Zwischen den Welten von Shizana (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Kapitel 13: Weiter auf Irrwegen ------------------------------- »Rain Beat« will mir einfach nicht aus dem Kopf. Seit ich die Wohnung verlassen habe, kreisen meine Gedanken um die Zeilen, die ich gelesen habe. Mit einem beladenen Gefühl begleiten sie mich auf meinem Weg zur Arbeit. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich da eigentlich gelesen habe. Die Bedeutung des Textes erschließt sich mir noch nicht so ganz. In der kurzen Geschichte, die mir keine zu sein scheint, liegt viel Raum für Interpretationen. Etwas zu viel, nach meinem Ermessen. Nach nur wenigen Sätzen war mir bereits klar, dass ich nicht umhin kommen werde, sie zu einem ruhigeren Zeitpunkt erneut zu lesen. Die Ampel vor mir zeigt Rot. Zwischen einigen Leuten bleibe ich stehen und warte auf die Freigabe zum Überqueren der Straße. Neben mir tauscht eine Gruppe Jugendlicher Meinungen zu irgendwelcher Rap-Musik aus, und das in einer Lautstärke, die die ihres Gedudels noch übertönt. Eine Kombination, die meine Nerven strapaziert. Es bedarf nur eines kurzen Blickes, um mir zu bestätigen, dass es sich um einige Halbstarken handelt. Ich richte meine Augen wieder nach vorn, gerade als die Ampel auf Grün springt. Im Geleit der Menschen um mich herum setze ich mich in Bewegung und beobachte, wie die Gegenseite es uns gleichtut. Es ist nur ein kurzer Augenblick, der diesem Trott für mich ein abruptes Ende bereitet. Nur ein vager Moment ohne jede Gewissheit, der mich aus dem Gleichschritt bringt. ‚Orion?‘ So plötzlich er in der Masse auf der gegenüberliegenden Seite aufgetaucht war, so schnell ist er schon wieder verschwunden. Ich rede mir ein, dass es auch nur eine Einbildung gewesen sein könnte. Es gibt sicherlich ein paar Jungs, die seine Frisur tragen und seine Haarfarbe besitzen. Und Cosplay ist in Japan ja auch noch so eine Sache. Aber wie viele Kinder können über einen Erwachsenen hinausragen, gerade so, als ob sie schweben? ‚Vergiss es!‘, appelliert mein Verstand an meine Vernunft. ‚Selbst wenn, du könntest ihn nicht sehen!‘ – Sinnlos. Ich reiße fast eine junge Frau mit mir, als ich losstürze. Ich weiß nicht, warum, aber ich breche mir regelrecht eine Bahn durch die Menschen, die mir entgegenkommen. Es ist grotesk. Ich renne hier einer Fata Morgana hinterher, da besteht überhaupt gar kein Zweifel. Aber ich komme nicht dagegen an. Alle Logik nützt nichts gegen das wilde Herzklopfen, das mich wie ein Motor vorantreibt. Es ist gar nicht so einfach. Mit Mühe quäle ich mich an den Menschen vorbei, die mir Blicke zuwerfen, als sei ich ein Flüchtling. Zwischen all den Leuten ist es schwer, das schwarz-gelbe Zipfelcape nicht aus den Augen zu verlieren. Bei jeder Ecke, um die ich biege, fürchte ich, aus meinem kleinen Traum zu erwachen. Zu meinem eigenen Erstaunen halte ich länger durch, als ich erwartet hätte. Irgendwann finde ich mich in einem Kaufhaus wieder. Ich weiß nicht, wie lange ich dieser Hetzjagd gefolgt bin und wie viele Straßen ich dabei hinter mir gelassen habe. Hier stehe ich inmitten von Menschen und umringt von Geschäften, die ich noch nie betreten habe. Ich weiß, dass dies das Ende meines kleinen Irrwahns ist. „Mist“, fluche ich leise und trete ein Stück vom Tumult weg. Mit den Fingern fahre ich mir unter den Pony, um meine Stirn zu trocknen. Meine Wangen fühlen sich heiß an vor lauter Anstrengung und Frust. „Verdammt, Orion. Hör doch einfach auf, mich zu verfolgen! Ob Trugbild oder nicht, ich kann das echt nicht gebrauchen.“ Aufmerksam prüfe ich mein Umfeld, ob auch niemand meinen leisen Monolog mitbekommen hat. Und ob ich vielleicht doch noch irgendwo einen Sternenzipfel hinter einer Ecke entdecke. Warum auch immer ich noch nach ihm suche. Es ist witzlos, das weiß ich selbst nur zu gut.  Toll, Zeit vertrödelt. Und wo bin ich überhaupt? Mein Handydisplay verrät mir eine Zeit von 11:26 Uhr. Na wunderbar. Jetzt um den Dreh wollte ich eigentlich schon beim »Meido no Hitsuji« sein. Allein der Weg von dort, wo ich abgekommen bin, bis zum Café wäre nicht in fünf Minuten zu schaffen gewesen. Ich werde zu spät zur Arbeit kommen, das weiß ich jetzt schon. Wirklich großartig. Waka wird mich umbringen. Ich begebe mich nach draußen, um mir einen Überblick zu meinem Standort zu verschaffen. Die Straße sagt mir nichts, mir kommt nichts bekannt vor. Von wo bin ich nochmal gekommen? „Entschuldigen Sie bitte“, halte ich den nächstbesten Passanten an, der gerade hinter mir aus dem Kaufhaus tritt. „Ich komme nicht aus der Gegend. Kennen Sie das »Meido no Hitsuji«?“ „Nein, nie davon gehört“, entgegnet mir der breitschultrige Mann, der mir wie ein Kraftsportler im Anzug erscheint, mit einem entschuldigenden Schulterzucken. Ich bedanke mich nichtsdestotrotz und versuche es beim Nächsten. Auch die junge Mutter und die beiden Mädchen, welche ich befrage, können mir nicht weiterhelfen. Erst der vierte Anlauf lässt mich hoffen. „Ah, das Maid-Café?“ Allein diese Resonanz löst eine immense Erleichterung in mir aus. Dieser junge Mann, vielleicht etwa in meinem Alter, ist mir sofort sympathisch. Sein Gesicht wirkt freundlich, hinter der schwarzen Rahmbrille blickt mir ein Paar blauer Augen weltoffen entgegen. Als Vertreter wäre er sicherlich erfolgreich. „Ja“, nicke ich bekräftigend. „Ich komme nicht aus der Gegend und habe mich wohl ein wenig verlaufen.“ „Ist eigentlich nicht schwer von hier zu finden. Sie gehen die Straße runter, über die Ampel, dann rechts und …“, beginnt er zu erklären, wobei ich seinem Fingerzeig folge und versuche, mir seine Wegbeschreibung genau einzuprägen. Da ich die Straßen hier nicht kenne, gestaltet sich das schwierig für mich. „Haben Sie vielleicht ein Handy mit Internetzugang dabei?“ Verwundert über seine Frage blicke ich zu ihm auf. „Ähm, ja?“ „Wissen Sie, wie man online nach Routen suchen kann?“ „Öhm … habe ich noch nie gemacht“, gestehe ich kleinlaut. „Wenn Sie damit einverstanden sind, geben Sie es mir kurz. Ich suche Ihnen den Weg heraus. Natürlich nur, sofern Sie einem Fremden Ihr Handy anvertrauen möchten.“ Kurz studiere ich sein Gesicht und wäge ab, wie wahrscheinlich es ist, dass er sich damit aus dem Staub machen wird. Ich schätze ihn nicht als einen hinterhältigen Dieb ein, weswegen ich zögerlich nicke, mein Smartphone hervorhole und es ihm überreiche. Aufmerksam beobachte ich, wie er es bedient und hoffe, dass er davon absehen wird, mir seine Handynummer zu hinterlegen. So sympathisch er mir auch ist, noch mehr Chaos kann ich nicht gebrauchen. „Fertig“, verkündet er wenig später und reicht mir das Telefon zurück. „Einfach der Beschreibung folgen, dann kommen Sie sicher ans Ziel.“ „Danke.“ Ich zeige ein aufrichtiges Lächeln. Ich bin wirklich zutiefst erleichtert, eine so hilfsbereite Person gefunden zu haben. „Damit verlaufe ich mich gewiss kein zweites Mal.“ „Ganz sicher nicht“, lächelt er überzeugt zurück. „Also dann, ich muss weiter. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“ „Vielleicht. Man sagt ja, man sieht sich immer zweimal im Leben.“ „So ist es.“ „Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe.“ „Keine Ursache. Viel Erfolg“, winkt er mir zu, schon verschwindet mein Helfer im Fluss der Menschenmasse. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf das Handy in meiner Hand. Die Route sieht überschaubar aus und kommt dem gleich, was er mir beschrieben hat. Damit bin ich mir sicher, dass ich zum Meido finden werde. „Tja, dann mal auf.“ Im Drehen rufe ich meine Kontaktliste auf und gehe die Liste durch. Mir ist etwas unwohl, als ich die Nummer anwähle, die ich nie freiwillig hätte anrufen wollen. Einige Schritte warte ich auf Annahme des Gespräches. „Ähm, ja, Chef? Hier ist Shizana. Tut mir leid, aber ich werde mich wohl ein wenig verspäten. Mir ist unterwegs leider etwas dazwischengekommen. Ich bin aber schon auf dem Weg und beeile mich.“   Ich bin ja selbst schuld, trotzdem ist das nicht fair. Offiziell habe ich es noch pünktlich ins Meido geschafft und wäre Wakas Standpauke nicht gewesen, hätte ich meine Schicht noch kurz vor knapp antreten können. Trotzdem empfing er mich mit dem Feldbefehl, die »verlorene Zeit« aufzuholen, indem ich bis Ladenschluss bleiben dürfe. Seine lückenlose Schimpftriade war ohne Frage bis durch die Tür seines Büros zu hören gewesen. Doch das war noch nicht das Schlimmste. Unter ziehenden Gesichtsmuskeln wechsle ich meine Garderobe. Wie kommt Waka nur auf solche Ideen, einen zur Strafe einhundert Mal „Der Kunde ist der Feind“ sagen zu lassen? Und das unter einer Verbeugung und einem falschen Lächeln, versteht sich. Ich befürchte ernsthaft, dass das irgendwelche Schäden an meiner Psyche hinterlassen könnte. Ob ich jetzt noch imstande sein werde, die Kunden mit einem höflichen Lächeln zu empfangen, wage ich zu bezweifeln. „Was war denn los?“, höre ich Sawa fragen, gerade als ich die Tür zu meinem Spind schließe. „Warst du heute nicht etwas spät dran?“ „Mir kam etwas dazwischen“, sage ich knapp. Kurz wäge ich ab, wie viel ich ihr verraten kann, ohne mich ihr erneut als Idiotin zu präsentieren. „Ich bin eigentlich pünktlich losgegangen, aber dann habe ich etwas gesehen und bin dem nachgelaufen. Dummerweise habe ich mich dabei verirrt. Ich kenne mich hier noch nicht so gut aus“, erkläre ich unter einem leisen Seufzen. „Ach ja, das kenne ich. Nur keine Sorge, so etwas kommt vor.“ Es hat etwas Tröstliches, als sie zu mir herüberkommt und mir beide Hände auf die Schultern legt. Sie begegnet mir mit einem offenen Lächeln. „Die Hauptsache ist, dass du jetzt da bist und dir nichts passiert ist. Und mach dir nichts draus. Aus Waka-san, meine ich. Du weißt ja, wie er ist, aber er meint es im Grunde nicht schlecht.“ Ich nicke zur Bestätigung. „Ja, ich weiß. Danke für deine aufmunternden Worte, Sawa“, erwidere ich ihr Lächeln. „Ach was, ist doch selbstverständlich.“ Ihr freundliches Grinsen zeugt von ihrer ausgelassenen Stimmung. Gerade sah ich es noch vor mir, schon ist Sawa in einer flinken Bewegung hinter mir verschwunden. Ich spüre ihre Hände in meinem Rücken, wie sie mich bestimmt voranschieben. „Nun solltest du aber wirklich in die Gänge kommen, sonst tobt er nur wieder. Shin-kun und du, ihr habt heute noch eine Sondermission vor euch.“ „Was? Shin und ich?“, frage ich überrascht und blinzle zu ihr hinter. „Ganz recht. Anweisung vom Boss. Du und Shin werdet vorm Café Flyer an die Passanten verteilen. Ikki-san und Hanna-chan schmeißen den Laden, Kento-san übernimmt die Küche und ich bereite die Naschkörbe für morgen vor. Sobald Mine kommt, wird sie für Hanna übernehmen und sie hilft mir stattdessen bei den Vorbereitungen.“ Mir kommen zwei Fragen in den Sinn: Warum muss ausgerechnet ich Flyer verteilen? Und heißt das, dass ich Mine heute sehen werde? Es wäre das erste Mal, dass wir aufeinandertreffen. Ich muss gestehen, der Gedanke allein stimmt mich ein wenig nervös. „Findest du nicht, dass das alles etwas plötzlich ist? Also das Event an sich, meine ich. Kommt das mit den ganzen Vorbereitungen nicht etwas spät?“ „Frag besser nicht, mach einfach“, rät sie mir an. „Der Boss mag es nicht, wenn man seine Entscheidungen anzweifelt. Er fragt zwar nach, aber ich würde dir nicht empfehlen, ihm zu widersprechen.“ Sie stößt ein schweres Seufzen aus. „Glaub mir, ich habe das selbst schon zu oft hinter mir. Wenn man ihn kritisiert, ist es, als würde man ihn des Hochverrats anklagen. Er spricht dann gleich von Schande und will sich selbst richten. Es ist unheimlich und peinlich zugleich … In was für einer Zeit leben wir eigentlich?“ Ich weiß, was sie meint. Auch zu ihrem leisen „Die Jungs können es trotzdem nicht lassen“ kommt mir sofort ein Bild in den Sinn, über das ich oft gelacht habe. Doch was im Rahmen der Fiktion als Running Gag gilt, ist in real sicher nicht mehr so lustig. Ich bin wirklich nicht sehr erpicht darauf, Waka von seinem nächsten Selbstmordversuch abhalten zu müssen.   Im Café treffe ich auf Hanna, die mir erfreut scheint, mich wiederzusehen. Ikki ist in seiner Begrüßung zuvorkommend wie immer, und doch fällt es mir schwer, ihm sein Lächeln abzukaufen. Vielleicht liegt es an Hannas Anwesenheit, vielleicht bilde ich mir auch nur etwas ein. Was immer es ist, es sorgt dafür, dass die Erinnerung mich einholt. Hannas Worte von gestern kommen mir wieder in den Sinn. Der Gedanke, dass die beiden sich getrennt haben, übt eine wahre Last auf mich aus. Es ist hart, doch noch viel schwerer wiegt, dass ich die beiden nicht dazu befragen kann. Ich habe nicht das Recht und es geht mich auch nichts an. Ich bin mir sogar sicher, dass ich die ganze Sache selbst dramatischer gestalte, als sie es für die beiden ist. Ja, das sähe mir wohl mal wieder ähnlich. „Ist ja nicht viel los heute“, stelle ich fest, was rein dem Zweck zur Selbstablenkung dient. Ein überschauender Blick durchs Café bestätigt mir, dass ich die vorhandenen Kunden an einer Hand abzählen kann. Wirklich ein Kontrast zu den Tagen zuvor. „Das wird schon noch“, versichert Sawa neben mir. „Wir haben jetzt gerade mal Mittag. Warten wir noch ein paar Stunden, dann sieht es schon wieder ganz anders aus.“ Möglich. Für den Moment jedenfalls gibt es nicht genug Arbeit, um vier Leute zu beschäftigen, so viel steht fest. Wir halten kurz Rücksprache, bevor ich mich von der Gruppe in Richtung Küche löse. Ich hoffe, dort auf Kento zu treffen. Die Aussicht auf ein Gespräch mit ihm – ganz gleich, worüber und für wie lange – verspricht mir ein wenig Trost und Ablenkung. „Hallo, Kento. Shin.“ Bei der Tür bleibe ich stehen und werfe meine Begrüßung lediglich in den kleinen Raum hinein. Zu meinem Bedauern ist Kento nicht allein, Shin ist bei ihm. Die Jungs wenden sich mir kurz zu, grüßen, ehe sie sich wieder ihrem Tun zuwenden. Wie es aussieht, störe ich sie bei irgendeiner Beratung. „Glaub mir, Butter macht sich hier besser. Versuch es beim nächsten Mal einfach. Ich geh‘ mich jetzt umziehen.“ Ich mache ein wenig Platz, um Shin vorbeizulassen. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem sich unsere Blicke begegnen, bevor er schweigend an mir vorüberzieht. Ein seltsames Gefühl der Intensität bleibt in mir zurück. Sensibel verfolgen meine Ohren, wie sich Shins Schritte hinter mir entfernen. Ich bin nicht sicher, was da gerade zwischen uns passiert ist. Zu meiner Verwunderung stelle ich fest, dass es mir tatsächlich schwerfällt, mich nicht herumzudrehen und ihm fragend hinterherzusehen. „Gibt es etwas Bestimmtes, das du wolltest?“, holt mich Kentos Stimme ins Hier zurück. Ich bin ihm dankbar dafür. Aus irgendeinem Grund habe ich meinen Rücken durchgespannt, wie ich bemerke. Indem ich langsam ausatme, lasse ich locker. „Nein, eigentlich nicht.“ „So.“ Ich gestehe: Mit Kento Smalltalk zu führen, ist gar nicht so einfach. „Ich habe deine E-Mail gelesen.“ „Ja, das habe ich gesehen.“ Gar nicht so einfach. „Ich bin noch nicht ganz fertig. Ich werde dir später darauf antworten.“ „Dann tu das.“ Gibt es nicht irgendetwas, worüber wir reden können? „Mh, sag mal …“ Mir mag einfach nichts einfallen. „Der Windbeutel war echt lecker.“ „So? Das freut mich.“ Ich seufze leise. Könnte er nicht wenigstens ein wenig Begeisterung in seine Worte legen? „Ich schätze, ich störe dich. Ich werde dann mal wieder nach vorn gehen.“ „Im Augenblick gibt es nichts, wobei du stören könntest“, entgegnet er zu meinem Erstaunen. Zuwenden tut er sich mir allerdings noch immer nicht. Der Hefter vor ihm muss ja mächtig interessant sein. „Ich gehe nicht davon aus, dass du eine Kundenbestellung abgeben möchtest?“ „Nein. Es ist nicht wirklich etwas los im Café.“ „Der Beobachtung entsprechend wird sich das gegen Nachmittag ändern. Die volle Besetzung aller Café-Angestellten zu den Wochenenden war schon immer unnötig gewesen.“ Hm, wohl wahr. Ich frage mich, was sich Waka dabei gedacht hatte, als er diese Schichtregelung eingeführt hat. „Naja, aber so kommt man wenigstens einmal dazu, jeden zu sehen. Und wenn weniger los ist, kann man auch mal miteinander reden. Diesen Luxus hat man in den regulären Schichten ja nun nicht zwangsweise“, bemerke ich. Endlich dreht sich Kento mir zu. Sein wacher Blick fixiert mich einige Zeit, ohne dass ich eine bestimmte Gefühlsregung aus ihm lesen kann. „Wozu genau soll das gut sein?“ „Öhm, naja … zur Kollegenbindung, zum Beispiel?“, strauchle ich, irritiert von seiner Frage. „Es arbeitet sich sehr viel angenehmer zusammen, wenn man einander besser kennt und eine gewisse Bindung zueinander hat. Soziale Kontakte unter den Kollegen sind schon nicht ohne, meiner Erfahrung nach.“ „Hm.“ Ich kann wirklich nicht bestimmen, was in ihm vorgehen mag. „Siehst du das nicht so? Du wirst doch sicherlich auch zu dem einen oder anderen eine gewisse Beziehung mit der Zeit aufgebaut haben? So lange, wie ihr hier schon zusammenarbeitet.“ „Ich arbeite noch nicht so lange hier“, erklärt er, was mich kurz stutzen lässt. „Ich habe erst kurz vor dir hier angefangen. Abgesehen von Ikkyu und Shin würde ich nicht behaupten, zu irgendjemandem sonst irgendeine Form der Beziehung aufgebaut zu haben.“ „Ach so?“ Das verwundert mich jetzt. Habe ich irgendetwas außer Acht gelassen? „Ist ja lustig, das merkt man dir gar nicht an. Dann sitzen wir ja quasi im selben Boot.“ Seine Augenbrauen senken sich bei meinen Worten. „Wieso sollte man mir so etwas anmerken?“ „Naja, wenn man irgendwo neu ist oder eine neue Tätigkeit beginnt, äußert sich das in der Regel anhand einer anfängliche Unbeholfenheit und Unsicherheit. Das ist eigentlich normal und bei den meisten so. Ich schätze, man merkt mir selbst nach einem Monat noch an, dass ich noch nicht so lange hier bin, haha.“ „Hm.“ „Wie kam es denn dazu, dass du hier angefangen hast?“, will ich wissen. „Ikkyu hat mir dazu geraten“, bestätigt er meine Vermutung. „Laut seiner Aussage hätte das Vorteile für beide Seiten: das Meido erhält Unterstützung und ich einen Nebenverdienst, der mich nicht bei meiner Forschungsarbeit behindert. Ihm nach würde es lustig werden … Was immer ihn zu solch einer Annahme bewegt.“ In einer kurzen Pause scheint er seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, bevor er fortfährt: „Ursprünglich sollte ich in derselben Stellung wie Ikkyu beginnen, doch wie wir bald festgestellt haben, bin ich für diese Art von Arbeit nicht geeignet. Also wurde ich stattdessen für die Küche eingestellt.“ ‚Und das, wo er kein bisschen kochen kann.‘ Der Gedanke lässt mich unweigerlich grinsen. Ich versuche dagegen anzukämpfen – es gelingt mir nicht. „Darf man erfahren, was so lustig ist?“, schneidet seine Stimme in mein Bewusstsein. Sein Blick verrät, dass er mit meiner Reaktion nichts anfangen kann. „Teile deine Gedanken offen mit. Ich erkenne den Witz nicht.“ „Sorry, nicht böse gemeint“, lächle ich entschuldigend. „Es gibt Gedanken, die behält man besser für sich.“ „Weswegen auch immer.“ „Auf jeden Fall eine schöne Geschichte“, sage ich zur Ablenkung. Mir entgeht die Skepsis nicht, die ich von Kentos Stirn nur zu deutlich ablesen kann. „Irgendwie passt das zu euch. Damit kann ich nicht mithalten.“ „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Ich blinzle fragend. „Was genau?“ „Wenn ich mich richtig erinnere, bist du auch auf Empfehlung eines Freundes hier“, offenbart er. Es trifft mich unvorbereitet. „Oder täusche ich mich?“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bevor ich dazu komme, etwas zu fragen, höre ich Shin hinter mir sprechen: „Du stehst ja immer noch hier herum. Los jetzt, wir haben zu tun. Zieh dich um, Dummkopf.“   Was für eine irrwitzige Szene. Ich stehe draußen vor dem »Meido no Hitsuji«, zusammen mit Shin und verteile Flyer an vorbeikommende Passanten. Ich, Flyer verteilen, mit Shin. Und das in diesem Aufzug. Oh Mann. Es ist mir schon ein wenig peinlich. Zu dem Maidkostüm trage ich eine rote Nikolausmütze, zwischen derer Bommeln kleine Glöckchen für Aufmerksamkeit sorgen. Innerhalb des Cafés beschwere ich mich ja nicht, ich habe mich irgendwie daran gewöhnt. Aber außerhalb ist es etwas anderes für mich. Mich trösten genau zwei Dinge: Erstens, es könnte schlimmer sein. Zweitens, Shin hat es tragischer getroffen als mich. Verstohlen schaue ich zu ihm herüber. Ein knöchellanger Baumwollmantel bildet das Herzstück des Knecht Ruprecht-Kostüms. Sein schwarzer Stoff ist so verarbeitet, dass er trotz des neuen Zustands abgegriffenen wirkt. Der tief schließende Kragen wird über der Brust von drei silbernen Ketten zusammengehalten. Darunter sind schwarze Weste und ein dunkelrotes Hemd im Schneekristallmuster zu erkennen. An der Taille, wie mir scheint, fixieren einige Schnüre den akkuraten Sitz und raffen den Stoff. Das Reststück fällt fransig herunter, was ihm einen verwitterten Eindruck verleiht. Schwarze Leggins, hohe Plateaustiefel – vom selben Kunstfell verziert wie der Trennbereich von Schultern und Ärmel – und dazu passende Stoffhandschuhen runden das Bild ab. Das also ist Wakas Interpretation des europäischen Knecht Ruprecht. Sie scheint mir … interessant. Ich bin unschlüssig, ob es mir wirklich zusagt oder nicht. „Was ist?“, klingt Shins Stimme vorwurfsvoll zu mir herüber und lässt mich zusammenfahren. „Könntest du wohl bitte damit aufhören, mich so anzustarren?“ „Man wird ja wohl noch gucken dürfen“, grummle ich leise, wobei ich meinen Blick von ihm abwende. Im Schatten der tiefsitzenden Kapuze, die im langen Zipfel seinen Rücken hinabfällt, wirkt das leuchtende Rot seiner Augen noch intensiver als sonst. Irgendwie unheimlich. „Einen vorlauten Knecht Ruprecht sieht man schließlich nicht alle Tage.“ Ich höre ihn seufzen. „Wenn du deine ungeteilte Aufmerksamkeit und bahnbrechenden Sprüche lieber der Arbeit zukommen lassen würdest, wäre uns allen besser geholfen“, lässt er mich wissen. Allein dafür möchte ich ihm am liebsten den Hals umdrehen. „Witzig, Shin. Was ist los? Hast du heute Morgen einen Clown gefrühstückt?“ „Nein, ich war an der Universität und kurz darauf pünktlich auf Arbeit. Im Gegensatz zu manch anderen Personen, verfolge ich einen straffen Zeitplan und halte mich daran.“ Zu deutlich kann ich seinen Blick auf mir spüren. Eigentlich unnötig, denn selbst einem Blinden mit Krückstock wäre nicht entgangen, dass diese Anspielung an mich ging. Muss ich mir das wirklich von ihm bieten lassen? „Hm, wie war das noch gleich mit den bahnbrechenden Sprüchen?“ Und da wären wir wieder. Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie es uns gelingt, jedes Gespräch in einem Wortgefecht enden zu lassen. Vielleicht haben die anderen recht, was Shin und mich angelangt. Aber möchte ich das wirklich? „Sei’s drum“, lenke ich ein. Ich atme einmal tief durch, um mein aufgebrachtes Gemüt zu beruhigen. „Weißt du, was mir nicht mehr aus dem Kopf geht?“ „Hm? Was denn?“ „Müsste ich dich nicht eigentlich mit »senpai« ansprechen?“ „Was? Wie … wie kommst du denn bitte auf so etwas?“ Der Gedanke zusammen mit seiner Reaktion macht es mir unmöglich, nicht zu grinsen. Ich hatte gehofft, ihn damit aus dem Konzept zu bringen. Meine kleine Rache an ihn. Aber es stimmt. Beim Umziehen erst ist mir wieder bewusst geworden, was ich beim Gespräch mit Kento ganz aus dem Blick verloren hatte. Ich befinde mich hier im Spadeverse von Amnesia. Laut Spiel haben in diesem Universum lediglich Ikki, Shin, Hanna und Mine im »Meido no Hitsuji« gearbeitet. Etwas, das ich eigentlich weiß. Eine solche Unachtsamkeit hätte mir nicht unterlaufen dürfen. Aber das passiert wohl, wenn man plötzlich nicht mehr der außenstehende Beobachter, sondern selbst mittendrin ist. Jedenfalls bedeutet das im Umkehrschluss, dass Kento, Toma und Sawa erst seit frühestens September eingestellt sein können. Das macht sie ebenso zu Neulingen im Vergleich, wie mich. Daraus geschlussfolgert wären die anderen vier unsere Mentoren, wenn man es streng betrachten möchte. Schon ein sehr seltsamer Gedanke … und gleichzeitig sehr erheiternd. Der Gedanke, wie Shin Kento das Kochen beigebracht haben muss, lässt mich schmunzeln. Es gibt keine andere Erklärung. Von Ikki kann er es sich kaum abgeguckt haben, und das hier ist auch nicht das Later-Cloververse. „Mach dich nicht lächerlich“, holt mich Shin aus den Gedanken. Er hat das Gesicht inzwischen von mir abgewandt, doch seinem vorwurfsvollen Ton kann ich noch einen Rest Verlegenheit entnehmen. „Vergiss nicht, du bist älter als ich. Und wenn bisher niemand sonst auf solch eine blöde Idee gekommen ist, dann möchte ich das erst recht nicht von dir hören. Davon abgesehen …“ „Davon abgesehen?“, greife ich seine Worte auf. Er hat seinen Satz noch immer nicht beendet, obwohl schon Sekunden verstrichen sind. Ich ernte stures Schweigen, bis er sich ermuntert, mir einen nichtssagenden Blick über die Schulter zuzuwerfen. „Konzentrier dich auf die Aufgabe. Im Gegensatz zu dir habe ich nicht den ganzen Tag Zeit, hier draußen herumzustehen.“   Es ist wahrlich eine Tortur, mit Shin zu arbeiten. Seit seiner letzten Ansage haben wir kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Inzwischen ist es mir egal, was er mir verschwiegen hat. Es wäre sicher eh nichts Gutes dabei herumgekommen, insofern habe ich nichts versäumt. Auf meinem Weg zur Umkleide durchquere ich das Café. Ikki ist in der Bedienung, aber ich kann keines der Mädchen ausfindig machen. Ich frage mich, ob Hanna eventuell gerade Pause macht. „Ah, Vorsicht!“ Auch mit diesem Ausruf wäre es um ein Haar zu spät gewesen. Im letzten Moment kann ich einen Zusammenstoß vermeiden, indem ich zur Seite ausweiche. Ich will schon tadeln, dass man im Café nicht rennen soll, doch beim Anblick der zierlichen Person vor mir bleibt es mir regelrecht im Halse stecken. „Phew, das war knapp. Tut mir leid, ich … Oh, du.“ Ganz automatisch deute ich ein Nicken. „Hi, Mine.“ Ich bin überrascht, sie zu sehen. Auch wenn es abzusehen war, dass wir uns früher oder später an diesem Tag in die Arme laufen würden. Aber wer hätte gedacht, dass es wortwörtlich passieren würde? Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Sie ist kleiner als erwartet. Neben ihr komme ich mir fast wie ein Riese vor. Verdammt, das macht sie nur umso niedlicher. Als ob es nicht schon genug ist, dass sie ein sehr hübsches Gesicht hat. Das Maidkostüm schmeichelt ihr besser als irgendeiner von uns. Sie ist wirklich unglaublich feminin, was der süßliche Duft, der schwach von ihr ausgeht, noch unterstreicht. „Mh.“ Sie wendet den Blick von mir ab. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mir damit ausweicht. „Bitte entschuldige mich, die Kunden warten“, erklärt sie knapp, schon zieht sie an mir vorbei. Irritiert sehe ich ihr nach. Kommt es mir nur so vor, oder war sie etwas unterkühlt zu mir gewesen? Im Spiel hatte sie immer einen anderen Eindruck auf mich gemacht. War Mine nicht eigentlich ein aufgeweckter, leicht vorlauter Charakter? Habe ich ihr irgendetwas getan, dass sie mich nicht leiden kann?   Nach dieser ernüchternden ersten Begegnung mit Mine lenkte der restliche Tag in eine einigermaßen ebenmäßige Bahn zurück. Toma erschien kurz darauf im Café, womit die Besatzung komplett war. Tatsächlich bewahrheitete sich auch Sawa und Kentos Prognose und wir gewannen am Nachmittag an Kundschaft. Dadurch jedoch, dass wir ein Satz von je zwei bedienenden Maids und Butlern waren, gab es dennoch nicht viel mehr für uns zu tun. Zum Spätnachmittag traten Ikki und Hanna ihren wohlverdienten Feierabend an. Sawa und Shin folgten nur kurz darauf, womit die Küche in Kentos alleinige Führung überging. Die Bedienung übernahmen fortan nur noch Mine, Toma und ich. Es war das erste Mal, dass mich auf Arbeit ein Gefühl der Einsamkeit befiel. Noch während alle da waren, waren die gewohnten Gruppenkonstellationen deutlich gewesen. Die Mädchen fanden sich zu jeder Gelegenheit zusammen, um über verschiedenste Themen zu plaudern. Ich habe nicht gewagt, mich zu ihnen zu gesellen und ihre Vertrautheit zu stören. Die Jungs waren da eher eine Option, aber nur so lange, bis sie Teil der Mädchenkonversation wurden. Ich kann nicht sagen, dass sie mich willkürlich ausgegrenzt hätten. Mir war lediglich bewusst geworden, dass ich ihnen längst nicht so nahe stand, wie ich es gern gehabt hätte. Diese Erkenntnis gab mir ein Gefühl der Ausgeschlossenheit. Und so ist es noch jetzt. Ich bin zusammen mit Mine und Toma, reden tue ich aber mit keinem von beiden. Zu gern hätte ich mir Toma gekrallt, einfach um mich mit losem Geplauder ein wenig aufzulockern. Der Gedanke jedoch, dass es Mine umso mehr gegen mich aufbringen könnte, hält mich von dem bloßen Versuch ab. Bis jetzt hat sie nicht weiter mit mir gesprochen, was meinen Verdacht bekräftigt, dass irgendetwas zwischen uns steht. Wann immer ich kann, beobachte ich sie heimlich, um die kleinsten Hinweise aufzuschnappen. Mir fällt auf, dass sie sich viel an Toma hält, wohl um nicht mit mir interagieren zu müssen. Begegnen sich unsere Blicke per Zufall, wendet sie ihren schnell wieder ab, als würde sie mich meiden. Ich gebe es nicht gern zu, aber es wurmt mich. Auch wenn ich ein solches Verhalten einfach nur albern finde.   So vergehen zwei lange Stunden. Die zwei Längsten, seit ich hier bin, wie es mir vorkommt. Dann endlich trommelt uns Waka zum Routineabschluss zusammen und ich habe es überstanden. Naja, fast. „Shizana wird den Bodendienst übernehmen“, lautet der neue Befehl. Hoffentlich der Letzte für diesen Tag. Ich will einfach nur noch nach Hause. „Ich gehe dann“, verkündet Mine etwas später in bester Stimmung, gerade als ich den letzten Stuhl hochgestellt habe. „Na so etwas. Toma-san? Bist du noch gar nicht fertig?“ Ich verkneife mir den Drang, hinter mich blicken zu wollen. Es kratzt mich, dass Mine zurückgekommen ist, nur um nach Toma zu fragen. Er hatte sich netterweise bereiterklärt hat, mir mit den Stühlen zu helfen, damit es schneller geht. Das Angebot habe ich dankend angenommen. „Sorry, Mine“, höre ich ihn sagen. „Ich werde noch ein Weilchen brauchen. Geh doch am besten schon vor. Du bist sicher müde von der Arbeit.“ „Ich bin putzmunter“, erklärt sie fröhlich. Ihr anschließendes Seufzen lässt mich Enttäuschung vermuten. „Na schön, dann gehe ich jetzt. Gute Arbeit heute.“ „Komm gut nach Hause.“ „Bis morgen“, setzte ich hinzu, erhalte jedoch keine Antwort. Nicht, dass ich eine erwartet hätte. Als die Tür endlich ins Schloss fällt, stoße ich ein schweres Seufzen aus. Es ist, als würde jegliche Anspannung des Tages von mir abfallen. Ich bin regelrecht erleichtert, obwohl von Feierabend noch nicht zu reden ist. „Ich würde vorschlagen, wir teilen die Räume untereinander auf. Möchtest du das Café übernehmen? Dann kümmere ich mich derweil um die hinteren Räume.“ Ich unterbreche meine Arbeit, um mich nach Toma umzudrehen. Er hat sich extra die Mühe gemacht, zu mir zu kommen, um mir seinen Vorschlag zu unterbreiten. Und das, nachdem er mir schon mit den Stühlen und Tischen geholfen hat. „Danke, das ist lieb von dir, aber du musst das nicht tun. Du hast Feierabend.“ „Ich bin in der Spätschicht“, erklärt er, wobei er mir ein ermutigendes Lächeln schenkt. „Und die Spätschicht geht, wenn alles erledigt ist.“ „Aber das Wischen ist meine Aufgabe“, entgegne ich. „Es ist nicht verboten zu helfen. Zumal, wenn zwei sich die Arbeit teilen, geht sie doppelt so schnell von der Hand. Du möchtest doch sicher auch sobald es geht nach Hause?“ „Ja, schon. Aber ich habe mir das selbst eingebrockt. Du brauchst dir das nicht aufzulasten.“ „Hm, ich habe dazu eine etwas andere Ansicht.“ Lässig lehnt er sich gegen einen der Tische. Ich erkenne in seinen sanften Zügen und dem festen Blick, dass er nicht von seinem Standpunkt zurückweichen wird. „Zum Ersten ist das Bodenwischen Teil meiner Aufgaben. Und zum Zweiten überlässt man die Schwerstarbeit keiner gesundheitlich angeschlagenen Person.“ „Gesundheitlich angeschlagen?“ Ich blinzle irritiert. Erst Tomas verdeutlichender Fingerzeig auf seinen Hals macht mir klar, was er meint. „Oh, das. Nein, das ist nicht …“ Meine Hand legt sich unwillkürlich an das Tuch um meinen Hals. Kurz stocke ich, als ich nicht weiß, was ich eigentlich sagen will. „Das ist nicht so schlimm“, weiche ich aus und versuche es harmlos klingen zu lassen. „Hast du Halsschmerzen?“ „Mh, ein wenig.“ Je nach Auslegung ist das schließlich nicht gelogen. „Dann solltest du zusehen, dass du dich nach einem anstrengenden Tag ein wenig erholst. Du bist seit Mittag hier, nicht?“ „Ja, das ist richtig. Wenn auch mit leichter Verspätung.“ „Siehst du.“ Damit sieht er sich wohl als Sieger unserer kleinen Diskussion und stößt sich nach vorn. „Damit arbeitest du heute schon länger als ich. Lass uns das hier beenden und den Rest hinter uns bringen. Ich helfe dir, keine Widerrede.“ Ich sehe ein, dass ich ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen kann. Wenn ich ehrlich bin, freut mich Tomas Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Ein leises schlechtes Gewissen bleibt dennoch. „Na schön, du hast gewonnen. Aber nur unter einer Bedingung!“ „Hm? Welche?“ „Ich revanchiere mich für deine Hilfe.“ Jetzt ist er es, der blinzelt. „Das ist eigentlich nicht nötig.“ „Ich bleibe dabei.“ „Wieso willst du das tun?“ „Weil ich deine Hilfe nicht als selbstverständlich annehmen möchte.“ „Du bist ganz schön stur, weißt du das?“ Er wirkt verzweifelt, trotz seines milden Lächelns. „Ich schätze, was ich jetzt auch sage, du wirst nicht davon abweichen. Shin ist da genauso.“ Ich nicke bekräftigend. Die Tatsache, dass er mich soeben mit Shin verglichen hat, versuche ich von mir zu schieben. Er seufzt geschlagen. „Na schön, einverstanden. Wenn ich auch auf Anhieb nichts wüsste, wie du dich revanchieren könntest …“ Für einen Moment scheint er ernsthaft darüber nachzudenken. Als er sich mir wieder zuwendet, hat er ein unbeholfenes Lächeln aufgesetzt. „Verbleiben wir so, dass ich darauf zurückkomme, wenn sich etwas ergibt. In Ordnung?“ Damit kann ich leben. Ich gebe ihm mein Einverständnis, festige unser Abkommen mit einem Handschlag, bevor wir zur letzten Arbeit übergehen.   Kurz darauf ist es geschafft. Alle Räume sind gewischt und Waka verabschiedet. Draußen stehe ich mit Toma und kann kaum glauben, wie gut es tut, die kühle Abendluft an meinen Wangen zu spüren. „Das haben wir doch ganz gut hinbekommen“, spricht Toma an meiner Seite. Er klingt ebenso zufrieden, wie ich mich fühle. „Zwanzig Minuten für alles. Stell dir nur mal vor, wenn das einer allein gemacht hätte, wäre er jetzt noch mit den Wegräumarbeiten beschäftigt.“ „Mhm, das war gutes Teamwork“, stimme ich zu. „Danke dir, Toma. Ohne dich stünde ich jetzt nicht hier.“ „Ach was, nicht der Rede wert.“ Ausgiebig streckt er die Arme in die Höhe. Sein genussvolles Grummeln dabei lässt mich schmunzeln. „Mine und Kento-san sind in der Zwischenzeit sicher längst zu Hause angekommen. Die Glücklichen.“ „Mh.“ Ich nicke. Nur bei der Erwähnung von Mines Namen denke ich wieder daran, wie sie sich den ganzen Tag mir gegenüber verhalten hatte. Es ärgert mich, wie sie mich die ganze Zeit gemieden hat, als hätte ich Spinnen im Haar oder so. Aber warum eigentlich? „Apropos Mine“, lenkt Toma unerwartet ein. Fragend drehe ich den Kopf und bemerke, wie er mitleidig in meine Richtung lächelt. „Ihr beide versteht euch wohl immer noch nicht, hm? Gibt es irgendwelche Uneinigkeiten zwischen euch?“ Seine Aussage überrascht mich. Gehe ich nach seiner Wortwahl, ist Mines Ablehnung mir gegenüber also kein Neuzustand. Was mich umso mehr zu der Frage bringt, warum dem so ist. „Ich weiß nicht“, gebe ich offen zu. Das Rätsel macht mir echt zu schaffen, weswegen ich meine Hand nachdenklich in den Nacken schiebe. „Ich bin mir ehrlich gesagt selbst nicht ganz sicher. Hatten wir in der Vergangenheit möglicherweise Streit gehabt?“ „Da fragst du leider den Falschen.“ Toma lacht leise, unbeholfen. „Ich halte mich für gewöhnlich aus solchen Angelegenheiten heraus. Du weißt schon. Wenn Frauen streiten, geht ein kluger Kerl besser nicht dazwischen. Außer natürlich, es wird handgreiflich.“ „Mhm, schon klar.“ Naja, einen Versuch war es immerhin wert. „Das war auch mehr rhetorisch gemeint. Aber ich frage mich schon, ob mich Mine vielleicht aus irgendeinem Grund nicht leiden kann.“ „Am besten fragst du sie“, schlägt er vor. „Ich weiß, das ist immer leichter gesagt, als getan, gerade wenn man schon unsicher ist. Aber ist es nicht immer noch besser, anschließend Gewissheit zu haben, als weiterhin gar nichts?“ Ich stoße ein schweres Seufzen aus. „Ja, da hast du wohl recht.“ „Kopf hoch, ihr beiden macht das schon.“ Sicher, aber mich beschäftigt noch ein ganz anderer Gedanke: Effektiv werde ich gar keine andere Wahl haben, als mich mit Mine auseinanderzusetzen. Die Frage, ob ich am Mädchenabend teilnehmen werde, hängt schließlich nicht minder von ihrer Meinung ab. Und ich würde schon ganz gern hingehen, nach wie vor. „Hm … Hoffentlich denkt sie morgen daran, nicht sofort nach Arbeit gehen zu wollen.“ Fragend hebe ich den Blick. „Wieso?“ „Na wegen der Überraschungsparty morgen.“ Ich falle aus allen Wolken. Was denn bitte für eine Überraschungsparty? Ich traue mich nicht zu fragen. Und vermutlich ist es genau mein Schweigen, das mich verrät. „Sag mir nicht, du hast es vergessen? Shins Geburtstagsparty.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)