Straßenecken-Tête-à-Tête von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 4: Unliebsame Notwendigkeit ----------------------------------- Das letzte Mal, das Kei ein Volleyballspiel von den Tribünen aus gesehen hatte, hatte er sämtlichen Enthusiasmus für den Sport und jegliches Vertrauen in seinen Bruder verloren.   Für einen kurzen Moment kam ihm der Gedanke, was er dieses Mal verlieren würde, doch als er hinuntersah auf das Spielfeld, wo sich Team Karasuno gerade aufwärmte, wischte er die Überlegung weg mit der Erkenntnis, dass er ohnehin nichts zu verlieren hatte. Das Team war ihm egal. Der Sport war ihm egal. Das einzige, das er verlor, indem er hier herumsaß und sich den Unfug ansah, war ein bisschen Zeit, die er sonst musikhörend in seinem Zimmer verbracht hätte. Im Vergleich schien kaum jemand Interesse an dem Spiel zu haben; die Tribüne war weitaus gefüllter auf der Seite des zweiten Spielfeldes. Trotzdem sah Kei aus dem Augenwinkel, dass Aoba Jousais Captainriege und ein paar Erstklässler in der Nähe herumlungerten. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Karasuno es so weit bringen würde… Er schnaubte, wandte den Blick wieder ab und dem Spielfeld zu. Das gegnerische Team sah ungefähr genauso lächerlich aus wie Karasuno selbst. Tokonami sagte ihm nichts, und auch wenn Kei sich insgesamt nicht so sehr dafür interessierte, welche Teams auf der allgemeinen Fähigkeitenskala wo standen, zumindest die wichtigsten Namen hatte er natürlich gehört – und Tokonami gehörte eindeutig nicht dazu. Aber ehrlich, man sah es schon. Allein die Tatsache, dass das Team eigentlich gerade mal so als durchschnittlich groß zu bezeichnen war, labelte sie schon effektiv als Verlierer. Würden sie gegen das Team verlieren, wäre Kei beinahe enttäuscht. Ah, aber wenn seine Königlichkeit immer noch so sehr aus dem Takt gebracht war, war das natürlich eine ganz andere Sache. Wie tragisch.   Kageyama, scheinbar, schien allerdings in Form zu sein. Weder machte er beim Aufwärmtraining sichtbare Patzer, noch saß er bei Spielbeginn auf der Bank – die Ehre wurde wieder einmal Sugawara zuteil. Hatte Kei ursprünglich vielleicht noch so etwas wie Mitgefühl gehabt für den Frust, den Sugawara empfinden musste, von einem gerade erst ins Team gestolperten Erstklässler vom Platz vertrieben worden zu sein, so empfand Kei von dem Anblick inzwischen höchstens eine höhnische Genugtuung. Es erstaunte nicht, dass der Blocker, der seinen Platz in der Startaufstellung eingenommen hatte, nicht Yamaguchi war. Kei hatte von Narita als Spieler noch nicht viel gesehen, aber er hatte deutlich mehr Erfahrung als Yamaguchi, hatte mehr Erfahrung als Teil des Teams, und stand auch größenmäßig nicht zurück. Es war die bessere Wahl. Es hat sich ja wirklich für dich gelohnt, vor ihnen zu buckeln, huh? Was für ein Witz. Kei hatte das Bedürfnis, einfach wieder zu gehen – dann blickte Yamaguchi von seinem Platz auf der Bank aus hinauf und sah ihn. Trotz der Entfernung konnte Kei sehen, wie sich ein dämliches Grinsen auf Yamaguchis Gesicht breitmachte. Er selbst verzog die Mundwinkel abfällig, doch er blieb an seinem Platz. Er würde sich vor Yamaguchi nicht die Blöße geben und flüchten, oder wie auch immer Yamaguchi es interpretieren würde, wenn er ihm nun den Rücken zukehrte.   Mit einem genervten Seufzen lehnte er sich auf das Geländer und sah auf das Feld hinunter. Das Spiel wurde angepfiffen. Kei stellte sich darauf ein, dass es lang und langweilig werden würde.     Er hatte vergessen, wie ein Volleyballspiel aus der Ferne aussah.   Von hier oben hatte er das gesamte Spielfeld perfekt im Blick und keine Mühe, zu verfolgen, was passierte. Es wurde schnell deutlich, dass, wo Karasuno im Grunde nur ein durchschnittliches Team war, Tokonami wirklich schlecht war – und daran änderte auch nichts, dass sich Nishinoya und Tanaka wie Idioten aufführten, sodass Karasuno schon nach kurzer Zeit eine erste Abmahnung vom Schiedsrichter erhielt. Peinlich.   Früher einmal hatte Kei sich gerne Volleyspiele angesehen, seien es Fernsehübertragungen oder direkt von der Tribüne aus.   Heute fehlte jede Aufregung und jede Freude und jedes Mitfiebern, wenn er sah, wie der Ball übers Netz schoss und auf der anderen Seite, vorbei an Blockern und Verteidigern auf dem Boden aufprallte. Azumanes Angriffskraft war beeindruckend, aber sie ließ Kei ziemlich kalt. Ohne ihre so extreme, freakige Geschwindigkeit war auch Kageyamas und Hinatas Zusammenspiel nichts Besonderes.   Das Spiel war tatsächlich langweilig – wenn auch immerhin nicht sonderlich lang.     „Tsukkiiiiiii! Du bist wirklich gekommen!“ Yamaguchi sah außer Atem aus, obwohl er nur auf der Bank gesessen hatte. Womöglich lag es nur daran, dass er den gesamten Flur entlang gelaufen war, um Kei zu erwischen. Er hätte einfach auf der Tribüne bleiben sollen. Mit einem Schnauben schob er die Hände in die Hosentaschen. „Halt die Klappe, Yamaguchi.“ Yamaguchi grinste, Keis Blick wurde noch eine Spur unfreundlicher und er bereute, dass er hergekommen war. Er bereute es noch mehr, als plötzlich Hinatas Stimme hinter ihnen erklang: „Oi, Yamaguchi–“, er brach ab, als er Kei erblickte, kaum, dass er zu ihnen aufgeschlossen hatte, und im nächsten Moment warf er Yamaguchi einen Blick zu, der für Keis Geschmack ein bisschen zu vertraulich war – dass Yamaguchi allen Ernstes nur zurückgrinste, machte nichts besser. Und dann stand Hinata vor ihm, immer noch grinsend, und so übereifrig, wie der Kerl aussah, schien er kurz davor zu sein, Kei zu packen und irgendetwas zu tun, das Kei überhaupt nicht gefallen würde. „Tsukishima! Komm! Unser zweites Match ist gegen Datekou, wir können jeden Zentimeter gebrauchen!“ Keis Augenbrauen wanderten langsam in die Höhe, während er auf Hinata und sein erwartungsvolles Strahlen hinabblickte. Er könnte kotzen. Sich demonstrativ vorlehnend, als könnte er damit die fast dreißig Zentimeter Größenunterschied zwischen ihnen überbrücken, lächelte er Hinata zu, so freundlich, dass dem Jungen das Grinsen auf dem Gesicht gefror. „Ich möchte dich ja nicht enttäuschen, Kleiner, aber ich bin so wenig erwünscht, wie ich überhaupt Lust habe, zu partizipieren.“ – „Partiziwas?“ – „Mitmachen“, übersetzte Yamaguchi gutmütig, doch das gutmütige Lächeln auf seinem Gesicht verschwand schnell wieder und wurde ersetzt durch einen beunruhigten, bittenden Blick. „Tsukki, wir–“   „Du musst mitmachen.“   „Eh? Hinata?!“ Braune Augen fixierten Kei mit einem Blick, der so entrückt war, dass er sich nicht sicher war, ob Hinata gerade überhaupt irgendetwas sah und wahrnahm. Er verengte die Augen, während Yamaguchi zwischen ihnen hin und her sah, scheinbar selbst nicht ganz wissend, was er nun tun sollte. „Warum sollte ich?“ Warum sollte ich irgendetwas tun, dass du von allen Menschen mir vorschreibst? „Weil wir dich für den Sieg brauchen. Du bist besser als Narita-San, und“ – Hinatas Blick normalisierte sich langsam wieder, der Ausdruck seltsamer Entrücktheit wich einem großäugigen Staunen voller Begeisterung, die Kei gerade wirklich mehr als deplatziert fand, und irgendwie mischte sich zusätzlich Empörung in Hinatas Blick – „Und du bist so groß wie uwaaah und mit deinem Block kannst du wämm selbst gegen Datekous Riesen ankommen, und du musst!“ „Vergiss es.“ Kei verzichtete dankend. Jetzt noch mehr als vorher, aber allein Hinata zuzuhören löste in ihm ein Gefühl von Übelkeit aus. Er verstand es einfach nicht, wie irgendjemand, der bei klarem Verstand war, sich mit so viel hitzköpfigem Ehrgeiz in so eine Banalität wie eine billige Clubaktivität reinhängen konnte, die in drei Jahren nicht einmal mehr zu einer netten Anekdote reichen würde. Und dazu die unnötige Lautstärke und Hinatas ganze Art – es war widerlich.   „Kageyama braucht dich.“   „Was?!“ Yamaguchi nahm Kei die Worte aus dem Mund. Er konnte selbst nur auf Hinata hinabstarren, als wäre er verrückt geworden, doch der kleine Idiot begegnete seinem Blick mit einer absoluten, überzeugten Ruhe, die das ganze Thema gleich noch ein bisschen abstruser werden ließ. „Kageyama wird jeden Angreifer brauchen, den er kriegen kann. Narita-San ist überhaupt nicht gut auf ihn eingespielt, das ist das erste Mal, dass sie zusammen auf dem Spielfeld stehen, aber du – du bist das schon gewöhnt!“ „Hinata hat Recht, Tsukki.“ Worte, die Kei niemals aus Yamaguchis Mund hatte hören wollen. Aber in den letzten Tagen hatte Yamaguchi allgemein ein Talent dafür entwickelt, ihm Worte an den Kopf zu werfen, ohne die er sein Leben um einiges angenehmer hätte leben können. Er warf ihm einen säuerlichen Blick zu, sparte sich aber jeden verbalen Kommentar. Yamaguchi starrte ihn nur stur an, unnachgiebiger, als Kei ihn seit langem erlebt hatte. „Wir brauchen dich, Tsukki.“ Kei reckte das Kinn vor und versuchte, dabei weder allzu trotzig, noch allzu beleidigt auszusehen, obwohl er sich eigentlich beides fühlte. „Ihr vergesst beide, dass nicht ich derjenige bin, der sich weigert, mit mir zu spielen.“ – „Kageyama wird mit dir spielen!“, erwiderte Hinata im Brustton der Überzeugung, „Du musst dich doch nur bei ihm entschuldigen!“ – „Und genau das werde ich nicht tun.“ „Dann redet miteinander. Hier!“   Und ehe Kei noch etwas hätte sagen können, war Hinata weggerannt, ließ ihn und Yamaguchi stehen, und ganz unabsichtlich tauschte er einen genervten Blick mit Yamaguchi, der ihm für einen kurzen Moment da Gefühl gab, die ganze letzte Woche sei gar nicht erst passiert.     Das Gespräch, das Hinata indirekt schon angedroht hatte, fand am Ende draußen vor der städtischen Sporthalle Sendai statt. Kageyama stand ihm gegenüber, aggressiv und abweisend wie eh und je, und Kei lächelte, weil er nichts Besseres zu tun wusste. „Euer Majestät. Was für eine Ehre.“ – „Hör auf mit dem Scheiß!“, bellte Kageyama wütend, hatte schon einen Schritt auf ihn zugemacht, bevor er wieder innehielt und mit einem hasserfüllten Schnauben genau diesen Schritt wieder zurücktrat. Für einen langen Moment standen sie einfach so da, Kei auf Kageyama herabsehend, keiner von beiden geneigt, den Mund aufzumachen und das Gespräch voranzutreiben. Kei verstand ohnehin nicht, was die Farce sollte – seit wann tanzte Kageyama denn nach Hinatas Pfeife? (Seit wann war irgendjemand auf der Welt dumm genug, auf diesen kleinen Idioten zu hören?) Als auch nach mehreren Minuten des Schweigens nichts passierte, schnaubte Kei genervt, jedes halbwegs freundliche Schauspiel fallenlassend. „Was willst du? Erzähl mir nicht, dass seine Majestät den Nutzen des einfachen Pöbels einsieht und ernsthaft darauf zurückgreifen möchte.“ Stille. Kageyamas Gesicht, irgendwo zwischen Wut, Ärger, und viel zu großem Stolz, den er scheinbar gerade herunterzuwürgen versuchte, sprach eigentlich Bände. „Wie nobel, dass Ihr Eure königliche Würde für das Team opfert. Aber…“ Kageyama provozierte ihn einfach. Sein ganzes Gesicht war provozierend. Seine bloße Existenz trieb Kei zur Weißglut, und genau deshalb überbrückte er die kurze Distanz zwischen ihnen. Kageyama blieb stehen, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt und sein Blick starr und stolz. Kei wollte ihm diesen Blick aus dem Gesicht wischen. Er lehnte sich vor, grinste, als er sah, wie Kageyama sich mit jedem Zentimeter mehr versteifte. Kurz vor den Lippen des anderen hielt er inne. „Glaubst du wirklich, dass du mir zuspielen könntest, Tobio?“   Der Schlag, den Kei erwartete, blieb aus. Er war beinahe enttäuscht, dass er es nicht geschafft hatte, Kageyama so sehr aus der Fassung zu bringen, aber ein Blick in sein verkniffenes, hasserfülltes Gesicht war beinahe Entschädigung genug. Er schien wirklich schwer schlucken zu müssen, um seinen Stolz zu überwinden.     „Ich spiele zu jedem, der notwendig für den Sieg ist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)