Kaibas Herz von Idris (Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 8: Stromausfall II -------------------------- Anmerkung: Sorry, ich glaube, dass es diesmal nicht besonders witzig geworden ist. ^^* Aber äh - dafür kriegt ihr etwas anderes. *lock* XD Nur so viel - es ist irgendwie ein verdammt emotionales Kapitel geworden. o.O Ich wollte mich nochmal ganz lieb bei allen bedanken, die so aufbauende Kommentare geschrieben haben. ^__^ Ich bin wie auf Drogen herumgeflattert und war wirklich selten motiviert möglichst schnell weiterzuschrieben. *g* Danke!! Ihr seid toll! ~ You can´t fight gravity On a plant that insists That love is like falling And falling is like this ... ~ (Ani Difranco: "Falling is like this") *** "Hey ... Kaiba?" "Was!" "... nichts." Zum dritten Mal in Folge beiße ich mir grade noch rechtzeitig auf die Lippen. Okay, ich werde nicht fragen. Ausnahmsweise werde ich nicht fragen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich seine Antwort überhaupt hören will. Zugegeben, es ist nicht so, als ob er meine Hand in irgendeiner ... gefühlsbetonten Art und Weise halten würde. Er ist sogar so sehr nebenbei mit anderen Dingen beschäftigt - Codes eingeben, Teilbereiche deaktivieren, verhindern, dass wir geröstet werden ... dass ich beinah das Gefühl habe, er hat es schon wieder vergessen. Also mich. Und ... äh meine Hand. Und die überraschende Verknüpfung zu seiner Hand. Vielleicht hat das Ganze nur etwas mit seinem großen Bruder-Gen zu tun. Ich kenne das Phänomen. Wann immer ich kleine Mädchen im Alter meiner Schwester sehe, möchte ich sie an die Hand nehmen und aufpassen, dass sie nur bei Grün über die Ampel gehen, und dass keiner von den großen, bösen Jungs an ihren Haaren zieht. Vielleicht ist das bei ihm genauso. Manchmal sind die Gene einfach stärker als man selbst. Der Gang macht eine abrupte Biegung und ich laufe nur dank seiner Führung nicht gegen die Wand. "Man müsste dich an die Leine nehmen können", murmelt er, als ich wegen dem unerwarteten Schlenker ins Stolpern gerate. Und manchmal sind es nicht die Gene, sondern einfach seine Unverschämtheit. "Was soll das denn heißen?!" Ich bin glatt in Versuchung, ihm meine Hand einfach wieder zu entziehen und ihm damit eine reinzuhauen. Soll er seine großen Bruder-Gene doch woanders ausleben! "Das soll heißen, wenn du etwas anstellst - dann stecken wir beide bis zum Hals in Schwierigkeiten. Eine Leine wäre vielleicht sicherer." Es klingt nicht einmal vorwurfsvoll, nur sachlich. Trotzdem pisst es mich an. Okay, vielleicht bin ich ein bisschen dumm ... aber er traut mir ja wirklich gar nichts zu. "Danke, ich bin auch nicht scharf darauf geröstet zu werden!" Ich bin nicht einmal scharf darauf, dass Kaiba geröstet wird. Okay, vielleicht manchmal - ganz kurz. Wenn er mich mal wieder rasend gemacht und auf sämtliche Palmen im Umkreis gebracht hat. Aber nicht im Moment, wo er mich davor bewahrt, uns beide aus Versehen umzubringen. "Hey Kaiba ...?" Ruckartig bleibt er stehen und benutzt den festen Griff um meine Hand erneut, um mir wehzutun. "Herrgott, was bist du, Wheeler? Eine nervige Stimme in meinem Unterbewusstsein? Wenn ich noch einmal ,Hey Kaiba ...' höre, werde ich dir den Mund zukleben. Was ist?!" "Hast du noch mal über die Sache mit dem Job nachgedacht?" Wortlos dreht er sich um und marschiert weiter. "Heißt das nein?" "Das heißt, du nervst!" Ich weiß ... Aber das ist nun mal die einzige Überlebenstaktik, die ich besitze. Ich habe auch nicht erwartet, dass er das verstehen würde. Ich bin nicht so intelligent wie Kaiba, und nicht so optimistisch und tapfer wie Yugi. Ich kann niemanden in den Boden argumentieren, so wie Tea und ich wirke nicht so zuverlässig und anständig wie Tristan. Ich bin nicht sexy und stark wie Mai. Und ich bin nicht einmal lieb und sanftmütig wie Ryou oder meine Schwester. Alles, was mir übrig bleibt, ist dass ich nerviger und aufdringlicher bin, und eine größere Klappe habe, als jeder andere im Umkreis. Ich weiß, ich weiß. Manchmal fühle ich mich ja selbst ganz klein und erbärmlich deswegen. "Ich wüsste nicht einmal, als was ich dich einstellen sollte", sagt Kaiba unerwartet. "Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen." "Gar nicht wahr!" "Beweis mir das Gegenteil." "Du könntest mich brauchen als ... als ..." hastig suche ich nach Ideen. Daran hätte ich eher denken sollen. " ...Babysitter für Mokuba? Ich habe jahrelange Erfahrung mit meiner kleinen Schwester." "Mokuba könnte eher auf dich aufpassen, als umgekehrt. Außerdem ist er schon 13 und nicht erst drei." "Persönlicher Bodyguard?" "Werd nicht lächerlich." "Männliche Sekretärin?" "Ich brauche keine Sekretärin - ich habe einen sich selbst verwaltenden Terminplaner und M.I.C.A." "Chauffeur?" "Du hast nicht mal einen Führerschein." "Aber ich kann fahren!" "Ja - Schlitten vermutlich." "Ich ... ich kann kochen! Also zumindest ... Sachen in den Ofen schieben ... die dann warm werden ..." " ..." "Ja, okay! Ich habe nichts gesagt!" "Gib es auf." "Weißt du, was dir fehlt, Kaiba?!" fauche ich aufgebracht. "Hmm ... Mitgefühl?" Er klingt sarkastisch und gelangweilt. "Jemanden der für deine Wäsche weniger Stärke verwendet!" "... bitte?" So. Irgendjemand muss ihm ja mal die bittere Wahrheit verklickern. Sogar dieser Mantel, so weich und edel er auch ist, hat diese windschnittige Dynamik um die Beine herum. Wofür ich ja auch dankbar bin, weil es verhindert, dass ich ständig über den Saum stolpere - aber ich könnte trotzdem wetten, dass es an mir einfach nur lächerlich aussieht. Ich weiß auch nicht, wie er das hinkriegt, dass sein Mantel immer im Wind weht - auch wenn es vollkommen windstill ist! Das ist einer von den Tricks, die nur Kaiba beherrscht. "Versteh ich dich richtig? Bewirbst du dich grade als Zimmermädchen?" "Na ja ... so indirekt ...?" Tue ich das? Was stimmt mit mir nicht?! "Wheeler, allein bei dem Gedanken, dass du meine Unterwäsche stärkst, bekomme ich Bauchschmerzen. Also, vergiss den Gedanken daran ganz - ich wiederhole ganz schnell wieder." Sch~on verdrängt ... Mir fällt nichts mehr ein. Ich bin unfähig. Vielleicht könnte ich Leute, die er hasst, auf Befehl zu Tode nerven ... Inzwischen bin ich schon so weit, dass mir beinah entfallen ist, wieso ich diesen Job bei ihm so dringend haben möchte. Wieso lege ich es so sehr darauf an, mich zu demütigen? Ich muss ein heimlicher Masochist sein ... Einzig und allein meine Sturheit hält mich davon ab, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Und die Gewissheit, dass es ihn ärgern würde, wenn er mich einstellen müsste. Dass es nicht in sein perfekt sortiertes Leben passt. Dass er zugibt, dass er im Unrecht war. Dass er einmal nur derjenige ist, der nachgibt ... der aufgibt ... >> "Haben sie verstanden, um was es geht?" "Wasserbüffel ...?" "Nein, Dominanz! Und sobald einer von ihnen den Anderen unterworfen hat, werden wir endlich eine vollkommen harmonische Klassengemeinschaft haben." << Und das hat NICHTS damit zu tun! "Wenn ich dich einstellen würde ...", fragt er genau in diesem Moment, als hätte er meine Gedanken gelesen, "würdest du wirklich alles tun, was ich dir sage?" "Hm ...?" Überrascht werde ich langsamer. Ist das sein Ernst? "Du würdest mir aufs Wort gehorchen, gleichgültig, was ich von dir verlange? Meine Autorität nie in Frage stellen? Dich Tag und Nacht von mir herumkommandieren lassen, ohne dich zu beschweren? Demütigende Anordnungen ausführen, ohne sie zu hinterfragen, einfach weil ich es bin, der es dir befiehlt?" Unnachgiebig zieht er mich weiter, während er ohne Unterlass demütigende Fragen auf mich abfeuert. "Ist das etwa deine Idee von einem Vorstellungsgespräch?" "Antworte. Würdest du?" "... ja." Ich beiße die Zähne zusammen. Und füge in Gedanken hinzu ,... vielleicht ...' "Tatsächlich ..." Es klingt beinah interessiert. "Heißt das, ich kriege den Job?" frage ich aufgeregt, sekundenlang einfach vergessend, was das bedeuten würde. Seine Antwort ist kurz und unmissverständlich. "Eher friert die Hölle zu." "...WAS?! Hey ...! Wieso fragst du dann diesen ganzen Mist?!" Er zuckt mit den Schultern. Ich kann spüren, wie seine Hand sich dabei bewegt. "Reine Neugierde." Dieser Bastard. Ich fasse es nicht. Wieso ist er immer so versessen darauf, dass ich ihm gehorche?! Ich weiß, dass er einen pathologischen Kontrollwahn hat, aber das geht zu weit! Dieselben blöden Fragen hat er bei mir auch schon gestellt, als wir gezwungenermaßen gemeinsam den Kuchen gebacken haben. Bei näherer Betrachtung kann ich gar nicht fassen, dass das erst gestern war. Es fühlt sich an, als sei es eine halbe Ewigkeit her ... Immer will er, dass ich zu seinen Füßen liege ... schon so lange ich denken kann. ,Knie nieder vor deinem Meister ...' Ja ja, hat sich was damit, du arroganter ... Ich bin so sehr in meinen Mordphantasien vertieft, in denen er die Hauptrolle spielt, dass ich nicht einmal mitbekomme, wie er plötzlich und unerwartet stehen bleibt. "Warte." Abrupt lässt er meine Hand los. Folgsam, aber immer noch angepisst, bleibe ich stehen. Das matte Licht der Taschenlampe flackert kurz auf und wirft ihren Lichtkegel an eine Tür, die förmlich schreit: ,Ich-bin-hochgesichert-komm-mir-nicht-zu-nah-sonst-muss-ich-dir-sehr-sehr-wehtun'. Scheinbar sind wir da. Wo auch immer. Er trägt einen selbstgefälligen, überlegenen Gesichtsausdruck zur Schau, als ob er nicht für eine Sekunde daran gezweifelt hätte, dass wir je hier ankommen würden. Was mich angeht - ich will ihn immer noch qualvoll meucheln und seine Überreste in unserem nicht vorhandenen Vorgarten verscharren, aber fürs erste bin ich zumindest dankbar, dass wir es bis hierher in einem Stück geschafft haben. Genau diesen Moment nutzt das Licht, um ein paar Mal dramatisch zu flackern und schließlich ganz auszugehen. Lasst uns über mieses Timing reden. "Verdammt ...", höre ich ihn leise fluchen. Er schüttelt sie ein paar Mal, so lange bis sie sich dazu entschließt wenigstens noch einmal anzugehen. Mattes Licht scheint mir kurz in die Augen, als der Strahl mein Gesicht streift, aber es ist so schwach, dass es nicht einmal blendet. "Und jetzt?" frage ich widerwillig. Eigentlich hatte ich vor, ihn mit eisigem Schweigen zu strafen - aber so bin ich einfach nicht. "Ich gehe rein und deaktiviere den Sicherheitsmodus." Er macht die Taschenlampe aus. "Du bleibst hier." "WAS?!" Nein! Moment! Das kann nicht sein Ernst sein! Er kann mich doch hier nicht alleine lassen! Umringt von Killerbienen, potentiellen Psychopathen, Todesfallen, Laserstrahlen, Dunkelheit - nein! "Ich komme mit." "Nein, tust du nicht", stellt er in einem endgültigen Tonfall fest. Ja zugegeben - er ist ein Arsch. Ein Bastard. Ein Vollidiot. Und er quält und foltert mich ununterbrochen auf die denkbar übelste emotionale Weise. Aber ... eigentlich ist er gar nicht so übel. Seine Anwesenheit ist doch bisher auch immer ganz unterhaltsam gewesen ... "Oh nein, nein, nein!" Ich schüttele heftig den Kopf. "Du kannst mich hier nicht festbinden - ich komme mit rein, egal was du sagst!" Eventuell klinge ich ein bisschen verzweifelt. Aber wirklich nur ein bisschen. "Ob du es glaubst oder nicht ...", sagt er mit zusammengebissenen Zähnen, "mir wäre es auch lieber, wenn ich ein Auge auf dich werfen könnte und aufpassen, dass du nicht alles in Schutt und Asche legst." "Na also!" Erleichtert atme ich auf. "Dann ist es doch kein ..." "Es geht nicht, in Ordnung?" fährt er mich an. "Nein - nicht in Ordnung!" Ich beiße mir hartnäckig auf die Unterlippe, um einen leisen, frustrierten Laut zu unterdrücken. "Vertraust du mir nicht ... ist es das?" Wovor hat er Angst? Als ob ich ausplaudern würde, wie man ihm seine geheiligte Firma wegnehmen kann ... Wo sie ihre Schwachstellen hat und wie man das Sicherheitssystem ausschaltet? Hat er etwa schon vergessen, wer es war, der ihm jedes verdammte Mal aufs Neue geholfen hat, die Kaiba Corp. wieder zurückzubekommen? Ich bin immer auf seiner Seite gewesen ... egal, was für Differenzen und Auseinandersetzungen wir sonst hatten ... immer ... "Dummkopf. Das ist es nicht." Er klingt angepisst. Ausnahmsweise nicht spöttisch und herablassend. Hoffnungsvoll hebe ich den Kopf. "Es ist eine reine Sicherheitsmaßnahme. Nur für den Notfall. Ich kann ihn zwar betreten, wenn ich die richtigen Codes eingebe ... aber er lässt keine ...", er zögert kurz und ich ahne schon, was jetzt kommt, ohne dass er es aussprechen muss. "Lass mich raten ... nicht registrierte Subjekte können ihn nicht betreten?" "Ja." Ich hasse diesen Begriff. So langsam rutscht er in meiner privaten TopTen-Liste ,unangenehmer und nicht hörenswerter Worte' wirklich ganz nach oben. Noch vor ,Mathearbeit' oder ,Zahnarzttermin' oder ,Alkoholproblem'. Okay, vielleicht ist er noch ein klitzekleines bisschen unter dem letzten. Aber wirklich nur unwesentlich. Ich seufze schicksalsergeben und senke den Kopf. Er hat sich das ja nicht ausgedacht, um mich zu ärgern. Das weiß sogar ich. Trotzdem ... was für ein blödes Gefühl. Ein nicht registriertes Subjekt zu sein ... nicht nur in seiner Firma, sondern auch in seinem Leben. Nirgendwo hinzukommen, wo es wirklich zählt ... Als ob in allen wichtigen Bereichen seines Lebens ein Schild hängt, mit einem kleinen Joey-Hund drauf und dem Satz: "Wir müssen leider draußen bleiben." "Na dann ..." Ich zucke unbehaglich mit den Schultern. Es ist nicht so, als ob mir etwas anderes übrig bleibt. "Ich ... warte dann hier. Keine große Sache. Jeder Pfadfinder würde hier alleine klarkommen." "Braver Hund." Ich knurre unwillig. "Es wird nicht lange dauern." Er zögert kurz. Die Luft zwischen uns ist plötzlich angespannt und seltsam befangen, jetzt wo wir keinen akuten Anlass mehr haben, uns zu streiten. "Hier", sagt er schließlich. Er greift nach meiner Hand und legt etwas hinein. Ich erkenne es trotz Dunkelheit sofort. Es ist seine Pfadfinder-Taschenlampe. "Brauchst du sie nicht?" frage ich überrascht und meine Finger umschließen das warme Metall. Sekundenlang berühren sich unsere Hände, bevor er seine langsam wieder zurückzieht. Vielleicht sind es Millisekunden zu lang, ich weiß es nicht. Nicht, dass hier irgendjemand die Zeit stoppt. Ich zumindest nicht ... bei ihm würde ich allerdings nicht darauf wetten. "Drinnen ist genug Licht von den Monitoren. Und die Batterie ist ohnehin kurz vor dem Ende." "Danke ..." murmele ich, mit einem Mal seltsam schüchtern. Ich glaube, wir hatten heute mehr Action, als gut für seine oder meine Nerven war. Vielleicht ist es das, was unsere Beziehung ausmacht. Also, nicht, dass wir eine Beziehung hätten, zumindest nicht diese Art von Beziehung. Aber egal, was wir haben - es ist eine Knochenarbeit. Er macht die Netzhaut-Sache wieder und gibt tausendstellige Codes ein. Ich stehe daneben, leuchte mit der Taschenlampe auf das Display und versuche mich zusammen zu reißen. Es wäre echt peinlich, wenn ich mich jetzt wimmernd an ihn klammere und ihn anflehe mich nicht alleine zurück zu lassen. So viel Stolz habe ich noch, vielen Dank. Langsam gleitet die Tür auf und seine schlanke Silhouette erscheint in dem matt beleuchteten Eingang. Er bleibt stehen. "Hey ...Joey." Überrascht sehe ich auf. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass er mich manchmal so nennt. "Pass auf di- ... den Mantel auf", sagt er. Das künstliche Licht beleuchtet sein scharf geschnittenes Profil und seine makellose Frisur. Sekundenlang sieht er aus wie ein Fremder. "Den Mantel?" Ich blinzele verwirrt. "Ja! Ich will nicht, dass er irgendwelche Brandlöcher bekommt, nur weil du mit meinem Sicherheitssystem spielen musstest ..." "Hey...! So blöd bin nicht mal ich ..." Er gibt ein leises spöttisches Geräusch von sich, und es klingt, als würde er tatsächlich lächeln. "Ich hoffe es. Ich hänge nämlich irgendwie an ihm ..." Bevor ich den Mund aufkriege, ist er weg und die Tür verschließt sich von selbst. Und dann es ist dunkel und ich bin allein, und zum ersten Mal wird mir klar, wie viel angenehmer es war, mit ihm zusammen zu sein. Er war in einer Tour nur gemein zu mir und hat nicht viel geredet, außer ich habe ihn gezwungen ... aber trotzdem ... Ich umschließe die Taschenlampe mit beiden Händen und atme tief durch. "So, jetzt sind es nur noch wir zwei", murmele ich. "Du und ich. Wie wahre Pfadfinder. Ganz ruhig, Baby. Hier sind keine Psychopathen. Wenn ja, hätten wir das schon längst gemerkt, klar?" Wieso rede ich mit einer Taschenlampe? Außer ... sie haben vielleicht nur darauf gewartet, dass wir uns trennen ... um dann einzeln leichter mit uns fertig zu werden ... Ein kühler Luftzug streift meinen Nacken und sämtliche meiner Haare richten sich auf. Ierks, wo kommt das her? Oh Gott ... ich bin zu jung zum Sterben! Krampfhaft versuche ich mich zu beruhigen. Denk an etwas anderes. Irgendetwas Schönes. Genau. Ablenkung ist angesagt. Denk an ... ,Pass auf dich auf ...' Sein Beinah-Versprecher hängt in der Luft und trotz allem muss ich lächeln. Das ist so absolut typisch für ihn ... diesen Penner. Alles an Kaiba ist beinah. Beinah-nett. Beinah-humorvoll. Wir sind an der Schwelle von ,beinah'... von 'beinah irgendetwas', und das schon seit einer ganzen Weile ... Ich mag ihn ... beinah ... Mit einem leisen Ausatmen schließe ich die Augen. Wer hätte gedacht, dass ich das mal sagen würde. Ich wage nicht einmal nach der Wand zu tasten und mich dagegen zu lehnen, aus lauter Angst, dass ich dabei irgendetwas auslöse, was mich dann frittiert. Also, bleibe ich einfach stehen, wo ich bin und halte mich an seiner Pfadfinder-Taschenlampe fest. Kuschele mich tief in seinen Mantel, der immer noch - ganz schwach - nach ihm riecht. Ich denke über diesen abgefreakten Tag nach, der damit begonnen hat, dass Kaiba mich angefahren und mein Fahrrad verschrottet hat, und damit weiter ging, dass ich von seinem Sicherheitssystem sexuell belästigt wurde. Irgendwie sind das Dinge, die immer nur mir passieren. Vielleicht ist es angeborenes Pech. Oder das Wort ,Opfer' steht auf meiner Stirn geschrieben und ich weiß es nur nicht. Und jetzt bin ich hier. Allein. Im Dunkeln. In Kaibas Mantel. In seiner Firma. Und er ist nicht da. Kurz gefasst und unter Berücksichtigung aller Umstände ... es war besser, als er da war. Heißt das übersetzt so etwas wie, dass ich ihn vermisse? Ich muss den Verstand verlieren - eindeutig. Er ist eigentlich ganz in Ordnung, wenn man ihn ein bisschen näher kennen lernt. Ich würde ihm das nicht unbedingt sagen, aber es ist wirklich so. Zugegeben, er ist arrogant und unangenehm sarkastisch, herablassend, reizbar und ein kleiner Klugscheißer - und das sind nur die positiven Eigenschaften. Und er treibt mich ununterbrochen in den Wahnsinn. Auch wenn er sicher behaupten würde, es sei umgekehrt. Vielleicht ist das die große Preisfrage. Treibt er mich in den Wahnsinn oder treibe ich ihn in den Wahnsinn? Wer hat damit angefangen? Oder ist das eine Frage, wie die nach dem Huhn und dem Ei? Er ist heiß und kalt zu mir ... manchmal lieb und meistens fies ... und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich ihn hassen soll ... oder nicht ... Aber er lässt mich niemals kalt. Er geht mir immer unter die Haut - fies genauso, wie lieb ... so ist es einfach und ich verstehe es nicht ... Und manchmal - ganz selten, habe ich das Gefühl, ich gehe ihm vielleicht auch unter die Haut, nur ein kleines... ein ganz kleines Bisschen ... Es knackt von irgendwoher und ich erstarre förmlich. Mit geschlossenen Augen und verkrampften Muskeln lausche ich in die Dunkelheit. Was ... war das?! Meine Hände sind so verschwitzt, dass mir beinah die Taschenlampe aus den Fingern flutscht. Ein leises, schabendes Geräusch lässt das Blut in meinen Adern gefrieren. Keine Spuren von feindlicher Infiltration - ha! Was weiß Mika schon! Auf Computer ist auch kein Verlass mehr, egal wie unfehlbar sie angeblich sein wollen. Ich wusste es ... verdammt ... das sind die Psychopathen ... alle auf einmal ... bereit mich zu martern und zu quälen ... und mir meine Pfadfindertaschenlampe wegzunehmen ... ich bin klein, mein Herz ist rein ... Vielleicht wollen sie mich foltern, um die geheimen Zugangscodes aus mir herauszuquetschen. Aber ich weiß doch gar nichts mehr ...! Ich bin nur ein nicht registriertes Subjekt, das eigentlich gar nichts hier zu suchen hat ... Etwas berührt mich an der Schulter. "WAAAAAAAAAAAAAHH!!!!!" Mit einem entsetzten Aufschrei fahre ich herum, wilde Panik und Adrenalin in gleichen Teilen durch meinen Körper schießend. "WAAAAAAAH! WAAAAAAAAAH!" Ohne nachzudenken hole ich mit der Taschenlampe aus und schlage zu. Sie trifft prompt auf etwas Hartes und ich zucke überrascht zusammen. Whoa ... getroffen! Irgendjemand stöhnt auf. Beinah lasse ich die Lampe fallen, aber dann macht sich wilde Entschlossenheit in mir breit. Da! Nimm das, du Psycho! Und das ...! Jemand versucht nach mir zu greifen und mich festzuhalten, aber jahrelang auf der Strasse trainierte Instinkte werden wach und ich weiche grade noch aus. Ich werde euch gar nichts verraten, ihr Penner! Und wo Kaiba ist, kriegt ihr auch nicht aus mir heraus! Dazu müsst ihr mich schon foltern und umbringen und ... "Herrgott ...!" Der wütende, dumpfe Laut kommt mir seltsam bekannt vor und ich halte schlagartig inne. Hey, dieser Psychopath klingt beinah wie ... wie ... Nein, oder ...? "Du kleiner, räudiger ..." Seine Stimme ist ein einziges, tiefes Grollen. "... Köter!" Beinah lasse ich die Taschenlampe fallen. Meine Augen werden weit. Es gibt definitiv nur einen Menschen, der mich so nennt. Und das ist ... Oh nein ... oh ... fuck ... ich habe doch nicht etwa ...? "Kaiba ...?" hauche ich, und denke: ,Bitte, lass es Dartz sein!' "Hast du jetzt endgültig den VERSTAND VERLOREN?!" Es ist nicht Dartz. Es ist nicht mal Pegasus. Oh Gott, stecke ich in der Klemme. Ich bin kein guter Pfadfinder. Werde es nie sein. Ich bin ein Idiot. Jetzt wissen wir es wenigstens definitiv. Er ist zwar ein Psychopath - aber keiner, der mich umbringen und mir die Geheimnisse der Kaiba Corp. entreißen will. Andererseits ... was den ersten Teil angeht, könnte ich das im Moment nicht unbedingt beschwören ... Mit fahrigen Fingern knipse ich die Taschenlampe an. Der matte Lichtstrahl fällt direkt auf sein helles Gesicht mit zwei finster zusammengepressten, tiefblauen Augen. Ich fasse es nicht. Er ist es wirklich. Er lehnt an der Wand und hat eine Hand an seine Schläfe gepresst. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt und der Blick, den er mir unter seinem dichten Pony zuwirft, ist absolut mörderisch. Ich schlucke unwillkürlich. "W-was machst du denn schon hier ...?" "Was denkst du? Dass ich mir besonders viel Zeit lasse, während du hier die gesamte Firma in die Luft jagst?!" Irgendetwas in mir verarbeitet den seltsamen Gedanken, dass er sich extra wegen mir beeilt hat. Und dass ich ihm zum Dank eine übergezogen habe ... "Kaiba ...das ..." "Erspar es mir!" werde ich angeschnauzt. "Es war keine Absicht! Es war ... Notwehr!" Und ich wollte deine Firma verteidigen, füge ich innerlich hinzu. Und dich ... Ich hätte ausnahmsweise der Held sein müssen. Aber ich bin schon wieder nur der Trottel. Meine Lieblingsrolle. Adrenalin strömt immer noch ungehindert durch meinen Körper und bringt mein Herz zum Rasen. Ich bin so high von dem Zeug, dass ich durch keine Drogenkontrolle mehr kommen würde. Meine Hände zittern schon. Es tut mir wirklich leid ... ich wollte ihm nicht wehtun ... "Wenn du fertig bist, wieso ist es dann noch dunkel hier ...?" "Was glaubst du, wie lange es dauert, bis sich das komplette System neu gestartet hat?!" Er wirft mir einen verächtlichen Blick zu. Jetzt hasst er mich ... und als er die Hand sinken lässt, sehe ich auch ein, wieso ... Ich habe ihn volle Kanne seitlich an der Stirn erwischt, und selbst in dem schwachen, flackernden Licht kann ich erkennen, dass die Stelle jetzt schon langsam anschwillt und eine dunkle Färbung annimmt. Ich hoffe nur, dass ich ihm keine Gehirnerschütterung verpasst habe ... Das wird morgen richtig übel aussehen. "Tut mir leid ..." murmele ich schuldbewusst und mache einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. So bedrohlich wie er mich grade aus gefährlich schmalen Augen fixiert, sieht er aus wie ein wildes, verletztes Tier. Eins, welches mich garantiert beißen wird, wenn ich ihm zu nah komme ... Elektrisches Summen liegt in der Luft. "Ich wollte wirklich nicht ..." Er richtet sich so abrupt auf, dass ich erschrocken zurückstolpere. Sein Blick ist unlesbar, aber ohne Zweifel gefährlich. "Schon gut, ich bin schon weg ..." Ich wedele so hektisch mit den Armen, dass der matte Lichtstrahl Muster in der Luft hinterlässt. Das Summen wird stärker und es kommt mir seltsam bekannt vor. "Ich warte einfach da drüben, bis das Licht wieder angeht und ...und verschwinde dann still und leise nach Hause und ..." "Bleib stehen!" "... tu einfach so, als ob ich niemals hier gewesen bin ..." "Bleib stehen!" Seine Stimme ist so schneidend, dass ich mich frage, wieso er dafür keinen Waffenschein braucht. Alles geht so schnell, dass ich mich selbst wundere, wieso ich es nur in Zeitlupe wahrnehme. Die Pfadfinder-Taschenlampe gleitet aus meiner Hand, als er mich unsanft zurückreißt. Sie landet mit einem metallischen Scheppern auf dem Boden und das letzte bisschen Licht flackert und erlischt. Durch unseren eigenen Schwung mitgerissen, stolpern wir zurück. Alles dreht sich, als er mich herumzerrt und so heftig gegen eine Wand presst, dass ich Sterne sehe. Sekundenlang frage ich mich, ob er plötzlich den Verstand verloren hat ... bis mir endlich klar wird, was ich grade angerichtet habe. Es ist, als ob ein Feuerwerk startet, mitten im Flur ... beängstigend genau an der Stelle, an der ich eben gestanden habe. Ich quietsche auf vor Schreck und mache eine impulsive, panische Bewegung, die er sofort durch seinen unnachgiebigen Griff verhindert. Er drückt mich so heftig gegen die Wand, dass ich kaum noch atmen kann, während um uns herum die Hölle los ist. Ich schiebe solche Panik, dass ich kaum bemerke, wie sehr ich mich an ihn klammere. Das ist sie also ... die Kaiba Corporation in Action ... Es ist meine Schuld ... Wir sind Toast. Es knistert um uns herum und ich ahne mehr, als dass ich sehe, dass ich etwas aktiviert habe, und oh Gott, es wird uns rösten, das ist der Moment, in dem wir frittiert werden, es wird ihn verletzen und es ist meine Schuld, wieso habe ich nicht auf ihn gehört ... Alles was ich denken kann, alles was sich wie eine Endlos-Schallplatte in meinem Kopf abspielt, ist ,Es tut mir Leid! Es tut mir Leid! Es tut mir Leid!' Zum ersten Mal, seit wir in diesem Schlamassel stecken, habe ich keine Angst um meine eigene Haut ... sondern ausgerechnet um Kaiba ... darum dass der arrogante Saftsack verletzt werden könnte ... meinetwegen ... wieso muss er ausgerechnet jetzt und hier einen auf Held machen ... und mich mit seinem Körper vor allem abschirmen ... In meinem Kopf klingelt es auch noch, als alles plötzlich und abrupt aufhört und wieder still wird. Ich kann seinen unregelmäßigen, stoßweisen Atem hören, direkt neben meinem Ohr, in fast identischem Rhythmus mit meinem eigenen. Wir leben noch ... okay, gutes Zeichen ... Er lässt mich nicht los. Und ich wage nicht, die Augen zu öffnen. Meine Knie sind weich und ich habe das Gefühl, sobald er mich loslässt, sinke ich auf den Boden wie weich gekochte Spaghetti. Es gibt ein leises klackendes Geräusch ... und dann flackert plötzlich das Licht um uns herum an. Alles ist still. Still und hell erleuchtet, als ob wir plötzlich aufwachen - und hey, Überraschung - alles war nur ein Traum! Ich blinzele wegen der unerwarteten Helligkeit und muss der Versuchung widerstehen, mein Gesicht tiefer in seinem schwarzen Pullover zu vergraben. In derselben Sekunde, in der ich es doch tun will, kann ich spüren, wie er sich bewegt und sich ein wenig von mir löst. Hoffentlich ist er in Ordnung. Hoffentlich habe ich ihn nicht verletzt ... hoffentlich ... es tut mir so leid ... "Kaiba ..." Ich strecke die Hand nach ihm aus, um ihn aufzuhalten, aber er schlägt sie sofort beiseite. "Du Idiot!" faucht er atemlos. Seine Finger sind in meinen Schultern vergraben und er fängt an mich durchzuschütteln. "Was hast du vor? Willst du uns alle UMBRINGEN?!" Sein verschwommenes Gesicht nimmt langsam schärfere Konturen an. Es ist komisch, auf einmal wieder etwas zu sehen, wenn man die ganze Zeit nur hören und fühlen konnte. Er ist nicht verletzt. Ich möchte vor Erleichterung heulen. Ierks ...ich werde gefühlvoll. Aber das war heute definitiv eine Nahtod-Erfahrung zu viel für mich. "Ich wollte nur ..." "Denkst du JEMALS nach?! Oder bist du auch dazu vollkommen unfähig?!" "Nein, ich ..." "Kannst du nicht EINMAL in deinem Leben auf mich hören, du Penner?!" "LASS MICH LOS!" fauche ich mit brennenden Augen und fühle mich so elend. Wie der größter Versager aller Zeiten. "Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen." Echot es in meinem Kopf. "...ich habe absolut nicht genug Zeit, um sie an dich zu verschwenden." "Wheeler, ich hab zu tun ..." "Deswegen kommst du zu mir?" "Fang nicht an zu heulen." Immer sagt er so etwas zu mir. Als ob ich eine einzige Last für ihn bin. Ein nerviges, überflüssiges Subjekt, das er am liebsten dreimal am Tag überfahren würde. Nicht wert um seine Zeit an mich zu verschwenden ... Und ich laufe ihm nach wie ein dummer kleiner Köter ... und gebe ihn einfach nicht auf ... sitze zu seinen Füßen und warte auf ein Lächeln ... ein nettes Wort ... Mache mir Gedanken um ihn ... Interpretiere und rate, was er sagt und meint ... und tappe doch nur im Dunkeln ... mache alles falsch ... Ich habe es so satt ... Vielleicht sind wir einfach nicht gut füreinander ... Vielleicht bin ich einfach all das, was er nicht braucht in seinem Leben. "Du entpuppst dich also mal wieder als absolut unfähig. Welche Überraschung!" "Was hast du in deinem nutzlosen Versagerleben schon zu tun ..." "Du bist dermaßen lächerlich, Wheeler ..." Lächerlich ... Erbärmlich ... Versager ... "HÖR AUF DAMIT!" fauche ich, den Tränen nahe. "Kannst du nichts anderes zu mir sagen?! Es tut mir leid, dass ich GEBOREN WURDE! Es tut mir leid, dass ich nichts anderes tue, als dir das Leben schwer zu machen!" Mit mehr Kraft als ich mir selbst zugetraut hätte, presse ich beide Hände gegen seine Brust und stoße ihn von mir weg. Sein Blick ist mehr überrascht, als wütend. Seine Hände gleiten fast widerstandslos von meinen Schultern. Ich zittere und ich weiß nicht, ob es von dem ganzen Schreck ist oder weil ich so furchtbar wütend bin. Auf ihn. Auf mich selbst. Was tue ich hier? Aber ich kann die Worte nicht aufhalten, die ungebeten aus meinem Mund sprudeln. "Wieso fällt es dir nur so schwer, dich zu Abwechslung wie ein MENSCH zu verhalten?! Es tut mir Leid, in Ordnung?! Es tut mir leid, es tut mir leid! Ich mache das nicht mit Absicht! Ich mache das nicht, um dich zu verletzen! Alles, was ich die ganze Zeit versuche, ist mit dir auszukommen und dich besser zu verstehen ... und es ist eine Knochenarbeit ...! Aber egal, was ich anstelle, es ist doch falsch und es führt nur dazu, dass einem von uns beiden wehgetan wird. Und ich weiß nicht einmal, wieso ich mir überhaupt die Mühe mache, weil es dir doch sowieso vollkommen gleichgültig ist! Ich weiß nicht, wieso ich das nicht auch schaffe! Du solltest mir vollkommen egal sein ... und es sollte mir egal sein, ob du hier für den Rest deines Lebens einsam und allein in diesem Hochsicherheitstrakt versauerst. Und es sollte mir egal sein, ob du meinetwegen geröstet wirst oder nicht ...! Aber das ist es nicht! Hörst du? Es ist mir nicht egal! Und ja, danke - ich WEIß, dass ich ein Idiot bin! Du könntest mir wenigstens verraten ... wie du es schaffst, dass dich alles an mir so kalt lässt ... Und wieso kostet es dich so unglaublich viel ... einfach nur nett zu mir zu sein ...? Warum ...?!" Ich komme nie mehr dazu, diese eine letzte Frage nach dem ,Warum' zu stellen. Er muss nur einen einzigen Schritt machen um bei mir zu sein. Einen einzigen Schritt, um mich grob packen zu können und gegen die Wand zu drücken. Schmerz explodiert in meinem Hinterkopf, als er unsanft Bekanntschaft mit dem Beton macht, und sekundenlang sehe ich nichts als Sterne. Und dann presst er seine Lippen auf meine, und versiegelt meinen Mund, so dass ich nicht einmal mehr protestieren kann. Er küsst mich. Er ... küsst mich. Meine Gedanken funktionieren nicht mehr. Er hält meine Handgelenke fest und ich werde so unnachgiebig an die Wand gepresst, dass ich das Gefühl habe, mein Rücken bricht gleich durch. Ich habe einen metallischen Geschmack im Mund. Es ist kein netter Kuss. Kein Sonnenuntergangs-Geigen-Schnulzen-Kitschroman-Kuss. Es ist ein rauer, harter, wütender, irrationaler Kuss, mit dem er mir die Luft aus den Lungen presst. Ein Kuss, um mir den Mund zu stopfen. Mich zum Schweigen zu bringen. Als ob er mich umbringen will. Und nichts an ihm ist ,beinah'. Es ist ein ,Ich hasse dich Joey Wheeler, ich will dich auf Knien vor mir sehen, ich will dich demütigen und besiegen und dass du endlich aufhörst zu reden, und ich will, dass du mir gehörst'- Kuss. Nicht, dass ich ein Wörterbuch dafür nötig hätte ... Dieses Mal muss ich nicht raten, ob er durcheinander ist ... ob ich ihm unter die Haut gegangen bin. Dieses eine Mal bin ich nicht darauf angewiesen, seine unlesbare Mimik zu entziffern ... zu raten ... im Dunkeln zu tappen ... Ich kann es spüren. Er ist so nah, dass ich es beinah hören kann. Ich fühle, wie es schlägt. Er ist so dicht an mich gepresst, dass ich spüren kann, wie es gegen meinen Brustkorb hämmert. Warm ... und lebendig. Viel zu schnell ... unregelmäßig ... aufgewühlt ... Wunderschön ... Das ist es ... Kaibas Herz. Und in dieser einen Sekunde schlägt es für mich. Er ist grob zu mir und tut mir weh ... und was er hier abzieht, hat allgemein mehr Ähnlichkeit mit einem interessanten Mordversuch, als mit Romantik. Und doch ... ist es das erste Mal, wo ich ihn verstehen kann. Das erste Mal, wo er zugibt, dass ich ihm nah gehe ... genau so wie er mir nah geht ... mit allem was er tut und sagt. Das erste Mal, wo ich nicht allein dastehe, mit diesem Gefühl, dass wir uns gegenseitig in den Wahnsinn treiben, schon lange jenseits des Normalen. Blut rauscht in meinen Ohren und mir geht langsam aber sicher die Luft aus. Was für ein schöner Tod. Für später ... aber definitiv nicht jetzt, bevor ich ihm nicht wenigstens eine reinhauen kann. Zuerst muss ich nur meine Erstarrung loswerden. Ehrlich, passive Rollen liegen mir nicht. Frustriert bewege ich mich unter ihm und versuche mich seinem unnachgiebigen Griff zu entwinden. Den Kuss zu erwidern. Irgendetwas. Hauptsache, ich liege nicht länger, wie eine Plastikpuppe in seinen Händen. Ruckartig lässt er mich los, als er meinen Widerstand zu spüren scheint und stolpert nach hinten. Seine Augen sind weit vor Entsetzen und er wirft mir einen Blick zu, als ob ich hier der Psychopath sei. Ich starre atemlos zurück und sinke an die Wand, viel zu verwirrt und ausgesaugt, um irgendetwas Produktives dazu sagen zu können. Er hat mich geküsst. Ich finde keine anderen Worte dafür. Er hat mich definitiv geküsst. Meine Lippen kribbeln immer noch. Scheinbar wird ihm das auch grade nur allzu deutlich bewusst, denn er gibt ein ersticktes, bestürztes Geräusch von sich. Seine Hände tasten verzweifelt nach Halt und er sinkt kreidebleich neben mir an die Wand und schließt die Augen. Für ihn ist das sicher noch dramatischer als für mich. Andererseits ... Er hat mich geküsst ... Oh Gott ... Er ... er hat ... Wieso ... Okay, es IST dramatisch für mich! Schwer atmend wende ich den Kopf und starre ihn an. Nichts geht mehr. Keine sinnvollen Worte. Keine wichtigen Fragen. Adieu, mein Gehirn. Ich mochte dich sehr. Jetzt hast du dich in Luft aufgelöst und ich werde dich wohl nie wieder sehen. Er hat mich grade GEKÜSST!! Das KANN nicht sein Ernst sein! Wieso hat mein Leben keine Untertitel? Jetzt grade könnte ich sie mehr brauchen als je zuvor. Ich habe nämlich grade das überdeutliche Gefühl, dass ich so ziemlich gar nichts mehr von der Handlung verstehe. Was geht hier ab? Wo ist die versteckte Kamera?! WIESO HAT ER DAS GEMACHT?! "Wheeler ..." Ich hebe den Kopf und sehe ihn fragend an. Sein Atem geht stoßweise und unregelmäßig, und er ist so blass, dass ich sekundenlang Angst habe, dass er jeden Moment umkippt und vor meinen Füßen landet. Nur seine Augen sind ein Sinnbild fester Entschlossenheit. "Das hier ist niemals passiert." "... wie jetzt?" Ich bin sicher, ich sehe ihn grade an wie ein Mondkalb. "Was ...?" "DAS hier!" faucht er unwirsch, und es kehrt ein kleiner Hauch Farbe in seine Wangen zurück. "Aber es ist passiert ..." "Nein ist es nicht. Wenn es für irgendetwas keine Zeugen gibt, dann ist es auch nicht passiert", sagt er stur. Wenn er mit allen unangenehmen Dingen in seinem Leben so umgeht, dann wundert es mich nicht, dass der Junge massive Probleme hat. Ich berühre meine geschwollenen Lippen mit den Fingerspitzen und verziehe sekundenlang das Gesicht, weil es brennt. Als ich die Finger zurückziehe, klebt Blut daran. "Schon mal was von Indizienbeweisen gehört?" Sekundenlang huscht eine fremde, raue Emotion über seine angespannten Gesichtszüge, als er die roten Flecken sieht, aber sie ist weg, bevor ich sie erwischen und identifizieren kann. Stattdessen werden seine Augen schmal und sehen mich scharf und bohrend an. "Überhaupt - was ist mit mir? Bin ich kein Zeuge?" bohre ich entschlossen nach. "Du stehst unter Schock und bist nicht zurechnungsfähig." "Also, entschuldige mal ...!" "Was ist los mit dir, du Penner? Bist du etwa scharf darauf, dass es passiert ist?" "SETO!" Beinah zeitgleich drehen wir uns um. Es macht ,wusch' und ein kleines, sehr vertrautes, schwarzhaariges Bündel rennt durch den Gang, wirft sich ihm entgegen und schlingt die Arme um seine Taille. Alles geht so schnell, dass Kaiba nur mit einem leisen Geräusch die Luft entweicht, als er leidenschaftlich angesprungen wird. "Seto ...!" Ich blinke. Sogar Kaiba blinkt. Daran kann man erkennen, wie sehr er durch den Wind ist. "Mokuba!" Irritiert blickt er auf seinen kleinen Bruder hinab und runzelt die Stirn. "Was machst du denn hier?" Große, dunkle Hundeaugen blicken zu ihm auf. "Ich wollte nach euch sehen! Ich habe mich von zu Hause aus in den Hauptrechner eingeloggt. Aber er konnte den Fehler nicht finden. Also dachte ich, ich sehe nach, ob bei dir alles in Ordnung ist." "Wieso bist du nicht da, wo du sein solltest? Im Bett?" "Und als ich auf dem Weg nach oben war, ging das Licht wieder an", erzählt Mokuba ungehindert weiter. "Leider erst, als ich im 42. Stock war. Sonst hätte ich ja den Aufzug genommen." Heilige Scheiße ... ist er etwa in dem Tempo 47 Treppen hoch gerannt? Das nenne ich wahre Bruderliebe. Oder erblich bedingten Wahnsinn. Muss in der Familie liegen. "Was ist eigentlich passiert? Gab es einen Defekt? Ist irgendetwas kaputt?" Mokuba, Junge ... hier ist so gut wie ALLES kaputt!! Irreparabel geschädigt, zersplittert, zerfetzt, zersprungen, am Boden ... es ist hinüber! Einfach gelaufen! Aus, vorbei! Nie mehr wieder ganz zu kriegen! Ach so ...er meint, die Firma ... "Ich weiß es noch nicht - aber ich werde es mit Sicherheit herausfinden." Kaibas Gesicht wird sekundenlang weich und seine Hand verweilt auf den schwarzen, zerzausten Haaren. "Keine Sorge, ich habe hier alles im Griff." Ausgerechnet ich könnte das jetzt bestreiten ... aber ich desillusioniere kleine Geschwister nicht gerne. Außerdem würden mir schlichtweg die Worte fehlen ... Kaiba wirft mir einen warnenden Blick zu, ganz so, als hätte er meine Gedanken gelesen. Alles an ihm sagt mehr als deutlich ,Es ist NIE passiert!' Also schweige ich. Widerwillig. "Was ist mit deinem Kopf passiert?" unterbricht Mokubas Stimme die erdrückende Stille zwischen uns. "Nur ein kleiner Unfall ...", winkt er ab und wirft mir einen giftigen Blick zu, nur um sofort das Thema zu wechseln. "Wie bist du überhaupt hierher gekommen?" "Roland hat mich gefahren. Er wartet draußen. Er hat sich auch Sorgen gemacht. Ist wirklich alles in Ordnung?" "Ja, alles bestens." "Was ist mit Joey? Er blutet ja." Verwirrt sieht Mokuba zwischen uns beiden hin und her. Ich lächele schwach. "Ein ... kleiner Unfall." "Seid ihr im Dunkeln gegeneinander gelaufen?" Kaiba setzt seinen Lieblingsgesichtsausdruck äußerster Ausdruckslosigkeit auf und ich sehe überall hin, nur nicht zu ihm. "So in der Art ...", murmele ich. Gegeneinander gelaufen ...? Übereinander hergefallen trifft es besser ... Meine Gedanken schweifen ab, während die beiden eine Flut von technischen Details austauschen, die ich nie verstehen wollte. "Du hättest trotzdem nicht kommen sollen, Mokuba." Ich fass das alles nicht ... Was hat er sich dabei gedacht ...? Wieso hat er das gemacht ...? "Du hast morgen früh Schule." "Ich weiß. Entschuldige. Aber M.I.C.A hat mir erzählt, was passiert ist - und ich habe mir Sorgen gemacht. Ich wollte nur nachsehen, ob ich dir irgendwie helfen kann." Ich glaube, wir erstarren beide zeitgleich. Er hat nicht daran gedacht. Ich habe nicht daran gedacht. Mika ... Kaibas Augen werden weit und sein Blick wandert unwillkürlich zu mir. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. Wortlos starre ich zurück. Und dann hoch an die Decke, zu den hell brennenden Lampen. Und unwillkürlich versuche ich zurückzurechnen, zu welchem Zeitpunkt ungefähr das Licht wieder angegangen ist. Licht bedeutet Strom. Und Strom bedeutet Mika. ,Wenn es für etwas keine Zeugen gibt ... dann ist es auch nie passiert ...' ^Fortsetzung folgt^ Feedback? Immer her damit. ^_^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)