragt. Aber ich fürchte, seine Königlichkeit kann hier nicht erwarten, dass sein kleiner Hampelmann irgendetwas für ihn rausschlägt.“   Der wütende Blick auf Kageyamas Gesicht war befriedigend genug, dass Kei erst einmal davon absehen konnte, weiter angepisst von Yamaguchi zu sein. Während Hinata nicht so recht zu wissen schien, was er nun mit der Enthüllung anfangen sollte und Yamaguchi sich wohlweislich raushielt, starrte Kageyama ihn an, als könnte er ihn Kraft seines Blickes zum Einknicken bringen. Konnte er nicht. Kei erwiderte seinen Blick entspannt, hob auffordernd die Augenbrauen. Ich höre. Kageyama sah nicht aus, als würde er den Mund aufkriegen wollen. Er biss die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten. Ob es schlicht daran lag, dass es Kei war, den er um einen Gefallen bitten sollte, oder ob es an ihrem Publikum lag, aber er bekam konsequent kein Wort hervorgebracht. Es war unglaublich unterhaltend. „He. Hinata, komm, wir gehen schonmal.“ – „Eh?“ Hinata blickte verwirrt zu Yamaguchi. Dann zu Kageyama. Dann wieder zurück. Schließlich zu Kei. Es war übelkeiterregend eklig, dass in seinem Blick tatsächlich Sorge lag – Sorge um Kageyamas Noten? Ekelhaft. Schlussendlich entschied er sich dafür, Yamaguchi zu folgen, und die beiden liefen davon. Dadurch, dass Yamaguchi sich nicht einmal gezielt verabschiedete, war Kei sich sicher, dass sie gleich wieder zusammenstoßen würden, irgendwo die Straße entlang.   Einmal allein herrschte Stille zwischen ihnen. Kei hatte nichts zu sagen, und Kageyama schien immer noch unfähig zu sein, seinen Stolz runterzuschlucken und den Mund aufzumachen. „Wenn du was zu sagen hast, dann sag es. Ich habe besseres zu tun, als hier herumzustehen“, sagte er trocken, als auch nach gefühlten Minuten immer noch nichts passierte. Mit einem freundlichen Lächeln lehnte er sich kameradschaftlich zu Kageyama vor, „Und du auch, oder? Lernen zum Beispiel.“ Der Andere gab einen wütenden, knurrenden Laut von sich, ehe er mit einem großen Schritt wieder Distanz zwischen sie brachte. Seine geballten Fäuste zitterten vor Anspannung. „…che Hilfe.“ „Bitte?“ Kei konnte sich das gehässige Grinsen kaum verkneifen, als er eine Hand hinters Ohr legte, um zu unterstreichen, dass er nicht verstanden hatte. „Du musst schon lauter reden.“   „ICH BRAUCHE HILFE, VERDAMMT!!!“   Es war unglaublich erheiternd. Kei presste die Lippen aufeinander, um ein Lachen zu ersticken. Er bedachte Kageyama mit einem grausam-schadenfrohen Blick. So leicht war es nicht. „Und? Such dir jemanden, der dir hilft. Die Zweitklässler? Sugawara-San freut sich sicher auch, wenn seine Schützlinge bei ihm ankommen… Oder wie wäre es mit deinem Liebchen aus der Mittelschule?“ Kageyama wurde blass, soweit Kei das im diesigen Licht einer Straßenlaterne erkennen konnte. Er wurde leichenblass – und dann hochrot vor Wut. Innerhalb eines Wimpernschlags war die Distanz zwischen ihnen Geschichte und Kageyamas Hände an seinem Kragen, die eisigen, blauen Augen bohrten sich in seine, voller Hass, voller Abscheu. Der Anblick war wirklich vertraut geworden in letzter Zeit. „Halt deine verdammte Schnauze! Du hast keine Ahnung!“ „Oh bitte. Ich glaube, ich weiß genug.“ Kei lachte, legte die Hand, die nicht seine Schultasche hielt, an Kageyamas Wange. Der Kerl erstarrte augenblicklich unter der zarten Berührung. „Es ist doch immer das Gleiche mit dir, hm? Wenn du deine Ansprüche nicht irgendwann runterschraubst, wirst du ewig ein einsamer König bleiben~“ Keine Antwort. Keine Reaktion, die über eine hasserfüllte Grimasse hinausging, bevor Kageyama sich mit einem harten Ruck von Kei löste, der ihn allen Ernstes einen Schritt zurückstolpern ließ. Er war sich sicher, dass Kageyama umdrehen und beleidigt abmarschieren würde, um bei nächster Gelegenheit tatsächlich irgendjemand anderen zu belästigen. Vielleicht wirklich Sugawara. Der würde sich darüber wahrscheinlich auch noch freuen. Widerlich.   Kageyama ging nicht.   Er stand da, hochgewachsen, stolz auf eine Art, die gerade eher würdevoll als arrogant wirkte, das Kinn entschlossen erhoben. Kei war sprachlos, und er konnte nicht einmal sagen, warum. Er verstand überhaupt nichts – wieso Kageyama überhaupt noch hier war, wieso Kageyamas Ärger plötzlich Platz gemacht hatte für beinahe vernunftbegründete Entschlossenheit. Seine verkrampften Fäuste hatten sich gelöst.   „Hilf mir.“   Das war keine Bitte, kein Wunsch, keine Aufforderung. Es war vom ersten bis zum letzten Ton ein ganz klarer Befehl. Kei lachte. Langsam, um Kageyama die Möglichkeit zu bieten, jederzeit doch noch wegzulaufen, überbrückte er die kurze Distanz zwischen ihnen. Kageyama rührte sich nicht, sah ihn weiterhin eindringlich an, fordernd, abwartend. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Kei seine Hand nahm. Nur seine Augen weiteten sich kaum merklich in versucht verstecktem Schock. Die Haut des fremden Handrückens war rau unter Keis Lippen, als er einen spöttischen Handkuss darauf hauchte. Er sah aus blitzenden, boshaften Augen zu Kageyama aus seiner halben Verbeugung hinaus auf.   „Wie Ihr wünscht, mein König.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)