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Weihe des Siegelschwerts

von

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Capitulum I: Welsdorf - Geschichten von Wiedergängern und Víly


 

I.
 

Der Junge hatte keine Eltern mehr, als er hierhergebracht wurde, hat man mir gesagt. Die Händlersfrau hat ihn zu sich genommen, obwohl sie bereits ein eigenes Kind erwarte. Sie und die Eltern des Jungen waren gute Freunde gewesen, wurde mir erzählt. Er war grade mal drei Jahre alt, als er hierher gebracht worden ist, der Junge.

Fast schon versteckt inmitten der südlichen Wälder von Rosetum-Rubicundum liegt das Dorf auf vor mehr als einhundertfünfzig Jahren gerodeten Hügeln, wo nun Fachwerk-, Holzhäuser und Hühnerställe das Bild prägen. Ein winziger Bach fließt direkt hindurch, die Quelle liegt irgendwo im Waldinneren.

Unter all den Kräutersammlers-, Holzfäller-, Jägers-, Handwerkers- und Bauernkinder nahm der Junge seit Anfang an eine Sonderstellung ein als Adoptivsohn der Händlerin, denke ich. In vergleichbarem Wohlstand lebt er und ist wohl noch immer ein bisschen 'der von woanders'.

Und das, nachdem er bereits elf Jahre hier gewohnt hat, hier in Welsdorf. Und obwohl er genau wie alle anderen hier auch ein Hochelf, ein Alba, ist.

Und jeden Tag aufs Neue schaue ich von den Büchern, die ich lese, auf und aus dem Fenster. Dann frage ich mich: Wann werd' ich wohl mal dieses Dorf verlassen? Diesen Wald, der das einzige ist, das ich kenne?

Denn an all das, was sie mir über mich erzählt haben, erinnere ich mich nicht, an dieses andere Dorf, aus dem ich kommen soll, an die Eltern, die meine Ersatzmutter Alid gekannt haben soll.

Wer weiß, ob ich jemals hier wegkomme und es überprüfen kann...
 

II.
 

"Maljus!", ruft eine Stimme von unten und reißt mich aus meinen Gedanken, "Maljus! Wie lange willst du mich hier unten noch warten lassen?!"

Wie aus allen Wolken gefallen schaue ich auf und realisiere, dass man mich seit mehreren Minuten ruft. Und wenn ich diese Stimme schon höre, muss ich seufzen. Das ist ohne Zweifel Sara, meine Stiefschwester von nervigen zehn Jahren, die nach mir schreit.

"Schon gut, ich komme ja gleich!", rufe ich, mich aus dem Bett erhebend, wo ich grade beim Lesen wieder ins Grübeln gekommen bin. Ich rücke meine schwarze Hose noch mal zurecht und streife mir meine grüne Jacke mit einem langen Ausläufer vorne und hinten über mein weißes Hemd, nur um die Ärmel gleich wieder hochzukrempeln und den gelben Kordelverschluss zuzuziehen.

Ehe ich allerdings das Zimmer verlasse, werfe ich noch mal einen Blick auf das Buch und stecke es schnell ein. Es ist nur eins von vielen, zwei riesige Bücherregale rauben neben Bett, Kleiderschrank und Schreibtisch meinem Zimmer dem Platz.

Ich habe mir angewöhnt, es meinZimmer zu nennen, obwohl man in unserer Familie insgeheim immer noch von VatersZimmer spricht.

Aber Alids Mann ist tot, einer schlimmen Vergiftung wegen, die ihm eine Silvanatter eingebracht hat.

Bevor Sara noch fuchsteufelswild wird, haste ich hinunter, wo sie mit dem Fuß tappend neben ihrer Mutter steht. Sie hat ihr braunes Haar zu einem Zopf geflochten und trägt ihr blaues Lieblingskleid. Die übertrieben nach oben gezogene Lippen passen zu ihren kecken Augen und den Sommersprossen in ihrem Gesicht.

Während Sara ihre Arme in die Seiten gestemmt hat, hält Alid ihre massigen Unterarme, die zur stärksten Form der Erziehung im Haus gehören, vor ihrem fleischigen Leib verschränkt und guckt mich ebenfalls streng aus ihren Schweinsäuglein an.

Man sieht sofort, dass ich nicht ihr leiblicher Sohn bin, auch wenn sie mich oft genug behandelt wie einen. Saras und Alids dunkles Haar mag gar nicht passen zu meinem strohblonden Haarschopf, der in Zwirbeln fast überall absteht und meine spitzen Ohren nur dezent zwischen Strähnen hervorgucken lässt.

"Manchmal glaube ich, du bist taub.", seufzt Alid.

"Ich will im Wald Beeren sammeln gehen!", fordert Sara unverblümt, "Und du musst mitkommen, hat Mama gesagt!" Ich halte mich zurück, meinen Unmut offen zu zeigen. Sara will ständig im Wald herumspazieren, aber ganz so ungefährlich ist das doch nicht. Daher muss ich den großen Bruder spielen und auf sie aufpassen. In diesen Momenten bereu ich es fast schon, jemals angefangen zu haben, den Gebrauch einer Waffe zu erlernen.

"Vergiss das nicht!", meint Alid aufmunternd zu mir und streckt mir die Schwertscheide mit einem Anderthalbhänder entgegen, nachdem ich mir noch Schuhe angezogen habe.

Ich schmunzle und lege mir den Gürtel um, an dem das kostbare Stück, das mal ein abgebrannter Reisender für etwas Kost und Logis in Zahlung gegeben hat, baumelt. Das messingfarbene Heft hat zwei spitze Auswüchse, die wohl zum Einklemmen anderer Schwerter gedacht sind, und ist noch mit einem kleinen Metallprisma als Knauf geschmückt.

Dieses wohlgehütete Schwert ist die eine kleine Entschädigung dafür, dass ich Sara ständig begleiten muss, denn damit fühle ich mich fast schon wie ein Ritter oder ein Abenteurer, wie all diese heroischen Kerle in den Büchern, die in meinem Zimmer stehen und die ich fast in- und auswendig kenne.

"Viel Spaß euch beiden!", wünscht Alid uns noch , ehe wir nach draußen gehen.

Ja, ja, werde ich bestimmt haben. Doch ein gewitztes Grinsen kann ich mir nicht sparen, denn ich hab ja noch das Buch mitgenommen! So gewappnet werde ich meine Zeit sicher nicht nur damit verbringen, Beeren zu pflücken.

Ich entferne mich mit Sara von unserem malerischen Häuschen inmitten des Elfendorfes. Bis auf das Gegacker der ganzen Hühner, die sich fast jeder hier hält, ist es ruhig. Es braucht schon einen nächtlichen Betrunkenen, um hier ein wenig mehr Leben reinzubringen.

Ein Wind von Süden trägt die Waldluft zu uns, erfüllt von ein paar späten Pollen, während die Sonne uns auf den Köpfen brennt. Der erste Sommermonat Solis hat begonnen und zeigt sich heute von seiner besten Seite mit seinem strahlend blauen und wolkenlosen Himmel. Ein wenig unangenehm wird mir die Wärme nun doch, obwohl ich den Sommer so genieße, und so sehne auch ich mich langsam nach dem Wald - oder zumindest seinen kühlespendenden Schatten.
 

Sara hat sich mit einem großen Korb bewaffnet und stolziert nun vor mir durch den Wald. Nie packt sie der Feuereifer so sehr wie bei Ausflügen in die Mischwälder um unser Dorf; wegen des gewissen Risikos, denke ich. Schon öfters waren wir einem weniger freundlichem Eber und einmal sogar einem Wolf begegnet, die sich jedoch im Angesicht meiner Klinge schnell haben vertreiben lassen - aber Sara ist meisterhaft darin, diese Erfahrungen zu verdrängen und doch immer wieder hierherkommen zu wollen.

Die Luft ist feucht und voll von nervigen Insekten, die es auf mich abgesehen haben. Der Boden ist noch morastig vom letzten Regen. Sara jedoch ist begeistert von all der Natur um sie herum, sie liebt das Rauschen der Blätter im wind, wie die Baumkronen sich schaukelnd bewegen, und als ich vor Langeweile ächze, guckt sie mich verständnislos an und will wissen: "Warum schnaufst du so? Ist doch viel besser als nur in der Bude zu hocken! Und ansonsten sagst du doch auch ständig, dass du mal ein wenig raus willst!"

"Ach, Sara, wenn ich das sage, rede ich doch nicht von unserem Haus!", seufze ich und starre angeödet die Bäume an, bis mein Blick durch sie durchzugehen scheint. "Ich will raus aus diesem gesamten Wald, aus dem Dorf. Ich will auch mal sehen, wie es da draußen wirklich aussieht, anstatt ständig nur in Büchern von Gebirgen, Seen, Klippen und so weiter zu lesen!" Das ist mein Lieblingstraum… ganz andere Gegenden von Cardighna kennen zu lernen und all diese Dinge, die ich bisher bloß aus Geschichten kenne, mal mit eigenen Augen zu sehen.

Sara ist stehen geblieben und sieht mich nachdenklich an, ehe sie mich erinnert: "Das wird Mama dir bestimmt nicht ohne Weiteres erlauben! Da draußen ist es noch gefährlicher als hier, hat sie gesagt! Weil dort lauern Dämonen, Diebe und so, ganz viele!" Ich verdrehe die Augen. Als ob sie mir das nicht genauso eingeprügelt hätte, warum ich nicht gehen darf… sie ließe mich bestimmt nicht mal gehen, wenn ich erwachsen wäre.

Wir gehen weiter auf dem matschigen Weg zwischen den hohen und dichten Eichen, Fichten und Ahornbäumen, entdecken hier mal einen Stauch oder dort mal einen Busch, der schnell abgepflückt ist. wir kommen Saras Lieblingsstelle zum Sammeln immer näher, der kleinen Lichtung, wo unzählig viele Himbeeren wachsen. Aus Vorfreude stürmt Sara bereits los, aber ich werde nur geringfügig schneller und greife stattdessen nach dem Buch. Einen Absatz kann ich schon weiter lesen.

Aber schon sehr bald wird meine Konzentration von einem Geräusch unterbrochen, irgendetwas trampelt durchs Unterholz! Ich spitze meine abstehenden Ohren. Das klingt nicht wie ein Wildschwein… aber es kommt definitiv näher und das schneller, als mir lieb ist!

Ich stecke das Buch wieder ein und stelle fest, dass ich mich weiter von der Lichtung entfernt habe. Ich hab Sara aus den Augen verloren! Dafür trampelt aber eine sehr große Silhouette weiter weg durch den Wald. Verdammt!

Ich renne sofort zurück, wo Sara vollkommen in die Sache vertieft abwechselnd eine Beere in den Korb und eine in ihren Mund steckt. Fast bin ich bei ihr angekommen, strecke meine Hand schon nach ihr aus, um sie durchzurütteln und sie auf das Geräusch aufmerksam zu machen, als zwischen den Bäumen ein schwarzes Pferd samt Reiter hervorkam und direkt vor mir wiehernd anhält. Ich kann Sara hinter dem Tier nicht sehen, bloß den dürren Reiter in Lederrüstung und mit einem zylinderförmigen Metallhelm auf dem Kopf. Stumm blickt der Unbekannte erst zu mir, dann zu Sara.

"Wer… wer seid Ihr?", frage ich perplex mich mit Mühe nicht nach hinten umfallend, erhalte aber keine Antwort. Der Mann steigt vom Pferd ab und scheint auf Sara zuzugehen, die sofort schreit: "Hey, was wollt Ihr von mir?! Kommt mir nicht näher!" Ich fackle nicht lange, sondern renne um das Pferd herum, eine Hand hab ich aus Vorsicht bereits am Heft meines Schwertes - das ich sofort ziehe, als ich sehe, wie der unheimliche Fremde seine Hand nach Sara ausstreckt.

"Lasst sie in Frieden!", brülle ich den Unbekannten erschrocken und, weil der immer noch nicht hören will, mich nicht mal ansieht, lasse ich schließlich Taten sprechen und schwinge die Klinge mit wenig Wucht auf das Handgelenk des Unbekannten.

Aber-

Ich staune selbst nicht schlecht, als ich es auf einmal durchtrennt habe, als wäre in dem Handschuh nur Luft gewesen. Das trifft sogar ein Stück weit zu. Aus dem Ärmel des Gewandes, das der Fremde trägt, lugt nichts weiter als ein dünner gelblich verfärbter Knochen. Bewegungsunfähig vor Schreck starre ich ihn an, mir ist schlagartig eiskalt.

Der Unbekannte zieht sich wortlos ein paar Schritte zurück und seine verbliebene Hand greift nach einem schmucklosen Gladius an seiner Seite. Das Dunkel im Inneren des Helmes wirkt bedrohlich und wie ein Schleier, hinter dem sich etwas verbirgt, das für niemandes Augen bestimmt ist.

Ich reagiere schneller, als ich es in dieser Situation je erwartet hätte, lasse dem eigenartigen Kerl nicht die Zeit, seine Waffe zu ziehen, sondern griff selbst erneut an, gesteuert von nichts weiter als der Angst. Einen Moment später fliegt nicht nur des Mannes - falls man ihn so bezeichnen kann - fleischloser Unterarm davon, sondern im selben Streich sehe ich auch seinen Kopf mitsamt den Helm von den Schultern rutschen. Es vergeht nicht einmal eine Sekunde, als ich gerade noch die durchtrennte Wirbelsäule aus den Klamotten ragen sehe, da bricht das ganze Wesen schon in sich zusammen.

Bei allen Göttern… was… was hat denn das alles bloß zu bedeuten?!

Mit starkem Herzklopfen schlucke ich und schaue zu dem Helm am Boden, aus dem der blanke grinsende Schädel des Wesens gerutscht ist - ein verfluchter Totenkopf!

Ich versuche mich zu beruhigen, das Ding rührt sich scheinbar nicht mehr… aber ich fühl mich immer noch so, als starren mich die leeren Augenhöhlen aufmerksam an. Ich hole tief Luft.

"Los, wir verschwinden!", rufe ich einigen endlos erscheinenden Atemzügen, wobei ich nach Saras Handgelenk greife. Ich bin so durcheinander!

Sara sträubt sich und deutet stumm auf das Pferd. Nachdem ich sie eine Weile verständnislos angestarrt habe und der Schreck langsam wieder unseren Gliedern entwich, fragt sie: "... Was ist mit dem? Willst du es etwa einfach hier lassen?"

"Bist du verrückt?! Wer weiß, was passiert, wenn wir es auch nur anrühren! Oder hältst du lebendige Skelette für normal?! Außerdem... wenn wir auf einmal mit so einem Tier zurückkommen, werden alle wissen wollen, wie wir an so ein Vieh rankommen!" Doch Sara, wohl die Tierfreundin schlechthin, bleibt stur. Für sie muss dieses Pferd ja kein bisschen mit der gerade eben noch vorherrschenden Gefahr verknüpft sein!

"Wir können doch sagen, wir haben es gefunden!"

"Als ob uns das jemand glaubt!", erwidere ich wütend.

"Aber dass wir einem lebenden Toten begegnet sind, wohl schon, was?!" Nun muss ich mich geschlagen geben, erst recht als sie aufgeregt noch eins oben drauf setzt: "Bei dirdenken sie dann, du hast nun endgültig genug Zeit mit Büchern verbracht!" Ich lasse Saras Hand wie mit einer Keule geschlagen los, besehe mir noch mal das Reittier und gehe zu den Überresten des Reiters.

Mit den Worten: "Besser, wir lassen die hier nicht so einfach rumliegen!" raffe ich sie mit all meinem Mut zusammen und verstecke sie in ein paar abgelegenen Büschen. Das muss nicht unbedingt jeder sehen…

Danach greife ich behutsam die Zügel des Pferdes und versuche, es in Richtung des Dorfes zu führen - es stellt sich als ziemlich einfach heraus, das Pferd macht gar keine Anstalten, wegzulaufen! Ich starre ihm in seine tiefen dunklen Augen… es ist bloß ein Tier, ein dummer Gaul! Der wird nicht wissen, was das grade war!, sage ich mir und springe über meinen Schatten. Von dem Pferd selber geht sicher keine Gefahr aus.

Mulmiger wird es mir da schon dabei, nach Hause zu gehen. Obwohl mich nichts im Wald hält und ich - genauer gesagt - um jeden Preis der Welt weg von der Lichtung will, schwant mir nichts Gutes.
 

III.
 

Die ersten fragenden Blicke spüre ich bereits auf mir, als wir Welsdorf bloß betreten haben, aber mehr als ein lustloses "Gefunden.", erwidere ich nicht auf die Fragen der neugierigen Dorfbewohner.

Aber bei Alid wird das nicht so einfach sein, das weiß ich bereits. Die korpulente Elfendame im grünen Baumwollkleid kommt sofort aus ihrem Laden gestürzt, nachdem sie durch das Fenster das Pferd gesehen hat, und starrt uns fassungslos an.

"Wo habt ihr beide dieses Tier her?!"

"Wir haben es im Wald gefunden! Es ist ganz alleine umher gestreift!", lügt Sara. Man, ihre Unschuldsmiene sieht täuschend echt aus.

Alid runzelt trotzdem die Stirn und ruft: "Keine Lügen, Sara! Maljus!" Sie schaut mich auffordernd an, woraufhin ich lediglich mit den Achseln zucke und erwidere: "Es ist, wie sie gesagt hat! Reiter- und orientierungslos war's auf der Lichtung unterwegs!" Alid macht große Augen, ihre Unterlippe bebt, aber sie sagt nichts, sondern stapft unstet davon, wobei jeder ihrer Fettwulste erzittert. Ohne Zweifel geht sie zum Bürgermeister oder gar zum Dorfältesten. Vorerst ist uns der Schwindel gelungen - hoffe ich, eine Schelle von Alid sitzt.

Sara zupft mich am Ärmel und verzieht genauso das Gesicht wie ihre Mutter zuvor.

"Warum hast du Doofi ihr gesagt, dass wir das Pferd auf der Lichtung gefunden haben?! Da werden sie jetzt bestimmt nachgucken und dann den Mann finden!" Erschrocken zucke ich zusammen. Mist, sie hat Recht! "Wissen deine Bücher und Tagträume darauf vielleicht eine Antwort, Maljus?!"

"Lass mich doch mal nachdenken! Vielleicht wenn..." Ich breche langsam ab, als ich am Sattel des Pferdes etwas bemerke: einen runden dickbäuchigen Glasbehälter, der so schmutzig ist, dass ich nicht sehen kann, was darin ist. Nur ein schwaches grünes Leuchten drängt nach außen.

"Was ist los? He~y, hörst du mich?"

Ich ignoriere Sara und mache die Flasche ab. Was ist da wohl drin? Ich gehe ins Haus. "Wo gehst du hin?! Was ist jetzt, wenn sie-" Ohne sie anzusehen, antworte ich: "Denk du dir was aus! Das war schließlich deine Idee, den Gaul mitzuschleppen!" Ich habe meine grünen Augen streng auf das Glas gerichtet, versuche, vielleicht doch etwas zu erkennen.

Voller Neugier, was dieses Gerippe mit sich geführt hat, verschwinde ich auf mein Zimmer. Vielleicht ist der Inhalt ja eine Erklärung dafür, dass ein alter Haufen Gebeine aufrecht stehen konnte wie ein gesunder Zweibeiner! Und vielleicht auch was, das mir aus dem Schlamassel helfen kann, falls im Gestrüpp tatsächlich der Tote gefunden wird.
 

Aber das soll noch warten, denn kaum ist Alid kurz darauf zurückgekommen, werden Sara ich erst einmal mit Arbeit im Laden eingespannt. So ganz abgekauft hat sie uns die Geschichte doch nicht.

Wir stauben die Artikel ab, fegen den Boden und ordnen die Regale neu, während wir hin und wieder die Kunden bedienen mussten. Hauptsächlich Reisende, die gerne Vorträge darüber halten, wie es ihnen auf ihren Reisen so ergangen ist und welch Romantik die Natur hier am südlichen Zipfel der Halbinsel versprühe verglichen mit den riesigen Metropolen im Westen des Cardighnischen Großreiches.

Zwischendurch geht Sara ständig nach draußen, um nach dem schwarzen Rappen zu sehen. Was den angeht, so Alid, sollen wir noch ein wenig warten, bevor entschieden wird, was mit dem Pferd zu tun ist. Sie erwartet sich bestimmt ein paar Vorteile von dem Gaul - und wenn es nur Geld für das Fleisch sein wird, das er hergäbe.
 

IV.
 

Als ich wieder in meinem Zimmer bin, wird es schon dunkel. Augenblicklich gehe ich zu der Flasche, die ich ein wenig versteckt hinter der entzündeten Lampe auf dem Tisch stehen gelassen habe.

Nachdenklich betrachte ich den Behälter zuerst von allen Seiten, klopfe ein wenig an das Glas, um vielleicht etwas Dreck abzuschütteln, doch er sitzt einfach zu fest, um etwas zu erkennen, also wende ich mich dem Verschluss zu, einem dunklen Korken. Er klemmt etwas und vorsichtshalber will ich ihn erst nur anheben, um nicht mehr als einen Blick hineinzuwerfen. Wer kann denn schon wissen, was herauskommen könnte? Noch halte ich alles für möglich!

Kaum habe ich den Deckel angehoben, zuckt etwas im Inneren, das Licht wird einen Moment lang heller und lässt mich erschrocken zurückweichen. Fast hätte ich den Behälter wieder zugemacht, aber meine raschen Bewegungen stoppen mit einem Mal. Das ist ja eine Hand! Eine winzige Hand legt sich von innen auf den Flaschenhals, dann eine zweite und plötzlich streckt eine grüne Figur mit dunklem langen Haar ihren Kopf aus der Öffnung. Sie macht ein angespanntes Gesicht und will sich durch den dünnen Spalt zwängen, gibt jedoch schon bald auf und starrt mich stattdessen unverwandt an. Neugierig komme ich mit dem Gesicht näher.

"… Dürfte ich fragen, warum du mich so blöd anstierst?"

"Huch!" Ich weiche wieder etwas zurück, dieses Ding kann auch noch sprechen! Ich schaue es mir wieder von Nahem an und erkenne, dass es eine winzige Frau zu sein scheint, ungefähr eine Hand lang.

Ich öffne den Deckel weiter und lasse sie heraus. Die hat ja Flügel! Bunte Schmetterlingsflügel an ihrem Rücken! Und sie ist vollkommen nackt!

"Puh, na endlich draußen…", ächzt die Frau.

"Was... was in aller Götter Namen bist du?", frage ich. Ich könnte schwören, dass mir die Röte ins Gesicht schießt, erst recht als die beflügelte Frau zu mir fliegt. Feindselig mustern ihre purpurfarbenen Augen mich, indem sie schnippisch fragt: "Wonach seh' ich deiner Meinung nach denn aus?" Meine Brauen machen einen Satz nach unten, ein böser Geist ist das schon mal nicht - aber auch nicht besonders liebenswürdig.

"Nach… 'ner nackten grünen Frau mit Flügeln? Wenn ich es wüsste, würde ich ja wohl kaum fragen, oder?!" Auf meine Antwort hin verschränkt die Frau ihre Arme und schlägt fliegend die Beine übereinander. Sie klingt mehr als stolz, als sie meint: "Na, dann schätze dich glücklich, du stehst einer echten Víla gegenüber!" Ich durchforste mein Gedächtnis, um herauszufinden, ob ich je von so was gehört oder gelesen habe, aber finde nichts, weswegen ich skeptisch den Kopf schief lege. Ich lasse ein fragendes "Aha?" verlauten.

Die Víla seufzt: "Oh je, sind wir Víly so in Vergessenheit geraten...?"

"Tut mir leid, aber ich habe noch nie eine Víla gesehen und könnte schwören, dass auch in meinem Dorf niemand weiß, was du sein sollst." Da wird sie plötzlich ganz aufgeregt und schaut mich eindringlich an.

"Ah, richtig! Wo bin ich hier? Bitte, ganz schnell eine Antwort! Oh je, oh je, ich hab doch keine Zeit, mich mit so einem Barbaren zu unterhalten!" Die Worte sprudeln ihr nur so aus ihrem Mund, ohne dass sie lang drüber nachgedacht zu haben schien. Meine Miene verfinstert sich noch mehr, während gleichzeitig die Neugier wieder in mir, dem 'Barbaren', aufschäumt.

"Mo~ment mal, wovon redest du überhaupt?", will ich von ihr wissen, "Oder warte, fangen wir besser bei deinem Namen an! Sowas haben doch bestimmt auch Víly, oder?"

"Sira heiße ich." Sie schaut mich an wie einen Verrückten. "Und mit wem habe ich mehr oder weniger das Vergnügen?"

"Ich bin Maljus. Und jetzt erzähl mal… wie kommt es, dass eine Víla..." Ich betone das Wort übertrieben, weil ich immer noch unsicher bin, was das jetzt heißen mag. "... in einer Flasche steckt?"

Da beschleicht mich ein Verdacht. "Hast… hast du was damit zu tun, dass ich heute im Wald einem laufenden Gerippe begegnet bin?!"

Siras Miene verändert sich zu noch mehr Misstrauen.

"Für was hältst du mich denn?! Ich bin doch keine Umbramantin! Aber vermaledeit noch mal, ich hab keine Zeit, dir das alles jetzt zu erklären, sag mir lieber, wo ich hier bin zum Kuckuck!" Mir ist gar nicht recht, dass sie so schnell wieder verschwinden will und mich ständig anfährt, also gebe ich trotzig zur Antwort: "Nö!"

Sira will etwas erwidern, als ich Stimmen von unten höre, die auf einmal ertönt sind. "Nanu, um diese Uhrzeit noch Besuch?" Sira folgt mir kopfschüttelnd zur Tür, die ich einen Spalt weit öffne.

"Mir gefällt die Sache ganz und gar nicht..." Der Dorfälteste! Das Bild des traditionell in Erdfarben gekleideten, alten Mannes mit dem langen weißen Bart und den zusammengebundenen Haaren formt sich vor meinem geistigen Auge.

Kurz darauf höre ich auch den Bürgermeister. Wie immer finde ich es unglaublich, dass dieser schmale kleine Elf - der auf mich wirkt, als fehle ihm Schlaf und Zeit, seine dunklen Locken zu kämmen - es zu diesem Posten gebracht hat, obwohl er keinen einzigen Satz ohne Stammeln herausbringt: "Äh, ja, mir... mir gefällt die ganze Sache ge-, äh, genauso wenig! Wir haben im Dings, ich meine im Wald ein äh... ein Dings, ein-"

"Ein Skelett gefunden!", vervollständigt der Dorfälteste ernst.

Ich höre Alid aufkeuchen, sie kann es nicht glauben: "Ihr macht Witze! Etwa dort, wo Sara und Maljus heute... nun ja, dieses Pferd gefunden haben?" Kurz herrscht Stille, dann haucht sie nur: "Oh, Terra..." Mein feines Gehör lässt mich wahrnehmen, wie sich jemand auf einen Stuhl fallen lässt, der unter der Last bedrohlich knirscht.

"Nun, das eigentlich Beunruhigende ist aber…", fährt der Älteste fort. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie er sich dabei durch seinen Bart fährt. "... dass der Tote vollständig bekleidet war, als habe sich sein Fleisch und alles plötzlich in Luft aufgelöst. Die Kleidung war die eines einfachen Söldners und bis auf ein paar wenige Stellen vollständig intakt, eine Lederrüstung, er trug einen Waffengurt, Armstulpen, Stiefel-"

"Er h- hatte ein Schwert!", wirft der Bürgermeister mit sich überschlagender Stimme ein, der Älteste räuspert sich.

Ist das richtig, meine Ersatzmutter und die Spitze des Dorfes einfach so zu belauschen? Aber wenn ich hinuntergehen würde…

"Wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken... das kann nur ein Untoter gewesen sein. Hier sind dunkle Mächte im Spiel, bis hierher haben sie sich nun gewagt… und denen sind Sara und Maljus wohl gegenüber gestanden, wenn mich nicht alles täuscht!"

"Pah, dunkle Mächte... wenn der wüsste, was auf dem Spiel steht!", faucht Sira leise. Ich drehe den Kopf zu ihr und schließe die Tür wieder, unten haben alle begonnen, verschwörerisch zu raunen, sodass ich kein Wort mehr verstehe. Haben sie was von meiner Lauschaktion mitbekommen?

"Was meinst du? Was steht auf dem Spiel?" Ich betrachte sie mir erneut von oben bis unten. "So... dunkle Mächte, Untote, Umbramantin… jetzt wäre es wirklich an der Zeit, mich ins Bild zu rücken, oder?" Die Víla lässt sich auf meinem Tisch wieder, wohingegen ich mich auf den Stuhl davor hocke und sie beäuge. widerwillig gibt sie klein bei: "Wenn du darauf bestehst... dann erzähle ich dir mal etwas über die Elementargöttinnen und den Umgedrehten König!"

Schon beim letzten Stichwort mache ich große Augen. Was soll das denn nun schon wieder sein? Doch weil ich es kaum abwarten kann, dass sie erzählt, unterbreche ich Sira nicht, sondern lausche gespannt.

"Wir Víly sind mehr oder weniger Naturgeister, musst du wissen, denn wir stehen in enger Verbindung mit den vier Elementargöttinnen. Von denen wirst du ja hoffentlich gehört haben, oder?"

"Natürlich. Terra, Aqua, Ignis und Anima, das lernt jedes Kind in Cardighna!" Was ist das denn für eine Frage? "Soll ich dir auch noch den gesamten Schöpfungsmythos aufsagen? Den musste ich zur Pactio vor zwei Jahren auswendig lernen!"

Sira schüttelt ihren kleinen Kopf.

"Diese vier sind sozusagen meine Auftraggeber, denn nicht nur sind sie für den Lauf aller Prozesse der Erde zuständig, sondern da gibt es noch etwas Anderes… es betrifft diesen Umgedrehten König. Der Umgedrehte König ist laut der Legende ein vor Jahrhunderten erschienener Krieger gewesen, der weite Teile des Erdkreises mit seiner unbändigen Macht erobert und beherrscht hatte, bis er sich letzten Endes sogar den Göttern gegenüberstellte! Nur mithilfe einer von den vier Göttinnen geweihten Klinge konnte er bezwungen werden, doch sein Geist ist so durchtrieben vom Bösen und ungeheuren Mächten-" Meine Ohren zucken vor Überraschung.

"Ist? Soll das heißen, es gibt ihn noch?!"

"Nun, sei doch mal still!", ermahnt Sira mich, "Ich wollte ja gerade dazu kommen. Die Göttinnen mussten ihn versiegeln! Dessen geballte Macht verlangte den vier Göttinnen allerdings ab, einen Teil ihrer Kräfte auf ewig in das Siegel zu stecken, das ihn festhält... tja und genau über dieses Siegel wache ich." Das war viel zu schnell gesagt, als dass ich das so recht glauben will. Also harke ich ungläubig nach: "Und was machst du dann hier?"

Sie springt vom Tisch auf und erhebt sich wieder in die Luft, um durch das Zimmer zu schwirren wie eine aufgeschreckte Wespe. Aufgebracht rauft sie sich ihre Haare und ruft: "Was stellst du eigentlich für Fragen?! Ich bin hier, weil es einen Überfall auf die heilige Stätte gegeben hat, bei dem ich verschleppt worden bin! Und dahinter steckte auch dieser Untote, dem du heute begegnet bist! Also verrate mir bitte endlich, wo ich bin! Ich muss zurück, genauer gesagt nach Ardsted, wo das Schwert ruht! Vielleicht haben die Angreifer sich daran vergriffen! Das wäre unverzeihlich!" Flehend schaut sie mich an und ist vor meiner Nasenspitze in der Luft stehen geblieben.

Ardsted… das ist doch die Hauptstadt im Ardnasgebirge! Ich blinzle.

"Du bist von Ardsted bis hierher gebracht worden?! Das hier ist Welsdorf, ein kleines Dorf im Süden. Ich habe gehört, nicht weit weg soll das Meer sein!" Sira erstarrt vor Schreck und wird erneut hysterisch: "Was?! So weit weg?! In so kurzer Zeit?!" Binnen Sekunden hat sich ihr grünes Gesicht entfärbt, war leichenblass. "Um Himmels Willen, wie schaff' ich das bloß rechtzeitig?!"

Ich stehe von meinem Stuhl auf, lasse meinen Blick durchs Zimmer wandern… erst zu dem Bücherregal im Zimmer, dann zum Fenster… und schließlich in Richtung der Türe, hinter der am Ende des Ganges irgendwo mein Schwert sicher in einer verschlossenen Truhe ruht. Ich glaube, mir kommt da eine Idee…

Voller Überzeugung schlage ich Sira vor: "Dann lass' mich helfen!" Irritiert starrt sie mich an.

"Was?! Nichts da, so grün wie du hinter deinen spitzen Ohren bist, kann ich unmöglich dich um Hilfe bitten! So eine Reise ist kein Zuckerschlecken!" Sagt ausgerechnet die, die wortwörtlich grün hinter den Ohren ist.

Selbstbewusst baue ich mich vor ihr auf.

"Ja, und darum brauchst du ja jemanden, der dich nach Ardsted eskortiert, stimmt's? Ich hab sie so weit gekriegt, dass sie anfängt zu grübeln, aber ich entnehme ihrer Miene, dass sie mich immer noch für ungeeignet hält. Sie zeigt sich unbeeindruckt von meinem Selbstvertrauen, als sie fragt: "Und wie willst du das anstellen, du Held vom Erdbeerfeld?"

"Wir haben das Pferd deines Entführers in weiser Voraussicht mitgenommen! Damit kommen wir sicher schneller nach Ardsted! Außerdem bin ich ein Schwertkämpfer, ich habe von einem echten Söldner gelernt!"

"So so... und was wird deine Mutter dazu sagen?" Müde lächelte Sira mich an. Verflixt, da war ja noch was! Wenn Alid diese Idee spitz bekommt, gibt's sofort einen Satz heiße Ohren! Aber diese einmalige Chance kann ich mir nicht entgehen lassen, das ist ein wunderbarer Vorwand, um dem tristen Alltag zu entfliehen und endlich ein wenig von der Welt zu sehen!

Ich straffe meine Haltung wieder etwas, räuspere mich und sage: "Wenn sie es herausfindet, werde ich schon weg sein! Ohnehin, bei so einer abenteuerlichen Geschichte müsste sie mich sicher für verrückt halten! Also, Sira, mein Angebot steht: Lass mich dich nach Ardsted bringen!" Seufzend schielte sie mich an und zögerte mit einer Antwort.

"... Kannst du denn reiten?"

"Nein.", gestehe ich kleinlaut, "Das werde ich erst noch lernen müssen. Aber ein paar Tage Vorbereitungszeit musst du mir sowieso lassen, ich muss noch sehen, dass ich ein wenig Geld zusammenkriege!"

"Na immerhin denkst du mit. Schön... Drei Tage! Soviel Zeit geb' ich dir, aber dann müssen wir los, alles klar?"

"Glasklar!", rufe ich.
 

V.
 

Die drei Tage vergehen wie im Flug. Ich rackere mich im Laden ab, um einen kleinen Taschengeldbonus zu kriegen, kratze all mein Erspartes zusammen und pumpe auch noch meinen besten Kumpel Gart an. Er ist zwei Jahre älter als ich und arbeitet bereits als Lehrling beim Zimmermann im Dorf. Er wird bestimmt auch bald Welsdorf verlassen.

Aber bis ich irgendeine Ausbildung machen und diese Gelegenheit ebenso bekommen werde, kann ich nicht warten!

"Wofür brauchst du denn so dringend das Geld?", fragt Gart, während er mir die Münzen bereits in die Hände drückt. Sein typisch verschmitztes Lächeln taucht in seinem gebräunten Gesicht auf. Oh nein, ich ahne schon, welche Gedanken ihm durch den Kopf schießen. "Willst du etwa einem Mädel was Hübsches kaufen? Ich würde dir empfehlen, es bei Nime zu versuchen! Ich hab gehört, dass sie grade keinen Freund hat und hoffnungslos einsam ist!"

Der Dunkelhaarige ist und bleibt unverbesserlich, wenn es um das andere Geschlecht geht. Ich muss über seine Binsenweisheiten und Tips, wem man denn grade gut schöne Augen machen könnte, immer wieder grinsen.

"Ich erklär's dir ein andern Mal, Gart."

"Ah, wenn du ihr Herz erobert hast, richtig?" Ich grinse und meine: "Ja, ja, bestimmt!" Ich bin sonst schon nicht wirklich damit beschäftigt, mich an Mädels ranzumachen, aber jetzt habe ich sowieso ganz andere Dinge zu tun. Zum Beispiel ist mir wichtiger, dass Gart hoffentlich ein paar Tage auf sein Geld warten kann.
 

In der Nacht des dritten Tages ist es dann schließlich so weit, nachdem die Aufregung mich seit Sonnenuntergang wachgehalten hat. Ich habe mir heimlich einen alten Reisesack aus dem Laden geschnappt, ihn mit dem Geld, einem ganzen Laib Brot und weiterer Verpflegung, einem Kompass, sowie einer Feldflasche Wasser für alle Fälle, als auch ein paar Büchern gefüllt, ehe ich mich daran mache, das Schwert aus der Truhe zu stibitzen - bisher weiß ja niemand, dass das Schloss ganz einfach zu öffnen ist. Ich habe nur nie gewagt, es heimlich herauszuholen. Na ja… irgendwann ist immer das erste Mal.

Mit dieser Ausrüstung schleiche ich mich aus dem Haus. Eigentlich hätte ich sowas schon viel früher machen können. Ich hätte ja nicht zu weit weggehen müssen und wäre in derselben Nacht wieder da gewesen.

Auf dem Tisch in meinem Zimmer habe ich einen knappen Brief hinterlassen, dass ich alles erklären werde, sobald ich zurückgekommen sein werde - und dass ich sicher nicht lange brauche. Ich müsse einer Bekannten einen äußersten wichtigen Gefallen tun, ist meine Fassung davon, dass ich Sira nach Ardsted bringen werde. Aber ich habe angedeutet, dass es wirklich wichtig ist und Sara und Alid sich keine Sorgen machen müssen. Ich passe schon auf mich auf!

Vorsichtig wecke ich den Rappen und steuere auf diesem im leisen Trab den Asugang des Dorfes an. Meine paar Reitübungen beim Sattler Walhelm haben sich wirklich bezahlt gemacht! Auch wenn ich doch noch etwas unsicher im Sattel saß und nur mehr verkrampft die Zügel im Griff halte.

Ich werfe einen letzten Blick zurück, nachdem ich das Pferd kurz angehalten habe. Der kleine Bach im Dorf plätschert, ansonsten ist es totenstill. Nirgends brennt ein Licht, keiner weiß, dass ich gehe.

"Hey, du überlegst dir doch jetzt hoffentlich nicht anders, oder?!", fragt Sira aufgebracht.

"Nein, nein!", zische ich, "Ich mach' ja schon!" Ich hab es mir fest in den Kopf gesetzt, also schaue ich wieder nach vorne, ziehe entschlossen die Zügel an, drücke die Beine zusammen und reite an. Leb wohl Welsdorf und sei gegrüßt, Außenwelt, wo mich so viel Neues erwartet!

Capitulum II: Die Außenwelt - Wo Magier, Exorzisten und Traumwandler lauern


 

I.
 

Nach einer Stunde haben wir den Wald bereits hinter uns gelassen und reiten durch die dunkle Graslandschaft. Der kalte Nachtwind heult in meinen Ohren und schlägt mir ins Gesicht, während ich über die dünn bewachsenen Hügel hinwegfege.

Zugegeben, das ist bereits ein neuer Eindruck, aber noch nichts Spektakuläres. Der Vollmond gibt uns großzügige Sicht.

Sira hockt mit dem Rücken zu mir auf dem Kopf des Pferdes und schaut stur geradeaus.

"Reit' einfach immer weiter nach Norden, irgendwann sollten wir das Ardnasgebirge sehen."

"Was, wir machen keine Rast bis zum Gebirge?!", bin ich erschrocken. Das ist doch unmöglich in einer Nacht zu schaffen, jedes Kind weiß, dass es von den Wäldern hinter uns bis zum Gebirge mehrere Tagesreisen sind!

"Natürlich nicht, was hast du denn für Vorstellungen, wie weit es bis nach Ardsted ist?!", plärrt Sira gegen den Wind an, "Aber ehe es nicht dringend sein muss, werden wir weiter reiten! Ich hoffe, du hast dich auf weniger gemütliche Schlafplätze eingestellt…" Man, muss die es vielleicht eilig haben…

"Ja, ja, ich bin ja schon still!", murmle ich augenrollend und richte den Blick ebenso gen Norden, wo die Hügel am dunklen Horizont verschwinden.

Je weiter wir reiten, desto müder werde ich allerdings und wann immer ich auch nur einen Umriss sehe, der zu einem Gutshof gehören könnte, wächst die Sehnsucht nach einem warmen weichen Bett.

Irgendwann, Stunden später, halte ich den Rappen schließlich an. Ich könnte umfallen vor Schläfrigkeit und auch einem gewissen Maß an Langeweile. Während des Ritts hat Sira kein Wort gesprochen.

"Ich brauch jetzt unbedingt 'ne Pause, Sira..." Sie dreht ihren Kopf zu mir herum und verzieht das Gesicht zu einer grimmigen Grimasse. Doch nach einigem Zähneknirschen entgegnet sie bockig: "Wenn es denn unbedingt sein muss..."

"Bist du denn nicht müde?"

"Wie könnte ich?! Drei Tage habe ich untätig in deinem Zimmer gesessen! Und bei der Vorstellung, dass irgendwas in der Stätte passiert sein könnte, kann ich unmöglich ans Schlafen denken!" Ich schüttelte mit einem Seufzer auf den Lippen meinen Kopf.

Weit und breit nichts, was ein Haus sein könnte… Mit ungutem Bauchgefühl hole ich eine dicke Decke aus meinem Reisesack, binde das Pferd an einem Baum fest und lasse mich daneben nieder, in die Decke eingewickelt und meine Beine angezogen. Fröstelnd und einsam unter dem vom Laubdach verdeckten Sternenhimmel schlafen… das ist schon gleich eine weitere neue Erfahrung. Keine, die mir besonders behagt.
 

Auch den anschließenden Tag verbringe ich kaum so, wie ich es mir vorgestellt habe. In aller Früh reißt Sira mich aus meinem sanften unsteten Schlaf und ordnet die Weiterreise an. Nur mit viel Lautstärke und Beharrlichkeit kann ich heraushandeln, wenigstens noch kurz was von meinem Vorrat zusammen mit ein paar Beeren aus der näheren Umgebung zu mir zu nehmen.

Dank meiner vielen Jahre in Welsdorf kenne ich mich zumindest damit bestens aus und erkenne jede giftige oder unbekömmliche Pflanze auf den ersten Blick.

wir setzen unseren schier ewigen Weg durch die weite Ebene fort und so langsam kommt es mir so vor, als habe ich all das schon ein mal gesehen. Wie in dieser einen Passage aus einem meiner Lieblingsbücher, in der der Held sich irgendwann gefangen findet auf einer gar endlosen Treppe, die nie enden will, egal wie hoch er steigt - und sobald er sich entschlossen hat, zurückzugehen, sieht er, dass er nicht eine einzige Stufe gegangen ist.

doch das am Horizont blaue und nur schemenhaft erkennbare Ardnasgebirge lässt mich Hoffnung schöpfen. Ich muss ihm näher gekommen sein und hinter mir sehe ich nur weite Auen, nirgends den Wald. Ich kann es kaum erwarten, dieses Gebirge vor mir zu haben - es muss majestätisch sein!
 

II.
 

Wieder reiten wir bis spät in die Nacht hinein. Sira zeigt sich immer noch sehr verschlossen und abweisend, redet nur, wenn ihr die Geschwindigkeit nicht passt, in der wir vorankommen. Ich bekomme Mitleid mit dem Gaul, den ich dann jedes Mal weiter antreiben muss. Lange macht er diese Tortur sicher nicht mehr mit - selbiges gilt für meinen Hintern, der tut auch von Minute zu Minute mehr weh.

Ich beschließe schließlich und überrede Sira, dass es Zeit ist, den Tag für beendet zu erklären und sich dem Schlafen hinzugeben. Doch diesmal sehe ich zu meinem Glück nicht weit entfernt einen Bauernhof, der von niedrigen Hügeln und ein paar kargen Feldern umgeben ist.

Hoffentlich ist noch jemand wach, um uns aufzunehmen, ich kann unmöglich noch mal im Freien übernachten!

Es sieht nicht wirklich danach aus, alle Lichter im Haus sind gelöscht und bei der kleinen Scheune oder dem Stall kann ich niemanden entdecken. Was hab ich mir auch gedacht? Es ist seit Stunden stockfinster, eine kühle Sommernacht, in der wohl niemand die Lust vespürt, auf offenem Felde zu wandeln, anstatt unter einer armen Decke und auf Daunen gebettet den Schlaf der Gerechten zu genießen.

"Darf man fragen, wer sich zu dieser Stunde hier herumtreibt?" Ich zucke zusammen, als unverhofft die Stimme eines Mädchens an mein Ohr dringt. Verwundert sehe ich mich um, kann aber nirgends jemanden entdecken. Träume ich etwa schon? "Hier oben!", ruft die juvenile Stimme, worauf ich an der Scheune hoch sehe. Dort oben sitzt jemand! Ein spitzer, dunkelgrauer Hut ragt nach oben und hat sich vor den vollen Mond geschoben. Das Mädchen trägt fast gänzlich dunkle Kleidung, soweit ich das im Dunkeln erkennen kann.

"Wir-" Ich breche sofort ab und verbessere mich: "Ich bin ein einfacher Reisender! Ich suche eine Unterkunft!" Das Mädchen legt den Kopf schief, lacht hell und wiederholt: "Einfacher Reisender? Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht!"

Plötzlich schwingt es sich vom Dach der Scheune, fällt hinunter, aber fängt sich gekonnt ab, ehe es vom Boden aufsteht und mich schmunzelnd anlacht. Das ist das erste Mal, dass ich in so tiefbraune Augen starre, doch mich fesselt sofort das wilde, seltsamerweise silberne Haar, das unter dem spitzen Hut der jungen Dame hervorquckt und hinten zu einem Haarknoten zusammengebunden ist. Sie trägt ein ungefähr knielanges Kleid, das sie an der Taille mit einer hellen Schärpe festgebunden hatte. In zwei langen Enden reicht sie nach unten fast bis zu den Absätzen ihrer schwarzen Stiefel und die Schultern des Mädchens sind mit einem bunt bestickten Tuch drapiert.

"So so, eine Unterkunft suchst du also? Da bist du wohl leider falsch hier.", sagt es ganz unverblümt.

"Gibt es dann hier irgendwo in der Nähe ein Gasthaus, oder ein Dorf?", frage ich enttäuscht. Das Mädchen schüttelt entschieden seinen Kopf.

"Nein, hier gab und gibt es kein Gasthaus. Auch kein Dorf. Du musst schauen, dass du woanders unterkommst!" Ich ächze entkräftet, aber ergebe mich meinem Schicksal.

"Gut, dann gehe ich wieder. Aber danke für die Information." Meinen Unmut kann ich nicht ganz zurückhalten, als ich mich umdrehe und schon dabei bin in den Sattel zu steigen. Da überlegt es das Mädchen sich plötzlich anders und schlägt vor: "Nun ja, es gibt hier zwar kein Gasthaus… aber ich kann dich ja unmöglich jetzt noch weiter reiten lassen. Du kannst von mir aus im Heu im Stall schlafen, da ist genug Platz."

"Danke!" Besser als nichts, obwohl das immer noch eine eher notdürftige Schlaffstätte ist.

Bevor ich mich aber schlafen legen kann, liegt mir noch etwas auf dem Herzen: "Sag mal, du lebst nicht hier auf dem Bauernhof, oder? Du siehst mehr aus wie eine-"

"Hexe?", vervollständigt die junge Dame meinen Satz. "Ganz recht, ich bin eine Magierin!" Kleinlaut und leise fügt sie an: "Eine auszubildende, immerhin." Donnerwetter, denke ich hingegen, eine richtige Hexe! Obgleich das angeblich für Cardighna keine Besonderheit ist, ist das für mich das erste Mal, dass ich einer Magierin gegenüberstehe. In Welsdorf hab ich noch keinen einzigen Adepten gesehen.

Die Hexe ist etwas distanziert, aber ich frage trotzdem: "Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?"

"Griselda. Und wer bist du, Alba?"

"Ich heiße Maljus." Ich möchte ihr die Hand schütteln, doch sie lehnt ab: "Lass uns morgen weiterreden. Ihr beide werdet sicher müde sein." Mich durchzuckt ein Schreck, hat sie etwa Sira gesehen?! Die Víla hat sich irgendwo in meinen Nacken hinter den Haaren versteckt und kitzelt mich unangenehm mit ihren Flügeln.

"Wir... wir beide?"

"Na, du und dein Pferd!"

"Oh~, ach so!" Grade noch mal gut gegangen. Ich nicke. "Ja, ich bin fast die ganze Nacht gereist und bräuchte unbedingt etwas Schlaf." Griselda registriert es und verschwindet mit einem knappen Winken im Bauernhaus, während ich den Rappen in die Scheune führe, ehe ich mich entkräftet in den Heuhaufen neben ihm fallen lasse. Ich bin so müde, dass mir dann auch dieses Domizil recht ist und binnen weniger Sekunden schlaf ich ein, als sei es von feinsten Federn gefüllte Seide.
 

Als ich erwache, ist es schon längst hell draußen. Erst weiß ich gar nicht, wo ich eigentlich bin, dann erinnere ich mich wieder. Ach ja, ich hab in der Scheune übernachtet, auf diesem kleinen Bauernhof, irgendwo auf dem Weg nach Ardsted.

Aber Augenblick, ich lieg gar nicht da, wo ich eingeschlafen bin!

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, antwortet Griselda, welche Beine baumelnd auf einem Heuballen sitzt: "Du hast dich genau auf den Haufen gelegt, den der Bauer an die Tiere verfüttern wollte. Und du hast sogar noch geschlafen wie ein Stein, als er dich dann aus dem Weg geräumt hat! ... In anderen Worten: Guten Morgen."

"M... morgen…", gähne ich. Ich zupfe mir das Heu aus Haaren und Kleidung und stehe auf, um mich etwas zu dehnen. Ahh, mein Rücken macht mir bewusst, wie sich wohl Alid fühlen muss, wenn sie beklagt, so alt und gebrechlich zu werden.

Ich bin immer noch hundemüde, aber weiß aus Erfahrung, dass es keinen Sinn hat, länger herumzuliegen. Einschlafen kann ich ja sowieso nicht mehr.

"Du hast sogar so fest geschlafen, dass du nicht mitgekriegt hast, wie ich etwas gefangen habe!" Ich hüte mich, ihr zu sagen, dass mir nicht sonderlich danach ist, zu raten, was das sein mag, daher frage ich müden Blickes schlicht: "Aha? Was denn?"

Sie hält mir einen kleinen Käfig vor die Nase, der wohl eigentlich einem Huhn gehört hätte, stattdessen hockt aber eine bitterbös dreinblickende Sira darin und verengt ihre Stirn noch mehr, als sie mir ins Gesicht blickt. Blitzschnell bin ich wach.

"Das... das mag sich komisch anhören, aber könntest du sie bitte wieder rauslassen? Das ist sowas wie meine Gefährtin, verstehst du?"

"Aber gerne doch! Wenn sie auch die Höflichkeit besäße, sich vorzustellen!", sagt Griselda entschieden, "Irgendwie will sie mit mir nicht so recht reden…" Sira verschränkt die Arme vor der Brust und klingt arg gekränkt, als sie knirscht: "Sira... Hmpf!"

Grinsend öffnet Griselda den Käfig. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so listig sein kann.

Sira fliegt wie von der Tarantel gestochen zu mir und nimmt auf meiner Schulter Platz, von wo aus sie die Hexe böswillig beäugt. Die meint aber nur gut gelaunt: "Ihr zwei seid tatsächlich interessant! Was treibt Euch denn so durch die Welt?" Siras verstimmter Blick sagt ganz genau: 'Sag ihr auf keinen Fall die Wahrheit!', doch darauf wäre ich auch selber gekommen.

"Wir reisen eigentlich mehr oder weniger nur um des Reisens Willen. Um ein bisschen durch die Welt zu kommen!" Das weicht doch gar nicht mal so sehr von der Wahrheit ab, oder? Na ja, für mich selbst zumindest.

"Und wohin geht die Reise grade?"

"Warum fragst du?", stellt Sira misstrauisch eine Gegenfrage, was Griselda zum Lachen bringt. Etwas zögernd erwidere ich ihr Lächeln.

"Soll ich ehrlich sein? Na schön: Ich könnte etwas Begleitung auf meiner Reise vertragen... es ist fürchterlich langweilig, alleine durchs Land zu ziehen."

"Du... reist alleine?"

"Tust du doch auch... na ja, von Víly in deinem Gefolge mal abgesehen." Sira horcht auf und beugt sich neugierig vor.

"Du kennst uns Víly?" Griselda nickt.

"Ja, ich hab ab und zu von ihnen gehört... aber ich hielt sie eigentlich nur für irgendein Märchen. Tja, man lernt eben nie aus!" Das ist ein Spruch, den ich nur bestätigen kann, vor wenigen Tagen hab ich genauso wenig Ahnung davon gehabt, dass es Víly gab, hab nicht mal von ihnen gehört im Gegensatz zu der angehenden Hexe, die mehr und mehr einen aufgeweckten Eindruck auf mich macht.

Und sie will uns nun begleiten? Ich werfe Sira einen flüchtigen Blick zu, dem sie erst nur ein genervtes Stöhnen zu erwidern hat.

"Mein Eindruck sagt mir, dass du sowieso nicht nachgäbest! Aber wenn du nicht auch nach Ardsted reist, wirst du dir jemand anderen suchen müssen!"

"Oh, Ardsted klingt fantastisch!", ruft sie und klatscht frohgemut in die Hände, "Das ist genau nach meinem Geschmack!"

"Und durchfüttern werden wir dich auch nicht!", stellt Sira gleich im Anschluss klar, was jedoch genauso wenig ein Hindernis für die junge Hexe ist: "Auch das ist kein Problem! Ich habe selber genug Geld und Verpflegung, um mich zu versorgen!"

Sie scheint nett und selbstbewusst zu sein. Bestimmt gibt's wenig Probleme, wenn sie mitkommt.
 

Wir unterhalten uns noch ein wenig, ehe sie Sira und mir anbot, ein etwas verspätetes Frühstück einzunehmen. Nachdem auch das geschehen ist, machen wir uns auch schon wieder fertig für die Weiterreise.

"Gut, dann mal auf nach Keslynth!"

"Keslynth? Ich dachte, wir wollten nach Ardsted!"

"Na klar, wir sollen die Höhen des Ardnas-Gebirges in einem Zug erklimmen? Bist du übergeschnappt?!", keift Sira, "Ich wäre auch lieber etwas schneller in Ardsted, aber das schaffen wir bei deiner Kondition sicher nicht!"

"Nun hör aber auf... dich möcht' ich sehn, wie du die Berge mit deinen Flügeln erklimmst!"

"Zankt euch nicht!", mischt Griselda sich ein, während sie auf dem Pferd hinter mir Platz nimmt, "Ich bin mir sicher, ihr werdet schon früh genug nach Ardsted kommen! Außerdem soll Keslynth auch sehr schön sein! Man kann von dort aus wunderbar den Mons Mortuorum erblicken!" Was war das noch gleich für ein Berg? Ich muss etwas in meinem Gedächtnis kramen, bis es mir einfällt.

Ein Berg, der nahe am Totenreich liegen soll. Wer irgendwie in der Lage ist, lässt sich direkt am Fuße dieses sagenumwobenen Berges begraben, um schneller eine Wiedergeburt zu erleben. Das verleiht dem Berg auch seinen Namen, der übersetzt 'Berg der Toten' bedeutet.

Ob ich diesen, den bekanntesten Berg des riesigen Gebirges, welches die nördliche Grenze der Präfektur markiert, auch erklimmen werde? Man weiß ja nie.
 

III.
 

"Los, rückt sie raus!! Oder soll ich ausholen?!" Die ersten Worte, die unsere kleine Gruppe vernimmt, als wir nachmittags Keslynth erreichen, sind alles andere als freundlich. Eine kratzige Männerstimme brüllt durch das malerische Dorf, einen kleinen Haufen von Stein- und Lehmbauten, der sich wie ermüdet an die aufragenden Berge schmiegt.

Ein verängstigter Bewohner stürmt, Sira, Griselda und mir sogleich entgegen und rät uns: "Haut lieber schnell ab, wenn Euch Euer Leben lieb ist!" Ich gucke den wild gestikulierenden Mann, einen mageren Bauern mit wenigen Zähnen und schmutzigen Gewändern, der schon ganz außer Atem war, fragend an. "E- es sind Untote im Dorf! Sie... sie wollen unsere Töchter rauben! V- verschwindet von hier!"

Vor meinem geistigen Auge spielte sich mit einem Mal all das aus dem Wald noch einmal ab, das gerüstete Skelett, das es auf Sara abgesehen hatte, mein kurzer Kampf mit ihm. Besteht da etwa ein Zusammenhang?!

Der Mann rennt davon, aber ich bleibe, sehe ihm noch kurz ein wenig verunsichert nach und springe, statt seinen Rat einfach zu befolgen, vom Pferd ab.

"Hey, was hast du vor?!", fragt Sira und fliegt mir hinterher, "Hast du ihn nicht gehört?!"

"Ich will mir das genauer ansehen!"

"Tu es nicht!", will mich auch Griselda abhalten, aber ich lasse nicht mir reden. Ich bin jetzt neugierig geworden und brenne darauf, mir diese Mistkerle anzusehen, die Unheil stiften! Es ist weniger ein übertriebener Drang nach Gerechtigkeit, sondern vielmehr die Hoffnung, jetzt vielleicht Antworten zu fingen. So einleuchtend Siras Geschichte bisher auch klang, sie beantwortet mir noch lange nicht, was der Wiedergänger in den Wäldern zu suchen hatte!

Ich laufe dem rechthaberischen Gebrüll nach, bis ich schließlich den Schreienden in einiger Entfernung entdecke: ein weiteres lebendiges Skelett, gepackt in einen prunkvollen Brustpanzer. Auf dem kahlen Schädel thront ein goldener Helm mit rotem Kamm. Der Untote sieht wie ein Relikt aus alten Zeiten aus, wie aus irgendeinem vergessenen Mausoleum. Ich hab noch nie so einen Harnisch gesehen, doch er erinnert mich an die Erzählungen der früheren Zeit, an die Legenden von Altcardighna - auch Cruenta Terra genannt.

Des Generals brauner Umhang weht leicht im Wind, der hohe Kragen lässt nur die obere Gesichtshälfte - soweit man das als so etwas überhaupt bezeichnen kann - sehen. Von seinem Ross aus befehligt er zwei weitere wesentlich prunkloser gekleidete Gestalten, die aussehen wie exakte Kopien des Wiedergängers auf der Lichtung. Sie tragen dieselben Helme, die gleichen einfachen Rüstungen und auch ihre Waffen gleichen sich wie ein Ei dem anderen.

"Nein, lasst uns unsere Tochter! Wir flehen Euch, lasst sie!" Die beiden Untoten zerren an dem Leib eines dürren weinenden Mädchen.

"Ruhe, ihr zwei Hunde, oder eure Kehlen werden Bekanntschaft mit meinem Schwert machen!", brüllt der General die völlig aufgelösten Eltern, ein Handwerkerehepaar, an. "Hehehe, keine Sorge, wir geben gute Acht auf eure Tochter!" Sein Lachen klingt so widerwärtig und ich höre den Spaß heraus, den es ihm bereitet, die verschreckte Familie rumzuschubsen.

Dem Sohn wird es dann allerdings zu bunt, er hat sich einen schweren Stab gepackt und rennt auf eines der Skelette zu, die seine Schwester festhalten.

"Dummes Bürschchen... los, du da, schlag ihn zusammen! Anders lernt er's wohl nicht, hehehe!" Des Untoten Schwert hat dem Jungen mit einem einzigen Schlag den Holzstab aus der Hand geschlagen. Der Soldat lässt sein Knie hochschnellen und rammt es dem armen Kerl in den Magen, ehe er ihm das Schwertheft gegen den Hinterkopf donnert. Der Junge fällt zu Boden, betastet vorsichtig und zitternd seinen blutenden Kopf.

Der Untote hebt sein Bein und ist kurz davor, auf ihn einzutreten! Das kann nicht gut gehen, wenn ich nicht etwas unternehme!

Es ist ein grausamer und lähmender Anblick, als der knöcherne Mann seinen Stiefel mehrmals auf den Rücken des hilflosen Burschen niedersausen lässt. Ich erkenne mich in gewisser Weise selbst wieder, als ich Sara retten musste… aber dieser Junge ist in einer viel schlimmeren Lage als ich! Und jetzt soll er auch noch zu einem Krüppel geschlagen werden?!

"Hört auf damit, ihr Schweine!" Ich habe so laut geschrieen wie noch nie in meinem Leben und bin bereits mehrere Meter in ihre Richtung gelaufen. Mit großen stampfenden Schritten nähere ich mich den drei Untoten, welche innehalten und mich ausdruckslos ansehen. Nur dem dezenten Herunterklappen ihrer Unterkiefer entnimmt man noch eine gewisse Verwunderung.

Ich beiße die Zähne fest zusammen, ich darf jetzt keine Angst zeigen! Sie sollen sehen, dass ich es ernst meine! Ich starre besonders den Anführer giftig an. "Was... was fällt euch ein?!"

"... Hm? Was bist du denn für einer?",fragt der Anführer und verfällt wieder in spöttisches Gelächter. "Haha, alle anderen, die uns zugesehen haben, sind lieber Hals über Kopf geflohen! Gehörst du etwa auch zu der Sippe hier, du Knirps?! Haha, da hat Frau Handwerkerin wohl neben zwei kleinen Menschen auch noch einen Halbelfen ans Licht der Welt gedrückt!" Sofort wirft sich die Frau auf den Boden und schreit: "Nein! Nein, der ist keins von meinen Kinder! Bitte... bitte lasst die beiden in Frieden, nehmt doch lieber uns! Wir-"

"Schnauze!", peitscht die Zurechtweisung durch die Luft. Die Dame krümmt sich wimmernd auf dem schlammigen Weg.

Der untote General fährt sich derweil nachdenklich mit seiner von einem schwarzen Lederhandschuh bedeckten Hand über das Knochenkinn. "Wie interessant. Für dein Alter hast du eine erstaunlich feste Haltung, junger Alba... sehe ich richtig, dass du ein Schwert bei dir trägst?"

Sira zupft an meinen Nackenhaaren, sie zischt irgendwas, aber ich beachte sie gar nicht. Ich bin zu sehr auf den knöchernen Mann konzentriert und erwidere provokant: "Ja, und?!"

Ich spüre, dass mein Herz rast, vor Angst, vor Wut. Es klopft so stark, dass mir schon ganz schwummrig wird. Ich gebe mir alle Mühe, mich zu beherrschen.

Eine lange Pause entsteht, in der ich kein einziges Mal blinzele, sondern durchgehend ein Auge auf die drei Wiedergänger werfe. Sira will wieder auf sich aufmerksam machen: "Maljus! Nun hör doch zu!"

"Nicht jetzt, Sira! Der wird mich kennen lernen!", flüstere ich.

"Was für ein Schwachkopf muss das gewesen sein, der so einem frechen Würstchen eine Waffe in die Hand gedrückt hat?", fragt der Anführer schließlich.

Er hebt seinen Kopf. "Hm... aber was sehen meine Augen da? Du hast Verstärkung mitgebracht?" Ich drehe mich zur Seite. Griselda steht neben mir! Sie zittert wie Espenlaub, aber arbeitet genauso hart daran, den Blickkontakt zu dem Mann aufrechtzuerhalten.

"Maljus! Nun hör doch endlich auf, du Dickschädel!"

"Still, Sira!" Langsam lege ich Hand an mein Schwert, während das Skelett noch lacht. Es bricht sofort ab, wie es die Bewegung wahrnimmt. Es sieht zu seinen zwei Lakaien und macht nur eine Handbewegung, mit der sie das Mädchen loslassen, es regelrecht wegwerfen. Verängstigt rennt es zurück zu seiner Familie, nachdem es im Dreck gelandet ist. Die beiden Soldaten warten auf einen Befehl.

"Erledigt diesen kleinen Drecksack, der glaubt, sich hier vor Zenturio Cheeta von den Cruor-Garden aufspielen zu müssen! Und nehmt das Mädchen neben ihm gefangen, wenn ihr fertig seid! Das will ich lebend!" Was sagt der da? Griselda ist genauso verwirrt wie ich, verbleibt aber still und beobachtet die drei Untoten genau.

Cheeta wendet sich mit seinem Pferd herum und reitet ohne weiteres Wort davon, seine beiden Diener währenddessen erheben ihre Schwerter und rennen auf uns zu. Schnell befreie ich meine eigene Klinge von ihrer Schwertscheide, um auch gleich einen Schlag des ersten Angreifers abzufangen. Ich keuche auf. Was für eine Kraft der hat!

Das Skelett weicht zurück und holt erneut aus. Indes springe ich zur Seite und sehe, wie ich es perfekt erwischen kann. Im selben Moment reißt das Skelett die Waffe herum, Metall prallt auf Metall, schon wieder. Für nichts weiter als ein paar Knochen besitzt es aber verdammt viel Kraft!

Mir bleibt keine Zeit, in Bewunderung zu verfallen, denn sein Komplize nutzt aus, dass ich mich nicht wehren kann. Mit einem gewagten Sprung zurück versuche ich mich zu retten, sehe ich doch bereits, wie nah die laufenden Gebeine sind.

ein Blitz zuckt durch die Luft, er trifft das Monster im Rücken und schleudert es an mir vorbei gegen eine Hauswand. Ich lande auf dem Hosenboden und schaue, ganz aus dem Konzept, zu der jungen Hexe, wie sie nervös lacht: "Habt ihr mich schon vergessen? Denkt ihr, ich gucke einfach zu, wenn ihr meinen Kameraden angreift?!"

"D- danke!", rufe ich, rapple mich wieder auf und schaue zu den zwei Unholden. Sie sehen nicht so aus, als hätten sie Schaden von dieser kleinen Magievorführung genommen. Nein, sie sind sogar schon wieder auf den Beinen und setzen zum Gegenangriff an! Erneut kreuze ich mit dem einen die Klingen, der andere rennt los - nicht zu mir, sondern zu Griselda! Offenbar ist diesem Mistvieh in den Sinn gekommen, dass auch Verletzte noch leben und er seinen Auftrag nach wie vor erfüllen würde. Panisch blicke ich zwischen ihm und meinem eigenen Opponenten hin und her.

Griselda schickt dem Verfolger mehrere kleine Zauber entgegen, aber noch mal lässt er sich davon nicht zu Boden bringen. Er duckt sich hinweg, oder weicht seitlich aus. Ich darf ihn nicht an sie ranlassen! Vielleicht bin ich zu hastig gewesen und hätte es mir vielleicht doch zwei mal überlegen sollen, Cheeta und seinen Handlangern gegenüberzutreten? Scheißegal, ich muss ihr helfen!

Noch einmal strenge ich mich richtig an, stemme das Schwert meines Gegners weg von mir und lege einen Sprint ein.

Der Moment, als mir erstmals bewusst wird, wie sehr man jemanden unterschätzen kann. Erst spüre ich bloß ein schlimmes Stechen, bis es zu einem furchtbaren Brennen wird und schließlich zu einem unvorstellbarem Schmerz anwächst, der meinen gesamten Arm erfasst, als ich mir der tiefen Schnittwunde bewusst werde.

Die leeren Augenhöhlen des Skelettkriegers starren mich im wahrsten Sinne des Wortes finster von der Seite an… er hat mich eingeholt und blitzschnell erwischt! Obwohl sein Streich so schnell gewesen ist, hat er mir eine schwere Wunde beigebracht, die mich entkräftet zu Boden fallen lässt. Dort krümme ich mich schreiend vor Schmerzen, alles wird überflutet mit dem Pein. Ignis sei verdammt, mein Blut kocht auf meiner Haut! Als hätte ich meinen Arm in ein offenes Feuer gehalten - oder nein, es ist noch schlimmer als das!

Ein Fuß trifft mich im Rücken, drückt mich tiefer in die Erde, während ich verkrampft meinen linken Arm festhalte. Mein Schreien verebbt langsam, genauso wie die Schmerzen es geringfügig tun. Die Kraft, mein Leiden herauszubrüllen, verlässt mich schon. Nun ist mein Leben wirklich in Gefahr! Ich hab nicht mal was erreicht und muss jetzt meinem Ende entgegensehen! Ich bin beim bloßen Versuch, diese Familie zu beschützen und den Dingen auf den Grund zu gehen, großartig gescheitert! Ich kann und will mir gar nicht ausmalen, wie mein Ende denn nun tatsächlich aussieht, und so merke ich erst gar nicht, wie der schwere Fuß von meinem rücken ablässt und dessen Besitzer mit einem Mal schleifend im Dreck landet.

Ein schimmernder schwarzer Dolch hat sich auf ein mal in seinen Schädel gebohrt, welcher jetzt, von fein verästelten Rissen überzogen, mir ins schmerzverzerrte Antlitz glotzt. Meine Sicht ist von Tränen verschoben, doch ich kann mit Sicherheit sagen, dass der Wiedergänger sich nicht mehr bewegt.

Jemand zieht mich hoch.

"Nichts für ungut... aber ab hier übernehmen besser wir!" Ein junger Mann, recht dürr und groß hat mir aufgeholfen; ein Mensch mit einer ziemlich spitzen Nase und einem ebenso spitzen Hut auf dem Kopf… ein bisschen geknickt ist er, passend zu dem alten, unzählige Male geflickten Umhang, den der junge Mann trägt.

Ich höre ein hässliches Knacken und als ich mich herumwende, sehe ich, woher es kam: Der Kopf des zweiten Skeletts ist zertrümmert worden von einem blonden Elf, ungefähr so alt wie der Magier, der mir aufgeholfen hat. Über seinen einfachen Klamotten trägt der Kerl eine Lorica Segmentata aus dunklem Leder, einen langen schwarzen Mantel und einen braunen Gurt. Ich kann nicht sehen, was er auf dem rücken trägt, der Gegenstand ist länglich und vollkommen in ein weißes Tuch gewickelt.

Schnell wird mir wieder die Verletzung bewusst. Ich sacke beinahe zusammen, als die Schmerzen in geballter Form zurückkehren.

"Alex, komm her! Der Junge ist verletzt!", ruft der Magier dem Elfen zu, der mit einem abschätzigen Blick zu Griselda schaut. Ein Glück, es geht ihr gut…

Alex, welcher sein widerspenstiges borstiges Haar in einem kurzen Pferdeschwanz trägt, kommt schnell zu uns, aber wendet sich erst an die Familie, die alles wie versteinert mitverfolgt hat: "Los, schnell, holt einen Heiler! Wir bringen ihn ins Gasthaus!" Sie schauen in anfangs verständnislos an, bis er deutlicher wird: "Na los, er hat euch doch geholfen! Ihr habt nichts mehr zu fürchten, also verschiebt die netten Worte und das Staunen auf später!"

Zusammen mit dem Maier hebt er mich hoch, nachdem der Vater mit einem knappen Nicken davon läuft. Ich würde gerne sagen, dass ich auch selber laufen kann, bin aber zu beschäftigt mit dem Stechen, Brennen und Ziehen in meinem Arm.

Griselda rennt uns hinterher.

"Um Terras Willen! Geht... geht es ihm gut?! Maljus!"

"Komm, pack lieber mit an, statt Fragen zu stellen! Sonst geht es ihm vielleicht nicht mehr so gut, wenn wir da sind!", entgegnet Alex harsch. Meine Güte, was ist denn mit dem Zeitgenossen los? Sind wir wohl mit dem falschen Bein aufgestanden, als wir uns heute entschieden haben, Untote jagen zu gehen? Aber ich muss grad reden… eigentlich ja gar nicht so schlimm, dass mir jemand unter die Arme greift.
 

IV.
 

Kaum bin ich im Gasthaus auf ein Zimmer und dort in ein Bett verfrachtet worden, rückt der Heiler, ein basalthäutiger Zwerg auch schon an. Er besieht sich die Wunde gar nicht erst lang, sondern lässt gleich seine Kräfte die größte Arbeit machen. Ein helles Leuchten umgibt seine Hände, während seine Stirn sich in tiefe Falten wie Risse in trockenem Boden graben. Die gröbsten Schäden verschwinden bereits, der Heiler behandelt die Wunde dann noch mit mehreren Salben und ein paar Kräutern. Zu guter Letzt verbindet er mir unter unangenehmen Stechen den Arm. Der hat auch ganz schön Kraft in den Armen für einen Magier!

"Das braucht auf jeden Fall noch eine Weile, um endgültig zu verheilen!", vermittelt er mit strengem Blick, bei dem seine kleinen tiefliegenden Rubinaugen funkeln. "Was denkt sich jemand wie du eigentlich, in einen Kampf verwickelt zu sein?! Zählt nicht mal zwanzig Lenzen und legt sich mit drei Leuten auf einmal an!" Der Heiler schüttelt irritiert den Kopf, aber der Magier probiert, ihn zu beruhigen: "Prügelt nicht so auf ihn ein, guter Mann. Immerhin hat er sich getraut, gegen die Untoten vorzugehen!"

"Ja ja." Der Zwerg brummt und kratzt sich nachdenklich am Kopf. "Unfassbar, was in letzter Zeit passiert..."

Er verliert nichts von seiner unangenehmen Art, als er zu Alex und dem Magier sagt: "Wird Zeit, dass ihr endlich mit dem verantwortlichen Pack aufräumt, ihr zwei! Schließlich seid ihr Exorzisten!"

Er lässt sich noch von Griselda bezahlen und verschwindet dann schnell, sagt, er habe noch eine Menge anderer Patienten zu behandeln.

Der Magier guckt mich mit einem unbeholfenen Lächeln an.

"Wir sind wohl noch grade im rechten Augenblick gekommen... geht's dir schon besser?"

"Ja, ja, geht schon…", seufze ich. Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist irgendwelches Mitleid, wo ich so sauer, stinksauer, bin! Der Mann mit dem spitzen Hut lässt nicht locker: "Das wird bestimmt ganz schnell wieder verheilen, glaub mir. Übrigens, mein Name ist Craylo!" Müde gucke ich ihn an, so, so, Craylo also. Schon wieder ein neues Gesicht neben Alex, welcher schweigend an der Wand lehnt.

"Ich bin Maljus... aus Welsdorf.", erwidere ich schwachen Lächelns.

"Nett, dich kennen zu lernen. Das heißt also, du bist gar nicht von hier? Dann bin ich umso beeindruckter, wie freigiebig du dein Leben für diese Familie aufs Spiel gesetzt has-"

Alex unterbricht ihn und wechselt ganz plötzlich das von Craylo angeschnittene Thema: "Maljus ist ein ziemlich seltener Name." Ein Grinsen stiehlt sich auf sein Gesicht. "Alex hingegen weniger, freut mich."

Er stößt sich von der Wand ab und ging zu Craylo rüber. Ihm geht's offenbar schon wieder etwas besser, also komm. Gehen wir lieber, der Heiler hat doch gesagt, er soll sich etwas ausruhen."

"Na schön, wenn du meinst. Wiedersehen, Maljus! Vielleicht sieht man sich ja noch mal - dann hoffentlich nicht in geschäftlichen Dingen!" Geschäftliche Dinge? Was meint er dami-

Die Tür fällt bereits ins Schloss. Griselda ist ebenfalls drauf und dran, mich vorerst alleine zu lassen und erklärt: "Ich möchte nachsehen, wie es der Familie geht, deren Tochter wir grade noch retten konnten! Das ist doch in Ordnung, oder?"

"Ja, geh nur…", erwidere ich lustlos, "Ich möchte sowieso etwas alleine sein."
 

Nachdem sie gegangen ist, vergehen mehrere qualvoll eintönige Minuten, in denen ich die Zeit damit totschlage an die Decke des kleinen Zimmers zu starren und mit mir selbst zu streiten, was ich mir bei der ganzen Sache gedacht habe.

Ich schiele kurz zu meinem Reisesack am Nachttisch. Auch wenn ich grade unmöglich an die Bücher darin rankomme, ohne wieder von enormen Schmerzen gerüttelt zu werden, weiß ich, dass sowas in ihnen mit Sicherheit nie passiert wäre. Aber ich bin wohl keiner dieser flinken starken Helden, für die jede Herausforderung ein wahres Kinderspiel ist.

War es deswegen falsch, etwas zu unternehmen? Cheeta und seine Männer hätten das Mädchen entführt, wenn ich nicht aufgetaucht wäre und mich ihnen in den Weg gestellt hätte. Der Mann am Eingang des Dorfes hat sogar gesagt, dass sie es auf alle jungen Frauen abgesehen haben. Bloß warum?

Ein schwacher grüner Lichtschein reißt mich aus meinen Überlegungen. Die Tür steht einen winzigen Spalt offen und Sira fliegt herein, sichtlich wütend. Großartig, genau das, was ich jetzt brauche!, schäumt der Sarkasmus in mir auf. Und siehe da, die Víla beginnt sofort wieder zu fluchen: "Jetzt haben wir den Salat!"

Sie hockt sich im Schneidersitz auf den Nachttisch, stützt ihr straffes kleines Gesicht in die Hand und rollt gleich mehrmals mit den Augen. "Das hätte mit ein bisschen weniger Glück dein Grab werden können, Maljus! Ist dir das klar?!", schnaubt sie, beruhigt sich dann aber wieder etwas.

Sorge schwingt in ihren Worten mit: "Deswegen war ich dagegen, dich mitzunehmen."

Es macht mich so rasend, dass ich die Schmerzen gar nicht beachte, als ich mich weiter verspanne und meine Finger sich in die himmelblaue Bettdecke krallen. Muss ich mir jetzt in allen Variationen anhören, knapp dem Tode entronnen zu sein?! Dass ich nicht das Zeug besitze, mich mit Cheeta zu messen?!

"H- hey! So war das nicht gemeint! Tut mir ja leid, aber... so ist es nun mal..." Sie schweigt einen Moment lang, in dem ihr Gesicht einen sehr besorgten Ausdruck annimmt, als grabe Trauer sich hinein und ließe sie altern. "Es ist ja auch hauptsächlich meine Schuld. Ich hab versucht, dich zu warnen..."

"Wovor?! Dass es hier nur so wimmelt vor diesen Wiedergängern?! Na schönen Dank!"

Sie schüttelt ihren Kopf, bis sie ganz kleinlaut erklärt: "Nein... explizit vor Cheeta... und den Überfällen." Die Glut meiner Wut fängt an zu schwächeln, ein kalter Schauer Verwunderung landet im Feuer meines Jähzorns und erstickt die Flammen.

Gemächlich setze ich mich im Bett aufrecht und frage: "Du... kennst diesen Kerl?"

"Na ja, nicht so wirklich... ich wusste nicht, wie er heißt, und dass er hinter den ganzen Entführungen in letzter Zeit steckt, die quer in Cardighna stattfinden. Aber glaub' mir, ich vergesse nie, wer die Stätte des gesegneten Schwerts angreift! Nicht mal, wenn er kein Gesicht hat!" Ich bin vollkommen baff. Bin ich etwa dem Strippenzieher alle dessen begegnet?!

Nicht ganz, wie Sira beiläufig bemerkt: "Leider ist mir dennoch nicht bekannt, wer sein Meister ist."

"Sein Meister?"

"Na, der Umbramant, der ihn zum Leben erweckt hat! Tote stehen nicht so einfach auf, dazu braucht es Magier, die unbelebte Objekte mit Leben füllen!", erläutert die Víla, "Diese Magier nennt man Umbramanten, manchmal hab ich genauso die Bezeichnung 'Schwarzmagier' gehört... Umbramantie ist einer der größten Frevel, die man begehen kann! Sie ist ein Eingriff in göttliches Gebiet, ein Terrain, das uns Sterblichen versagt ist!" Ich denke, ich weiß, was sie meint.

Ich sehe zum Fenster, durch das man in der Ferne den Mons Mortuorum gen Himmel ragen sieht. Leben wird vom Totengott Mors beendet und die heilige Mutter Terra lässt neues Leben daraus gedeihen. Die Grundlehre unseres Pantheons.

"Umbramanten greifen hauptsächlich in den Kreislauf des Lebens ein und gehen mit Seelen um wie mit irgendwelchem Spielzeug!", ereifert sich Sira weiter, "Es gibt scheußliche Geschichten, was sie alles mit Seelen anstellen können... es gibt Adepti Umbrarum, die Seelen als Verkleidung anlegen, andere saugen die Energie aus ihnen heraus und erschaffen daraus magische Angriffe, manche sollen sie Dämonen opfern… tja und fast alle erwecken Tote zum Leben. Und so einer lässt Cheeta grade all die Arbeit machen für irgendeinen Plan. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Umgedrehte König irgendwie damit verbunden ist."

Entkräftet stöhne ich und lasse mich ins Kissen zurückfallen, um statt der Víla wieder die Decke anzusehen. Das klingt alles so weit weg. Nichts, was mich direkt betrifft - aber ich weiß, dass ich spätestens jetzt mit hineingeraten bin und ich mich mehr oder weniger ungewollt verpflichtet habe, dieser Sache auf den Grund zu gehen.

"Sira, ich will stärker werden… und helfen. Was Cheetas Meister tut, betrifft nicht nur dich, mich oder Griselda... sondern wohl ganz Cardighna, nicht wahr? Lass mich meinen Teil dazu beitragen, diesen Typen einen Strich durch die Rechnung zu machen und Cheeta heimzuzahlen, was er getan hat!"

"Wenn du dich wirklich wieder auf so ein Risiko, getötet zu werden, einlassen willst…", erwidert Sira, "Dann werde ich deine Hilfe auch voll in Anspruch nehmen! Also versprich nicht voreilig, was du sowieso nicht halten kannst. Klar?"

"Du verstehst es echt, einem Mut zu machen…"

"Ich bin gerne offen - vor Allem, was meine Aufgabe angeht!"

"Dann solltest du eigentlich jede Hilfe annehmen, die du kriegen kannst!"

Kurze Zeit später beschließe ich, mir nun wirklich die Ruhe zu gönnen, die mir verschrieben worden ist. So kuschele ich mich etwas tiefer in das Kissen, schließe meine Augen und gleite binnen kurzer Zeit ins Reich der Träume, nachdem Sira noch scherzeshalber gemeint hat, der 'Quacksalber' könne sich auf etwas gefasst machen, sollte seine Behandlung nicht wie versprochen wirken.
 

V.
 

Alte Ruinen ragen aus der flachen kilometerweiten Wüste, die sich endlos fortzusetzen scheint. Nur zum süden sehe ich etwas anderes: unter dem Sand ragt eine riesige Klippe hervor, gegen die tief unten das im Abendlicht glitzernde Meerwasser schießt, die Gischt nach oben spitzen lässt und sich dann wieder langsam zurückzieht, bis es das nächste Mal auf die schwarzen Felsen zuschwappt. Wenige Wolken ziehen rasend schnell am Himmel vorbei, obwohl kein Lüftchen weht. außer mir ist alles seelenverlassen.

Und inmitten der Trümmer steht ein kleines Häuschen mit terrakottafarbenen Dachziegeln, während gelb blühender Efeuer sich an der Fassade hochhievt. Die Fenster sind alt und schmutzig, im Inneren des Hauses sehe ich anfangs nur tiefe Schwärze, als ich mich langsam nähere.

Gerade scheint es noch einsam, da schnelle ich schon herum, als eine tiefe, feste Bassstimme mir rät: "Geh dort besser nicht hinein."

Die Stimme passt gut zu dem breitschultrigen und vor Allem kräftigen Mann mit schwarzem glatten Haar, das er sich nach hinten gekämmt hat. Mir läuft aber auch eine leichte Schauer über den Rücken, wenn ich den Mitte-Vierziger mit seinem kantigen Gesicht sehe, aus dem die Nase hervorsticht wie ein gezückter Speer und ebenso spitz zuläuft wie sein markanter Kinnbart. Ein dünner Zwirbelbart sitzt auch noch unter des Mannes Nase über seinen vollen, zu einem leichten Schmunzeln verzogenen Lippen. "Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!"

Verwirrt starre ich ihn an, bis ich schließlich darauf komme, ihn einfach zu fragen: "Wer seid Ihr denn?"

"Ich? Oh, das stimmt, du kennst mich ja nicht..." Sollte ich etwa? "Nenn mich Forsiano! Du bist Malfuss, richtig?"

"Maljus…", verbessere ich. 'Malfuss', soweit kommt's noch…

Forsiano lacht bloß, wobei unter seinem Baumwollhemd und seiner braunen offenen Weste die Muskeln spielen. "Oh entschuldige, mein Fehler!"

Er begutachtet mich einige Minuten, eine unangenehme Stille kehrt ein - bis Forsiano schließlich aus heiterem Himmel sagt: "Als du gegen diese Untoten gekämpft hast, hattest du keine deiner Glanzstunden als Schwertkämpfer, nicht wahr?" Es sticht wie eine Nadel, die mir plötzlich ins Fleisch gerammt wird. Um genau zu sein, präzise dort, wo mein verletzt war. War? Ich starre misstrauisch und erstaunt zugleich auf meinen völlig gesunden Arm, dann in Forsianos ernstes Gesicht.

"Woher weißt du davon und was willst du von mir?!"

"Oh, reiner Zufall, mein Freund.", entgegnet Forsiano mysteriös und seine braunen Augen funkeln, "Und ich bin lediglich hier, um dir etwas zur Hand zu gehen, Maljus. Vorausgesetzt, du bist damit einverstanden?"

"Womit einverstanden? Und was... was hat das alles hier zu bedeuten, ich versteh' das nicht!"

Ich fasse mir an den Kopf, als alles plötzlich ganz verschwommen wird und ich einen leichten Schwindelanfall habe. Es wird umso schlimmer, je mehr ich darüber nachdenke, dass hier irgendwas nicht stimmt.

Etwas klirrt, lenkt mich kurz ab, doch da starre ich schon auf… Himmelsscherben… wie Scherben einer Glasscheibe liegt ein kleines hauchdünnes Stück des Himmels vor meinen Füßen. Alles verschwimmt erneut, es wird dunkel, da packt Forsiano mich an den Schultern.

Er zischt: "Denk nicht so viel darüber nach, oder du bringst uns in Teufels Küche, mein Freund!" Langsam weiche ich zurück, während ich mich zügig sammle. Was, in Animas Namen, ist das?!

Forsiano holt einmal tief Luft. "Ich bin hier, um dich zu lehren! Den Umgang mit dem Schwert, um es deutlicher zu sagen!"

"Du bist auch ein Schwertkämpfer...?" Ich glaube es ihm nicht wirklich. Mit verschränkten Armen beobachte ich die Berge von Muskeln an Forsianos Gliedmaßen. An der Kraft, eine Waffe zu schwingen, wird es bei ihm sicher nicht scheitern, aber ich bleibe vorerst skeptisch: Du scheinst nicht mal ein Schwert zu haben!"

Forsiano lacht auf. "Oh, nichts leichter als das!"

Er streckt seinen rechten Arm aus, formt seine Hand zu einer Faust, welche er ein Stück öffnet, als halte er etwas in seiner Hand umklammert. Und da! Wie aus dem Nichts formt sich eine lange, einseitig geschliffene Klinge, leicht gegen mit gelbem Seidenband umspannte Heft gebogen. Statt einer Parierstange schmückt dieses Schwert ein dünnes Stichblatt aus silbernem Metall, das mit seltsamen verschlungenen Mustern dekoriert ist. "Sieh dir diese Waffe gut an, Maljus, so eine wirst du in Cardighna nur selten zu Gesicht bekommen. Die Elfenvölker im Norden benutzen diese dünnen Schwerter, sie nennen sie... Katana." Ich nicke und präge mir den Begriff ein… welch ein befremdliches Wort, das klingt wirklich nicht nach Cardighnisch.

"Werd ich in der Lage sein, es das nächste Mal mit den Untoten aufzunehmen nach diesen Übungen?"

"Nicht so hastig, nicht so hastig!", mahnt Forsiano mit erhobenem Zeigefinger, "Erst will ich selber sehen, auf welcher Stufe du dich bewegst... immerhin kenne ich nicht viele vom Lande, die ein Schwert auch nur halten können. In einer Akademie hast du das sicher nicht gelernt, wer hat dir das beigebracht?"

Ich kann meinen Stolz schlecht verstecken, als ich antworte: "Von einem waschechten, reisenden Söldner!" Und ehe ich mich versehe, beginne ich weiter zu erzählen.
 

Er ist eines Tages bei uns im Laden aufgetaucht, ziemlich ausgehungert und hat nicht mal ein einziges Kupferstück in den Taschen gehabt. Zwei oder drei Jahre ist das jetzt schon her. Ich erinnere mich noch gut an Fiore, Fiore Fragum, so hat er sich vorgestellt.

Unrasiert und mit stachligen roten Haaren, die sich unter seinem dunklen Bandana hervorgetan haben; so hat er ausgesehen, stets seine schlitzförmigen Augen noch ein Stückchen verengt und mit einem freundlichen Schmunzeln in seinem breiten kantigen Gesicht.

"Umsonst gibt's bei mir nichts, solang du noch laufen kannst.", hat Alids Mann erklärt.

Fiore beharrte darauf, etwas Speis und Trank zu bekommen, bettelte sogar: "Verflucht, seit Wochen habe ich nichts mehr im Magen gehabt! Seid doch wenigstens so barmherzig, mir etwas Milch zu geben!"

Die hauptsächlich lose hängenden Metallplatten seiner Rüstung, die er unter einem Wolfsfell trug, haben aufschreckend gescheppert, als der hellhäutige Menschenmann einen Schritt nach vorne gemacht und Saras Vater angesehen hat.

Alid, wohl genauso durch den Lärm neugierig geworden wie ich, ist in diesem Moment ins Zimmer getreten und hat sich den Kerl in dem nach unten ausfransenden schwarzen Hakama genau besehen.

"Ah, wohl ein etwas abgenagter Exorzist?", hat sie scherzhaft gefragt.

"Ach, als Exorzist würde es mich doch nie in so eine friedvolle Gegend verschlagen.", hat Fiore mit Witz erwidert, "Ich bin bloß ein Söldner, der gleich vor euch aus seinen verschwitzten Latschen kippt."

Alids Mann hat gesenkter Brauen gesagt: "Er hat kein Geld bei sich... ich hab schon versucht, ihn wegzuscheuchen."

"Ich hab's gehört, Schatz."

Anschließend hat sie sich dem Söldner zugewandt und plötzlich ein Angebot gemacht, das besonders mir, wie ich damit beschäftigt gewesen bin, aufmerksamen Ohres die Unterhaltung heimlich mitzuverfolgen und ein wenig die Regale zu ordnen, überrascht hat: "Wie wäre es, wenn Ihr für die Verpflegung ein wenig arbeitet, jemandem... Unterricht gebt. Maljus hier hat zwar ein Schwert, aber kann damit einfach nicht umgehen - er lässt es sich aber auch nicht ausreden, es lernen zu wollen." Ja, ich bin stur gewesen, was das angeht. Auch damals hab ich schon längst die Lust verspürt, eines Tages Welsdorf hinter mir zu lassen und die Welt zu erkunden - und wenn es laut Alid so gefährlich ist, habe ich daraus geschlossen, dass ich mich nur wehren können müsse.

Im Rückblick betrachtet hab ich damit nicht falsch gelegen - aber ich konnte mich halt nicht wehren, als es dann so weit war.

"Na los, komm her, Maljus!", hat Alid mich zu den anderen gerufen.

Nachdem ich mich zu ihnen gesellt hatte, hat mich das erste Mal dieser neugierige gewitzte Blick von oben getroffen.

"Abgemacht!", hat Fiore schließlich gerufen und lauthals gegluckst.
 

"Und schließlich hat er mir dann für fast zwei Wochen Unterricht gegeben, danach habe ich alleine weiter geübt.", erzähle ich, woraufhin Forsiano, ein "Mhm" brummend, nickt.

"Gut, gut... dann lass uns nun zum Wesentlichen kommen!" Er strafft seine Haltung etwas, nimmt das Schwert in beide Hände und hält es gerade vor sich. Ich tu es ihm gleich. "Dem Kampf! Los, greif mich an!"

Spöttisch grinsend fügt er noch hinzu: "Du wirst sowieso von Glück reden können, wenn du auch bloß einen einzigen Treffer landest." Das werden wir ja sehen, du Oberlippenbartträger!

Ich renne, mit dem Schwert nach vorne gerichtet, auf ihn zu. Ich lasse einen Kampfschrei verklingen. Forsiano pariert sofort seine Klinge nur mit einer Hand führend. Beinahe lasse ich das Heft los, als es nach oben gerissen wird.

"Na los, war das alles?" Ich nehme mich zusammen und drücke gegen Forsianos Schwert an, bis dieser plötzlich einen flinken Schritt zur Seite macht und mich ins Leere stolpern lässt. Kaum bin ich gefallen und hab mich hastig auf den Rücken gedreht, spüre ich wieder einmal einen Fuß - diesmal auf meinem Bauch.

Ich starre auf den hauchdünnen Stahl vor meiner Nase.

Seufzend lässt Forsiano von mir ab, stemmt einen Arm in die Seite und beobachtet mich genau dabei, wie ich aufstehen. Es sind keine Worte von Nöten, um seine herbe Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen.

"... Kann ich's noch mal versuchen?" Forsianos Miene hellt sich sofort wieder ein wenig auf. Er ruft: "Selbstverständlich! Los, ich bin bereit!"

Also schön, dies mal werde ich mich nicht so dämlich anstellen! Irgendwie packe ich diesen Brocken schon!

Ich renne erneut auf Forsiano zu, hebe mein Schwert, aber greife nicht an, sondern sehe zu, dass ich hinter den stämmigen Mann gelange, als dieser dabei ist, die Finte abzufangen. Ich schaffe es, schwinge die Klinge, doch der Schwarzhaarige merkt es noch schnell genug, um sich herumzudrehen und die Attacke zu parieren.

"Schon besser!"

Er drückt mich weg und setzt mir nach. Den Schlag von oben wehre ich diesen Mal ab, lasse die krumme Klinge an meiner herabgleiten, ehe ich dem Druck nachgeben muss.

Forsiano lässt mit einer Hand sein Schwert los und weicht meinem Frontalangriff mit einer Drehen zur Seite aus.

Einen Augenblick lang starren wir beide uns in die Augen. "Worauf wartest du?", will Forsiano mit gesenkter Stimme wissen.

Als hätte Forsiano das Startsignal gegeben, stürze ich mich auf ihn. Ich werde zurückgeworfen, Forsianos Schwert beschreibt eine geschmeidige Kurve. Es ist aussichtslos, Forsiano ist bereits dabei auf mich zuzustürmen, um mich zu durchbohren!

"Hey! Das sind doch nur Übungen!" Forsiano hört nicht, Zentimeter trennen die Spitze des Säbels und meine Stirn.

Wie im Wald geschieht alles schneller, als ich es verarbeiten kann, als ich instinktiv meinen Kopf einziehe, geduckt Forsiano entgegenstürme und mein Schwert in die Brust des Mannes drängen lasse.

Ich sehe kein Blut… das Schwert ist durch Forsiano gegangen wie durch Luft.

Er senkt seine Waffe und lässt sie wieder verschwinden. Als er zurück schreitet, ist es tatsächlich so, als existiere er nicht wirklich. Nur eine Illusion, der Stahl hinterlässt keine Spuren und stößt nicht auf den geringsten Widerstand.

Forsiano lächelt, sichtlich amüsiert: "Na also, in deinem mageren Körper steckt also doch ein wenig Kampfgeist und Geschick!"

Entgeisterung ist alles, was ich momentan verspüre. Forsianos Worte gehen zu einem spitzen Ohr rein und zum anderen wieder raus.

"Wie... wie ist das möglich...?"

"Oh. Das? Nun, glaubst du, du kannst mich verletzen... das ist ja immerhin ein Trau-" Er unterbricht sich selbst, bevor er das Wort beendet hätte, aber es ist schon zu spät. Ein Traum, das ist nichts als ein Traum! Jetzt begreife ich das alles, nichts von dem hier ist ech-

Ein unheilvolles Beben lässt die Wüste erzittern, ähnlich dem Schwindelgefühl, das sich in mir breit macht.

die Ruinen brechen endgültig ein, werden mitsamt des kleinen Hauses vom Sand verschlungen, soweit ich das in all dem Wirrwarr meines unklaren Blickes sehen kann. Ein aufkommender Sturm trägt die Wüste hinfort, reißt sie förmlich weg. Die Klippe bröckelt, Risse verbreiten sich in dem vorher noch festen Gestein. Und auch der Himmel… er zersplittert! Bald regnet das Firmament herab, ein Regen aus orangen Tropfen, durch die weiße Schlieren, die Bruchstücke der Wolken, fließen.

Forsiano stößt einen Fluch aus, während er einer Flamme im Wind gleich zu flackern anfängt. Fast hat der Zerfall der Klippe ihn und mich erreicht, da sagt er noch mit leichtem Zähneknirschen: "Wir werden uns noch wiedersehen, Maljus! Bis dahin solltest du auf dich aufpassen!"

Ich kann nichts mehr erwidern, denn im nächsten Moment beginne ich zu fallen, sehe mich selbst hinabstürzen auf das im Nichts verschwindende Wasser zu. Ich bin umgeben von weiter zersplitternden, bis hin zu Sandkörnern schrumpfenden Gesteinsbrocken, weiß nicht mehr, wo oben oder unten ist, links und recht sind plötzlich vergessen, alles war nur noch eine sich wild drehende Leere, in der ich kurz davor bin, aufzuschlagen.
 

VI.
 

Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Hastig atmend und schweißgebadet, sehe ich mich um, bis ich verstehe, was vor sich geht. Ich bin bloß im Gasthof und hab mich schlafen gelegt. Jetzt ist es bereits dunkel draußen, schwaches Mondlicht scheint durch das Fenster.

Ich habe bloß geträumt.

Forsiano… ist er denn wirklich nur die Ausgeburt eines Traumes gewesen? Ich kann mich nicht erinnern, jemals jemanden gesehen zu haben, der ihm auch nur ein wenig geähnelt haben kann.

Was denke ich denn da?! Ich hab nur einen Alptraum gehabt, nichts Ungewöhnliches! Vor Allem nicht nach meinem Kampf mit Cheetas Handlangern.

Mein Herzschlag beruhigt sich und ich atme tief durch. Ein mich aufkeuchen lassendes Stechen jagt durch meinen verletzten Arm. Auch bloß geträumt, dass er wieder heil ist… Verdammt, das hab ich also von der Behandlung und ein wenig Schlaf?!

Grimmig verlasse ich das Bett, hebe die Decke vom Boden auf und werfe sie zurück auf die Matratze. Mir ist danach, etwas frische Luft zu schnappen, aber kaum bin ich am Fenster angekommen, erleuchtet ein Blitz die Nacht. Erschrocken weiche ich zurück, was hat das nun zu bedeuten?! Soweit ich sehen kann, ist die Nacht sternenklar! Ist das ein Blitz aus heiterem Himmel gewesen? Ich bin mir nicht mal sicher, dass der Blitz von oben gekommen ist… es hat so ausgesehen, als sei er nach oben gewandert, aber er ist viel zu schnell gewesen.

Dann spitze ich jedoch nach unten. Unten vor dem Fenster steht eine Gestalt. Langsam öffne ich es, beuge mich leicht nach draußen und versuche, im Dunkeln auszumachen, wer die Person ist.

Als ich dann den spitzen Hut erkenne, ist der Fall klar: Es ist Griselda.

"Ein wenig spät, um zu üben, nicht wahr?", rufe ich ihr zu.

Ertappt dreht sie sich zu mir um und lächelt, peinlich berührt, während sie sich im Nacken reibt. Sie fragt: "Oh, hab ich dich etwa geweckt?"

"Nein, nein…", winke ich ab. Dann aber reibe ich mich das Kinn und will nach einigem Bedenken wissen: "Hast du das auch gestern Nacht auf diesem Bauernhof gemacht? Da warst du auch mitten in der Nacht wach!"

"Du musst das verstehen, ich brauch einfach ein wenig Übung! Immerhin... ist noch keine Hexenmeisterin vom Himmel gefallen!" Das bringt mich zum Grinsen. Ich rate ihr: "Bleibt nur zu hoffen, dass andere entweder geschlossene Vorhänge oder genauso viel Verständnis haben wie ich, sonst wird das schlimm enden. Also, gute Nacht und..." Ich hebe die Schultern. "... viel Spaß, nehme ich mal an."

"Schlaf gut, Maljus!", wünscht sie mir.

Ich schließe das Fenster und krieche zurück unter die Bettdecke. Man, ist dieses Mädchen eigentlich jemals des Nachts nichtwach? Schon das zweite Mal ist das jetzt, dass ich mich zu so später Stunde mit ihr unterhalte.

Ich für meinen Teil kann mir jetzt zumindest Besseres vorstellen, als zu trainieren: nämlich schlafen! Die Müdigkeit schleicht sich wieder in meine Glieder und für einen Moment flackert Forsiano wieder vor meinem geistigen Auge auf. Ein kleiner Gedanke keimt in mir: Und was, wenn Übung und Schlaf vielleicht sogar dasselbe sind?

Seufzend lege ich mich ins Kissen zurück. Ich sollte wirklich erst morgen wieder weiter grübeln…
 

VII.
 

Es folgt am Morgen wieder eine der unzähligen Episoden, dass Sira mich zur unheiligsten Stunde von allen bereits weckt. Da hab ich endlich fest geschlafen wie ein Stein, dies mal nichts Verrücktes geträumt und wieder genossen, wie das ist, in einem normalen Bett zu ruhen - und hätte das noch deutlich länger tun können - aber die Víla muss mich natürlich wieder den Armen des Schlummers entreißen. So stehe ich notgedrungen bereits im Morgengrauen auf, erledige noch den morgendlichen Abortbesuch, kleide mich vollständig an und stelle dann fest, dass der Heiler offenbar doch gute Arbeit geleistet hat.

"Fast so gut wie neu…" Ich muss grinsen, als ich mir meinen Arm anschaue, und auch Sira scheint sich zumindest ein wenig zu freuen: "Gut zu wissen - dann können wir jetzt ja weiter, oder?"

"Meine Güte, Sira, man soll Luna nicht mehr hetzen, als Sol es schon tut! Darf ich wenigstens noch ein Frühstück zu mir nehmen, bevor es weiter geht?"

"... Du gibst vorher ja sowieso keine Ruhe." Musst du grade sagen…
 

Gestärkt und reisefertig hocken wir später auf meinem Pferd, nachdem Griselda sich ebenfalls fertig gemacht hat. Nun steht ihr die Müdigkeit doch noch etwas ins Gesicht geschrieben, aber ich bin mir sicher, dass sie der Ritt schon wach bekommen wird, ha!

Wir reiten das Hügelland hinauf, gelangen schließlich auf die Felsstraßen von Ardnas und galoppieren über die bestens in Takt gehaltenen Straßenpflaster vorbei an stufenförmigen Feldern und lichten Wäldern der nördlichen Grenze Rosetum-Rubicundums. Dasist endlich ein mal das, was ich erwartet habe! Ich hab so eine breite und allein durch ihre Länge prächtige Straße noch nie gesehen. Nun so frei über sie hinwegzureiten, sich den Wind durch die Haare wehen zu lassen, während sich die Sonne langsam hervorwagt um uns mit kitzelnden Strahlen zu empfangen, gefällt mir doch wirklich gut! Es lässt mich zufrieden schmunzeln und die Eindrücke aufsaugen wie ein ausgetrockneter Schwamm.

Nicht bloß der wolkenlose Himmel ist eine Augenweide, nein, auch die sich hin und wieder die steilen Hänge hinaufwindende und scharf abknickende Straße, an der hier und da pittoreske Häuschen und dichte Olivenwälder warten, hat was! Des Öfteren sehen wir malerische Wasserfälle, die laut Griselda zum Fluss Jemis gehören, der hoch oben in den Bergen entspringt. Sein hübsches Antlitz plätschernden Wassers unter den alten Steinbrücken, die über ihn führen, sind nicht das einzige, was ich an ihm schätze.

Auch dass ich meine bereits knapp gewordenen Vorräte an ihm auffüllen kann, ist mir mehr als recht. Hin und wieder kann ich dabei sogar den ein oder anderen Fisch bei Tänzen in der Strömung beobachten. Solche Wassergeschöpfe wie diese habe ich zuhause noch nie gesehen. Da gibt es bloß dieses winzige Rinnsal, in das sich nur warzenüberzogene und hässliche Kröten verirren, die mich mit ihrem Quaken viel mehr nerven als entzücken.

Nun und schlecht schmecken tun diese Fische auch nicht, wie ich zur Mittagszeit feststelle, nachdem ich ausgezehrt vom Fangen, Ausnehmen und Zubereiten - das ist mir dann doch wieder vertraut von zuhause, wenn Alid krank war, und Sara ja schlecht selbst kochen kann - von dem zarten Fischfleisch koste.
 

VIII.
 

Irgendwann später, als Griselda wohl wirklich wacher und damit auch gesprächiger geworden ist, wirft sie in das Pfeifen des Windes in unseren Ohren ein: "Sagt mal, was genau wollt ihr zwei eigentlich in Ardsted?"

"Ich wüsste nicht, wieso wir dir das erzählen sollten." Ich verenge meine Augen bei Siras unfreundlicher Antwort und zische: "Geht's noch ein bisschen bärbeißiger?"

"Entschuldigung…" Sie klingt gekränkt. "Ich war nur interessiert, weil wir in so kurzer Zeit bereits so viel durchgemacht haben. Das gestern, das war schon…" Sie gerät ins Stocken, sucht nach Worten, wobei sie Löcher in die Luft starrt, als würden die dünnen Wolken, die mittlerweile aufgezogen sind, sich in Buchstaben verwandeln. "Da hab' ich mich begonnen zu fragen, ob ihr vielleicht wisst, was dieser Überfall zu bedeuten hatte. Nun, ich will nicht aufdringlich wirken, aber zugegeben, jetzt macht ihr mich noch neugieriger als vorher!"

"Tut mir leid, aber das muss unser Geheimnis bleiben! Wir können nicht jedermann, dem wir auf dem Weg begegnen, solch wichtige Dinge erzählen! Du plauderst am Ende nur was aus - und das kann ich momentan wirklich nicht gebrauchen!"

Beschwörend hebt Griselda ihre Hand und verspricht: Ich schwöre, dass ich weder in diesem noch einem folgenden Leben auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlieren werde!"

Sira bleibt stur: "Ja ja... das würde ich dir vielleicht glauben, wenn ich dich schon etwas länger als grade mal einen Tag kennen würde! Heut Abend in Ardsted wird unsere kleine Gemeinschaft schon wieder auseinandergehen, so wie ich das sehe!"

Ich hebe leicht meinen Kopf und drehe ihn zu Griselda herum, um mich zu erkundigen: "Stimmt, was hast dueigentlich vor, wenn du wieder in Ardsted bist? Suchst du nach einem Meister?" Ich gehe einfach mal davon aus, dass es mich mit Adepten ähnlich verhält wie mit Handwerkern.

Zuerst schaut sie mich ganz verwundert an, dann weicht sie meinem blick aus und sagt schließlich geheimnisvoll: "Nun, eigentlich nicht, eigentlich... nun ja, ich ermittle, könnte man sagen. Es gibt da etwas, was ich unbedingt überprüfen muss... es ist sehr wichtig und könnte große Auswirkungen in ganz Cardighna haben!"

"So etwas Ähnliches kann man über unsere Aufgabe wohl auch sagen.", rutscht es mir da raus. Ein ermahnendes Räuspern seitens Sira bringt mich dazu, meine Lippen fest aufeinanderzupressen.

"Plaudertasche…", scheltet sie mich.

Griselda ist bereits Feuer und Flamme und mit einem deutlichen Leuchten in ihren Augen ruft sie: "Das klingt ja so, als sollten wir vielleicht zusammenarbeiten! Sira, du könntest mir doch sicher etwas einfacher dein Vertrauen schenken, wenn ich länger bei euch bliebe, oder?"

"... und ich habe gehofft, Maljus wäre der Einzige, der so stur an einer Idee festhält, wenn er sie sich erst mal in den Kopf gesetzt hat.", seufzt Sira. Ich maßregle sie mit einem kurzen "Hey!".

Danach wende ich mich wieder an die angehende Hexe und muss ihre Freude ein wenig bremsen: "Ichhab diese Entscheidung bereits getroffen, ohne wirklich zu wissen, worauf ich mich eigentlich einlasse... darum will ich, dass du, bevor dudich auf so etwas festlegst, weißt, dass die Strapazen schwerer sein werden, als du dir jetzt vielleicht denken magst. Zum Beispiel dieser Cheeta gestern... bei ihm sind wir uns ziemlich sicher, dass er etwas mit unserer Mission zu tun hat." Gar nicht so recht mit ihr sprechend schiebe ich noch hinterher: "Und du hast gesehen, was mir passiert ist, als ich mich so leichtfertig mit ihm angelegt habe."

Erneut ist der Wind der einzige, der noch seinen eigenartigen unverständlichen Gesang erklingen lässt, die Stimme der Göttin Anima, unmöglich für gewöhnliche Sterbliche zu verstehen, so sagt man.

Ich komme mir seltsam vor, wenn ich so rede wie jetzt grade. Ich hab bloß selten erlebt, dass ich jemanden so einen Rat gegeben habe, ihn um jeden Preis von einer Riesendummheit abhalten wollte. Gart und ich zum Beispiel haben oft Mist gebaut, aber nie war ein Plan dabei, bei dem ich ihm so eindringlich gesagt habe, dass es nach hinten losgehen könnte.

Griselda nickt letztendlich.

"Ich bin mir dieser Gefahren bewusst... und ich will sie mit euch durchstehen, wenn ich herausfinden kann, was vor sich geht. Wir profitieren alle davon, meint ihr nicht?" Siras Überzeugung hält sich dennoch in Grenzen. Der einzige Kompromiss, den sie eingeht, lautet: "Überleg' es dir noch ein mal genau, bis wir in Ardsted sind... wenn du dann wirklich noch denkst, das sei eine gute Idee, werde ich auch dich zur Geschichte des Siegelschwertes führen."

Capitulum III: Ardsted - Eine Stadt mit vielen Gesichtern


 

I.
 

Wahnsinn! Und das in mehrerlei Hinsicht. In eine Stadt wie Ardsted zu kommen, ist Wahnsinn! Es ist der auslegungsfreundlichste Begriff, den ich finden kann, den ich im Angesicht dieser engen überfüllten Straßen innerhalb der Stadtmauern und jenseits des Wassergrabens finden kann.

Überall tummeln sich die verschiedensten Wesen, die in unserem Vielvölkerreich hausen: Hochelfen, blasse Schneeelfen mit eis- und wasserfarbenen Haaren, vereinzelte Alba Occulta, unzählige Menschen, Zwerge und Nymphen, deren aalglatten Häute mal blau-, mal grün- und mal türkisfarben sind, und auch ein paar im Schnitt drei Meter hohe Titanen, sowie prächtig gefiederte Harpyien, von denen viele mit eingeklappten Flügeln auf den Schindeldächern hocken und mit den Bewohnern streiten.

Alle quetschen sich nebeneinander durch den allzu geschäftigen Verkehr in der glühenden Abendsonne. Es ist brüllend heiß und laut, ich fange alle möglichen Gesprächsfetzen in unheimlich vielen Akzenten auf, von denen ich nicht einmal die Hälfte richtig verstehe. Alltagsgespräche, das Geschrei der Händler, die hier und da einfach stehen bleiben, um ihre Stände aufzubauen und Waren anzupreisen, politisch angehauchte Diskussionen über Favoriten für den Ritterschlag, in Ungnade Gefallene oder in Übergriffen verletzte Offiziere, Zwiste zwischen Grundherren und Vasallen, und wahllose Beleidigungen oder Flüche, vor allem über das langsame Vorankommen - wobei ich selbst auch keine weiße Weste mehr habe, denn auch ich steuer regelmäßig mein "Aus dem Weg!" oder "Kannst du nicht aufpassen, du Idiot?!" bei - und hohe Steuern; überall plappern die Völkermassen durcheinander in ihrem eigenen Cardighnisch oder sogar in Fremdländlersprachen. Da frag ich mich echt, wie ein Einzelner sich auf sein eigenes Gespräch konzentrieren kann.

Das schier stundenlange Gedränge durch die Straßen vor den wunderschönen Fachwerkhäusern, zwischen denen bunte Girlanden wie bei einem Fest gespannt sind und an denen Banner mit dem Königswappen, der weinroten Rose auf schwarzem Grund, hängen, findet hier und da ein ende, wenn man einen der riesigen Rundplätze erreicht, um die sich Gasthäuser und Läden scharen wie ein Rudel Aasfresser um einen besonders großen Kadaver. Einrichtungen wie das Lokal Zum bunten Hundoder der Goldschmied Goldene Nasewerben um die Gunst der Versammelten, die sich auf Bänken oder den Rändern der Springbrunnen niedergelassen haben.

Aber auch hier kann ich nirgends Schloss Ardsted sehen, das am Nordwestende auf einem Berg über der Stadt thronen soll.

"Hier findet keineswegs ein Fest statt.", erklärt Griselda, als ich sie auf den Hausschmuck überall anspreche, "Das ist ganz normaler Alltag in der Hauptstadt. Hier möchte man jeden Tag Festtagsstimmung vermitteln!"

Gerade als ich meinen Augen kaum traue, weil ich denke, in all dem kunterbunten Treiben sogar einen Drachen auf seinen vier dürren Beinen entlangschlängeln zu sehen, weist Sira mich an, das Pferd zu den nordöstlichen Stadtteilen zu lenken.
 

II.
 

Und je mehr wir diese Richtung ansteuern, desto verfallener und verlassener wird alles. Keine prunkvollen häuser mehr, nirgends buntes Klim-Bim und keine Barden, die ihr gesammeltes Liedgut zum Besten geben. Die Straßen sind nichts weiter mehr als festgetretener Dreck.

Hierhier ist alles verdrängt worden, was vielleicht ein lukrativer Beruf sein mag, aber einen Geruch verbreitet, der wortwörtlich zum Himmel stinkt. Daneben kann man an all den Holzverschlägen und Ruinen gut erkennen, dass sich hier vor allem das zusammenfindet, was an all dem Trubel und Gedränge einer so zentralen Stadt nicht genug Gewinn schöpfen kann, um sich eine echte Existenz in der Metropole zu schaffen.

Der traurige Anblick schlägt auf mein Gemüt, sodass mich ein beklemmendes Gefühl beschleicht bei dem Anblick zwielichtig aussehender Tagelöhner und diversem Gesindel, doch Sira beharrt darauf, dass dies der richtige Weg sei. Ich hoffe es für dich, denn dieses Loch ist alles andere als das, was ich von der Hauptstadt erwartet hab!

Nach einiger Zeit lässt sie mich das Pferd anhalten vor einem ebenso schäbigen Haufen Baustoffreste, der sich nicht von seinen Artgenossen abzuheben weiß.

Wir steigen vom Pferd und mit einem Nicken werde ich aufgefordert, anzuklopfen. Getan wie von ihrer Majestät Sira befohlen, doch nichts geschieht. Das grüne Gesicht der Víla verliert an Farbe, während ich nach erneut unbeantwortetem Klopfen feststelle, dass ein etwas stärkerer Ruck genügt, um die Tür zu öffnen - ohne sie aus den Angeln zu heben, ich hatte nämlich schon Befürchtungen.

Im Inneren sieht es gar nicht mal so schlimm aus, was jedoch vielleicht nur der Verdienst des Dämmerlichtes ist, das die Einzelheiten gut in sich verbirgt. Ein richtiges Fenster besitzt das Haus nicht, nur ein paar Spalte in den Holzbrettwänden. Das meiste Licht fällt von der Gasse in den einen großen Raum und wirft unsere Schatten lang und verkrümmt auf das Mobiliar.

Sira ruft in das Dunkel: "Hena? Hena, wo bist du?" Es erfolgt keine Antwort. "Bitte nicht...", flüstert sie.

wir finden schließlich eine alte Öllampe in dem breiten schiefen Bücherregal, das die Rückwand verkleidet und entzünden sie. Mehrere Teppiche verstecken den Boden aus Schmutz und ein paar eingelassene Dielen, an der Wand steht ein niedriger Tisch mit ein paar Tongefäßen. Die Feuerstelle ist etwas weiter abseits.

Und in der Mitte klafft, eingerahmt von alten Steinziegeln, ein dunkler Schacht mit einer Leiter. Der Teppich daneben ist beiseite geschlagen.

"Sind wir… deswegen hier?", frage ich.

"Natürlich sind wir das! Ich will euch in die Katakomben führen! Aber… ich hab kein gutes Gefühl dabei."

"Weil dieser Geheimgang offen steht?", vermutet Griselda mit beunruhigtem Blick. Sira nickt schwach.

Ich befestige die Lampe an meinem Gürtel und beginne mit dem Abstieg.

"Los! Schauen wir nach, was nicht in Ordnung ist!"

"Du hast Recht…", murmelt Sira. Griselda aber bekommt Muffensausen: "Da müssen wir wirklich runter?"

"Ich weiß ja nicht, wie du planst, in die Katakomben zu kommen, aber ich kletter hier runter.", stichle ich.

"Na gut, na gut, ich mach ja schon, du großer Held!"
 

III.
 

Modrig ist es in den Korridoren aus glasierten rötlichen Lehmziegeln, die uns am Ende der Metallsprossen erwarten. Fresken laufen unter der Decke die Wände entlang, immer dasselbe Symbol: eine Art dunkle schmale Grimasse. Die Mundwinkel sind drastisch nach unten gezogen, das ganze Gesicht erinnert an einen Qualen leidenden Mann. Und immer wieder starrt dieses Gesicht auf uns hinab, es verfolgt uns auf Schritt und Tritt.

Die Decke ist so niedrig, dass selbst ich mit meiner Körpergröße von einem Meter vierundsechzig aufpassen muss, nicht anzustoßen. Jeder Erwachsene hätte sich ducken müssen.

Sira führt uns sicher durch das unterirdische Tunnelnetz, denn bald geraten wir immer öfters an Stellen, an denen der Weg sich teilt. Manchmal weist er bis zu fünf verschiedene Abzeigungen auf. Lange Treppen geleiten uns tiefer und ganz fein liegt der Duft von Öl in der moosgeruchgeschwängerten Luft, die in den Tunneln steht.

Siras Stimme ist so hauchdünn geworden, dass ich es mit der Angst zu tun kriege. Sie schweigt, wenn sie uns nicht zitternden Tonfalls den Weg weist. Um Terras Willen, was hat sie denn?

Mit der Zeit spüren auch Griselda und ich, dass wir mit nichts Gutem zu rechnen haben, denn Sira sieht so aus, als wisse sie schon längst, dass der Untergang bevorsteht.

Dann ist es soweit: wir gelangen an eine breite Pforte aus mit Pech bestrichenem Holz. An den ehernen Beschlägen hängen große halbverrostete Türklopfer. Ich öffne die schwere Tür, sofort wird der Petroleumgeruch stärker und erfüllt jetzt die Luft geradezu.

Beim Eintreten entdecke ich neben mir plötzlich eine Erhöhung, in der eine tiefe Rille ist. Darin schimmert das Öl, das man hier so gut riecht. Dass ich es anzünden soll, muss Sira mir erst gar nicht sagen. Schon rast die Feuerspur durch die riesige marmorvertäfelte Halle, an den Wänden entlang, über ein Oleumdukt auf Säulen, die den Weg zu einem gegenüberliegenden Podest am Ende der Treppe vor uns säumen, bis hin zu den zwei riesigen Steinschüsseln, die im nächsten Moment hell in Flammen stehen.

Im selben Moment, da die Hitzewelle durch den Raum fegt und alles hell erleuchtet wird, wird uns eiskalt. In der Mitte des Podests am Ende der Halle liegt ein alter Mann! Er ist blutig geschlagen worden und das schon seit einiger Zeit, denn die Wunden sind bereits geronnen, das Blut verkrustet und schwarz!

Wir fackeln nicht lange, sondern rennen zu ihm, Griselda fühlt augenblicklich seinen Puls, während Sira - ich traue meinen Sinnen nicht mehr - in Tränen ausbricht.

"Hena! Oh, Hena, das darf nicht wahr sein!", schreit sie herzzereißend, ehe sich ihre Schreie in ihrem Schluchzen ertränken.

"Keine Sorge... er ist noch am Leben!", versichert Griselda schnell atmend, "Als allererstes bräuchte er etwas Wasser, denke ich, er scheint ganz ausgetrocknet zu sein!" Vermaledet noch mal! Ich hab meine Feldflasche oben gelassen, im Reisesack! In aller Hektik fordere ich Sira auf, mich schnell zurückzubringen, um das Wasser zu holen.
 

Als ich zurückkehre, hat Griselda es geschafft, Hena zu wecken. Er ist noch zu chwach, um zu sprechen, und leert die Feldflasche in einem Zug. Er lehnt sich noch mehr gegen die Balutrade der Erhöhung. Der alte kleinwüchsige Elf, dessen Haut wie Pergament an seinen dürren Gliedmaßen hängt und dessen Altersflecken darauf aussehen wie Tintenspritzer, hustet. Er bringt röchelnd ein leises "Da… danke…" hervor.

"Spar dir deine Kräfte, Hena…", empfiehlt Sira. Hena lächelt daraufhin und erwidert: "Um mich wirklich umzubringen... braucht es etwas mehr. Denn ich widmete mein Leben den Göttern... und dafür beschützen sie es." Seine Augen, welche tief in den Höhlen verborgen und vom Schatten seiner einer Gebirgslandschaft gleichenden Stirn bedeckt liegen, sehen aus wie Fenster zu einer Seele, die sogar noch älter ist, als der Mann es ohnehin schon sein muss. Er könnte sehr leicht älter als hundert sein, schließlich altern wir Albae und die Nymphen ab dem achtzehnten Lebensjahr kaum noch so schnell wie die Menschen. Hena trägt schmucklose lange Gewänder, die über seinen dürren, ausgehungerten Leib hinwegzudeuten versuchen.

"Sira... wer... wer sind diese Kinder?"

"Ich habe mit ihnen den weiten Weg von Welsdorf bis hierher zurückgelegt. Sie wollten unbedingt helfen! Hena... bitte sag mir nicht, du liegst noch seit dem Überfall auf die Stätte vor fast einer Woche hier!" Henas Gesicht verkrampft sich, als würde er weinen, aber keine einzige Träne verlässt seine Augäpfel.

"Doch…!", jammert er, "Doch, Sira! Ich habe nichts ausrichten können! ... Sira, wir... wir haben versagt. Das Siegelschwert... sie haben es zerstört!"

Man kann das Zusammensacken einer fliegenden Víla nur beschreiben, wenn man es wirklich selbst gesehen hat. Ruckartig haben ihre bunten Flügel aufgehört zu schlagen, in der Luft kippt Sira nach hinten um und wird von Griselda in den offenen Handfläche aufgefangen wie ein flügellahmer Schmetterling. Das grelle Grün ihrer Haut ist einem grünlichen Grau gewichen.

"Aus... es ist aus mit uns…", stammelt sie, die Worte zerrissen vor zwanghafter Selbstbeherrschung, nicht in komplette Hysterie auszubrechen.

Also sind wir zu spät gekommen. Nein, erkenne ich mit beginnender Frustration; wir hätten nie rechtzeitig da sein können. Das Schwert ist bereits seit dem Überfall zerstört, infolgedessen Sira verschleppt worden ist.

Der Sockel, in dem die Klinge einst gesteckt haben mochte, ist leer, nur noch ein winziger Splitter des Wertes liegt noch daneben. Verdammt noch mal!

"Das heißt... der Umgedrehte König ist jetzt frei...?!"

"Jetzt noch nicht…", sagte Hena und richtete sich langsam auf, um zur Rückwand der Halle zu gehen. Goldene Riliefe, wieder mit dieser schmerzverzerrten Grimasse, waren dort angebracht. Doch eines, das unscheinbarste meiner Meinung nach, erweist sich als Fortsetzung eines langen Metallstrebens in der Wand, den Hena ein Stück herauszieht. Er dreht ihn unter Ächzen um und dumpf ertönt so etwas wie das Klicken eines Schlosses, das geöffnet wird.

Hena bittet mich: Junge... bitte öffne die Tür gar... mir fehlt die Kraft."

Ich werfe Sira und Griselda noch einen mitleidigen Blick zu und packe dann das Relief, um es wie eine Türklinke zurückzuziehen. Hinter der Tür aus Ziegeln befindet sich eine riesige dunkle Steinplatte, in die altcardighnische Texte und kunstvolle Bilder eingemeißelt sind. "Dies hier... ist die Legende des Umgedrehten Königs."

Hena räuspert sich und fährt mit seiner faltigen aderunterlaufenen Hand über die erste Darstellung. Grässliche Wesen, vergleichbar mit Dämonen, mit Klauen und scharfen Zähnen bewehrt, mit widerlich grinsenden Gebärden und wildem Haar klammern sich an eine große Scheibe, klettern von unten empor und greifen mit den Händen nach den Ländereien auf der Scheibe. "Diese Geschichte... ereignete sich vor mehr als fünfhundert Jahren, irgendwann um das zweitausendsechshundertste Jahr des Aenea Aetas. Damals fiel eine riesige Bande aus dem Süden, die Umgedrehten Männer, über unsere Welt her..."

"Weshalb... weshalb nennt man sie überhaupt so?", kann ich endlich die Frage stellen, die mir schon seit meiner ersten Begegnung mit Sira auf der Zunge brennt.

Gena spricht weiter, als habe er keinerlei Kenntnis genommen: "So weit aus dem Süden kamen sie, aus dem Land, wo alles andersherum ist, sie kamen von... der anderen Seite der Erde." Er flüstert nur noch, als fürchte er, die Genannten könnten auftauchen bei der Erwähnung ihrer Heimat. "Ganz gleich, ob wir an eine kugelförmige oder flache Erde glauben."

Ich starre die Steintafel eindringlich an… von der anderen Seite der Erde. Wie weit weg das wohl sein mag? Haben sie dort gehangen oder gestanden, wie sind sie je hierher gelangt?

Einer... von ihnen... stach besonders hervor.", erzählt Hena weiter. Er deutet dabei auf das zweite Bild, wo eine der Abscheulichkeiten einen bärtigen Mann mit Toga, Krone und Zepter, offenbar einen hohen Herrscher, mit seinen Klauen aufspießt und dessen Blut in dem gezeigten Thronsaal vergießt. Das Bild ist erschreckend detailliert, ich kann Griseldas Gesichtsfarbe in Schreckensbleiche umschlagen sehen beim Anblick. "Er eroberte die Ländereien unserer Welt, zerriss das alte Cruenta Terra, tötete letztendlich sogar Kaiser Gerian I. de Las Xertos... man sagt, der Dämon soll zu diesem Moment kurz davor gewesen sein, sich die gesamte Welt einzuverleiben. Kriege im Volk, um sich greifende Seuchen und sich rasend schnell ausbreitende Hungersnöte waren die Begleiter seiner grauenvollen Feldzüge. Jedoch..."

Hena hustet und muss einen Augenblick lang die Geschichte unterbrechen. Er braucht Zeit, um tief durchzuatmen, als der Mantel aus Erschöpfung sich wieder auf seine alten Schultern legt.

"Doch die Götter konnten nicht länger einfach auf dieses Monstrum herabsehen, das sogar die Frechheit besaß, sie respektlos und brüllend wie ein Barbar herauszufordern.", spricht Sira auf ein mal weiter, nachdem sie Griseldas Hände verlassen und sich wieder in die Luft begeben hat, "Sie alle gegen ihn alleine, so soll er es verlangt haben, als die Priester ihn demütigst baten, es nicht zu weit zu treiben." Sie fliegt zu dem vierten Bild, auf dem der Umgedrehte König mit den Lumpen der Kaiserskleider verhüllt mit nur seiner einen Hand die Zeigefinger verschiedenster Götter aufzuhalten vermag. So unterschiedlich gestaltet sind die göttlichen Hände, man kann ohne eine komplette Darstellung unserer Weltschöpfer erkennen, um wen es sich handelt. Die dürren, nur noch aus Knochen bestehenden Finger zum Beispiel gehören eindeutig zum Totengott Mors, das efeubeschmückte sanfte Händchen ist ohne Zweifel das der Terra, der sonnenuhrartige Auswuchs auf einer anderen Handfläche weist sie einwandfrai dem zum Gott erhobenen Mathematiker und Erfinder der Zeit Tempus zu und noch viele, viele weitere Gottheiten sind auf so einfache, aber doch brillante Art dargestellt.

"Doch diese Kraft reichte nicht aus, schon längst war der Umgedrehte König niemand mehr, der sich so bezwingen ließ. So beschlossen die Götter, dieses Böse in das Totenreich zu verbannen und nie wieder zurückkehren zu lassen - und dafür brauchten sie einen Sterblichen an ihrer Seite, der den Kampf für sie stellvertretend Angesicht zu Angesicht führte." Ein junger muskulöser Mann reckt auf der nächsten Darstellung seine Waffe, einen prächtigen Beidhänder in die Höhe. Vier der göttlichen Hände berühren die lange Klinge. "Der auserwählte Sterbliche, der die Kraft von hundert Mannen besaß, den Mut einer gesamten Einheit und ein Herz rein wie ein Diamant, bekam einen Teil der Kraft der vier Elementargöttinnen... Magna Mater Terra, Susurrans Anima, Caeca Aqua und Fovens Ignis gaben ihm die Macht, Berge zu spalten, die Winde zu befehligen, das Wasser aufzuwiegeln und Feuer aus seinen Händen schießen zu lassen."

"Und somit... fand der Umgedrehte König sich bald gefangen... eine Hülle aus Stein hielt ihn fest, war geflutet mit eiskaltem Wasser, doch das Feuer ließ ihn gleichzeitig kochen und brennen, während die Winde sein Gesicht peitschten." Hena zeigt auf das letzte Bild, wo genau dies dargestellt ist. Hände, Füße und Kopf verschwinden von innen in einer Kugel aus Fels, in der das Wasser hier und da gefror, wo anders Flammen den Leib des Dämons belecken und brachiale Kratzer im Stein die schneidenden Winde zeigen. Und dort, wo der Kopf im Stein eingeschlossen ist, steckt das Schwert, mit viel Kraft in den Stein gerammt, der langsam in einem dunklen See versinkt.

IN PERPETUUM LABORET ET NUNQUAM APRICUM VIDEAT NEC UNQUAM IN IMPERIUM MORTALIUM RECURRAT NAM ISTE CORRUPTOR CUI NOMEN DIABOLUS SIT EST steht darunter. Ich kenne mich zwar mit der Altcardighnischen Sprache nicht so gut aus, aber ich kann erahnen, was in diesen paar Zeilen steht. Unverzeihliche Sünden muss der Umgedrehte König begangen haben, um so eine zweifelhafte Gedenkstätte bekommen zu haben.

Während Griselda wie gebannt weiterhin auf die Zeichen starrt, geht meine Aufmerksamkeit zurück zu Hena, welcher - fast übertönt vom Prasseln des Feuers - erklärt: "Das Siegelschwert ist wie eine Schraube, es hält die Kräfte der Göttinnen seit dem Versenken dieser Kugel im Totenreich zusammen... noch mögen sie den Umgedrehten König festhalten, aber ohne die Schraube werden sie auseinandergehen... hinforttreiben, sich unkontrolliert freisetzen und irgendwann diese Bestie freigeben."

Wer tut denn so etwas überhaupt?! Was hat jemand davon, wenn er dieses Siegel bricht und diesen Berserker wieder auf die Welt loslässt?!

Cheeta hat den Überfall veranschlagt und Sira hat gesagt, er könne nur der Diener eines anderen sein. Also wer steckt dahinter und weshalb tut er das? Diese Legende ist mehr als ein halbes Jahrtausend alt und diese Zeitspanne ist sogar für Elfen lang. Heute scheinen außer Griselda und mir nur der alte Mann und die Víla von dem Schwert zu wissen.

Hena seufzt langgezogen, ein Seufzer, der durch die Jahrtausende hindurch zurückgehalten worden zu sein scheint. "Ich weiß nicht, wie das passieren konnte... überall waren plötzlich diese Untoten. Ich habe noch versucht, sie aufzuhalten, aber sie haben mich zurückgedrängt... nachdem sie Sira entführt und dann noch das Schwert zerbrochen haben, war ich so feige, mich tot zu stellen, ich war entkräftet und fühle mich immer noch entwurzelt."

"Dir blieb nichts anderes übrig…"

"Und jetzt… gibt es auch nur eins, das getan werden muss…!", beginnt Hena düster und schaut besonders mich vielsagend an. "Wir müssen eine neue Schwertweihe durchführen. Wir müssen die Gnade der Göttinnen finden und ein anderes Schwert zum Siegel werden lassen."

"Etwa... etwa meines…?!", frage ich ungläubig. Jetzt wird es mir zu verrückt! Ein Schwert weihen…? MeinSchwert?!

Sira schaut Hena genauso verwundert an. Sie versichert sich noch mal: "Wir… wir können wirklich ein neues Schwert weihen?!"

"Wir haben nur dieses, dein Schwert, Junge; es ist besser als nichts. Und dieses… müsst ihr jetzt genau den Regeln der Weihezeremonie nach zu einer heiligen…" Er röchelt. "… Waffe machen. Sira, auch wenn du schon seit Ewigkeiten… nicht mehr wirklich durch Cardighna gerist bist… du weißt doch sicher noch ungefähr, wo… wo sich die Wunder der vier Göttinnen befinden, oder?"

"Aber natürlich, Hena! Das heißt also…"

"Ja…", raunt der alte Alba, "Die Göttinnen… konnten nicht direkt mit dem Auserwählten in Kontakt treten… genauso wenig wie sie selbst den Kampf… haben führen können. Um den Auserwählten dennoch ihre Kräfte empfangen zu lassen, hat jede der vier Göttinnen ein Wunder bewirkt, das… bis heute noch Bestand hat. Die Klinge muss… in ihnen gereinigt werden."

"Und was sind das für Wunder?", bin ich jetzt neugierig.

"Ich weiß nicht mehr, welcher Art diese Geschehnisse waren, doch wie Hena sagte: ich könnte die Orte, an denen sie sich befinden, selbst nach einem landesweiten Erdbeben wiederfinden! Und ihr zwei, Maljus und Griselda... ihr werdet mir zur Hand gehen, wie ihr euch dafür entschieden habt!"

Ich spüre ein Kribbeln, überall auf meiner Haut, in meinem Magen, ja selbst in meinem Kopf überkommt mich ein ganz neues Gefühl, eine wirkliche Abenteuerlust, viel stärker als meine einfachen Sehnsüchte nach neuen Erfahrungen. Meine kunterbunten Fantasien von der Außenwelt wachsen in ungeahnte Größen, die Farben meiner Vorstellungen werden viel klarer, sodass ich mich schließlich nach einem tiefen Luftzug, infolgedessen alle Zweifel, die mich zur gleichen Zeit abholen wollen, weggeweht werden, einverstanden erkläre: "Gut! So sei es denn, ich werde bei der Weihe des Siegelschwerts helfen, wie ihr es wollt, Hena und Sira!"
 

IV.
 

Nachdem wir Hena nach oben ins Haus gebracht und Griselda bei ihm gelassen haben, um sich um den alten Mann zu kümmern, sind Sira und ich noch einmal ins Heiligtum zurückgekehrt.

"So, und was willst du jetzt noch mal hier?", fragt Sira. Ich entgegne: "Dass ausgerechnet du nicht von selbst drauf kommst - ich will sehen, ob es Spuren zu finden gibt! Cheeta und seine Truppen müssen irgendwie ja zur Stätte gekommen sein."

"Ha, und wenn wir uns nicht verlaufen, finden wir raus, dass sie lediglich einen anderen Eingang zu den Katakomben benutzt haben als wir! Großartiger Fortschritt! Wenn es Hena schon besser ginge, hätten wir uns gleich darauf vorbereiten können, zum Mons Mortuorum zu reisen! Nein, stattdessen widmest du dich einer zum Scheitern verurteilten Suche!"

Ich bleibe abrupt stehen und schaue Sira wütend an, dann frage ich außer mich: "Ist es dir wirklich so egal, wer euch das hier angetan hat?! Wer das Siegel eines Monsters dazu bringt, zu versiegen und scheinbar wahllos Mädchen entführen lässt?! Wer Hena hat blutig schlagen lassen?!" Anfangs hält Sira meinem wutentbrannten Blick noch stand, schließlich gibt sie jedoch nach, zieht eine mitleidserregende Schnute und erwidert nichts mehr, sondern führt mich das letzte Stück zur Stätte.

In der Nähe der Eingangstür ist nichts zu finden, was darauf hindeutet, dass Cheeta samt seiner Einheit aus einem der anderen Gänge gekommen sind.

In der Marmorhalle brennt noch immer das Feuer und leuchtet alles gut aus. Auch die zersplitterten Steinstatuen, die überall stehen.

"Unglaublich...", empört sich Sira. Sie bedauert, wie die Kunstwerke binnen eines Angriffes vollkommen entstellt worden waren: "Sie haben hier gewütet, als wollten sie mit diesen Denkmälern auch unseren Glauben niederreißen… ob Cheetas Meister lediglich ein hassgeleiteter Häretiker ist?"

"Wir werden das schon rausfinden!", versichere ich und halte die Augen offen nach irgendetwas, was uns weiterbringen kann.

Nach langen Minuten des Suchen, das ohne Erfolg geblieben ist, lasse ich mich nachdenklich gegen die Wand sinken. Ich erschrecke, als die Wand einen Augenblick lang unter schleifenden Geräuschen nachgibt, ein wenig nach hinten rutscht, doch dann wieder standfest wurd. Verwundert drehe ich mich um, begutachte die Marmorplatte und grabe meine Finger schließlich in die Ritze zwischen den Platten.

"Hast du was gefunden?" Sira ist schnell wie der Blitz bei mir, da öffne ich auch schon die versteckte Pforte. Stolz grinsend zeige ich auf den finsteren Durchgang und lache: "Da haben wir ihn ja, den Eingang! War doch nicht verkehrt, mal nachzusehen, was?"

"Unser Gegner weiß nicht nur von dieser Stätte, sondern auch von einer ganzen Reihe anderer Geheimnisse...", knirscht Sira, während sie sich langsam von meinem Wissens- und Tatendurst anstecken lässt, "Schauen wir doch mal, wie gerissen er noch sein wird, wenn wir seinen Spuren weiter folgen!"
 

Nach einer Weile wachsen die Ausmaße des Ganges erheblich an, statt nur einer Person hätte jetzt genauso ein Zehnmanntrupp Platz. Die Decke ist in einer Schräge so weit nach oben gelaufen, dass das einzige Wesen, das sich jetzt noch beugen müsste, ein ausgewachsener Titanenmann wäre. Der Wandschmuck dafür nimmt in gleichem Maße ab, bald schon ist der Gang nichts weiter mehr als ein mit Steinpflaster ausgelegter Bergstollen, der steil aufwärts führt.

Sira hält mich davon ab, die Fackelreihe zu meiner Linken und Rechten zu entzünden, es könne jemanden am anderen Ende der Passage warnen. So bin ich weiterhin auf das Licht der Lampe angewiesen. Bleibt bloß zu hoffen, dass das Öl nicht vorzeitig verbraucht sein wird.

Da höre er auf einmal Schritte, ganz schnelle, hastige, die Füße setzen nur für Sekundenbruchteile auf dem Boden auf, und schon springt jemand mir entgegen, sich mit den Fäusten auf mich stürzend. Ich springe im letzten Moment zur Seite, wirbele herum, um einen Blick auf den Angreifer zu erhaschen. Der ungefähr gleichaltrige, junge Kerl mit den dichten, braunen Locken, welcher sich aus den Schatten geschält hat, funkelt mich entschlossen an.

"Wer zum Henker bist du?!", frage ich den Jungen. Er trägt edle, eng anliegende Gewänder wie einem hochrangiger Dienstbote. Goldene Muster zieren sein schwarzes ärmelloses Jackett, aus dem die weißen aufgebauschten Ärmel seines Seidenhemdes herausgucken. Ein scharfkantiges Gesicht ist dem Unbekannten zu Eigen, der keine Antwort gibt, sondern nur einen kurzen Schrei loslässt und wieder zuschlägt.

Diesmal entgehe ich ihm nicht, knapp am Magendreieck vorbei drücke seine steinharte, geballte Hand sich in meinen Körper hinein. Ich muss würgen und taumle schwindelnd und nach Luft schnappend zurück. Was für ein Wahnsinniger ist das denn?!

Ich gehe noch ein paar weitere Schritte zurück, schon schnellt der Braunhaarige wieder los. Schnell das Schwert blankgezogen und einen schnellen Schlag ausgeführt, aber der Angreifer springt einem Wiesel gleich zur Seite, rennt aus der Hocke los und schlägt nach meinem Gesicht.

Ich fange die Faust mit meiner Linken ab. Glücklicherweise bin ich mit dem anderen Jungen ungefähr gleichauf, was das Kampfgewicht aneht, und kann ihn gut zurückhalten. Als ich mit dem Schwert zuschlagen will, ist der Fremde es, der michaufhält, mein Handgelenk festhält und sein Bein hochschnellen lässt. Er trifft und erneut wird mir speiübel. Mit gesenktem Kopf starre ich meinen Kontrahenten an, wie er siegessicher grinst.

Nicht mit mir!, denke ich, atme noch einmal durch und mobilisiere all meine Kräfte, um ihn ein wenig zurückzudrücken, ehe ich ihm eine kräftige Kopfnuss verpasse. Ich schubse den angriffslustigen Pagen gegen die Wand des Ganges, wo er schließlich stehen bleibt und sich an die Schläfe fasst. Das hat gesessen!

"Gar nicht mal so übel…", meint der Braunhaarige dann mit fester, aber japsender Stimme, "Und ich dachte schon, ich würde hier als Wachposten vor Langeweile verrotten. War wohl gar nicht so falsch… dass mein Onkel damit rechnete, dass sich… irgendein Trottel hierher verirrt."

"Der Trottel ist wohl eher der, der mir… grade bestätigt hat… dass ich auf der richtigen Spur bin. Danke!" Aus meinem Augenwinkel schaue ich gequälten Lächelns zu Sira. Sie bleibt lieber bei der Sache und hält ihre Augen auf den jungen Mann gerichtet, der in ein heiseres Lachen verfällt, ehe er Gift und Galle spuckt: "So? Du hast wohl keine Ahnung, mit wem du sprichst! Spotte noch mal, wenn du hier lebend rauskommst!"

Er greift an, aber ich haue mit dem Schwert nach ihm, ziele auf seinen Arm und erwische diesmal auch. Die weiße Seide saugt sich voll mit dem Blut, das aus der Wunde fließt, Stunden teurer Webarbeit sind ruiniert. Der Unbekannte springt vor Schmerz zischend zurück.

"Ich glaube, bevor du mir genug Knochen brichst, dass ich ernsthaft in Gefahr sein könnte, wärest du längst an ein paar Schnittwunden verblutet!", lasse ich den anderen wissen. "Verrate mir wenigstens, wie du heißt!"

"Mein Name ist Aaron. Merk' ihn dir gut, das wird der letzte sein, den du hören wirst!" Er grinst zu meiner Überraschung. "Ich soll also verbluten? Woran denn bitte?" Er reißt sich den Ärmel vom Leib, nur um eine von bereits vergossenem Blut umrandete, völlig verheilte Stelle vorzuweisen.

Was?! Aber ich hab ihn doch eben noch- diese Verwirrung macht mich unachtsam, sodass Aaron sein Glück riecht. Ein unerwarteter Kinnhaken wirft mich zurück, zu Boden. Ah, das fühlt sich an, als habe er meinen Kiefer ausgerenkt! Dieses Arschl-

Aaron hebt seinen Fuß, um mir ins Gesicht zu treten, in seinem eigenen leuchtet bereits die Schadenfreude, bis Sira ihm einer wildgewordenen Biene gleich in selbiges fliegt. Der Schreck sitzt und drängt Aaron weg.

"Du kleines Miststück, verschwinde!" Er schnappt mit der Hand nach ihr.

"Deine Deckung ist offen!", rufe ich, nachdem ich aufgestanden bin und ehe mein Schwert einmal quer über Aarons Torso saust. Der junge Mensch schreit seinen tiefen Schmerz heraus und stolpert rückwärts weg von mir. Unter seinem Gewand rutscht eine kleine, schmucke Kette hervor, als die Wunde mit einem Mal beginnt, sich wieder zu schließen. Ein lupenreiner Edelstein hängt daran, hat gerade noch violett geleuchtet und ist nun wieder erloschen.

Aaron spuckt trotz der Heilung kurz Blut auf den Boden und muss erst wieder zu Atem kommen.

"Der Kerl hat einen Seelenstein!", stellt Sira währenddessen fest.

"Washat er?!"

"Einen Seelenstein! Dieser Bursche ist ein Umbramant! Hör zu, in diesem Edelstein ist Energie gespeichert, wenn nicht sogar ganze Seelen, die er irgendjemandem abgezapft hat! Damit regeneriert er in kürzester Zeit seine Wunden!"

"Schlaues Flattervieh…", bemerkt Aaron zähneknirschend und wischt sich das restliche Blut vom Mundwinkel. Er packt den Seelenstein. "Mit diesem kleinen Wunderwerk kannst du mich noch so oft verwunden und ich werde nicht daran zugrunde gehen!"

"Und was ist, wenn ich dir dieses Kleinod abnehme, du aufgeblasener Adept?!", erwidere ich trotzig.

Ich schlage nach Aaron und dem Kettchen gleichzeitig. Sofort hechtet Aaron beiseite, aber ich bin noch nicht fertig und bohre ihm das Schwert in die Schulter. Die Wunde verheilt zwar, doch für einen Augenblick ist Aaron vom Schmerz gelähmt. "Du bist weder unverwundbar noch unsterblich, Aaron! Du erleidest trotz Allem Schmerzen, die dir auch der Seelenstein nicht nehmen kann!" Ich schwinge mein Schwert und durchtrenne die Kette. Leise klimpernd fällt der Stein auf den Boden, in der Dunkelheit kaum sichtbar. Aaron reißt sein linkes Bein nach oben, schwingt es wieder hinab und direkt auf meine Hände. Reflexartig lasse ich mein Schwert los, das nun ebenfalls zu Boden gleitet. Fürchtend, Aaron könnte mir die Hand gebrochen oder zumindest verstaucht haben, stecke ich dann noch eine saftige Linke ein und lande schließlich auf meinem Hosenboden.

"Hochmut kommt vor dem Fall, was?", spottet Aaron abfällig grinsend, "Ich habe meinen Schutz verloren und du deine Waffe - was denkst du, wer von uns hat nun die besseren Chancen?" Ein weiteres Mal versucht Sira, Aaron in die Quere zu kommen, doch diesmal fegt er sie einfach beiseite.

Er knackt mit seinen Handknöcheln. Er kann es offenbar kaum noch erwarten, mir jetzt gar den Rest zu geben. "So, und nun mach ich kurzen Prozess mit dir, du grünäugies Spitzohr!"

Wenn mir jetzt nichts einfällt, ist es vorbei! Aaron ist kein unbegabter Kämpfer und seine Wut beflügelt seine Kräfte sicher auch noch. Dieser Irre hat das Ziel so klar vor Augen, dass-

Mein Gedankengang stoppt, als der Geistesblitz in mich fährt. Im selben Moment schlägt Aaron zu.

Ich habe gegenüber diesem Menschen einen eindeutigen Vorteil, einen, der mir seit meiner Geburt gegeben ist.

Ich packe meine Lampe, lösche das Licht und weiche mit einer Rolle zur Seite schnell noch aus. Nun ist es stockfinster auf dem langen Korridor, man kann nicht mal mehr die Hand vor Augen sehen. Ich gebe mir nun größte Mühe, mich so lautlos wie möglich zu bewegen. Aaron ahnt zwar, wo ich mich befinden mag, aber ich weiß es bei Aaron genau. Mein feines Elfengehör macht sich hier wirklich bezahlt - und Aarons ständige Flüche und Beschimpfungen es nur noch einfacher, ihn genaustens zu orten.

Als schließlich der Moment gekommen ist, an dem Aaron mir perfekt den Rücken zugewandt hatte, renne ich auf ihn zu, ramme ihm seine Faust ins Gesicht und remple ihn anschließend zu Boden, wo Aaron sich hustend sammelt.

Er keucht: "Du kleine Ratte… na warte, jetzt weiß ich, wo du bist!" Und dennoch verfehlt er, als er wieder auf die Füße springt und auf mich losgeht, welcher ihm davon springt.

Ich nutze die Gelegenheit schließlich, Aaron einen kräftigen Schlag in den Nacken zu verpassen. Ein abgewürgter Schrei entweicht dem Braunhaarigen noch, ehe er hörbar auf dem kalten Boden zusammenbricht.

"Der schläft 'ne Weile…", stelle ich stoßweise atmend fest und wische mir den Schweiß von der Stirn. Dann drehe ich mich zu dem grünen Leuchten, was wohl zu Sira gehört.

Obwohl ich gewonnen habe, ruft sie gleich: "Du Idiot! Wieso hast du die Lampe ausgemacht?! Kannst du mir mal sagen, wie wir jetzt hier wieder rauskommen?" Ich suche kurz noch den Boden nach seinem Schwert ab, finde es schließlich und stecke es schnell zurück, bevor ich antworte: "In einem so gerade verlaufenden Gang kann man sich wohl nur schwer verlaufen. Dass hier eine Wache war, lässt mich außerdem annehmen, dass wir so gut wie am Ziel sind."

Ich merke kurz auf, als ich am Boden auch noch den Seelenstein finde. Ich fühle einen kleinen Riss in dem magischen Schmuckstück. "Was machen wir eigentlich mit dem Ding?"

"Na was wohl? Hau ihn noch mal ordentlich auf den Boden, damit wir ihn bloß los sind! Die wenigen noch darin gefangenen Seelen können wir dann wenigstens in die Freiheit entlassen, denn glücklicherweise sind Seelensteine nicht besonders stabil. Sie sehen zwar wie Edelsteine aus, sind aber ungefähr so hart wie… ein wenig roher Kalkstein." Auf ein 'Probier es aus' warte ich gar nicht mehr, sondern schmeiße den Edelstein hinab, trete noch einmal hinterher und spüre Zufriedenheit in mir aufschäumen, als ich das Teufelsding unter meinem Fuß knirschen höre.
 

V.

Sira hat sich wenig später dazu breitschlagen lassen, blindlings den Weg fortzusetzen und so gelangen wir schließlich zu einer niedrigen Treppe, über der sich eine dünne Steinplatte hochheben lässt. Endlich wieder ein wenig Licht, auch wenn es durch einen dicken, weinroten Vorhang gedämpft wird.

Als ich aus dem Gang klettere, befinde ich sich in einem winzigen Erker. Die Wände sehen lang nicht so heruntergekommen aus wie die in den Katakomben, nein, sie sind schneeweiß, sogar mit feinem Stuck geschmückt.

Gerade will ich vor Erleichterung aufatmen, als ich Stimmen hinter dem Vorhang höre. Mir klopft das Herz prompt bis zum Hals.

"Und das ist alles, was du mir zu vermelden hast, Cheeta?", frage eine dunkle, angenehm sanft klingende Stimme mit einem herzhaftem Gähnen. Nur leise höre ich einen gewissen Unmut aus ihr heraus.

"Meister, was denkt ihr, wieviele junge Maiden es in ganz Cardighna gibt? Meine Männer haben bereits genug damit zu tun, sich unbemerkt durch die Wälder und Gebirge zu kämpfen!", entgegnet Cheeta schnaubend.

Ich höre, wie der andere Mann sich irgendetwas einschenkte und deute die kurze Stille so, dass er es trinkt. Nach einem Seufzer fährt er fort: "Cheeta, deine Entschuldigungen langweilen mich so sehr, dass mir nicht mal mehr der Wein wirklich schmecken will. War immer noch keines der besonderen Mädchen dabei?!"

"Nein, Meister Dyonix… alle magischen Proben haben fehlgeschlagen… Das wäre sicherlich auch nicht anders gewesen bei den Gören aus den südlichen Wäldern."

"… Was soll das heißen, Cheeta?", wird Dyonix da plötzlich hellhörig. Etwas knirscht, klingt wie die Antwort eines Sessels darauf, dass der Unbekannte, der darin sitzt, sich vorbeugt.

"Der Soldat, den ich damit beauftragt habe, diese blöde Víla zu entsorgen, ist bislang nicht zurückgekehrt. Vermutlich haben ihn die Dorfbewohner auseinandergenommen, viel gehört schließlich nicht dazu bei diesen hirnlosen Marionetten… trotzdem ärgerlich, vor Allem weil diese zwei Trottel, die einen einfachen Bauerntölpel in Keslynth für mich übernehmen sollten, genauso spurlos verschwunden sind!" Ich horche auf, mit dem 'einfachen Bauerntölpel' muss ich gemeint sein, genauso wie ich es gewesen bin, der den Skelettkrieger im Wald erledigt hat!

Dyonix zieht scharf die Luft ein. Er murmelt ungehalten: "Manchmal glaube ich, dass die Überreste meiner Mahlzeiten bessere Untote abgäben als du und deine Mannen!" Er wird lauter. "Also muss ich annehmen, dass diese Sache noch nicht gegessen ist und die Víla womöglich sogar noch am Leben ist?!"

"Meister, wir sprechen hier von einem geflügelten Weib, das ungefähr so stark ist wie eine Grille! Was soll das schon ausrichten?" Den Geräuschen nach zu urteilen, steht Dyonix nun auf - ruckartig. Von Teppichboden gedämpfte Schritte dringen durch den Vorhang.

"Genau deswegen bist du nur mein General, Cheeta, weil du diesen Sinn für Perfektion nicht besitzt!", sagt Dyonix. In seiner Stimme schwingt mit, dass er den Knochenmann nicht so recht als irgendwelchen Respekts würdig empfindet. "Ich habe lange auf diesen Moment hingearbeitet, weißt du? Ich bin so weit aufgestiegen, sogar bis zum Cardighnischen Premierminister, zum Consultor Maximus! Wenn ich auch nur das kleinste bisschen verpatzt hätte, könnte mein Plan jetzt noch wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen! Und ich müsste aus diesem wunderschönen, bequemen Schloss ausziehen…" Ich glaube, ich höre nicht richtig. Also sind wir in Schloss Ardsted, im Regierungssitz Cardighnas! Und wir belauschen gerade den zweitmächtigsten Mann im Staat, wie er Pläne schmiedet, die alles Andere als dem Wohle des Königreiches dienen! Das ist doch nicht fassbar!

Ich zeig ihm mal, wie schnell ihn sein Patzer ins Verderben führen wird, indem ich nämlich jetzt da reingehe!

Aber Sira hält mich zurück, zischt mir ins Ohr: "Du spinnst doch, du kannst doch jetzt nicht mit einem hochrangigen Politiker so eben kurzen Prozess machen!"

"Befehl deinen Männern sofort, sie sollen die Augen offen halten, Cheeta, vor Allem nach der kleinen Selet… ich will nicht, dass jetzt in der Endphase meines Planes etwas schief geht. Wir haben das Siegelschwert zerstört, die Kräfte der Göttinnen entladen sich bereits und in Kürze wird unser geschätzter Basgorn die große Zeremonie einläuten!", lacht Dyonix hinter dem Vorhang und Cheeta stimmt in den Ausdruck des bevorstehenden Triumphes mit ein.

Er meint: "Es ist sowas von durchtrieben, ausgerechnet einen Priester vom Terrakloster den Diabolus selbst beschwören zu lassen! Aber es könnte nicht besser sein, Meister Dyonix."

"Natürlich nicht, Cheeta! Aber nun sieh' zu, dass du von hier verschwindest, ich habe nicht mehr viel Zeit, Gustere will mich gleich bei einer wichtigen Verhandlung dabei haben. Er wird bald hier einschneien… dieser Noch-König!" Wieder lachen die beiden. Cheeta verabschiedet sich unter dem hörbaren Zusammenraffen seines Umhangs und auch Dyonix verschwindet nach kurzer Zeit aus dem Zimmer. Ich wage noch immer nicht, mich wieder zu bewegen, oder gar einen Blick hinter den Vorhang zu werfen. Sira stupst mich an der Nasenspitze an und zischt: "Nun los, wir müssen sofort zurück!"

"Wie, aber was…? Wollen wir nicht diesem Kerl nachstellen?!"

"Momentan haben wir Wichtigeres zu erledigen! Hast du nicht gehört?! Sie wollen demnächst einen gewissen Basgorn den Umgedrehten König aus dem Totenreich zurückholen lassen! Und das direkt im Terrakloster! Los, los, das müssen wir den anderen sagen und dann sofort alles für eine Reise zum Mons Mortuorum vorbereiten!"

Ich zögere, starre den Vorhang an, als werde er dadurch zur Seite geschlagen. Ist das richtig? Ich kenne jetzt den Namen des Schurken, der hinter allem steckt - aber nicht sein Gesicht. Auf das Drängen Siras hin drehe ich mich um und verschwinde wieder im Geheimgang.
 

VI.

Zurück in Henas Haus - Aaron ist noch immer bewusstlos und den Geheimgang haben wir n weiser Vorraussicht lieber wieder geschlossen - tragen Sira und ich dem alten Weisen und der jungen Hexe vor, was uns widerfahren ist.

"Der Cardighnische Premierminister Dyonix also…? Und ihr seid euch wirklich sicher?"

"Er selbst sagte, er sei der Consultor Maximus und Cheeta nannte ihn Dyonix.", bestätige ich dem alten Mann, "Ihr klingt so, als habet Ihr Zweifel?"

"Oh, nicht wirklich… ich habe schon lange nichts mehr mit der Politik dieses Königreiches zu tun. Nun heißt ein Premierminister eben Dyonix, vorher hieß er beispielsweise Herald oder Jikwos, bisher hat das dem Königshaus noch nie geschadet. Doch nun stehen die Dinge anders."

"Bestimmt plant er einen Umsturz des Königs, anders kann es nicht sein!", ruft Griselda ganz Feuer und Flamme, "Dyonix ist schon, seit ich gedenken kann, im Amt, er muss ein wahnsinniges Wissen über die Vorgänge in Cardighna haben!"

"Und er klang so zielsicher, dass wir uns nicht zu früh freuen sollten, ihm auf die Schliche gekommen zu sein! Denkt nur, er sprach davon, seinem Ziel so nahe zu sein, alles was fehlt ist, dass dieser… wie hieß er?" Sira kratzt sich nachdenklich an der Stirn, nuschelt etwas davon, dass die ganzen Mühen, die sie auf sich genommen hat, wohl langsam doch ihren Tribut einfordern.

"Basgorn?", werfe ich ein.

"Ja, richtig, alles was fehlt ist, dass dieser Basgorn irgendein Ritual abhält. Und er sitzt direkt im Terrakloster, ich könnte kochen vor Wut! Ausgerechnet an einem der vier Wunderorte!"

"Dann wird wohl Eile geboten sein, was?", will Griselda ganz nach Reisen dürstend wissen. Ein einziger Blick von Sira genügt ihr als Antwort, schon erhebt sich die junge Hexe von dem Hocker, auf dem sie gerade noch gesessen hat und will wohl zeigen, dass sie bereit ist, sofort aufzubrechen.

Mir jedoch ist das nicht so einfach recht, also erhebe ich Einspruch: "Nun mal nicht so schnell! Ihr wollt jetzt sofort gleich weiter? Wohin genau überhaupt?"

"Na, zum Terrakloster natürlich! … Du weißt schon, auf dem Mons Mortuorum!" Ich ziehe eine Schnute, ja, ja, natürlich weiß ich das - ohne jemals überhaupt von der Existenz dieses Ortes gewusst zu haben.

Sira hüstelt: "Maljus kennt sich nicht besonders gut in der Gegend hier aus… eigentlich in so ziemlich gar keiner, außer vielleicht den südlichen Wäldern." Staunend - fast schon beeindruckt - guckt die Silberhaarige mich da an.

"Ein richtiger Waldelf also?"

"Nun, wir leben nicht auf den Bäumen, falls du das jetzt denkst… so wirklich naturverbunden sind nur noch die Alten, auch meine Familie hat sich nie viel aus dem Wald gemacht. Er bietet Schutz, Nahrung und auch Baumaterial, aber für uns ist er keine Gottheit oder dergleichen!" Wäre besser, das gleich jetzt zu sagen, nicht, dass Griselda sonst noch was von mir denkt; dass ich irgendeinem Barbaren gleich barfuß durchs Unterholz schleiche, mich mit jungen Jahren im Schlangenkampf geübt hätte oder was man den Urahnen des Elfengeschlechts noch so nachsagt, wenn nicht sogar andichtet. Die Bezeichnung 'Hochelf' gefällt mir da doch wesentlich besser.

"Aber zurück zum Wesentlichen - wenn die Damen damit einverstanden sind, würde ich nämlich noch gerne eine warme Mahlzeit einnehmen - das gehört schließlich auch dazu, wenn man neue Erfahrungen macht, nicht wahr?"

"Und da wollte er uns noch weis machen, er sei kein bisschen primitiv!" Aufgeregt zuckten meine Ohren bei Siras zynischer Bemerkung. Griselda derweil sieht hellauf begeistert aus.

"Nichts lieber als das! Das Essen in Ardsted ist fantastisch, es gibt nichts, was wir nicht haben! Frischesten Fisch vom Salzigen Tal und der Gersaitbucht, saftigstes Bergziegenfleisch, würzigste Kräuter und schmackhaftestes Gemüse von den Feldern außerhalb der Stadt und natürlich herzhaftes Fladenbrot aus den Räucheröfen! Ich kenne da ein wunderbares Lok-"

"'Wir'? Kommst du etwa aus Ardsted?", harkt Sira Griselda das Wort abschneidend nach, worauf diese ausweichend antwortet mit: "Nun ja, ich habe hier einige Jahre meines Lebens verbracht." Sie überspielt ihre leise Nervosität mit einem Lachen. "Wollen wir dann los? In mir tut sich jetzt auch schon richtig der Kohldampf auf, jetzt, wo ich so drüber nachdenke!" Das ist doch ein Wort! Ich kann's kaum erwarten, all diese Leckereien zu probieren!
 

VII.
 

Sich von Hena verabschiedend und ihm versprechend, bald mit froher Kunde zurückzukehren, verlassen wir das Armenviertel, tauchen wieder ein in das Ardsted des schönen Scheins und Prunks, wo ein Tagelöhner seltener ist als ein Kraniosteon oder eine nicht ganz so überfüllte Straße.

Griselda führt mich mit genauen Weganweisungen zum Forum Duo Regum, auf dem eine Reiterstatue der Königsbrüder Jeremis und Jokus an die Zweikönigszeit erinnert. In prächtige Harnische gepackt sitzen die Enkel unserer Landesmutter Cardighna von Ardsted auf dem sich aufbäumenden Ross aus Marmor, während Jokus seinen Bogen gespannt und Jeremis seinen Gladius in der Rechten hält. Ganz so viel Begeisterung, wie all die um die Statue sich drängenden, edel gekleideten Scholaren kann ich aber beim besten Willen nicht aufbringen, höre ich doch auch noch mit einem Ohr Griselda zu, die mich mit allerhand Wissen über dieses Lokal, das wir aufsuchen wollen, vollstopft.

Dass ich plötzlich wie wach gerüttelt bin, der jungen Dame überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr schenke und kurz mein Pferd anhalte, liegt nur an einem einzigen Mann, der sich aus der Menge zwängt. Er wirft mir einen kurzen undeutbaren Blick zu und geht wortlos an mir vorüber.

Forsiano! Das war grade eindeutig Forsiano, der sich nicht nach mir umdreht, als ich ihm mit offenen Mund nachstarre. Mein schwarzhaariger Mentor geht mit schnellen, aber nicht hektischen Schritten auf ein Gasthaus zu, das da den Namen trägt: Zum Fass ohne Boden

Ich greife die Zügel, lenke das Pferd herum und lasse das Tier bis dorthin traben. Ich werde überschüttet von Fragen, was ich vorhätte, ob ich wirklich in diese überteuerte Spielunke wolle und was mich überhaupt auf so eine Idee bringe - sowohl Sira als auch Griselda halten mich für verrückt.

Ich höre nicht zu, steige ab und trete in den Gästeraum ein. Der Alkoholgeruch ist so penetrant, dass er in meiner Nase brennt, das hohle Klacken der Bierkrüge, die gegeneinander geschlagen wurden im fröhlichen Gelage, erklingt so musterlos und zahlreich, dass das Gehämmer in einem Steinbruch nicht mithalten könnte. Die Holzbalken der Decke verschwinden in grauem bis braunem Rauch von teurem Tabak oder billigen Kräutermischungen, die in Pfeifen vor sich hin kokeln.

Wo ist Forsiano denn jetzt? Ich sehe nach links, sehe nach rechts, starre zum Tresen, an dem ein richtiges Mannsweib die Stammgäste bedient, oder Zimmer vergibt, aber da ist der breitschultrige Oberlippenbartträger auch nicht.

Noch in Gedanken versunken, wo ich weiter nach ihm suchen sollte, schlägt mir plötzlich jemand auf die Schulter. Zusammenzuckend und überrascht schaue ich hinter mir hoch, zu dem mich anlachenden Gesicht.

"Mensch, dass wir uns so früh schon wiedersehen, hätte ich nicht gedacht!" Mit einem halb geleerten Bierkrug in der Hand und bis über beide Ohren grinsend guckt Craylo mich an. Der ist auch hier in Ardsted?

Der Magier scheint sich prächtig zu amüsieren und noch ehe ich ein leises 'Hallo' herausbringe, entdeckt er auch schon Griselda. "Ah, die gute Dame ist auch wieder da, wie schön! Es scheint ja doch noch mal alles gut gegangen zu sein!"

"O- oh, Herr Craylo! Das ist aber eine Überraschung!", erwidert Griselda flatterig, "Deswegen bist du also hier rein, du hast ihn schon gesehen, was, Maljus?"

"Dass ich das noch erleben darf! Jemand, der Craylo einen Besuch abstattet - ohne von ihm ein wenig geborgtes Kleingeld fürs Bier wieder zu kriegen!" Die hämisch zu lachen beginnende Stimme klingt, als ertöne sie aus dem Nichts. Ich sehe mich sofort nach dem Ursprung ihrer um, aber zu niemandem in der Nähe will dieser schrille, gackernde Ton passen. Craylos Mundwinkel rutschen etwas herunter.

"Aber Carod, nun sag doch nicht sowas! Du weißt doch genauso, dass Craylo vorbildlichst diesen Kindern geholfen hat! Es ist nichts Außergewöhnliches, dass sie sich dafür bedanken!" Eine weitere Stimme, viel sanfter als die andere, aber noch ein wenig höher, gesellt sich in unsere eigenartig werdende Unterhaltung. Hör ich jetzt schon Stimmen?!

Nein, auch Craylo wird zunehmend aufgeregter, da meldet sich die erste der beiden Stimmen aus dem Nichts wieder: "Oh ja, Craylo, der große Held! Beschwatzt die Schwachen und lässt die Starken die Arbeit machen! Hey, Craylo, es geht das Gerücht, du brauchst Geld für ein weiteres Bier? Hier sind offenbar zwei, die dir das Geld mit vollen Händen entgegenwärfen!" Ich verstehe überhaupt nichts mehr und der Magier zischt irgendetwas, bis er sich räuspert. "Ignoriert das besser.", rät er uns.

Ein Grinsen schleicht sich plötzlich in sein Gesicht. "Da fällt mir ein… so richtig vorgestellt habe ich mich ja noch gar nicht. Lasst mich das nachholen!" Er wirft seine Hände empor, schon entbrennen zwei helle Flammen über seinen Handflächen, spalten kleinere Kügelchen aus Feuer ab, die sich zu einem wellenförmig auf- und abschwingenden Kreis formen. Mit einer weiteren raschen Handbewegung taucht der Rauch plötzlich von der Decke hinab, schlängelt sich um den Feuerkreis, bis sich winzige Schuppen aus dem wabernden Graubraun schälen und ein echsenartig zulaufender Kopf mit langer Mähne und schnaubenden Nüstern sich bilde. Die drachenartige Schlange beißt sich schließlich in den eigenen Schwanz, immer noch um den Kreis gewunden, da löst Craylo seine beiden Dolche von seinem Gürtel, wirft sie empor und überkreuzt seine Arme, die Finger so weit spreizend, wie er nur kann. "Mein Name ist Craylo, ich bin…"

Die funkelnden Klingen in Schwarz und Silber rasen hinunter. Kurz bevor sie den Boden berühren, fliegen sie wieder hinauf, knapp an Craylos Händen vorbei und köpfen den Drachen aus Rauch, während das Feuer mit einem Mal wieder erloschen ist. Gebannt haben Sira, Griselda und ich alles mit angesehen, von der Vorstellung so perplex, dass wir die plötzliche Stille im Gasthaus gar nicht wahrnehmen. Man hätte eine Stecknadel fallen lassen können, Craylo haucht bloß noch: "… Magier!"

Mit den Knöcheln wird auf die Tischplatten geklopft, wo die Krüge scheppernd erzittern, geklatscht wird wie nach einem bestens besuchten Theaterstück, grölend jubeln die Tavernenbesucher Craylo zu, was er mit einem zufriedenen Grinsen wahrnimmt. "Na, war das beeindruckend?"

"Oh, wie lange ist das her, dass ich einen richtigen Schaumagier gesehen habe!", platzt es aus Sira heraus, die sich aus meinem Kragen bewegt und auf Craylo zufliegt, dem sofort alle Gesichtszüge entgleiten. "Ich dachte schon, es gäbe sie gar nicht mehr, diese wunderbaren Gaukler, die Magie so wunderschön darstellen können!"

"Schaumagier? Gaukler?! Heißt das, der Mann ist nichts weiter als ein Taschentrickser?!" Griselda ist empört. "Und ich dachte schon, hier stünde ein großer Magier vor mir, kein Bauernfänger oder Scharlatan!!"

"Nein, nein, nein, Ihr versteht das falsch, ich binMagier, junges Fräulein, ganz ehrlich!"

"Lass dich nicht kränken, Craylo, es können genauso wenig Leute sagen, so geschickt mit magischen Flammen, Ranken, Rauch, Wind und Erdbrocken solch ein Spektakel inszenieren zu können, wie für den Kampf verwendbare Magie zu wirken!", versuchte die hellere Stimme zu trösten, "Außerdem beherrscht du immer noch Telekinese! Das ist sogar noch seltener, eine wirkliche magische Veranlagung zu haben! … Und na ja, sprechende Dolche sind wohl genauso ungewöhnlich!" Meine Augen gleiten sofort zu den beiden Dolchtaschen, obwohl ich mir sicher bin, dass der uns schon wieder einen Bären aufbinden will. Es soll ja schließlich neben Magiern, Untoten und Dämonen auch Bauchredner geben, doch da seufzt Craylo und im selben Moment meldet sich die andere Stimme: "Uns erwähnt dieser seelische Beistand für Arme natürlich zuletzt! Hey ihr Leute, die Ihr uns grade anschaut wie das Wunder von Carlem! Ihr habt die große Ehre, die einzigen beiden sprechenden Dolche der Welt zu beglotzen! Ich bin Carod!"

"Und mein Name ist Dorac, freut mich, Euch kennenzulernen!"

"Jetzt ist aber gut, ihr zwei, seid ruhig!", zischt Craylo mit verschränkten Armen. Seine Lippen haben sich zu einem flachen, dünnen Strich zusammengepresst. Er macht Anstalten, sich aus dem Staub zu machen, kann seinen Blick aber nicht so recht von Sira lösen, die immer noch vor seinem Gesicht schwebt.

Nach einer Weile fragt er aufgeschmissen: "Und... mit wem habe ich hier noch das Vergnügen?"

"Äh, das ist Sira, sozusagen meine eigene kleine einzigartige Begleitung!", sage ich, packe die Víla und setze sie auf seine Schulter. Zähneknirschend frage ich: "Was ist denn aus deiner eigenen Penibilität, 'unsichtbar' zu bleiben, geworden?!" Sie schaut beleidigt zurück, weiß nichts Rechtes zu erwidern und verkriecht sich wieder in meinem Kragen.

Nach einem Räuspern erkundige ich mich: "Apropos Begleitung, wo ist denn der andere Exorzist, dieser A-"

"Alex?", fällt Craylo mir wie aus der Armbrust geschossen ins Wort, "Der sitzt da drüben an einem Tisch. Wollt ihr ihn sehen?"

"Gerne! Dann können wir uns auch noch mal richtig bei ihm bedanken, wir hatten ja kaum Zeit, letztes Mal miteinander zu reden!", willigt Griselda sofort ein.

Craylo ist anzusehen, dass er froh über diesen Themenwechsel ist und so führt er uns durch die Tischreihen bis zu einem einsamen Ecktisch, wo der blonde Exorzist saß und sich ein duftendes Gulasch einverleibt.

Als der merkt, wer da an seinen Tisch tritt, schaut er auf und schenkt uns allen ein Grinsen, versetzt mit dem Spruch: "Ah, der große Krieger hat sich von seiner letzten großen Tat erholt!" Augenblicklich sinken meine Brauen und Mundwinkel nach unten. Danke für die Blumen. "Na, nun nimm's mal nicht so schwer, Kleiner! Bist besser davon gekommen als deine Gegner! Na los, setz dich hin mit deiner Freundin und lass mich dir was ausgeben!"

Erst, als ich schon den Stuhl unter seinem Hintern spüre, erwidere ich ganz aus der Ruhe: "Äh, Freundin? Meint Ihr Griselda?"

"Wenn die junge Dame so heißt, würde ich das mal annehmen, ja."

"Hehe, das junge Glück ist immer das, was man am liebsten leugnet.", beteiligt sich Carod auch gleich, "Hexe und Schwertkämpfer, zwar nicht ganz so romantisch wie Prinzessin und Ritter, aber um Dorac Freudentränen abzuringen, wird es ja wohl ausreichen!"

"Carod, als Dolche sollten wir uns nicht zu weit aus dem Fenster hängen bei dem Thema Liebe. Da beneide ich diese beiden ja schon! … Und heulen ist erst recht nicht unsere Meisterdisziplin."

"Ha, Craylo wird sicher auch gleich grün, wann hatte der das letzte Mal denn eine-" Mit hochrotem Kopf bedeutet Craylo den beiden, ruhig zu sein, rutscht unruhig auf seinem Platz hin und her. Noch unruhiger sogar als ich, der ganz überrumpelt das Gespräch mitverfolgt hab, das über meinen Kopf hinweg geführt worden ist. Ich sage: "Ihr versteht das falsch, Griselda ist nicht meine Freundin, wir reisen bloß zusammen!"

"Na, wenn du meinst." Alex zuckt mit den Schultern, lehnt sich etwas nach vorne und flüstert mit dubiosem Zwinkern: "Aber was nicht ist, kann ja noch werden." Er zieht sich wieder zurück, isst wieder etwas und winkt die Wirtin herbei. Aus meinem Kragen höre ich derweil Sira kichern: "Wo er Recht hat, hat er wohl Recht."

"Sei doch ruhig!", zische ich.

"Also, ihr zwei, was darf's sein? Fruchtsaft für die Dame und für den Herren ein ordentliches Bier?"

"Was, aber-"

"Also, Frau Wirtin, macht schnell, Ihr habt gehört, was die beiden wollen!", ruft Alex. Schon wieder so irritiert, wie ein Magierlehrling, der in seinem Studienzimmer plötzlich im Platzregen steht, verfolgen meine Augen die Frau, aber ich schaffe es nicht, Einspruch zu erheben.

So starre ich im nächsten Moment auf einen Bierkrug vor mir, während Griselda still grinsend an ihrem Saft nippt.

Craylo senkt seine Stimme etwas und sagt: "Nimm es ihm nicht übel. Er hat auch ein wenig über den Durst getrunken… wenn er nicht hinschaut, tauschen wir die Krüge, alles klar?"

Einen Augenblick später bin ich damit also um eine Sorge ärmer, erlaubee mir, mich etwas zurückzulehnen und nun auch etwas zu Essen zu bestellen.

Craylo ist es, der mitten im stillen Beisammensein, gedenkt, sich zu erkundigen: "Sagt, wohin seid ihr eigentlich unterwegs?"

"Nun, wir hatten eigentlich vor, als Nächstes zum Mons Mortuorum aufzubrechen." Ganz nebensächlich habe ich es klingen lassen, doch dass ich es überhaupt erwähnt hab, ist für Sira Grund genug, mir an den Nackenhaaren zu zerren - ein durchaus unangenehmes Gefühl, wie ich die Zähne aufeinanderschlagend feststellen muss.

Alex schaut bei der Erwähnung des Berges blitzschnell auf und mustert mich eindringlich. Craylo wird ebenfalls kribbelig und verfolgt aufmerksam die Blicke, die gewechselt werden.

"Was wollt ihr da?", fragt der blonde Dämonenjäger misstrauisch.

"Nun, was man eben so am Mons Mortuorum will.", antwortet Griselda schneller, als ich gucken kann, "Der Toten gedenken und ein Gebet für ihr nächstes Leben abhalten. Gibt's da etwa ein Problem?"

"Oh… oh, natürlich. Nein, tut mir leid." In sich gekehrt lässt Alex seine Augen auf die Tischplatte hinabstarren, verschränkt die Hände ineinander. Kommt es mir nur so vor, oder ist es mit einem Mal im gesamten Lokal ruhiger geworden? Eben ist Alex noch überglücklich gewesen, ein wenig aufgedreht sogar, nun introvertiert und wieder so unnahbar wie bei unserer ersten Begegnung.

"Nun, ist das nicht wunderbar? Wir sind zufälligerweise auch zum Mons Mortuorum unterwegs! Vielleicht könnten wir den Weg ja gemeinsam bestreiten!", lockert der silberne Dolch Dorac zu jedermanns Überraschung die Stimmung, "Oder möchtet ihr nicht…?" Ich halte mich mit einer Antwort zurück, bevor Sira mich wieder maßregelt. Da flüstert sie: "Zöger' nicht so und ergreif die Gelegenheit beim Schopfe! Das sind Exorzisten, offenbar auch nicht die eigennützigsten, als Absicherung hätten wir wenig Besseres an unserer Seite!"

"Ja, warum nicht? Ich hätte nichts dagegen.", sage ich also. Siras Plan ist einleuchtend, wenn auch ein wenig hinterhältig. Aber vielleicht kann man die vier ja auch hinterher ins Vertrauen ziehen. Jetzt jedoch drängt die Zeit und wir wissen nicht, wem man wirklich trauen kann und wem nicht.

Alex hebt leicht resigniert seine Brauen und nimmt mich visuell in den Schwitzkasten, sodass ich mich zu fragen beginne, was mit dem Kerl bloß los ist. Schließlich lassen Alex' Augen mich los. Er steht auf und meint: "Na, meinetwegen.", obwohl es in meinen Ohren mehr klingt wie ein "Wenn es unbedingt sein muss.". "Aber wir werden zeitig aufbrechen, also seht lieber zu, dass ihr morgen früh auf der Matte steht!" Er wartet keine Reaktion ab, sondern verlässt schnurstracks den Gastraum.

"Dorac, ich bin so stolz! So langsam hast du den Dreh raus, den Leuten genauso die Laune zu verderben wie ich!", stichelt Carod, als wir anderen still Alex hinterherschauen. Das lässt der silberne Dolch aber keinesfalls auf sich sitzen und ereifert sich: "Ich dachte nur, es wäre schön, ein paar Bekannte zu guten Freunden zu machen! Dann muss ich mich nicht ständig mit dir herumplagen, du alter Miesepeter!"

"Na, na, nun mal ganz ruhig. Aufregen und beschimpfen ist immer noch meine Aufgabe, ja?"

"Weswegen ist er denn plötzlich so aufgebracht?", fragt Griselda, an Craylo gewandt. Als Antwort darauf kratzt dieser sich nervös an der Wange und murmelt: "Nun ja… das… äh… ich denke, das sollte er euch selbst sagen. Ich will ihn nicht noch verärgern, indem ich persönliche Dinge ausplaudere." Seine Unterlippe knetend schiebt er noch hinterher: "Aber so wütend kann er auch nicht gewesen sein, immerhin hat er dann ja doch 'Ja' gesagt."

"Genau!", pflichtet Dorac bei, "Vielleicht ist er nur zu schüchtern, uns seine Freude offen zu zeigen! Das würde zu ihm passen!"

Carod prustet: "Ja, es würde passen zu einem Mann, der so schüchtern ist, dass er dem Wirt in Keslynth direkt hat wissen lassen, was er von den Preisen der Zimmer hielt! Kleines Detail: Fäuste und ein Schwert waren am Ende involviert!" Und gerade habe ich schon begonnen zu denken, Alex sei vielleicht wirklich nur ein wenig unglücklich veranlagt in Sachen Zwischensterbliches. Aber ist wortwörtliche Schlagfertigkeit für einen Exorzisten nicht sogar sowas wie eine Tugend?
 

VIII.
 

Viel geschieht an diesem Tag nicht mehr, wir essen gemeinsam und spielen anschließend mehrere Runden Yömigä. Alex bleibt die ganze Zeit fern.

Als ich mich dann zu Bett begebe, sage ich noch scherzend zu Sira: "Wenn du uns morgen wieder so früh weckst, sind wir bestimmt noch vor Alex reisefertig."

"Ach, du bist ein Depp!", kommentiert sie bloß.

Kaum eingeschlafen, finde ich mich zum zweiten Mal jetzt auf dieser eigenartigen Klippe wieder.

Sie existiert noch? Bin ich nicht letztes Mal in einen sich plötzlich auftuenden Abgrund gestürzt? Doch diese Gedanken lösen sich langsam von mir, bis sie ganz verschwunden sind. Stattdessen finde ich mich in dichtem Nebel wieder, der das Haus im Sand wie einen verschwommenen Umriss aussehen lässt.

Zu dieser Silhouette kommt bald auch schon die Forsianos hinzu, der aus dem Nebel tritt. Er sieht älter aus, macht einen geknickten Eindruck.

"Na, Junge, wir sehen uns also wieder!", begrüßt er mich dennoch mit einem müden Grinsen. Ich erwidere den Gruß mit einem einfachen: "Viel Zeit ist ja nicht vergangen."

"Nein, wahrlich nicht!"

"Ich glaube sogar, dich erst heute gesehen zu haben! In Ardsted nämlich, in der Nähe eines Lokals namens 'Zum Fass ohne Boden'.", komme ich schnell zu dem, was mir siedend heiß eingefallen ist, sobald ich Forsiano vor mir habe auftauchen sehen.

Forsiano aber hebt ungläubig seine Augenbrauen, seine Züge hellen sich zu einem belustigten und beherrschten Lächeln auf, bis er schließlich erwidert: "Mich gesehen? In Ardsted? Das kann nicht sein, ich war noch nie in der Hauptstadt! Das musst du dir eingebildet haben."

Skeptisch senke ich meinen Kopf und meine Augenbrauen zugleich, macht der sich da grade über mich lustig? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Mann in ganz Cardighna gibt, der Forsiano so verdächtig ähnelt!

Mit einem sachten Klopfen auf die Schulter sagt Forsiano dann: "Nun, aber wir sehen uns ja trotzdem! Was sagst du, ist dir wieder nach ein wenig Kampfübung?" Ich lass mich nicht erst lange breitschlagen, sondern nicke ihm bloß zu.
 

Dies mal läuft es schon etwas besser, aber Forsiano ist mir noch immer weit überlegen. Als ich versuche, einen seiner Angriffe abzuwehren, muss ich schon nach kurzer Zeit feststellen, dass ich einen Mann von dieser Statur schlecht aufhalten kann.

Kaum bin ich auf meinem Hosenboden gelandet, erklärt Forsiano: "So wird das nichts, Maljus! Nur ein Dickschädel ist so stur, sich mit mir anzulegen, obwohl er grade mal so ein Würstchen wie du ist!"

"Und was soll ich dann deiner Meinung nach tun? Mich gleich ins Schwert werfen?!", blaffe ich Forsiano im Gegenzug zu der Betitelung als Würstchen an. Der Oberlippenbartträger kommentiert dies mit einem unbeeindruckten Lachen. "Das wiederum würde ein hoffnungsloser Tor machen! Da du mir kräftemäßig mehr als unterlegen bist, musst du dir etwas anderes einfallen lassen, dich auf etwas verlassen, worin ich dir nachstehe. Fürs Erste ist Schnelligkeit eine deiner Stärken. Wenn du meine Angriffe fliehst, treffe ich genauso wenig."

Forsiano überlegt, wobei er ständig an seinem Spitzbart zupft und mich eindringlich anstarrt. "Als du mit diesem Jungen namens Aaron gekämpft hast, hast du auch bewiesen, dass du andere Qualitäten als starke Arme mitbringst. Das mag Glück gewesen sein, oder auch ein schneller Verstand, ich weiß es nicht."

"… Sag mal Forsiano, wieso weißt du überhaupt von all meinen Kämpfen?", kommt mir da in den Sinn. Ich verspüre einen winzigen Anflug von Kopfweh, als ich bedenke, dass das Wissen dieses Manns verdächtig lückenlos ist. Kann eine echte Person all dies wissen? Der Kampf mit Cheetas Laufburschen könnte leicht beobachtet gewesen sein, er hat mitten in Keslynth stattgefunden. Die Auseinandersetzung mit Aaron aber ist tief unter Ardsted, wo man keine einzige Seele vermutet, ausgetragen worden.

"Du stellst Fragen für jemanden, der das Kämpfen lernen will. Sagen wir, ich bin eine Art Geist… fast immer unsichtbar, aber doch da. Und ich bin hier, um eine Aufgabe zu erfüllen." Skeptisch wiederhole ich: "Ein… Geist?" Jetzt will er mich definitiv auf den Arm nehmen.

"Ja, und ich bin in der Welt der Sterblichen, um etwas zu erledigen."

"Was da wäre?", bohre ich neugierig nach. Dem muss man wohl alles aus der Nase ziehen. Im nächsten Moment ist Forsianos riesige Pranke von Hand auf meiner Schulter, ich werde angegluckst und gefragt: "Dich zu einem richtigen Kämpfer auszubilden, was denn sonst?"

Um Einiges schlauer fühle ich mich jetzt nicht, eher lässt es Forsiano noch undurchsichtiger wirken - wie gegensätzlich zu den Geschichten über körperlose Wesen, durch die man hindurchsehen kann wie durch einen dünnen Schleier.

"… Ich sehe, dass du immer noch nachdenklich gestimmt bist.", stellt Forsiano trocken fest und rüttelt mich wortwörtlich aus meinen rasenden Gedanken. Gut bemerkt. "Aber was ist, bereit für eine weitere Runde?" Das muss er nicht zwei mal fragen, egal, was für ein Geist Forsiano ist, wenn er sich schon die Mühe macht, mich aufzusuchen und zu trainieren, will ich das ausnutzen!
 

Schließlich, schier endlose Kämpfe später, aus denen ich noch immer nicht als Sieger hervor gehen kann, lässt Forsiano sein Schwert verschwinden und will, für mich ganz aus heiteren Himmel, wissen: "Sag, Maljus, wie hältst du's eigentlich mit den Mädchen?" Wie vom Blitz getroffen schnelle ich herum und starre ihn an. Wie kommt der denn jetzt auf das Thema?!

"Wieso willst du das wissen?", ist meine sofortige Reaktion, ehe ich nach etwas Überlegen noch anmerke: "Ich hatte bisher eher den Eindruck, dass du mich sowieso rund um die Uhr beobachtest, solltest du da nicht sowieso wissen, was Sache ist?"

"Ah, du hast mich durchschaut! Ich wollte nur sehen, wie du reagierst. Und na ja, in deinen Kopf kann ich noch nicht reingucken, daher muss ich doch noch fragen, ob du nicht vielleicht ein Auge auf eine Maid geworfen hast."

"Ich denke nicht, dass ich momentan die Zeit habe, Röcken hinterherzujagen. Immerhin gibt es einen Premierminister samt Handlangern, den es aufzuhalten gilt!", erwidere ich entschieden. Forsianos Mundwinkel und Augenbrauen zucken mit spöttischem Aufhorchen nach oben.

"Diese Hexe zum Beispiel scheint doch nett zu sein. Und außerdem solltest du dir das nicht so auflasten - du bist noch jung, nicht das Holz, aus dem man legendäre Helden schnitzt. Der Prophezeite von grade mal vierzehn Lenzen?" Er lacht.

Mir wird immer mulmiger. Muss ich mich jetzt auch noch mit Beziehungsratschlägen meines Mentors rumschlagen? Aber irgendwas daran ist faul…

Ich wundere mich: "Willst du mir etwa davon abraten, Sira zu helfen?"

"Das habe ich nicht gesagt.", verteidigt sich Forsiano gelassen, "Ich finde es vorbildlich, wie du dich einsetzt, aber für dein Alter ist das nicht das Richtige, oder? So etwas ist es doch gar nicht, was du dir wünschst, nicht wahr?"

Ich kann nicht umhin, Forsianos Lächeln als schmierig anzusehen und mich bedrängt zu fühlen. Fest sehe ich den Schwarzhaarigen an und halte ihm entgegen: "Selbst wenn das stimmen würde, könnte ich jetzt nicht einfach Sira und Griselda mit ihrer Mission alleine lassen! Weil Sira mir eine Möglichkeit gegeben hat, endlich diesem Wald, der für mich früher die einzige Welt darstellte, zu entfliehen, und weil ich mit diesem Bastard von Cheeta noch eine Rechnung offen habe, bleib' ich dabei!" Mir ist gar nicht aufgefallen, wie laut ich geworden bin, ich habe Forsiano gradezu angeschrieen.

Der nickt überzeugt. "Gut gebrüllt, Löwe.", gibt er zurück, "Ich sehe, dass du deinen Entschluss gefasst hast. Und das ist etwas, worauf man bauen kann!"

"… Bitte?"

"Ich habe dich getestet!", ruft Forsiano, großspurig seinen Zeigefinger erhoben, "Ich wollte sehen, ob es dir auch wirklich ernst ist! Denn ein fester Wille gehört dazu, ein Schwert zu führen. Wenn du zögerst, wirst du deinen Opponenten weder treffen noch besiegen können. Er wird dich erwischen und dem Erdboden gleich machen. Wer das Heft nicht fest hält, kann auch mit der Klinge nicht zielen. Klingt nachvollziehbar, oder?" Dieser Geist steckt voller Überraschungen. Das ist also bloß eine andere Übung gewesen! Nun lache auch ich und fasse mir an den Kopf. "Man, da bin ich dir aber auf den Leim gegangen!"

"Ach was!", erwidert Forsiano, "Nichts, wofür du dich schämen müsstest!" Er senkt seine Stimme etwas. "Aber überlege dir, ob du es nicht doch wagen möchtest, dieses Hexenfräulein etwas näher kennen zu lernen. Tu es lieber, bevor es zu spät ist."

"Dafür hab ich auch später noch Zeit.", lehne ich dennoch ab, um nicht länger darüber reden zu müssen. Das ist ja, als würde Gart mich beschwatzen. Da verspüre ich glatt die Lust, Forsiano selbst auf den Zahl zu fühlen und mal zu fragen, ob er sich denn um eine Herzensdame bemüht. Ich lass es aber lieber.

Forsiano zuckt nur mit den Achseln und brummt ein fast unverständliches "Wenn du das denkst…"

Er macht plötzlich kehrt und entfernt sich ganz unerwartet.

Ich rufe: "Hey, wo gehst du hin, wollen wir nicht noch etwas üben?" Doch Forsiano bleibt nicht stehen, oder kommt zurück, er schaut mich bloß noch ein mal an.

Was für ein glasiger trauriger Blick das doch ist. Was ist plötzlich los, ich begreife das nicht.

Forsiano sagt bloß: "Die Zeit vergeht manchmal schneller, als man denkt."

Da fängt er an, sich in Luft aufzulösen. Dies mal geschieht es ruhig und gleichmäßig im Gegensatz zu seinem flackernden Verschwinden beim letzten Mal. Und auch die Klippe zerbricht dies mal nicht, es tun sich keine Risse im Boden auf, sondern sie verschmilzt langsam mit dem Meer, schrumpft, den Nebel in sich aufsaugend und das Haus sich ebenso einverleibend. Alles flacht ab und wird zu Einem. Übrig bleibt nur tiefe Leere.

Und ich falle rücklings um.

Capitulum IV: Mons Mortuorum - Der Elfenjäger


 

I.
 

Früh beginnt für uns alle der Tag. Obwohl ich am Vorabend nur gescherzt habe, staune ich nicht schlecht, als ich tatsächlich wieder in aller Herren Früh' aus dem Bett geschmissen werde, nur um festzustellen, dass Alex und Carlo bereits kurz nach uns in voller Montur aus dem Gasthaus treten.

Vor der Kulisse eines wie ausgestorbenen Ardsteds im Morgengrauen satteln die Exorzisten ihre Pferde.

"Guten Morgen.", gähnt Craylo.

"Habt ihr eine gute Nacht gehabt?", erkundigt sich Dorac sogleich im Anschluss. Das schwache Kopfnicken, mit dem wir anderen ihm antworteten, ist weniger als überzeugend.

Sira beliebt wieder, in meinem Kragen Verstecken zu spielen. Das wird jetzt auch nichts mehr helfen, so wie du Craylo gestern angefallen hast, aber ich fühle mich noch zu müde, um ihr jetzt reinzureden. Vielleicht hat der Magier ja doch verschwitzt, Alex von der Víla zu erzählen.
 

Erst, als wir die Stadt verlassen haben und mit der aufgehenden Sonne im Rücken über die Hochwiesen reiten, beginne ich ein zaghaftes Gespräch: "Sag mal, Craylo, woher hast du diese beiden Plaudertaschen von Dolchen überhaupt?"

"Von meinem Vater. Sie waren ein Geschenk für meine Aufnahme in die Magierakademie Schola Olspa."

"Und da haben sie schon die ganze Zeit so geschwätzt?"

"Geschwätzt! Schwätzen nennt der das!", ruft Carod ereifert aus.

"Ich bin auch nicht ganz angetan von dieser Bezeichnung…"

"So behandelt man also die Stimme der Vernunft heutzutage, man tut ihre Weisheiten als plumpes Geschwätz ab! Schleimen wäre für Dorac ja noch ganz zutreffend, aber Geschwätz!"

Ich will etwas erwidern, da macht der lautstarke Dolch gleich weiter: "Nun sperr mal deine langen Ohren auf, ja? Denn du wirst es kaum glauben, aber tatsächlich habe ich erst begonnen, mein Wissen weiterzugeben, als ich Craylo in die Hände gegeben worden bin!"

"Soweit ich mich erinnern kann, waren wir vorher normale Dolche wie alle anderen.", erklärt Dorac, erntet aber ein wütendes "Hä?!" von Carod. "Gar nicht wahr, ich konnte mich schon lange vorher hervorragend artikulieren! Nur erst bei einem armen Kerlchen wie Craylo erweichte ich mich dann, das wohlgehütete Geheimnis zu lüften." Craylo weiß nicht so recht, wohin mit seinem bösen Blick, als er knirschend sagt: "Manchmal wünschte ich, Euch nie bekommen zu haben, wisst Ihr das? Und nun seid ruhig!"

"Hm, das muss aber ganz schön gewöhnungsbedürftig gewesen sein - besonders für Euch, Alex, nicht wahr?", wirft Griselda da eine Frage auf.

Alex dreht sich nicht ein mal um, während er antwortet: "Bevor ich diese beiden Tratschtanten kennen gelernt hab', musste ich mich schon mit ganz anderen Quälgeistern rumplagen."

"So wie der sich teilweise verhält, könnte ich mir gut vorstellen, auch zu der Liste von 'Quälgeistern' zu gehören.", rutscht es da mir mit festem Blick auf dem in einem schwarzen Tuch eingehüllten Gegenstand auf Alex' Rücken heraus. Ich fahre augenblicklich zusammen, warum hab ich das grade laut gesagt?! Ich hoffe inständig, dass der Exorzist es nicht gehört hat.

Kaum starrt mich das türkise Augenpaar im Schatten des schwarzen Hutes an, weiß ich, dass mir dieses Glück nicht beschert ist.

Aber zu meiner unverhofften Überraschung nimmt Alex es locker, lässt sich sogar zu einem herausfordernden Grinsen herab.

"Glaub mir, Kleiner: wenn mich diese zwei Dolche nicht groß aufregen können, kannst du das mit deinem Mumm erst recht nicht! Ich find's sogar stark von dir, deine Meinung nicht hinter'm Berg zu halten, das ist mir lieber als das Geschwafel manch anderer Leute!"

"Damit meint er dich, Dorac!"

"Oh, sei doch ruhig!"
 

II.
 

Die Reise dauert mehr als einen Tag, doch die Stunden verfliegen rasch. Nur langsam kann man den Weg von Ardsted auf der heruntergekommenen Via Aevi zurücklegen, ständig windet sich die zu den Seiten abschüssige Straße in langen Serpentinen um die Auswüchse des Bergrückens. Die Pferde scheuen ständig neben den steilen Abhängen und manchmal gehen sie wirklich mit sich selbst durch und haben Griselda und mich fast ein mal abgeworfen, als wir die klippenhafteren Züge des Gebirges passiert haben.

Zudem besteht Alex des Öfteren auf längere Pausen und nach Sonnenuntergang wird schon mal gar nicht weitergereist, verdeutlicht er uns: "Im Dunkeln durch diese Gegend? Das ist ja mehr als lebensmüde, Kleiner!"

Dennoch ist die Reise kurzweilig, zum größten Teil der Verdienst Craylos und dessen ungleichen Dolchpaares. Der Magier weiß Einiges zu erzählen, kennt viele lustige Schwänke und lässt sich immer wieder zu kleineren Magiekunststücken überreden, während Dorac und Carod munter Kommentare abgeben und immer wieder neue Diskussionen anregen.

Etwas stiller ist es dafür am nächsten Tag.

Bei unserer Ankunft an den schmiedeeisernen Toren des Friedhofs bewegt sich Sols feuriger Haarschopf bereits auf den Zenit zu. Einem kurzen Hohlweg folgend gelangen wir in das weite Tal vor dem sagenumwobenen Bergriesen Mons Mortuorum. Unebene Graslandschaft, welche von Kieswegen durchzogen und von Grabplatten getupft ist, erstreckt sich vor uns. Die verkrüppelten Arme der krummen Zypressen wiegen im Wind. Ihr Rauschen vertreibt die andächtige, aber auch unheimliche Stille des leeren Totenackers. Während im Norden die Serpentinen beginnen, die zum Gipfel des Berges und der dort liegenden Stadt Titania führen, steht nicht weit entfernt im Osten ein kleiner Tempel. Schlichte Arkaden zieren das rechteckige Bauwerk, aus dem der Duft geopferter Öle und Kräuter zieht.

Zu unserer Linken und Rechten haben sich unzählige Grabplatten, kreisrunde Marmor- und Obsidianstücke mit den eingravierten Namen der Verstorbenen und Glückwünschen für das nächste Leben, angesammelt und im Schatten der Bäume befinden sich vermutlich noch viele mehr, die von Sterblichen aller Völker und Stände berichten, die nun vielleicht bereits wiedergeboren sind.

Menschen, Elfen, Nymphen, Harpyien, Zwerge, Titanen und Kraniosteonen liegen hier begraben; ein Handwerker neben den Gebeinen eines Ritters, ein niederer Adeliger Fuß an Fuß mit einer Jägerin, selbst Tagelöhnerleichen sind nahe der sterblichen Überreste erfolgreicher Kaufleute begraben.

Lediglich die Verstorbenen von Hochadel können einen eigenen, abgetrennten Teil der heilig gesprochenen Erde ihr Eigen nennen, erzählt Griselda. Sie seien unter dem Tempel in einer separat angelegten Krypta begraben. Mit zunehmender Begeisterung erklärt sie mir, dass vom ehemaligen König Johann II. angeblich nur noch sein Schädel und sein linker Arm übrig gewesen seien, als man ihn zur Gottesmutter Terra entsendet hat.

"Sein Grab soll sogar das Zentrum der gesamten Krypta bilden, hab ich gehört!", überschlägt ihre Stimme sich fast, "Nur Angehörige der oberen sechs Adelsfamilien oder deren engste Vertraute dürfen die Grabkammern unter dem Tempel betreten!"

"Sag mal, Mädel, du weißt ja ganz schön viel über die Gräber dieser hohen Tiere. Ihr seid doch nicht etwa hier, um einen Fürsten zu besuchen, oder?", fragt Alex scherzhaft, woraufhin Griselda schnellstens ihren Kopf schüttelt.

"Nein, nein!", ruft sie, als sei er ihr auf den Fuß getreten, "Ich hab das bloß in der Stadt mal gehört!"

Kurz denkt sie nach. "Sagt doch, Alex, wen besucht Ihr hier eigentlich?"

"Ist das so wichtig?", erwidert der Blonde so bärbeißig, dass Griselda zum Stillstand kommt und ihn empört anstiert.

Sie erwidert nichts darauf, sondern packt mich am Handgelenk und geht weiter. Sie ordnet an: "Komm, wir schauen, ob wir Großvaters Grab finden!"
 

Als wir außer Sichtweite von Alex und dem Zauberer sind, traut sich auch nach langer Zeit Sira wieder hervor. Das Erste was sie zu beklagen hat, ist: "Bei allen Sides am Himmel, Maljus, weißt du eigentlich, wie oft du mich fast zerquetscht hättest mit deinem Hals?!"

"Genauso oft, wie mir wegen dir fast der Nacken verkrampft ist.", gebe ich giftig zurück und lasse mich von Griselda Richtung Tempel zerren. Ihr Griff lockert sich mit jedem Schritt, bis sie mich schließlich ganz loslässt. Vor dem Tempel selbst ist der Kräutergeruch beinahe schon penetrant und brennend in der Nase.

Seufzend lasse ich mich an einer der Säulen des Tempels nieder. "Und was machen wir nun? Jetzt dürfen wir wohl warten, bis Alex fertig ist, hier wem-auch-immer mal wieder die Ehre zu erweisen? Wer weiß, wie lang das dauert."

"Nicht halb so lang wie dein Gejammer!", meint Sira.

"Es ist anzunehmen, dass er uns nicht gerne dabei hätte." Die Hexe klingt beleidigt, hat sich jedoch schon wieder größtenteils beruhigt. "Aber nun zu etwas anderem…" Ich horche auf.

Anfangs spricht Griselda nicht weiter, reibt sich unruhig den Arm und versucht, meinem forschenden Blick zu entkommen. "Ich hab vorgestern im Wirtshaus und gestern auf der Reise noch ein mal nachgedacht…"

"Hey, hey, das klingt jetzt aber gar nicht gut!", findet Sira, welche wenig später bereits winzige Zornesfalten in ihrem Gesicht hat. Kaum hat sie ihren voreiligen Schluss gezogen, fliegt sie näher an Griselda heran und quetscht sie aus: "Du hast dir doch nicht etwa überlegt, doch nicht mit uns zu reisen?! Genau deswegen wollte ich von Anfang an nicht, dass wir sie mitnehmen!"

"Nein!", ruft Griselda, den Kopf einziehend, "Darum geht's nicht… sondern-"

Ich springe alarmiert auf, da war was!

Die anderen beäugen mich verwirrt. Ich erkläre: "Jemand kommt." und drehe mich herum zum Tempel, aus dem langsam jemand tritt. Dumpf knirschen kleine Stöckchen oder Kieselsteine unter verstärkten Lederstiefeln. Man sieht anhand der dunklen Kleider gleich, dass es sicherlich kein Geistlicher ist, welcher sich zu uns gesellt. Die maskuline Gestalt, die ihr Gesicht unter einer schwarzen, eng anliegenden Stoffmaske verbirgt, begutachtet Griselda und mich, erhascht mit ihren dunklen Augen womöglich sogar einen Blick auf Sira.

Der hochkragige Gehrock, den der Fremde sich über die Schultern geworfen hat, ist bereits löchrig und unansehnlich, der schmucklose Brustpanzer zerkratzt und matt, genauso wie der alte Helm, den er mit hochgeklappten Visier auf dem Kopf trägt. All seine Kleidung ist so dunkel wie die Schatten zwischen den Bäumen.

Als er aus dem unbeleuchteten Tempel hervorkommt, sieht es aus, als erscheine er aus dem Nichts.

"Guten Tag, junges Volk.", grüßt er mit tonloser, flüsternder Stimme, die den Klang des heulenden Windes nachahmt. "Könnt ihr mir sagen, wo ich einen Exorzisten namens Alex finde?"

"Wenn Ihr uns noch Euren Namen verraten könntet, ließe sich da vielleicht was machen." Suspekt. Wer taucht auch mit so einer Maskierung auf? Und was will so jemand von Alex?

Der Unbekannte lässt ein hustendes Lachen verklingen. "Natürlich. Wie unhöflich von mir. Ich bin den Leuten als Ventosus geläufig."

"Ventosus? So wie der Frühlings- und der Herbstmonat?", wundert sich Griselda stirnrunzelnd, "Das ist aber ein seltsamer Name."

"Ich war es nicht, der sich aussuchte, im Ventosus Secundus geboren zu sein.", erwidert Ventosus ein wenig grob, "Also, könnt ihr mich nun zu Herrn Alex führen, oder nicht?"

"Was wollt Ihr denn von ihm?"

"Ein Geschäft abschließen. Nichts weiter als eine kleine Formalität unter Exorzisten." Ventosus ist also ebenfalls Exorzist? Das ist dann wohl der Grund für seinen merkwürdigen Aufzug.

Aber das ist einfach, so etwas zu behaupten, also wundere ich mich: "Wenn das stimmt, wo ist dann Euer Cyclobol? Das hat meines Wissens nach jeder geprüfte Exorzist!" Ventosus verbleibt zuerst ruhig, dann aber spannt sich der Stoff seiner Maske, als er grinst. Er wispert: "Was für ein kluges Kerlchen du doch bist… dann muss ich eben doch unfreundlich werden!"

Zischend enthüllt er plötzlich, dass er an seinem Gürtel zwei Kapuzenkatare versteckt hat, mit denen er auch gleich nach mir schlägt. Im letzten Moment springe ich aber zurück und ziehe mein Schwert. Ein Kampf also!

Ventosus' trockenes Lachen dringt an meine Ohren, als aus dem Tempel und hinter einigen dicht stehenden Bäumen weitere Gestalten auftauchen. Sechzehn Untote an der Zahl sind es, die beginnen, uns einzukreisen.

Da schnellt Ventosus auch schon hervor und befördert mich zu Boden, wo ich ein ganzes Stück entlang rutsche, nachdem ich den Angriff pariert habe. Verflucht, schon wieder ein Kerl, der so viel Wucht in seinen Angriffen hat!

Kaum bin ich zum Stillstand gekommen, sehe ich den vermeintlichen Exorzisten über mir, der schon im Begriff ist, seine spitz zulaufenden Faustdolche nach unten zu stoßen. Mein Herz bleibt fast stehen.

Mit einer Rolle zur Seite kann ich entkommen und sehe mit rasendem Puls bereits die nächste Schneide, die direkt neben mir in die Erde gerammt wird. Ich bin gerade mal um Haaresbreite entkommen, rappele mich schnell auf, bloß um wieder in die Defensive getrieben zu werden. Ventosus ist unheimlich schnell. Er führt einen horizontalen Hieb aus, der mir fast das Schwert aus der Hand reißt.
 

Griselda ließ derweil einen Blitz los auf die nahenden Gerippe und halbverrotteten Leichen in klappernden, dünnen Rüstungen. Ein Wiedergänger büßte seinen Kopf ein, zerfiel geräuschlos zu Staub, während Waffe und Rüstzeugs scheppernd zu Boden fielen. Die restlichen Untoten nutzten den Verlust ihres Kameraden, um umso schneller vorzurücken.

Griselda kreischte: "Haut ab, ihr Pöbel!" und deckte sie mit einem weiteren Blitz ein. Geduckt und springend wichen sie aus und nahmen gleich erneut die Verfolgung der Hexe auf, die irgendwie versuchte, zu Maljus zu gelangen.
 

Ich kreuze gerade Klingen mit Ventosus. Mit nur einem seiner Katare hält er mich bereits in Schach, der andere liegt locker an seiner Hüfte. Provokant fragt er: "Machst du bereits schlapp, Jungspund?" Der Schweiß, der sich so langsam auf meiner Stirn bildet, spricht Bände. Ich verwende all meine Kraft darauf, standzuhalten.

"Wieso überfällst du uns?! Was wollen diese Kerle von Griselda?!"

"Und was zum Diabolus soll das hier werden?!", tönt Alex' Stimme da über den kleinen Platz vor dem Tempel.

Ventosus zieht seine Waffe kurz zurück, so unerwartet, dass ich nach vorne stolpere, bis der Katar von unten gegen mein Schwert rast und mich gleich wieder zurück schleudert.

Ventosus klingt zufrieden, als er mit wachsamen Blick auf Alex und Craylo, die hinter mir aufgetaucht sind, feststellt: "Ah, endlich ist auch Herr Alex aufgetaucht. Nun können wir wirklich zum Geschäftlichen kommen."

"Mir ist ziemlich neu, dass ich mit Heinis wie dir irgendein Geschäft am Laufen hab. Was bist du denn, ein Umbramant?!"

"Nicht im Geringsten, Herr Alex. Mein Auftraggeber ließ mir als Hilfe dieses Gefolge, um das Mädchen zu schnappen. Aber ichbin nur an Euch und dem Burschen interessiert. Ich fordere euch beide zu einem Kampf heraus!"

"Uns beide? Machst du Witze, du dahergelaufener Fatzke?", ruft Alex, "Sieh lieber mal, ob du mir überhaupt was anhaben kannst, bevor du mir den Kleinen als Unterstützung gönnen willst!"

"Wie Ihr wünscht, Herr Alex.", spottet Ventosus, ehe er sich auf den Blonden stürzt. Alex springt aus seinem Angriffsfeld, öffnet den Gürtel, an dem der verhüllte Gegenstand auf seinem Rücken hängt und reißt das Tuch beiseite. Binnen Sekunden ist er kampfbereit und pariert Ventosus' Hieb.

Das Heft seines Beidhänders ist glänzend rot, erst beim zweiten Hinsehen erkenne ich, dass es sich tatsächlich um ein Heft aus purem Rubin handelt. Der Stein ist so fein geschliffen, dass man im Inneren die verankerte Klinge sehen kann. Unglaublich! Der Schmied, welcher diese Waffe geschaffen hat, muss ein Meister seines Fachs sein. Und wie kommt ausgerechnet jemand wie Alex an so eine kostbare Waffe?!

Alex drückt Ventosus von sich weg, der wiederum hüpft zur Seite und versucht erneut sein Glück.

"Hey, nicht glotzen!", ruft Crayo plötzlich und gibt mir eine leichte Ohrfeige, "Hier gibt es noch mehr Gegner und um die muss sich auch jemand kümmern!" Er hat bereits Dorac und Carod gezogen und schleudert sie mit seiner Gedankenkraft den Monstern entgegen. Doracs silberne Klinge hackt sogleich einem Untoten die Hand ab, während einem Skelett der Schädel von Carods Aufprall zerbirst.

Die restlichen Wiedergänger lassen von Griselda für eine Zeit lang ab und schauen den fliegenden Klingen hinterher, bis sie wie Bumerange zu Craylo zurückfliegen. Die Untoten stürmen auf ihn zu, doch er beschwört schnell einen Blitz, der sie dieses Vorhaben ganz schnell abbrechen lässt. Eine Schneise hat sich zwischen den ausweichenden Ungetümen gebildet. "Los, komm hier rüber!!", ruft er Griselda zu.

Nickend nimmt sie die Beine in die Hand, als bereits einer der lebenden Toten die List versteht. Doch kaum stürzt er sich auf das Mädchen, bin ich auf ihn zu gerannt, um ihm meine Klinge über den Rücken zu ziehen. Matschiges, braun verfärbtes Fleisch wird aufgerissen, der Wiedergänger aber dreht sich um, als sei nichts passiert und stößt mir seinen Ellbogen gegen das Kinn.

Im nächsten Moment frisst eine von Griseldas Magiekugeln den Kopf der laufenden Leiche. Bevor sich die Schneise gar schließen kann, sehe ich zu, dass ich nun auch aus ihr herauskomme. Craylos Dolche, die zwei weitere Untote enthaupten, helfen dabei - bis zwei der Untoten die Messer in der Luft fangen und mit Craylos eigenen Waffen auf ihn und Griselda los gehen.

Ich muss ihnen helfen!, denke ich noch, da landet Ventosus leichtfüßig vor mir und fragt: "Wo willst du denn hin? Ich sagte doch, dass ich dich und Herrn Alex herausfordere!" Breitbeinig und mit einer Hand an der Klinge gebiete ich den Kataren Einhalt, obwohl ich schon wieder merke, wie schwach ich im Vergleich zu dem hoch gewachsenen Lügner bin.

Es ist genauso wie Forsiano gesagt hat, ich kann nicht erwarten, ihn mit diesem Mangel an Körperkraft zu besiegen, ich muss mir was anderes einfallen lassen! Ich gehe Ventosus gerade mal bis zum Bauch und spüre, wie meine Füße auf dem Kies langsam den Halt verlieren, ich werde abrutschen und-

Wie gegen Aaron kommt mir die Idee in der hoffnungslosesten Situation. Absichtlich winkele ich meine Füße schräg an, nutze den Druck vom oben, um über den Weg zu rutschen, direkt zwischen den gespreizten Beinen meines Kontrahenten hindurch. Hab ich ihn! Ich bin hinter ihm!

"Zu langsam, Jungspund!", lacht Ventosus und rammt in einer Rundumdrehung seinen Fuß in meinen Bauch, wodurch er mich an den nächsten Baum schleudert.

"Sag das noch mal, Alter!" Alex, ein wenig verschrammt und schmutzig, taucht wieder auf, um Ventosus' ungedeckte Seite zu treffen. Um Haaresbreite entgeht er aber dennoch, nur sein Gehrock reißt ein. "Vergiss nicht, dass du dich hier mit zwei Leuten angelegt hast!"

"Zwei Nichtskönner oder ein Nichtskönner, der Unterschied ist gering.", erklärt Ventosus. Enttäuscht merkt er an: "Ich hätte mir vor Allem von Euch mehr versprochen, Herr Alex. Dieses Schwert, das ihr tragt, lässt auf größeres Können schließen."

"Als ob du eine Ahnung hättest, was das für ein Schwert ist! Wart nur ab, bis ich dir damit erst mal ein paar ordentliche Wunden beigebracht haben werde!"

"Oh, glaubt mir, mir ist mehr als genug darüber bekannt, welche Bedeutung diese Waffe hat… oder sollte ich sagen 'hatte'? Ich bin mehr als enttäuscht von Eurem Können. Aber wir können diese Aufwärmübung gerne fortsetzen, Herr Alex, wenn Ihr denn unbedingt möchtet." Unter seiner Maske zeichnet sich ein breites Lächeln ab. Das wird dir noch vergehen!
 

III.
 

Mit noch einem weiteren magischen Schuss verschwand ein weiteres Scheusal vor Griseldas Augen und so hatte Craylo zumindest schon Dorac wieder bei sich, während die lernende Hexe sich keuchend ihre Hand hielt.

"Versuch noch etwas durchzuhalten!", machte Dorac ihr Mut, jedoch schüttelte sie ihren Kopf und keuchte: "Ich… ich kann nicht mehr. Ich bin nur eine Anfängerin!"

"Über deine Qualitäten als Magierin kann man auch später reden, wenn Ihr mich endlich diesem wortwörtlichen Hohlkopf entrissen habt - und nicht vergessen, du bist immer noch besser als Craylo!", erinnerte Carod sie, wobei er sich in der Hand eines lederberüsteten Skeletts befand. Es war dabei anzugreifen, daher schnappte Craylo sich Griselda und riss sie mit sich an dem Angriff vorbei. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen zu sagen: "Bei deiner Dankbarkeit überlege ich mir zwei mal, ob ich dich rette, Carod!"

"Du willst mir doch nicht erzählen, dass du mich der Gewalt dieses abgemagerten Kriegers überlässt?!" Craylo tat, als zöge er dies tatsächlich in Erwähnung, was den schwarzen Dolch noch mehr echauffierte.

Seinem Ärger konnte er keine Luft machen, denn offenbar war er weniger redselig, wenn er dann tatsächlich mal als Waffe diente. Nach dem Magier stechend, rückten die untoten Soldaten ihnen wieder auf die Pelle. Dorac vor seiner Handfläche rotierend, immer schneller, bis nur noch silbern leuchtende Schemen vor seiner Hand kreisten, wehrte er Carod ab und ließ die telekinetisch betriebene Kreissäge Bekanntschaft mit dem Schädel des Wiedergängers machen. Besiegen konnte er ihn damit nicht, aber zumindest so erschrecken, dass Carod dem Ungeheuer entglitt und mit telekinetischer Präzision durch die Wirbelsäule des umbramantisch Beschworenen raste. Erstaunt beobachtete Griselda, wie Craylo sich durch die Angreifer kämpfte, geschickt das ungleiche Waffenpaar durch die Lüfte dirigierend und hin und wieder ein paar magische Geschosse als Finten gebrauchend. Ihr Blick wanderte zu Maljus und Alex, welche immer noch mit Ventosus kämpften.

Doch nein, ging ihr auf, sie kämpften nicht, sie jagten ihn, erfolglos, ihn immer knapp verfehlend. Er ließ die beiden aussehen wie blutige Anfänger und hatte inzwischen Maljus an der Schulter erwischt, die dieser sich keuchend hielt. Fast durchstieß der Maskierte Alex' Lederrüstung, doch ein Ausfallschritt von Seiten des Exorzisten ließ den Stich daneben gehen. Alex' Angriff parierend zog Ventosus sich zurück.

Ruckartig musste Griselda sich von dem fesselnden Schauspiel abwenden, ein Monster war über Craylo hinweg gesprungen und mit langen Schritten zu ihr geeilt. Fast berührten sich ihre Gesichter, da riss Griselda reflexartig ihre Hand nach oben und feuerte aus direkter Nähe einen Blitz in das verfaulte Antlitz vor ihren Augen. Beide glitten sie zu Boden, er lautlos und sich in Staub auflösend, sie schreiend und mit versengter Hand. Sie selbst war von der Entladung erwischt worden, weil sie sich zu sehr verausgabt hatte. Sie konnte nicht anders, als Tränen ob des stechend-brennenden Schmerzes zu vergießen. Verkrampft zuckten ihre Finger, die sich erschreckend taub anfühlten.
 

"Traurig, traurig.", kommentiert Ventosus mit gespieltem Mitleid. Sein kleiner Kampf mit uns beiden ist zum Stillstand gekommen, sobald Griselda aufgeschrieen hat, "Aber so ist Verzweiflung nun mal, nicht war? Man macht seltsamerweise dennoch weiter, selbst wenn es den eigenen Untergang bedeutet."

"Falls es dir nicht aufgefallen ist, Ventosus…", zische ich, wütend und von meiner Verletzung eingeschränkt, "… haben Craylo und Griselda… fast all deine Handlanger besiegt!"

"Und glaub' mir, mit den drei bis vier Übrigen wird er locker fertig!", stimmt Alex in das Lied mit ein, obwohl Ventosus bereits in Gelächter ausbricht. Dir wird das Lachen schon noch vergehen!

Mit überlegener Stimmlage spricht er: "Dass Ihr Euch da mal nicht täuscht, Herr Alex. Mein Auftraggeber hat nicht nur einfache Untote, die er seine Diener nennen kann…" Mit der Spitze seines rechten Katars zeigt er auf ein ganz bestimmtes Skelett, das sich wenig von den anderen unterscheidet. In der Parierstange seines Gladius' sitzt ein unscheinbarer, gelber Kristall.

Die leeren Augenhöhlung starren zu Ventosus. Er nickt. Der Unterkiefer des Knochengesichts bewegt sich klappernd auf und ab, als kichere der Tote. Er hebt sein Schwert, hält es mit der Klinge nach unten, da beginnt der Stein zu leuchten. Ist das etwa ein Seelenstein?!

Alex' Augen weiten sich. Er macht sich daran, zu dem Untoten zu rennen, doch Ventosus ist schneller und drängt ihn wieder zurück. Auch Craylo startet einen Angriff und lässt einen Fluch fallen: "Verdammt, das ist ein Lich!"

Dorac und Carod rasen auf den unbekümmerten Lich zu - unbekümmert, weil zwei der anderen Untoten sich selbstlos in die Klingen werfen und sie aufhalten.

Was soll denn bitte ein Lich sei- da rammt das Skelett sein Kurzschwert in den Boden. Kurz leuchtet der Edelstein noch, nichts geschieht für eine Weile.

Bis es plötzlich rundum im Boden zu rumoren beginnt, manche der Gräber erzittern auf einmal, als von unten etwas die Steinplatten anhebt.

Schmerzvoll verzerrten Gesichts fasst Craylo sich an die Schläfe, besorgt will Griselda wissen: "Was… was ist los?!"

"Craylo ist nicht nur ein ausgezeichneter Telekinetiker… sondern auch sehr zuverlässig, wenn es um schwarze Magie geht!"

"Sein Schädel fängt wie wild zu hämmern an, wenn eine umbramantische Beschwörung in der Nähe geschieht - ein Zeichen, dass in seinem Kopf wohl doch nicht alles tot ist.", fährt Carod fort. Griselda erschrickt und im selben Moment, wie sie fragt: "Heißt das, dieser Untote ist selber Umbramant?!", steigen bereits neue Wiedergänger aus den Gräbern. Teilweise nackt bis auf die Knochen und unbewaffnet, aber reich an der Zahl. Zwanzig sind es, die unter den Gräbern hervorkriechen und die Magier einkreisen.

"Ganz recht!", lacht Ventosus, "Ein Lich ist ein Untoter, der selbst ein wenig schwarze Magie beherrscht. Entweder weil er sie sich beibringen ließ von seinem Meister, oder selbst zu den Adepti Umbrarum gehört hat. Sehr selten… aber nun ja, ihr seht ja, wozu sie gut sind."

"Du hast uns wohl extra hier angegriffen, damit es sich auch lohnt, diesen stinkenden Beschwörer dabei zu haben, was?!"

"Herr Alex, ich hätte keinen Lich an meiner Seite gehabt, hätte ich nicht gewusst, dass wir uns hier begegnen würden.", erläutert Ventosus ruhig, woraufhin Alex' Gesicht in eine irritierte Grimasse übergeht. "Vielleicht solltet ihr beide euch damit abfinden, dass ich nicht zufällig hier bin, nicht zufällig mit genau euch beiden kämpfen wollte." Verwirrt schauen Alex und ich erst uns gegenseitig, dann Ventosus an. Kein Zufall, sagt er also? Na, da bin ich aber mal gespannt, was er damit meint.

Er seufzt nur und lässt die Schultern hängen. "Wie schade, dass der Groschen wohl nicht gefallen ist… von euch kann man nur eine andere Pleite nach der anderen erfahren, wie?"

"Und aus deinem Mund kommt auch immer nur nichtssagende Scheiße!", bellt Alex, "Ich wüsste nicht, was mich und den Kleinen so interessant für dich macht."

"Offenbar wisst Ihr nur wenig über Eure Gefährten, Herr Alex. Jedoch, ich fürchte, für lange Erklärungen ist jetzt nicht mehr die Zeit!" Er schaut zum Himmel, an dem langsam dunkle Wolken aufziehen. "Bringen wir diesen Kampf endlich zu Ende!" Und mit diesen Worten stürzt Ventosus sich wieder auf uns, die Untoten gleichzeitig auf Griselda und Craylo.
 

Nun waren die Angreifer noch stärker in der Überzahl als zuvor, mit ihren dürren Armen haschten sie nach den Magiern. Craylo gab sich alle Mühe, sie das Fürchten zu lehren, aber für über zwanzig Ungeheuer reichten zwei Dolche und ein wenig Schaumagie einfach nicht, selbst wenn die Angreifer unbewaffnet waren.

"Kannst du nicht auch noch kämpfen?!", drängte Craylo also Griselda.

Seine Hoffnungen sanken gewaltig, als sie mit Tränen in den Augen den Kopf schüttelte. Verflucht, sie waren hilflos ausgeliefert! Im Gegensatz zu den Untoten würden sie irgendwann müde von dem ständigen sich Befreien und hoffnungslosen Schlägen und Tritten.

Selbst Dorac und Carod waren still geworden, als Craylo erkannte, dass sie verloren hatten.

"Craylo…" Griseldas Stimme klang leise an sein Ohr, er horchte mühsam auf. "Noch gibt es etwas, das wir versuchen können… aber dazu brauch ich deine Hilfe."

"Was kannst du schon tun?", fragte er mutlos, "Selbst wenn wir sie uns vom Leib schaffen, gibt es immer noch diesen Lich!"

"Ich könnte ihn außer Gefecht setzen… ich habe noch einen letzten Trumpf im Ärmel, aber den kann ich nur spielen, wenn ich irgendwie nah genug an den Lich herankomme."

"Denk nicht lange nach, Craylo!", war Doracs Stimme da auf einmal wieder da. Im nächsten Moment sagte auch Carod: "Was fackelst du so lange, anstatt endlich was zu unternehmen?! Los, zeig diesen halben Portionen, dass sie dich nicht komplettumsonst in die Exorzistenakademie gesteckt haben!" Schließlich nickte Craylo, aus seiner Apathie erwachend.

"Lass es uns wenigstens versuchen!" Er boxte drei Untote aus dem Weg, während Griselda ihm den Rücken deckte, indem sie den anderen die Beine wegzog. Craylo steckte Dorac und Carod weg, er musste beide Hände frei haben, um einen Feuerball aufzuladen. Er ließ ihn in seinen Händen wachsen, da packten miefende, von einer feuchten Erdkruste überzogene Hände Griselda, hielten ihre Arme fest.

Sie brüllte nur "Lasst mich los, ihr Widerlinge!", brachte einen mit einer Kopfnuss los, dem anderen trat sie in den Bauch, wobei sie dünne Knochen splittern hörte. Der Untote zerfiel vor ihr in zwei Hälften, landete mit seinem eingefallenen Gesicht im Dreck.

Craylo hatte den Feuerball endlich groß genug werden lassen. Es kostete keine Anstrengung und nichts würde von dieser medizinballgroßen Feuerkugel auch nur erhitzt, geschweigedenn angekokelt werden, aber sie erzielte den gewünschten Effekt, als sie in einem weiten Bogen durch die Menge der Verstorbenen raste. Angstvoll wichen sie zurück, manche wurden auch erwischt und starrten verwundert das bisschen ihrer Überreste an, das nicht verletzt worden war. Griselda an der Hand nehmend rannte er zwischen ihnen hindurch, zu auf den Lich. Schon stellten sich die anderen bewaffneten Toten in seinen Weg. Er ließ Griselda los, zog seine treuen Dolche und hetzte die letzte Verteidigungslinie davon, sodass das Mädchen weiterlaufen konnte. Nur zwei Meter trennten es noch von dem untoten Zauberer, der es mit seiner Klinge erwartete. Beinahe schnitt er Griselda in den Arm, sie griff ungehindert in ihr Gewand und zog ein eigenartig beschriftetes Papier hervor. Die Zeichen bestanden aus einfachen, geraden Linien und ein paar wahllos verteilten Kreisen, es war definitiv nicht Cardighnisch.

Sie packte den langen Streifen und schleuderte ihn dem Lich mitten ins Gesicht. Zischend begann das Papier, sich in den Schädel des Wiedergängers zu brennen, es fesselte seinen Kopf und verschmolz mit ihm. Die Untoten krümmten sich reglosen Blickes auf ihren Befehlshaber und auch Griselda wich erschrocken zurück, als der Leib des Lichs violett erstrahlte. Craylo verspürte ein schlagartiges Pochen in seinem Kopf, bevor sich um den sich verkrampfenden Totenzauberer eine dunkle Feuersäule bildete.
 

Ventosus wird unaufmerksam, ist zu abgelenkt von dem grellen Licht und der plötzlichen Hitzewelle, um Alex' Schwert zu parieren. Eine tiefe Wunde wird in seinen Torso unterhalb des Brustpanzers gerissen. In dem schwarzen Stoff seines Hemdes klafft ein tiefer Riss, abblätternd rutscht es etwas herunter.

Während die Flammen sich in Luft auflösen, kommt rechts unter seinem Bauchnabel eine hässliche verquollene Narbe zum Vorschein.

Halt, das stimmt nicht, sie schnappt auf und präsentiert ein blutunterlaufenes dunkelbraunes Auge, das mich feindselig anstarrte. Mir wird schwummrig, der widerliche Anblick überwältigt mich und übertrifft sogar die abstoßenden Untoten. Rückwärts stolpernd und mich abwendend entferne ich mich von Ventosus, ehe ich mich auf die Knie fallen lasse und nach Atem ringe.

Mit ebenfalls einem gewissen Maß an Abscheu schaut Alex sich den trüben Augapfel an.

"Also bist du ein Rachedämon…", schlussfolgert er. Ventosus verbleibt stumm, er macht einige Schritte zurück. Alex geht ihm genauso langsam hinterher, während ich versuche, mein Essen bei mir zu behalten. Aus… aus welcher Hölle ist dieser Kerl gekrochen?!

"Geht Euch nun vielleicht ein Licht auf, Herr Alex? Jetzt, wo Ihr wisst, was ich bin?" Sein Tonfall wird von einem widerlichen Krächzen begleitet. Alex starrt ihn fest an. Er schüttelt dennoch seinen Kopf.

Ventosus lässt ein trockenes Lachen auf dem Friedhof verhallen. "Wieder mal… ernüchternd. Vorbei ist diese Angelegenheit, noch nicht, Herr Alex. Ihr und der Jungspund solltet euch bereit halten. Das nächste Mal… erwarte ich, dass ihr mir mehr zu bieten habt."

"Du willst dich verziehen? Nicht mit mir, Alter!" Er rennt auf Ventosus zu. Mit gesenktem Kopf klemmt der Alex' Schwert zwischen seine zwei Katare.

"Ihr solltet dankbar sein, dass ich Euch noch einmal davon kommen lasse. Ich fliehe, weil ich noch immer Erwartungen an Euch habe. Seht lieber zu, dass Ihr sie nächstes Mal erfüllen könnt, sonst zögere ich nicht noch einmal, Euch und den Jungen zu töten, … Alex Maresa." Alex erstarrt, erahnt wieder ein schäbiges Grinsen unter Ventosus' Maske, als dieser vor ihm zersplittert und die schwebenden Fragmente beginnen, sich aufzulösen, ehe nur noch die Bluttropfen auf dem Boden von Ventosus' Dasein künden.

Jetzt… jetzt bin ich platt. Ich bin wieder mal kein bisschen schlauer als vorher, sondern hab nur noch mehr Fragezeichen in meinem Kopf. Was… was war das bitte für ein Wesen, doch ganz sicher kein normaler Zweibeiner! Und was will er von Alex und mir… was verbindet uns überhaupt?! Bis vor Kurzem kannte ich diesen Exorzisten doch nicht mal!

Nachdenklich lassen wir unseren Blick zu den anderen schweifen, wo die Untoten plötzlich richtig aufgemischt werden. Alex' Stirn legt sich in verwunderte Falten.

Ist das Craylo, der da plötzlich so aufräumt?

Eine Klinge zeigt aus dem Hinterkopf eines Ungetüms, das sogleich nicht mehr ist und die Sicht freigibt. Ich erkenne sofort die Rüstung des Lichs wieder, aber der junge, schwarzhaarige Mann, der darin steckt, ist mir völlig fremd. Bewaffnet mit dem Schwert des Totenmagiers, zerschneidet er einen Wiedergänger nach dem anderen.

Sein unordentliches Haar bäumt sich gegen den Wind auf. Gelbe Augen leuchten in dem dunkelhäutigen Gesicht und kleine spitze Ohren schauen zwischen den dicken Strähnen zu beiden Gesichtsseiten hervor.

Ich beobachte gebannt den Elfen, der gerade mit den letzten lebendigen Leichen abrechnet. Und genauso wie allen anderen fällt mir die gelbliche Hauttönung auf seiner Wange auf. Gelb und leicht dreizackförmig ist sie.

Das ist ein Dunkelelf, ein Alba Occulta!
 

IV.

Ich quäle mich auf die Beine, um dem Dunkelelfen direkt in die Augen blicken zu können. Dieser schwingt sein Schwert gerade durch die Luft, um den gröbsten Dreck an der Klinge hinfortzuschleudern, ehe er die Klinge in die abgenutzte Schwertscheide zurücksteckt.

Sein Körper scheint genau in die zerkratzte Rüstung zu passen. Misstrauisch beäugen er und wir uns. Griselda steht etwas abseits und schaut ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Schrecken an.

"Wer von euch hat mich beschworen?", fragt der Kerl, den ich auf etwa siebzehn Lebensjahre schätze. Noch nicht ganz erwachsen, aber kräftiger und athletischer als ich selber. "Keine Antwort?" Seine kalte Stimme schneidet durch die abkühlende Luft.

Er besieht sich Alex' immer noch gezogenes Schwert und Craylos Dolche. Zögernd hebe auch ich mein Schwert. Wer weiß, ob das nicht ein weiterer Trick von Ventosus ist.

Der Unbekannte fragt: "Soll das eine Aufforderung sein, dass ich euch auch noch erledige?"

"Ich…"

Verunsichert wagt Griselda sich näher an ihn heran. Augenblicklich schaut er sie abschätzig an. Er bleibt ruhig. "Ich war es, die Euch… gerufen hat.", beendet sie ihren Satz und erntet unsere fragenden Blicke - bis auf den von Craylo, der offenbar beginnt, die Situation zu verstehen, denn er vermutet: "Dann hat dieses unscheinbare Papier diesen Kerl hierhergebracht?"

"Irgendwann werde sicher auch ich mich daran gewöhnen, dass Leute heutzutage einfach aus dem Nichts auftauchen! Was… was genau soll dieser Papierelf denn sein?"

"Wer auch immer von euch das war, sollte seine Zunge zügeln.", stellt der Dunkelelf herablassend klar, "Ich bin kein 'Papierelf', ich bin ein Dienergeist - ein Shikigami."

"Sowas gibt es?" Verwundert versuche ich, irgendetwas aus Griseldas genauso verdutztem Gesicht zu lesen, wobei ich mich düster an Geschichten erinnere, in denen von ähnlichen Gestalten die Rede war. Doch diese magischen Helfer aus Büchern sind nicht zu vergleichen mit den Geistern, die ich in letzter Zeit treffe. Ein Dienergeist… den sollte ich besser im Auge behalten, bis ich weiß, wie hilfreich er wirklich ist.

"Ich wusste nicht, dass das ein Dienergeist war!", ruft Griselda wie angeklagt, "Ich habe diesen Papierstreifen nur zufällig auf einem Magiermarkt erstanden! Die alte Hexe, von der ich das gekauft habe, sagte, es sei sinnvoll gegen Untote oder Dämonen… deswegen hab ich es benutzt, um diesen Lich zu besiegen!" Sie räuspert sich hastig. "Oh, aber bitte verzeiht, Herr Shikigami, wie ich spreche, muss Euch sicher kränken…"

"Nicht im Geringsten. Ihr seid meine Meisterin. Ich habe kein Recht, einen Groll gegen Euch zu hegen." So unterwürfig seine Worte auch klingen, so dominant ist sein Ton dennoch, der Griselda noch etwas kleinlauter macht. "Darf ich Euren Namen erfahren, Meisterin?"

"… Oh, selbstverständlich. Ich heiße Griselda." Ihr Kleid zu beiden Seiten anhebend macht Griselda einen Knicks vor ihm, den er mit einer Verbeugung beantwortet. Anschließend stellt sie den Rest unserer Gruppe vor: "Und das da sind Maljus, Herr Alex und Herr Craylo, der außerdem noch zwei sprechende Dolche besitzt namens-"

"Nichts für ungut, kleine Hexe, aber wir ziehen es vor, uns selber vorzustellen! Du hast das Vergnügen, Carod zu begegnen… und na ja, Dorac musst du auch kennen lernen."

"Hey, sagtest du nicht, wir stellen uns selber vor?!"

"Oh, ups. Hehehe." Nachdem der Dolch zu Ende gelacht hat, schaut Griselda ihren Diener erwartungsvoll an und ist ganz neugierig: "Und wie lautet dein Name? Möchtest du ihn uns nicht verraten?"

"Wenn ihr es wünscht, Meisterin Griselda, werde ich Euch meinen Namen nennen. Ich heiße Rio de Dschanehro."

Alex hat inzwischen sein Schwert weggelegt und stolziert verschränkter Arme um Rio herum. Beide begutachten sich argwöhnisch. Alex meint: "Ich sag's gleich, damit das mal klar ist - wenn mir jemand suspekt ist, dann ist es dieser Kerl. Ich hab nie von so etwas wie 'Shikigamis' gehört!"

"Das zeugt allenfalls von mangelndem Wissen."

"Was sagst du da?!" Alex ist kurz davor, Rio am Kragen zu packen. Dorac ruft: "Halt, halt! Nun prügelt euch doch nicht! Ich finde, wir sollten die Sache ruhig angehen und keine voreiligen Schlüsse ziehen! Mir erscheint Rio gesittet." Rio lässt sich zu einem Schmunzeln herab und sagt: "Weise Worte."

Prompt lacht Carod auf. Hämisch sagt er zu Craylo: "Pass auf, Craylo! Er mag vielleicht ungefährlich sein, aber auch wahnsinnig dämlich! Dorac zu loben, das ist auch eine neue Erfahrung!"

"Rio weiß einen guten Rat zu schätzen und wie ich bereits ausführte, sich zu benehmen!"

"Nun seid ruhig!", befiehlt Craylo sich am Kopf kratzend. So ganz überzeugt ist er nicht, wie ich ihm an der Nasenspitze ansehe. Mit einem Seufzen beendet er seine Überlegungen, stimmt im Stillen zu, Rio eine Chance zu geben.

Dafür interessiert ihn etwas anderes viel mehr: "Griselda, eines versteh' ich aber immer noch nicht: Was um Sols Willen wollten denn diese Untoten hier? Genauso, wie ich nicht verstehe, warum der Rachedämon es auf Alex und Maljus abgesehen hat."

"Was ist denn überhaupt so ein Rachedämon?", platze ich abrupt dazwischen. Postwendend schaut Craylo mich an und erläutert: "Das weißt du nicht? Rachedämonen sind Tote, die als Dämonen wieder auferstanden sind. Wie der Name sagt, geschieht dies aus Rachegelüsten, die sie fortan in die Tat umsetzen wollen. Das ließe eigentlich nur den Schluss zu, dass Ventosus sich an euch irgendwie rächen wollte?" Er selbst klingt nicht so, als glaube er das wirklich, und Alex stößt ein unbeeindrucktes "Pff!" aus. "Als ob… ich kenne keinen maskierten Attentäter wie den! Und der Kleine bestimmt erst recht nicht, oder?"

"Stimmt genau.", entgegne ich mit einem überzeugten Nicken, "Ventosus hat auch durchblicken lassen, dass er den Auftrag erhalten hat, uns aufzuhalten." Und ich soll verdammt sein, wenn ich nicht weiß, wer dieser Auftragsgeber ist - Dyonix hätte von Aaron ins Bild gebracht werden können, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind, und schnell alles in die Wege geleitet haben, um uns aus dem Weg zu haben.

Vielleicht weiß er sogar, dass genau wir es waren, die Cheeta über den Weg gelaufen sind.
 

Maljus wusste nicht, dass Craylo immer noch dachte, dass mehr dahinter steckte, aber der Magier behielt es lieber für sich. Auch als Dorac erfragte, worüber er nachsinne, log er: "Nichts, ehrlich."
 

"Na ja… vielleicht haben wir ja nächstes Mal die Möglichkeit, Ventosus auszuquetschen - wenn ich ihm nicht vorher den Hals umdrehe!", fasst Alex einen Entschluss und murmelt noch: "Würde mich interessieren, woher er überhaupt meinen Nachnamen kennt…" Mögen Craylo und Griselda das überhören, bekomme ich es sehr wohl mit - vielleicht auch Rio, aber der verhält sich ruhig und positioniert sich einer Leibgarde gleich neben Griselda.

Alex geht wieder, vermutlich zu dem Grab, das er ursprünglich hat besuchen wollen. Ich bedenke Rio noch mit einem ernsten Blick und will folgen, aber Craylo stellt sich mir in den Weg und sagt: "Bleib mal hier! Schon vergessen, dass du verwundet worden bist? Du und Griselda müssen verarztet werden!"

Er bringt ein paar Verbände ans Tageslicht und wickelt meine Schulter, sowie Griseldas Hand ein. "Einen Heiler solltet ihr auch besuchen. Vielleicht solltet ihr wieder nach Ardsted zurückkehren."

Ich zucke zusammen - nicht direkt wegen Craylos Nahelegung, sondern wegen der Reaktion der Víla in meinem Nacken, die mir schnell zu verstehen gibt, dass ihr das gar nicht in den Kram passt. Ich schüttele meinen Kopf.

"Nein, wir müssen weiter zum Mons Mortuorum!" Irgendwann zerr ich dirmal an den Haaren, du Biest, nehme ich mir insgeheim vor.

"In Titania gibt es doch bestimmt auch einen Heiler, oder?", fragt Griselda. "Bis wir dort sind, dauert das nicht mal halb so lange wie zurück nach Ardsted zu reisen!"

"Wohin immer Ihr wollt, Meisterin Griselda, ich werde als Euer Diener willens sein, Euch zu beschützen." Griselda wird ganz rot, als Rio das mit solcher Entschlossenheit schwört. Verlegen räuspert sie sich. Meine Güte, der lässt es aber krachen...

"Äh… wie… wie du meinst."

Ich derweil sehe nun zu, dass ich mich an die Fersen des anderen Exorzisten heften kann, kein großes Interesse mehr an diesem beschworenen, kühnen Ritter hegend.
 

Ich finde Alex am anderen Ende des Friedhofes an einem Grab sitzend, wo er eine dickbäuchige Flasche hingestellt hat. Offenbar ist Wein für den toten Knaben eine von den besten Gaben.

Wie vom Blitz getroffen schnellt Alex hoch, als er mich kommen hört, und glotzt mich feindselig an.

"Was machst du hier? Solltest du nicht aufpassen, dass dieser 'Shikigami' sich nicht an deiner Freundin vergreift?" Ich verziehe zwar beleidigt mein Gesicht, gehe auf das Letzte aber lieber erst gar nicht ein, sondern widme mich gleich dem Grund, wieso ich gekommen bin: "Ich wollte nur etwas wissen. Ich hab dein Schwert gesehen und-"

"Du willst wissen, wo ich sowas herhabe?", vollendet Alex prompt den Satz, als stelle man ihm diese Frage mindestens ein dutzend mal am Tag. Ein wenig aus dem Konzept gebracht, nicke ich.

Alex packt es wieder aus, das kostbare Schwert mit dem Diamantheft und zeigt mit der Klinge auf den Grabstein, vor dem er gesessen hat. In altcardighnischen Lettern ist der Name Hellar Maresa dort eingraviert, sogar noch unterstrichen und mit dem Titel eines Mitglieds des Ordo Equestri versehen.

"Das Schwert gehörte einst meinem Vater. Nachdem er gestorben war, geriet es in meinen Besitz und ich halt's bis heute in Ehren." Für einen Augenblick lächelt er, als er sich scheinbar an alte Zeiten erinnert fühlt. "Lass' die Leute dieses Schwert sehen und sie werden aufschrecken wie ein Haufen toll gewordener Hunde. An diesem Schwert hängt eine ganz eigene Geschichte, die viele in diesem Land kennen. Dir sagt das wohl nichts?" Kopfschüttelnd antworte ich: "Nein. Ich komme aus dem großen Wald im Süden, da ist es gut möglich, dass ein paar Sachen noch nicht angekommen sind."

"Verstehe… gut, dann erzähl aber keinem von diesem Schwert, ja? Wir haben jetzt schon genug Ärger am Hals dank diesem Ventosus… und dieser Rio wird sicher auch noch ein Nagel in eurem Sarg sein, wenn ihr nicht aufpasst!"

"Wir werden sehen, ob er vertrauenswürdig ist. Aber ich denke, selbst wenn mit ihm was nicht stimmen sollte, haben wir wenig zu befürchten - mit zwei Exorzisten von dieser Schlagkraft!" Ich grinse, als ich das sage. Alex verfällt in lautes Gelächter, ehe er mir auf die Schulter schlägt - zum Glück auf die unverletzte.

"Jetzt schleim dich doch nicht ein, Kleiner!", lacht der Dämonenjäger, "Das heute war noch gar nichts! Ich kann dir ja auf der Weiterreise mal erzählen, wie Craylo und ich ein paar Anhänger der Ungesühnten Armee das Fürchten gelehrt haben! Und außerdem… du hast dich auch reingehangen heute. Das war schon allemal besser als dein Kampf in Keslynth!"

"Meinst du wirklich?"

"Klar! Wenn ich Lügner nicht ab kann, werd' ich wohl der Letzte sein, der dir falsche Hoffnungen macht." Er schultert sein Schwert, nachdem er es sorgfältig eingewickelt hat.

"So, jetzt sollten wir weiter. Ich hab meinen Alten besucht, jetzt kann ich mich auch wieder auf den Weg machen!" Alex gibt mir einen kleinen Schubs und geht zurück. Über seine Schulter schauend meint er noch keck: "Damit unser großer Held wieder mal einen Heiler reich macht!"

"Haha, sehr witzig!"

Ich bin bereits dabei, ihm hinterher zu gehen, als Sira wieder ein mal aus ihrem Unterschlupf auftaucht und vor meinem Gesicht herumschwirrt. Sie weist mich an: "Warte kurz noch… ich muss auch noch mit dir reden."

"Was ist denn? Geht es um Ventosus?"

"Weniger um den als um Rio.", gibt die Víla ein wenig unsicher zu, wobei ihre Flügel zwischendurch mal schneller und mal langsamer schlagen. Ob das ein Zeichen bei Víly ist, dass sie nervös sind? "Ich möchte dir bloß raten, auch ja vorsichtig in seiner Gegenwart zu sein!" Zu meiner Empörung sagt sie: "Falls Alex' Warnungen bei dir bereits zu einem Ohr rein und zum anderen wieder raus sind, meine ich." Meine Güte, bloß nicht so verschwenderisch mit deinem Vertrauen um dich werfen, Sira! Sonst werd ich ja noch übermütig.

"Vorschnell werde ich mich sicherlich nicht mit ihm anfreunden.", verspreche ich rollender Augen, "Und vom Umgedrehten König erzähle ich ihm besser auch nichts, oder?"

"Ich sehe, du hast mich wenigstens einmal verstanden.", ist Siras dürftige Feststellung, nach der sie auch wieder ihr Versteck aufsucht. Sie flüstert nur noch, mehr an sich selbst als an mich gewandt: "Und es wäre besser, wenn das unsere Hexe auch nicht täte..."
 

V.
 

Alex verliert gar nicht erst viele Worte, als wir wieder zurückkommen, er will bloß wissen: "Also, jeder bereit, oder müsst ihr noch 'n Geschäft verrichten, oder sonst was?"

Weil niemand mehr etwas dagegen einzuwenden hat, sich wieder auf den Weg zu machen - besonders nicht Rio, der anteilnahmelos die Luft anstarrt - vergeht auch nicht mehr viel Zeit, bis wir wieder in den Satteln sitzen.

Nur ich nicht. Ich muss hinter Craylo auf dessen Pferd sitzen. Der schwarze Rappe, der mehr oder weniger mir gehört, ist bereits mit Griselda und Rio voll besetzt. Der Kerl hat nicht das kleinste bisschen Einsicht gezeigt, als ich meinen zugegebenermaßen fahlen Anspruch geltend machen wollte.

"Als Shikigami Meisterin Griseldas bin ich verpflichtet, nicht von ihrer Seite zu weichen! Außer natürlich sie wünscht es explizit.", hat er gesagt und ich hab Griselda erwartungsvoll angeschaut - Rio sie stechend. Davon ist sie ganz unruhig geworden, bis sie schließlich ihr gesenktes Haupt geschüttelt hat, ihren Hut tiefer ins Gesicht ziehend.

"Nein, nein, ich wünsche nichts dergleichen…"

So hat sich mein Blick deutlich verfinstert, wie wir die langgezogenen Sperentinen am Berg hochreiten. Das langsame Tempo, das unsere Pferde nur noch mitmachen, tut sein Übriges zu meiner Stimmung.

Craylo versucht, die Zeit bis zu unserer Ankunft zu überbrücken und erzählt uns von der Stadt, die wir ansteuern. Wissbegierig sauge ich all die Erzählungen auf. Titania heiße die Stadt und sei schon immer Wohnort der riesengroßen, kräftigen Titanen gewesen, die sich gerne von anderen Völkern den Beinamen 'Söhne der Götter' haben geben lassen.

Markant sei an der Stadt nicht nur ihre beachtliche Höhenlage - oder das landbekannte Titanenbier mit einem Schuss Bergziegenmilch, wie Craylo erwähnt - sondern vor Allem ihre Bauart. Angeblich ist die gesamte Stadt direkt aus den Felsen des Berges gehauen, von den in die Höhe ragenden Rundtürmen über die aus dem Stein ragenden Höhlenhütten bis hin zu der kleinen Burg, wo nun der zuständige Consultor Majoris seinen Sitz hat.

Einzig und allein das Kloster der Terra ist erst viel später und aus herangeschafften Baumaterialien errichtet worden. Was das wohl für ein Bau sein mag?

"Titanen sind nicht so~ religiös orientiert, obwohl auch sie schon von Anfang an dem Terrakult gefrönt haben. Ihre Rituale haben ausschließlich im Freien stattgefunden."

"Stimmt es, dass die Titanen früher kein besonders kontaktfreudiges Volk waren?", entsinne ich mich einiger Erzählungen aus Welsdorf. Der Dorfälteste hat oft von diesen Dingen gesprochen, obwohl er wohl schon genauso lang wie ich das Dorf nicht verlassen hat. Aber na ja, der hatte bestimmt vorher mehr als genug Zeit, die Welt zu sehen.

Craylo nickt.

"Manche von ihnen sind heute noch nicht wirklich davon überzeugt, mit den Völkern jenseits des Berges zu verkehren."

"Wer geht denn auch von zuhause weg, wenn er überall sonst nicht mal durch die Türen passt?"

"Jede neue Erfahrung, die man auf einer Reise macht, ist eine Bereicherung, die selbst die größten Strapazen wettzumachen vermag!", entgegnet Dorac altklug.

"Oh je, du fängst ja schon an wie der Wandermönch von Julianus Merctor! Hey, Craylo, wie wäre es, wenn wir ihn am Kloster abgeben?"

"Ich weiß, du meinst es nur gut mit dir, aber ich denke, bei Craylo bin ich besser aufgehoben! Stimmt's?"

"Jedenfalls habe ich sogar schon von ein paar noch konservativeren Titanen gehört, die nicht mehr auf dem Berg, dafür aber wieder komplett abgeschottet von der Außenwelt leben.", erzählt der Adeptus Elementorum weiter, ohne auf die beiden Dolche einzugehen. Scheinbar reicht, sie zu ignorieren, aus, um sie zum Schweigen zu bringen. Da frage ich mich doch, ob das auch gegen Víly hilft.
 

VI.
 

Die Mittagszeit ist bereits vorbei, als wir endlich die letzte Schräge hinter uns bringen und sich uns Titania offenbart. Trotz Craylos Ausführungen bin ich immer noch schwer beeindruckt, als ich die riesigen Bauwerke sehe, die für die bis zu drei-ein-halb Meter großen Titanen, welche überall durch die Stadt laufen, gerade mal ein Erdgeschoss sind.

Ob es überhaupt Titanen gibt, die nicht bullig und sehnig sind wie die, die überall die Straßen säumen? Selbst die Frauen kommen eher einem Mannsweib nahe, als einer schlanken Nymphenschönheit.

Noch ehrfurchtsgebietender als die normalen Titanen sind aber die Stadtwachen, ganz adrett gekleidet in der Uniform Cardighnischer Soldaten: Ein enger, zugeknöpfter, roter Wams mit tunika-artigem Auslauf nach unten, klimpernde Pteryges und ein schwarzer Hakama, der bei jedem Schritt anmutig weht. Dass unter dieser Tracht versteckt, viele, robuste Metallplatten sich an den Leib der Ordnungshüter schmiegen, ist nicht zu sehen.

Bevor wir uns allerdings großartig in der Stadt umsehen oder gleich Siras Drängen nachkommen und zum Kloster gehen können, suchen wir einen Heiler auf - kein sehr häufiges Handwerk in der Stadt, stellt sich heraus, aber wir finden wenigstens einen eingewanderten Alba, der sich um Griselda und mich kümmert. Alex und Craylo haben nur Schrammen davon getragen und lehnen gezielt das Angebot, sich trotzdem untersuchen zu lassen, ab.

"Die beiden Herren müssen Exorzisten sein, wenn ich die Kreiszeichen richtig deute. Seid Ihr hier, um im Kloster Steckbriefe gesuchter Sündedämonen abzuholen?"

"Ganz genau. In der Hauptstadt ist uns bereits alles weggeschnappt worden, jetzt schauen wir, ob hier nicht noch ein paar Aufträge abzugreifen sind."

"Oh, das wird schwierig.", entgegnet der Heiler.

"Wieso?"

"Das Kloster hat namhaftesten Besuch. Um den Gast vor jeglicher Gefahr zu schützen, besonders in jenen Zeiten, da Untote immer wieder die Dörfer und Städte überfallen sollen, wird niemand von nicht vergleichbarem Wert eingelassen."

"Ach, und welches hohe Tier residiert grade im Kloster?"

"Niemand anderes als die Tochter des Königs höchstpersönlich! Selet von Ardsted beehrt Titania!" Ganz unterschiedliche Reaktionen ruft diese Neuigkeit in uns allen hervor: Alex knirscht mit den Zähnen, Craylos Augenbrauen zucken blitzschnell nach oben, ich mache ein erstauntes Gesicht, die Víla in meinem Nacken zuckt regelrecht zusammen, während Rio ganz in stoischer Ruhe verharrt, aber Griselda geradezu aufspringt und fassungslos fragt: "Was?! Die Prinzessin, aber das ist doch nicht möglich!"

"Aber wenn ich es doch sage!", beharrt der Heiler mit verblüffter Miene ob der heftigen Wiederrede. "Ich muss es wissen, mich hätte die Kutsche der feinen Dame ja fast überfahren, als sie hier vorbei gerast ist."

"Weshalb seid Ihr so unstet, Meisterin?", möchte Rio wissen. Griselda schnauft richtig, als habe sie der Schlag getroffen. Was ist denn jetzt in sie gefahren?

Besorgt will der Heiler wissen, ob sie noch anders verletzt sei und nicht ein stärkendes Tonikum bräuchte. Leichenblass verneint sie: "Es… es ist nichts, danke. Ich… ich bin nur ganz aufgeregt, dass die Prinzessin hier ist." Ihre krampfhaft verzogene Miene, als sie leiser anfügt: "Ich gäbe alles dafür, sie einmal persönlich zu sehen." gibt mir ein Rätsel auf. Deswegen rastet sie so aus? Oh je, heute ist wohl Mysterientag…
 

Gemischter Gefühle verlassen wir die kleine Praxis wieder, nachdem der Mann entlohnt worden ist, und ziehen uns zur Beratung in ein nahes Lokal zurück. Sitzplätze, die auf unsere Größe zugeschnitten sind, gibt es keine in der mit Lehm vertäfelten Höhle, wir müssen an den Tischen stehen, die uns fast bis zum Hals gehen. Das gibt mir ein deutliches Bild, wie ein Zwerg sich im Vergleich zu uns fühlen muss, während ich eine trübe Brühe aus gemahlenen Luzernesprossen löffele.

"Tja, ich glaube das war's dann fürs Erste mit Bier und gutem Wein! Wir hocken ohne Arbeit hier herum und dürfen warten, bis die zukünftige Königin wieder ihren adeligen Popo aus der Stadt bewegt!"

"So spricht man doch nicht über eine Prinzessin!", empören sich Griselda und Dorac unisono. Ein paar Titanen sehen schwerfällig zu uns herüber.

Ich zische: "Nun beruhigt euch mal…"

"Genau.", stimmt Alex zu, nachdem er einen Schluck Wasser genossen hat, "Mir stinkt die Sache zwar genauso, aber wir werden noch weniger davon haben, die Stadt jetzt zusammenzuschreien."

"Sag ich ja: Abwarten und Tee trinken - falls wir das Geld dafür noch übrig haben."

"Von wegen.", erwidert Alex.

Craylo seufzt, als sein Kamerad uns andere alle so überrascht. "Wenn die Königstochter am Kloster residiert, ist das Pech - aber garantiert nicht für uns!"

"Gewagt, indirekt vorzuschlagen, sich in dieses Kloster zu schleichen.", merkt Rio skeptisch an, was ihm einen weiteren schrägen Blick von Alex beschert. Ihn schreckt die hauchdünne Warnung in den Worten des Dunkelelfen offenbar nicht, so spricht er gedämpft: "Was soll uns schon erwarten? Ein paar Wachmänner vielleicht… na gut, es werden Titanen sein, aber ich habe schon mit Dämonen von derselben Statur gerungen."

"Mir fällt auf, dass du die ganze Zeit von 'uns' sprichst.", äußere ich da frei aus dem Bauch heraus etwas, das in meinem Hinterkopf gelauert hat. Dem Anschein nach betrachtet Alex uns jetzt schon als Gefolge, dass er so offen mit uns spricht.

Sira zieht mir unangenehm am Ohr, zischt mir zu: "Was soll das denn?! Das kann uns doch nur recht sein, wenn er uns mitnimmt!"

"Oh, das stimmt… eigentlich hat das ja gar nichts mehr mit Euch zu tun.", reagiert Dorac zurückhaltend, "Aber - ich hoffe, ihr gestattet mir, das zu fragen - wieso seid ihr dann überhaupt hierher gekommen?"

"Nun, ei… eigentlich wollen wir auch zum Kloster!", plappert Griselda drauf los, was Sira sich verkrampft in meinen Nacken krallen ließ. Verdammt noch mal, kann diese Víla sich denn nicht zurückhalten?! Wenn die anderen meine entgleitenden Gesichtszüge bemerken, wäre unserer Sache genauso wenig gedient, wie wenn Griselda jetzt alles ausplaudert! "Ich hab nämlich von meinem alten Lehrmeister erfahren, dass sich dort Schriften befinden sollen, die für mich von Interesse wären!"

Alex beginnt zu grinsen, dass man jeden Moment von ihm erwarten könnte, ihr durchs silberne Haar zu fahren.

"Gut, dann denke ich mal, wird es auch in eurem Interesse zu sein mitzukommen."

"Wir sollten lieber aufpassen, dass sie diese Schriften nicht ganz zufällig mitnehmen, wenn wir uns schon einschleichen.", scherzt Carod, "Sonst erfreuen wir uns am Ende noch der Sündedämonen, die sie damit womöglich in die Welt entlassen."

"Lasst mich wissen, wenn ich dieses respektlose Stück Metall entzweibrechen soll, Meisterin Griselda."

"Ich liebe es, wie du deine Zähne zeigst, Spitzohr, aber ich glaube, ich bin noch schlank genug, um keine Gewichtsreduzierung zu benötigen!"

"Hört auf, ihr zwei!", geht Craylo dazwischen zu Doracs klar erkennbarer Freude. Der silberne Dolch lacht schadenfroh, worauf Carod einsilbig "Klappe!" ruft.

Wir beenden unser Mahl und machen uns gestärkt und mit festen Plänen auf den Weg, uns dieses Kloster etwas näher zu besehen.
 

VII.
 

Der Weg zum Kloster führt weg von der riesigen, stufenförmigen Hauptstraße, die sich zum Verwaltungssitz der Stadt erstreckt. Zur einen Seite ragen die Felswände empor, zur Anderen gähnt der Abgrund, wo tiefdunkler Nadelwald seine nur diffus erkennbaren Spitzen nach oben reckt. Ein Fall aus dieser Höhe wäre unter allen Umständen tödlich, das weiß jeder von uns auch ohne großes Nachprüfen.

Nach kurzer Zeit wird der Weg am Berg entlang breiter, lenkt langsam zum Massiv - und auch zu zwei massiven Wachposten, die mit Speeren bewaffnet und gesichtsfreien Helmen bewehrt schon beim ersten Blickkontakt rufen: "Halt! Ihr könnt gleich wieder umdrehen, der Zugang zum Kloster ist dem reisenden Volke untersagt!"

"Ach, das sagt wer?", entgegnet Alex vorlaut dem um die drei Meter hohen Koloss.

"Wir unterstehen dem Kommando von Consultor Maioris und oberstem Richter Gerdonis! Er hat angeordnet, dass, solange das Kloster den Besuch der Königstochter samt Gefolge genießt, der Zugang für Fremde untersagt ist! Und nun verschwindet, wenn Ihr nicht verurteilt werden wollt!"

"Was… was droht uns denn, sollten wir uns widersetzen?", bekommt Dorac kalte Füße, wobei gleichzeitig auch Craylo anzweifelt, dass das wirklich eine gute Idee ist. Diese beiden Brocken lassen sich sicher nicht mit einfachen Menschendolchen aus den Stiefeln schubsen - auch nicht, wenn sie wohl die einzigen sind, die Leute niederquasseln können.

Der eine Wachmann stöhnt genervt, fährt sich durch sein fleischiges, hochrotes Gesicht. "Von einer Tageshaft bis zu wochenlanger Verwahrung, wenn Ihr noch länger unsere Zeit beansprucht!"

"Hm, mehrere Wochen gesiebte Luft für nichts weiter als Euch vom Arbeiten abzuhalten?", meint Alex, während er sich nachdenklich sein unrasiertes Kinn reibt, "Das lohnt sich ja gar nicht, da sollten wir Euch wenigstens mal schubsen und dann schauen, was uns blüht!"

"Macht Euch nicht lustig, oder wir transportieren Euch gleich ab, jetzt geh-"

Mitten im Satz bricht er ab, denn Alex rennt auf ihn zu, sein eingewickeltes Schwert wie einen Stab haltend, mit dem er auf das Kinn des Titanen zielt. Von unten stößt er ihm den harten Schwertgriff gegen den Kiefer, ein abgewürgter Schrei dringt aus der Kehle des Wachmanns, welcher röchelnd nach hinten taumelt.

Sein Kamerad aber macht sich bereit, Alex gleich für seine Tat büßen zu lassen, indem er mit seinem Speer nach ihm sticht.

Ich bin noch ganz verwirrt. Ganz einem Bauchgefühl folgend entscheide ich mich aber, Alex zu helfen, anstatt weiter Gedanken daran zu verschwenden, ob das denn wirklich der richtige Weg ist. Pfeilgeschwind ziehe ich meinen Anderthalbhänder, schlag auf den dicken Speer ein, um ihn zu durchtrennen.

Was so einfach geplant war, erweist sich in Wirklichkeit als viel schwieriger. Mir tritt der kalte Angstschweiß auf die Stirn, als ich mein Schwert im Holz feststeckend finde.

Den Titan belustigt das schon fast, grimmig grinsend ist er dabei, mich zu Boden zu schleudern. Aber Rios Initiative auf Bitte Griseldas macht dem einen Strich durch die Rechnung. Er stößt sein Gladius durch den Pilum, befreit mein Schwert aus dem zweigeteilten Holz und will schon mit mir aus Reichweite des Titanen laufen, als dieser mit einer seiner riesigen Pranken seinen Speer loslässt und nach uns greift.

Dass er dadurch aber der Parierstange schutzlos ausgeliefert ist, die Alex ihm von unten in den Nacken schlägt, wo der Helm einen Spalt freilässt, entgeht dem Hünen. Betäubt ist er davon nicht, genauso wenig wie der andere Wächter, der sich inzwischen wieder gefasst hat - bis ihm zwei ganz bestimmte Dolche direkt gegen den Helm fliegen. Für den armen Titanen muss es so sein, als stünde er nicht bloß direkt in einem Glockenturm, sondern als wäre er der Klöppel selber, der die gesamte Lautstärke der Glocke zu spüren bekommt.

Auch der andere kriegt die Dolche an seinen Helm geschleudert und während die Titanen sich schreiend die Helme vom Kopf reißen, prüfen, ob sie überhaupt noch hören können und nun bestimmt mit bösen Kopfschmerzen kämpfen, rennen Craylo und Griselda zu Alex, Rio und mir, ehe wir die beiden Wächter im Spurt hinter uns lassen.

"Ich hoffe, wir können uns irgendwann dafür entschuldigen… sie haben uns ja eigentlich nichts Böses gewollt."

"Ich bin sicher, sie werden uns mit Tee und Kuchen anhören, wenn wir ihnen irgendwann näher bringen wollen, wieso wir ihnen grade fast das Trommelfell gesprengt haben!"

"So ähnlich sehe ich das auch!", werfe ich ein.

"Quatscht nicht so viel!", ruft uns Alex zwischen zwei Atemzügen zu, "Sonst holen die uns ein, wenn sie erst mal wieder auf den Beinen sind!"

Wir hasten einvernehmlich weiter, der feste Stein unter unseren Füßen weicht fort vom Abgrund, hin zum Gipfel. Zu beiden Seiten erheben sich nun die steil aufragenden Felsen, dazwischen befindet sich eine hohe Mauer. Ein riesiges, hölzernes Tor mit Metallstreben und großen, dicken Nieten ist geschlossen und verriegelt worden, wie wir nach kurzem Rütteln an der Pforte feststellen. Über dem blassgrün angemalten Torbogen voller Fresken prangt eine Aufschrift: TERRAE COENOBIUM MONTE MORTUORUM

Das ist also der Eingang zum Kloster, dem ersten Ort, wo eines der vier Wunder gewirkt haben soll - bis heute noch wirken soll. Sira hat erzählt, sie seien bis heute noch aktiv.

Und nicht weit entfernt hinter diesen Mauern über welchen sich zunehmend die Wolkendecke zuzog, lauert auch ein Priester mit Namen Basgorn, welcher all unsere Arbeit zunichte machen will. Nicht die besten Aussichten, finde ich, während ich skeptisch die meterhohe Mauer hochstarre und meinen Atem beruhige. Wir müssen da rüber, das ist mir klar, besonders weil uns die beiden Wächter auf den Fersen sind. Aber wie?

Alex bereitet sogleich eine Räuberleiter vor. Zusammen mit Craylo käme er vielleicht etwas über drei Meter nach oben, doch die Mauer, welche gut sechs bis sieben Meter nach oben reicht, werden sie so nie zu überwinden wissen. Dies verleitet den jungen Mann gleich zum Schimpfen: "Verflucht aber auch! Was machen wir denn jetzt?!"

"Na was wohl!", nörgelt Carod, "Wir warten auf unsere Verfolger und bitten sie, uns zur Hand zu gehen! Sie wollten uns ja schließlich nichts Böses!"

"Ich sagte ja nie, dass wir uns sofort mit ihnen versöhnen müssten… und daher bezweifle ich auch, dass sie gut genug aufgelegt sein werden, um uns nun doch durchzulassen."

"Tja! Dann bleibt wohl doch nur zu Terra zu beten, im nächsten Leben als Harpyien geboren zu werden, dann fliegen wir einfach über die Mauer hinweg! Dann könnten wir sogar mit etwas Geschick über die Mauer HÜPFEN!"

"Hüpfen können wir vielleicht nicht…", grübele Maljus, "Aber was wäre, wenn Alex einen von uns nach oben schleudert?"

"Flugstunden mit Elfen, ja! Eine famose Idee!", tönt Carod noch aufgebrachter. Wäre er nicht nur ein Dolch, hätten wohl verwerfliche Gesten und eine spöttische Miene seine blöden Worte begleitet - und ich womöglich die Lust verspürt, ihm den Hals umzudrehen. "Und wer soll sich bitte blind nach oben werfen lassen?"

Darauf weiß Alex sofort eine Antwort und macht sich plötzlich bereit: "Natürlich derjenige, der diese tolle Idee hatte!"

"Wa- was?!", stammele ich, "Ich?!" Nie im Leben!

"Du scheinst der leichteste hier zu sein, Meisterin Griselda ausgenommen.", erläutert Rio hektisch Alex' Gedankengang, "Und wenn du es jetzt nicht machst, werden die Titanen gleich hier sein. Ich glaube, bereits ihre Häupter dort drüben sehen zu können." Ich wünsche mir, nie etwas gesagt zu haben, was ist das denn auch für eine Schnapsidee gewesen?!

Aber die Situation ist zu hektisch gewesen, um großartig nachzudenken, und jetzt ist sie es, um sich noch lang und breit zu sträuben. Ich schlucke, gehe ein paar Schritte zurück und laufe auf Alex zu, reiße mein Bein hoch und platziere meinen Fuß in Alex' gefalteten Händen. Ehe ich noch mit dem anderen Fuß nachziehe, reißt Alex ächzend seine Hände nach oben und wirft mich in die Höhe. Fast pralle ich gegen die Mauer.

Es ist Todesangst, die mich durchströmt, als ich schnell noch nach den Zinnen greife, wegen meiner Handschuhe kaum Halt findend. Überstürzt ziehe ich mich hoch, verschnaufe nur kurz. Ich kann nicht glauben, dass das ernsthaft geklappt hat. Ich bin auf der Mauer!

Flink renne ich die erste Treppe hinunter, nachdem ich die Titanen in einiger Entfernung erblickt habe. Ich habe keine Augen für die Bauweise des Innenhofes und die Verzierungen an den Mauern. Ich laufe zum Tor, stemme mich gegen den mächtigen Riegel und reiße die Pforten auf. Kaum zehn Meter trennen die anderen noch von den Titanen. Sie stürmen an mir vorbei, Alex schlägt das Tor zu und Craylo verriegelt die Pforte wieder. Keiner von uns ist nun nicht aufgeregt und überglücklich, es geschafft zu haben.

"So… und jetzt ab in irgendeines der Gebäude, bevor die Großen das Tor einschlagen!", nimmt Alex dann das Ruder in die Hand, Griselda und mich in Richtung des zweistöckigen Hauptgebäudes schubsend. Rio folgt uns, welche die Köpfe noch zu Alex und Craylo gedreht weiterstolpern, notgedrungen. "Schaut zu, dass ihr diese Bücher findet und euch das Wichtigste rausschreibt bis heut Abend! Dann treffen wir uns wieder und hauen in der Dämmerung ab!" Sobald er zu Ende gesprochen hat, läuft er auf eine der Stallungen zu, um sich dort zu verstecken.

Na, das kann ja heiter werden...

Capitulum V: Terra-Kloster - Die Gottlosen


 

I.
 

Umgeben von breit geöffneten Portiken im Inneren der Eingangshalle, liegt die tiefergelegte, längliche Zisterne des Klosters. Ringsum zweigen Gänge und Treppen in andere Gebäudetrakte ab, alle perfekt symmetrisch angeordnet und von marmornen Skulpturen gesäumt. Eine besonders auffällige Skulptur ist die einer hochschwangeren Terra, welche aus ihrem steinernen Bauch einen Knaben und ein Mädchen schält.

In Windeseile renne ich mit Griselda und Rio im Schlepptau an ihr vorbei, lasse die Kunst und zugleich Künstlerin in ihrem festgehaltenen Schaffensmoment nichts weiter als einen trivialen Brocken Stein sein und haste über die schwarzbraunen, spiegelglatten Bodenfließen. Ohne Orientierungssinn sehe ich mich lieber nach einem möglichen Versteck um, während unsere Schritte die feierliche Stille des Gebäudes entweihen - solange das niemand anders mitbekommt oder es uns wenigstens gleichtut, damit ich gewarnt bin, ist mir das gleich!

Ein brillanter Plan, Alex, wirklich! So wie ich mein Glück kennen gelernt habe, haben sich diese zwei Titanen gleich an unsereFersen geheftet, während die zwei Dämonenjäger im Stall ruhig sitzen und Pläne fassen können.

Vorbei an geschnitzten Ebenholzportalen, die den Titanenstandards angepasst sind, Spitzbogenfenstern und überdacht von Kunstbögen laufe ich den dämmrigen Gang entlang, bis ich nicht weit entfernt eine der Türen geöffnet vorfinde.

Ich halte an, im Begriff auf dem Absatz kehrt zu machen und nicht Gefahr zu laufen, gleich einen Geistlichen über den Haufen zu rennen.

Ein ausgesprochener Name lässt mich jedoch erstarren.

"Basgorn hat eine seiner Novizinnen geschickt und lässt sich entschuldigen. Ein derber Kopfschmerz hält ihn davon ab, unserer Konferenz beizuwohnen.", spricht jemand in dem angrenzenden Zimmer mit den nach außen geöffneten Türen, "Von Sacerdos Qos hingegen haben wir einen freudebringenden Brief erhalten, er wird wohl noch zu selbiger Stunde wieder zuhause eintreffen."

Griselda und ich schauen uns vielsagend an - der Name Basgorn ist in mein Gedächtnis eingebrannt wie mit glühendem Eisen. Der Mann kuriert ganz sicher keine Migräne aus, während andere Priester eine Konferenz abhielten. Nein, bestimmt ist er bereits eifrig dabei, Dyonix' Anweisungen auszuführen.

Mein Gesichtsausdruck ist schlagartig finsterer geworden bei der Nennung des Namens.

"So so. Nun, wir werden die Vorkommnisse letzter Zeit wohl ohne ihn deuten müssen. Hoffen wir, dass der gute Mann sich nichts Schlimmeres eingefangen hat.", sagt eine weitere Stimme, "Jenseits des Berges sollen ja allerhand schlimme Dinge derweil passieren."

"Kindesentführungen, Sacerdos Vetustissimus Graasch. Junge Maiden aus allen Längen und Breiten Cardighnas, so sagen es die Boten und Gaukler in Titania.", mischt sich noch eine Person ein, "Es verwundert mich unter diesen Umständen noch mehr, dass Prinzessin Selet zu uns gekommen ist!" Kurz hört man Graasch leise brummen.

"Ha, wo könnte sie sicherer sein, als im Schoss der göttlichen Mutter, bewacht von Titanen, hohen Mauern und diesem Exorzisten, der ebenfalls hier residiert? Doch genug! Es gab noch anderes, das unser Augenmerk verdient, nicht wahr?"

"Fürwahr.", bestätigt eine Frau, "Und es ist zur Ausnahme endlich einmal frohe Kunde! Es scheint, als sei unser Opferfest zum letzten Mond ein großer Erfolg gewesen, die Magna Mater dankt uns mit wunderbarer Ernte! Die Pflanzen treiben und sprießen, es ist beinahe schon verrückt!"

"Vorgestern waren wir mit der Lese der Trauben fertig und stellt Euch vor, Sacerdos Vetustissimus, die Stöcke tragen bereits wieder Früchte!", pflichtet ihr ein anderer Priester bei.

Gerade als Graasch seine Freude darüber ausspricht und der Erdgöttin Preisung über Preisung widmet, höre ich aus meinem Kragen eine unendlich aufgeregte Sira zischen: "Diese Idioten! Diese einfältigen Narren haben doch keine Ahnung!" Sie versteift sich zunehmend. "Das ist eine grauenvolle Botschaft! Denn dies muss heißen, dass die Prophezeiung Recht behält - die Kraft des Siegels entlädt sich in unsere Welt und wird dem Umgedrehten König die Wiederauferstehung erleichtern!"

"Du meinst diese reiche Ernte ist nur ein düsteres Vorzeichen?" Ich bin da mehr als zweifelnd, ist das denn überhaupt möglich?

Aber Sira beharrt auf ihre Theorie: "Wer ist hier Stättenwächterin, du oder ich?!" Obgleich gereizt, kann ich mich grade noch zurückhalten, ihr aufzuzeigen, wer in seiner Funktion als Stättenwächter versagt hat.

"Wollt Ihr noch lange dieser trivialen Unterhaltung beiwohnen, Meisterin Griselda?", erkundigt sich Rio, offen lassend, ob er unser Flüstern mitbekommen hat, oder über die Konferenz redet.

Kaum hat die Hexe Luft geholt, um ihm zu antworten, lagern sich neue Stimmen über das leise Gewirr im Konferenzsaal. Zwei uns nur allzu bekannte hohle und eine unbekannte, jünger und weniger massig klingende.

"Richtet Sacerdos Vetustissimus Graasch unsere Entschuldigung aus. Wir werden diese Strolche frühmöglichst fangen und in das schäbigste Verließ werfen, das die Kerker von Titania zu bieten haben!", verspricht einer der Titanen, der gerade mit einem Novizen um die Ecke bog.

In dem sekundenkurzen Augenblick, da wir Soldat und Geistlichen nebeneinander erblicken, sehe ich, wie es oftmals nur Details sind, die Amtsträger voneinander trennen.

"Ausgerechnet zu so einer Stunde, wenn fast alle im Oratorium dem Mittagsgebet frönen… Ts ts.", bemerkt der junge großgewachsene Mann.

Auch die Cardighnischen Novizen tragen stets einen Hakama, jedoch ist ihrer in einem freundlichen Braun gehalten, passend zu den erd- und beigefarbenen Kosode und Haori, welche mit roten Stickereien verziert sind. Doch mit demselben Stolz, mit dem ein Krieger der Armee sein Abzeichen trägt, lässt der Novize jedermann die silberne Brosche sehen, die seine Klosterzugehörigkeit beweist.

"Nichts wie weg hier!"

Ich wende mich schnell ab, mir der wenigen Sekunden gewahr, die uns bloß bleiben, ungesehen in eines der nächsten Zimmer zu huschen. Ganz gleich, was nun hinter der Tür warten wird, die ich auserkoren habe, ob Gemach, ob Schatzkammer oder Abort, Hauptsache raus aus diesem Gang! Von diesen Gedanken begleitet, reiße ich die Tür auf und trete mit Griselda und Rio ein.
 

II.
 

Ein Ort, der bei Weitem nicht so still und verlassen war wie der Innenhof des Klosters, waren die Stallungen, in denen Craylo und Alex sich ein Versteck gesucht hatten. Ziegen, Schweine, Hühner und ein paar teuer angeschaffte Kühe, die hier auf dem kargen Mons Mortuorum nun wirklich nicht zu Hause waren, gaben sich beste Mühe, eine gemischte und laute Tonkulisse zu erschaffen. Genauso automatisch bildete ihr simples Dasein einen Geruchsfilm, bei dem sich die Exorzisten wünschten, wieder in den Sümpfen von Aquolix auf der Jagd nach einem kleinen Dämonenkult zu sein.

Fest ihre Nasen zuhaltend, arbeiteten sie sich durch die dämmrigen Hallen aus Holz, wo Platzmangel so häufig war wie ein weiterer Luftanreicherer aus dem Hintern der Tiere.

"Wenn ich so zurückblicke, hätten wir mit dem Kleinen und seinem Gefolge wohl doch die Verstecke tauschen sollen!", ärgerte Alex sich über sich selbst. "Aber würde ich den genauen Münzenwert kennen, den all diese stinkenden Viecher verkörpern, wär' ich sicher neidisch auf die, die so eine Armee von Nutztieren ihr Eigen nennen können!"

"Dass du uns bloß nicht auf die Idee kommst, ein Tier zu stehlen!", mahnte Dorac.

"Hehehe."

"Und worüber lachst du schon wieder?"

"Ich hab nur meine Freude daran, wie Craylo den Geruch auszublenden versucht! Ich bin aber auch arm dran, keine Nase zu haben!"

"Ihr habt auch nur Hühnerkacke im Kopf, was…?", kommentierte Alex entnervt das triviale Gespräch. Verzerrt durch seine manuell verschlossene Nase, seufzte Craylo und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf etwas anderes: "Wo genau wollen wir uns denn jetzt verstecken?"

"Ganz einfach, nirgends, solange hier niemand außer uns und dem Vieh sein Unwesen treibt."

"Und wenn das doch passieren sollte?"

"Dann werden wir uns notgedrungen im Heu verbuddeln müssen." Alex zog selbst eine unglückliche Miene, wie er das vorschlug. "Auch wenn's mir genauso wenig zusagt bei der leckeren Beilage, die das Heu hier hat."

"Ein Tier ist nun mal kein Zweibeiner…"

"Und das sagst ausgerechnet duuns, Dorac?"

"Von Gegenständen war nie die Rede!", verteidigte sich der silberne Dolch.

Ähnlich alltäglich plaudernd liefen sie weiter durch die mit Gittern und Brettern abgetrennten Wege innerhalb des riesigen Stalles. Craylo wunderte sich mehr als einmal, keinen Stallburschen zu entdecken. Bei so einer Vielzahl von Tieren müsste doch schließlich jemand auch nach ihrem Wohlergehen sehen?

Dass er das überhaupt in Gedanken angeschnitten hatte, bereute er spätestens dann, als er mit vom Weg abgewandten Blick gegen Alex lief, der aus irgendeinem Grund angehalten hatte. Dieser Grund lag vor dem Blonden und war eine fast schon winzige Gestalt, nämlich eine heranwachsende Zwergin, die, sich den Kopf reibend und neben sich einen randvoll gefüllten Korb Eier liegen habend, zu ihnen hoch starrte. Alex hatte sie gar nicht gesehen, weil sie so klein war und überlegte fieberhaft, wie er einer sofortigen Enttarnung entginge.

Craylo hingegen lief erst mal an ihm vorbei und half dem Mädchen überhaupt auf die Beine. Ihre geringe Größe ließ sie noch filigraner wirken, als sie es als Mensch beispielsweise getan hätte. Ein zarter Leib mit fast schon weißer Haut steckte in einer ihrer Größe angepassten Novizentracht. Die Auszubildende hatte goldblondes langes Haar und große funkelnde Augen. Diese musterten die beiden Dämonenjäger.

"Hast du dir was getan?", brach Craylo ein wenig nervös das Schweigen.

"Oh.", machte das Mädchen erst bloß, "Ja, danke, mir geht es gut." Flugs machte es sich daran, die paar Eier, die aus seinem Korb gefallen und gerollt waren, wieder einzusammeln und die zu beklagen, die nicht mehr ganz waren. "Oh je, das wird Priester Rhejulius gar nicht gefallen!"

"Das tut uns wirklich aufrichtig leid…", versuchte Craylo, Alex' Unachtsamkeit zu entschuldigen. Dass es dem leid tat, sah man nicht gerade. Zusammengepresster Lippen und leicht herabgelassener Brauen rieb er sich das Kinn.

"Nein, nein, schon gut…", sagte die Zwergin, "Dafür könnt ihr ja nichts! Und… und wenn ich dem Priester sage, dass es nicht meine Schuld war, wird er mich erst recht maßregeln!" Bedauern und Wut spiegelten sich bei dieser Vorstellung in ihren Augen, missmutig verzog sie die Lippen.

"Ich hab ganz vergessen, wie schwer die Priesterausbildung sein soll…", bemerkte Alex, woraufhin sie betroffen nickte. Sie erklärte: "Die frühen Jahre sind die schlimmsten… wir Frühnovizen müssen fast all die Arbeit machen, die anfällt. Den Gebetssaal putzen, den Platz kehren, die Bäume abernten, den Stall ausmisten, die Kühe melken, die Eier einsammeln - das, was ich gerade eben mache!"

"Gibt es da auch nicht dieses sogenannte Reinheitsjahr?", erinnerte sich Craylo.

"Ja, genau, das kommt noch hinzu! Ein ganzes Jahr lang keine Untat begehen und sich in Tugend und Fleiß üben." Nach etwas Hüsteln fügte sie hinzu: "So formulieren es die Priester zumindest."

"Und am Ende gibt's 'nen Läuterungsgegenstand, richtig?", vollendete Alex. Die Zwergin nickte. "Ja, richtig! Diese Sachen verhindern, dass man mit seinen Taten einen Sündedämonen erschafft!"

Noch einmal guckte sie sich die beiden genau an. "A- aber wer seid Ihr denn überhaupt?! Wie kommt es, dass Fremde hier sind?!"

Wie der Schlag traf die beiden, dass sie ja eigentlich ertappt worden waren. Und sie hatten sich lieber im Plauschen verloren, als sich eine rettende Idee einfallen zu lassen!

"Na…" Alex rang mit den Worten, während er im Kopf versuchte, die Idee zu packen, die ihm kam, dann aber wieder versuchte zu entwischen. "Wonach sehen wir denn aus?" Hab ich dich!, dachte er sich noch.

Die Novizin legte ihren Kopf schief und vermutete: "Nun… ihr seid Reisende… und er ist ein Magier." Mit einem Fingerzeig auf Craylo überlegte sie.

Als habe er das nicht schon vorher geplant, half Alex ihr auf die Sprünge: "Wir sind natürlich Exorzisten!"

"Ja, genau!" Craylo ging ein Licht auf, was Alex sich gedacht hatte, immerhin kannte er den Elfen lang genug, um seine Denkensweise langsam zu kennen und zu verstehen. "Wir haben eine Sondererlaubnis bekommen, am Kloster zu weilen, um für Sicherheit zu garantieren!"

"Um genau zu sein, die Sicherheit ihrer Hochwohlgeboren Selet von Ardsted!"

"Wirklich?", fragte das Mädchen.

"Ja, wirklich! Wir sind ein recht berühmtes Exorzistenduo, wir heißen Craylo und Alex!", trieb der Magier das Ganze auf die Spitze, wofür ihm Alex am liebsten erstmal einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben hätte. Er musste nicht gleich wieder seine große Schau abziehen, sie entkamen hier vielleicht knapp dem Zuchthaus!

"Ich heiße Zea! Erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, die Herren Exorzisten!" Sie gaben sich die Hände, wobei die beiden etwas in die Hocke gehen mussten, um die winzige Hand der Zwergin zu greifen zu bekommen. Dann aber schien Zea wieder misstrauischer zu werden. "Aber drei Exorzisten auf einmal…? Sind die Priester denn so besorgt?"

"DreiExorzisten?! Wer ist denn noch hier?!", rutschte es da dem überrumpelten Craylo raus.

"Na, dieser andere Kerl! Dieser Ludwig. Habt Ihr den denn nicht getroffen?"

"A- ach der!", winkte Craylo gespielt unbeeindruckt ab, "Ja~, ich erinnere mich!"

"Und wiedu dich erinnerst…", flüsterte Carod sarkastisch.

"Und was macht Ihr überhaupt hier im Stall…?", bohrte sie nach, "Das wäre der letzte Ort, wo ich einen Exorzisten vermuten würde."

"Eben!", erwiderte Alex sofort, "Das denkst nicht nur du und gerade deswegen sind wir hier - was, wenn sich so ein gewiefter Täuschungsdämon das zunutze machen will und sich hier versteckt? Wir überlassen unser'm Kollegen Ludwig mal die offensichtlichen Angriffspunkte, während wir lieber die nicht ganz so bekannten Verstecke abklappern. Daher wär's jetzt auch gut, wenn wir wieder unserer Arbeit nachgehen könnten, ja?"

Zufrieden war Zea damit nicht ganz, dennoch sagte sie: "Ja, ja, schon gut… dann will ich nicht länger stören." Ihren Korb packend ging sie weiter, ehe sie schneller wurde und noch irgendwas fluchte von Zeit, die sie vertrödelt hatte.

"Craylo, der Frauenversteher - nicht das erste Mal sieht er eine Dame wutentbrannt davon laufen!"
 

III.
 

Eine winzige Abstellkammer erschließt sich uns, während die Tür hinter uns ins Schloss fällt. Alte Regale voll verstaubter Tongefäße und wertminderen Schnitzereien, ein paar handgeschriebene Bücher, die teils geöffnet auf den Brettern liegen, gibt es in dem Raum und mehrere achtlos hingeworfene Laken, welche die Motten offenbar noch nicht entdeckt haben. Sie sind schmutzig, aber noch nicht beschädigt. Das winzige Fenster, durch das das von tanzenden Staubkörnen durchdrungene Licht den Raum minimal erhellt, wartet dem Geruch der Kammer nach zu urteilen auch schon lange vergebens darauf, einmal wieder angefasst und geöffnet zu werden.

Nur eine leicht abgeschabte Staubschicht, die zu den Laken zu führen scheint, lässt überhaupt erkennen, dass jemand diesen Raum vor weniger als einem Cardighnischen Monat überhaupt betreten hat - und das sind schließlich sechsundvierzig Tage!

"Werden sie das Knallen der Tür nicht bemerkt haben?" Griseldas Miene straft ihre Besorgnis sicher keine Lügen. Als habe sie gerade eine Prophezeiung ausgesprochen, klingen die dumpfen Schritte der Titanen auch schon hinter der Tür.

"Hier scheint grade jemand reingegangen zu sein. Vielleicht hat er ja etwas bemerkt.", hören wir die helle Stimme des Novizen dumpf durch das intarsiengeschmückte Holz der Türe. Wortlos zucke ich mit dem Arm, um auf die Laken zu zeigen, unter denen wir uns rasch verbergen und platt auf den Boden pressen in der Hoffnung, nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.

Mit quietschenden Scharnieren öffnet sich die Tür keine Sekunde später. "Seltsam… niemand ist hier."

Mir wird klar, dass das nicht nur jetzt eine Unwahrheit ist, was der junge Mann vermeintlich feststellt, sondern auch schon, als wir selber eingetreten sind: Wie steif gefroren gaffe ich das dunkle Gesicht vor meinem an. Volle Lippen, dunkle, sanfte Haut und aufgeweckte, dunkelblaue Augen machen mein Blickfeld aus. Zu den Seiten kann ich rote, zurückgebundene Haarsträhnen ausmachen.

Die Tür schließt sich hörbar wieder, dann vergehen vielleicht zwei Sekunden, ehe die Laken beiseite geschoben werden - oder geworfen, denn die Jugendliche vor mir hatte es offenbar eilig, mir nicht mehr ihren flachen Atem ins Gesicht zu pusten. Als wolle sie sich gleich doppelt aufrichten, breitet sie sogleich auch noch rote Schwingen aus, die aus ihrem Rücken wachsen.

Jetzt kann ich die Unbekannte erst komplett ausmachen, sie ist eine Harpyie! Die Anzahl der Kettchen, Armreife, Anhänger und sonstigen Schmuckgegenstände, die sie trägt, übersteigt die ihrer Klamotten, denn tatsächlich hat sie nichts als eine aufgebauschte kurze Hose in Weiß an, die am unteren Rand goldene Borten mit dunklen, fremdartigen Zeichen aufweist. Ihr Busen verschwindet unter dem üppigen, roten Brustgefieder, während aus ihrer Hose kräftige Vogelbeine samt Klauen ragen. Die Harpyie, welche nun auch die anderen erblickt und ebenso verärgert wie konsterniert anguckte, fällt nicht zuletzt auf wegen des feuerroten Zopfes, den sie von einer goldenen Hülse gehalten trägt.

Ganz interessiert schaue ich sie an, während ich mich erhebe, das ist das erste Mal, dass ich eine Harpyie von Nahem sehe! So sehen sie also aus, die teils als Menschenfresser und Diebe verschrieenen Wesen der Lüfte, die manch ein schwärmerischer Reisender, der bei Alid im Laden gewesen ist, leidenschaftlich 'Töchter der Feuergöttin Ignis' nennt - woher dieser so leidenschaftlich klingende Name stammen mochte, hat niemand außer Gart mir zu verraten gewagt.

Ja, ja, Gart, für den wäre diese Dame das gefundene Fressen…

Als erster von uns findet Rio die Worte wieder und wie immer sind es keine besonders freundlichen: "Es hat den Anschein, als ob noch jemand unbefugterweise hier wäre." Seine Augen verengen sich bedrohlich. "Und ich kann mir schon denken, was die schnellen Klauen hier suchen mögen."

"Holla!", ruft die Harpyie mit leichtem Akzent, "Das Männchen ist ja ganz schlau! Und was sehen meine Äugelein da?"

Schneller als wir alle gucken können, ist sie zu Griselda gesprungen und fischt plötzlich ein Kettchen von ihrem Hals. Ich habe das Kettchen nie bemerkt, das sich unter dem Kleid der Hexe befunden hat, es sieht sehr kostbar aus und an seinem Ende funkelt irgendetwas Goldenes, ein Ring, wenn mich nicht alles täuscht. Sogar mit einem Edelstein darin!

Und schwups, ist er im Besitz der Harpyie, die die Kette um die Kralle ihres Zeigefingers kreisen lässt, ehe sie - flink wie sie ist - noch das alte Fenster des Raumes aufbricht und sich anschließend mit eingeklappten Flügeln herausstürzt. "Bitte, dankeschö~n, ihr Trottel!", lacht die Diebin, ehe sie springt und mit ausgebreiteten Schwingen sicher auf dem niedrigen Hügel landet, der sich unter dem Fenster befindet.

"Keine Sorge, Meisterin Griselda, ich werde den Anhänger zurückholen von dieser dreisten Diebin!", ruft Rio.

Ich will ihn aufhalten, erfragen, wie er das anstellen möchte, doch da springt der auch schon aus dem Fenster, fängt sich sicher ab und nimmt die Verfolgung auf.

"Sch- schnell, wir müssen auch hinterher!", ruft Griselda, der ähnliche Verwirrung ins Gesicht geschrieben steht wie mir.

"Etwa auch durchs Fenster?!"

"Nun mach schon, wir haben keine Zeit!", fährt sie mich zur Antwort an. Nanu, das ist ja eine Seite von ihr, die ich gar nicht kenne. Plötzlich ist aus der freundlichen, zurückhaltenden Selet eine herrische, gehetzte Gebieterin geworden.

Im Inneren mich fragend, ob dieser gesamte Tag eigentlich noch eine ruhige Minute haben wird, steige ich in den Fensterrahmen, starre hinunter und springe nach etwas Überwindung schließlich. So hoch ist es ja mal gar nicht, ich komme glücklicherweise richtig auf und auch die Hexe kann ich anschließend einigermaßen auffangen.

Sie sprüht vor Eile und nimmt sich auch nicht die Zeit, mich in meiner Unwissenheit, was das bitte für ein Ring ist, aufzuklären. Mit mir und Sira als Appendix rennt sie Rio hinterher, der bereits zwanzig Meter voraus der Diebin nachstellt.

"Hey, was denkt Ihr eigentlich, hier zu machen?! Wollten wir nicht eigentlich-"

"Wir können Rio doch nicht so allein lassen!", schneidet Griselda der Víla bereits das Wort ab, "Er… er braucht sicher Unterstützung! Und wir sollten uns nicht noch weiter aufteilen!" Irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass es ihr auf Rio oder die Gruppe gar nicht so ankommt wie offenbar auf diesen Ring. Und ich hänge wieder mal drin und habe wenig Alternativen.

Ich frage Sira: "Wo ist denn überhaupt dieses Wunder, das wir suchen - oder besser gesagt, wasist es?"

"Nun… nun ja… ich…" Ihre Stimme wird erheblich leiser, während sie mir verrät, wie sich die Wächterin des heiligen Schwertes nun geniert. "… ich weiß es, um ehrlich zu sein, nicht…"

"Warum zum Dämonenkönig weißt du das nicht?!", ereifere ich mich, "Bist du nicht Stättenwächterin und müsstest das wissen?!"

"Dass ich ins Amt gesetzt wurde, ist weniger als zweihundert Jahre her! Und in den Texten der Stätte wird nichts weiter als die ungefähre Position der vier Wunder beschrieben! Nicht ein mal Hena weiß darüber bescheid!", rechtfertigt sie sich lautstark, ehe Griselda energisch ruft: "Nun streitet doch nicht schon wieder! Sonst kommen wir auf keinen grünen Zweig! Lernt endlich zusammenzuarbeiten!"

Mir kommt es so vor, als sei das Mädchen, das vor mir her rennt, wie ausgewechselt. Eine entschlossene Führungspersönlichkeit ist aus der Hexe hervorgebrochen, die vorher noch gar nicht damit vertraut war, einen Diener zu haben. Da muss doch mehr dahinter stecken!

Ich wage aber nicht, das jetzt zur Ansprache zu bringen, nachdem mir ihr letzter Satz so einen dumpfen Schlag versetzt hat. Verunsichert schaue ich Sira an, ehe wir uns im Stillen entschuldigen, gleichzeitig ihre Augen verzeihend niederschlagend.
 

Dunkler und dunkler sind die Wolken geworden, während die Harpyie hinter den Häuserrücken ihr Heil in der Flucht gesucht hat. Die ersten Tropfen fallen bereits herab und der Wind fegt nur so über das verlassene Gelände. Feuchter Erdgeruch macht sich langsam breit, als die Wolkendecke dichter wird.

Dichter werden auch die Bäume um uns. Die Diebin ist plötzlich auf einen abzweigenden Weg, beginnend mit einem leichten Abhang, abgebogen, der vom Kloster in den angrenzenden Wald führt.

Wie eingefrorene Wächter stehen in einigem Abstand auch immer wieder Statuen zu beiden Wegen des Trampelpfades. Sie wirken rustikaler als die feingliedrige Erdgöttinnenstatue in der Eingangshalle, hier zeigt man die göttliche Mutter als standfeste Frau, die mit einem Speer bewaffnet ihren strengen Blick auf alle richtet, die sich in den Hain wagen.

Mir geht langsam die Luft aus. Wie schnell kann so eine Harpyie denn bitteschön sein?! Ich gönne mir, nur für ein paar Luftzüge stehen zu bleiben. Und in jenem Moment beschleicht mich plötzlich das Gefühl, jenseits des Weges liefe jemand in die entgegengesetzte Richtung. Aber der Umriss, der im nächsten Moment auch schon wieder unsichtbar geworden ist, passt zu niemanden, den ich kenne, es kann nicht die Diebin sein und auch Rio könnte die hagere Gestalt von annähernd zwei Metern nicht verkörpern. Hab ich mir das gerade eingebildet…?

"Was ist Maljus? Wieso bleibst du stehen?!"

"Mir war so, als habe ich jemanden gesehen…", entgegne ich, mich bereits wieder in Bewegung setzend, den Kopf aber stur in Richtung der Erscheinung gewendet. Griselda ruft von Weitem: "Ich habe nichts dergleichen gesehen! Wahrscheinlich nur eine optische Täuschung! Und nun komm, Rio und die Harpyie sind gerade in einem Gebäude hier im Wald verschwunden!"

Ich renne los, um aufzuholen, frage aber dennoch: "Sira, hast wenigstens du jemanden gesehen?"

"Mein Sichtfeld hält sich hier bei deinem Hals in Grenzen, also nein. Oh, ich hoffe bloß, dass uns niemand gesehen hat, sonst werden uns diese Titanen später willkommen heißen…"

Das erwähnte Gebäude taucht vor mir am Ende des Weges auf. Griselda wartet am Eingang des Sakralbaus, an dessen hinterem Ende sich ein kreisrunder Turm mit Kuppeldach erhebt. Efeu hat sich auf der weißen Fassade breit gemacht, der kleine Eingangssaal starrt vor Dreck. Kaum haben wir einen Fuß hineingesetzt, werden zunehmend von der Dunkelheit in dem fast fensterlosen Bau, dessen Fackeln wohl schon seit Jahren fehlen, eingehüllt. Wir sehen dennoch die deutlichen Spuren im Staub. Abnehmende Schwüle von draußen und eisige Kälte aus dem Inneren treffen hier aufeinander und bilden eine unangenehme Mischung auf meiner Haut.

Um die Lichtbedingungen etwas zu verbessern, reckt Griselda einen Zeigefinger in die Höhe, auf dessen Spitze sich ein wenig gequält eine Blitzkugel bildet. Gepeinigt zieht sich ihr Gesicht zusammen. Sie hat sich noch immer nicht richtig erholt, fürchte ich.

"Was ist das hier für ein Ort…?"

"Ich denke, das hier ist der alte Tempel…"

"Der alteTempel?", wiederhole ich fragend.

"Es ist ein Gerücht, das sich seit mehreren Jahrzehnten hält. Man hört es wieder öfters in letzter Zeit, dass sich hier angeblich Dämonen eingenistet haben sollen. Hals über Kopf haben die Priester und Novizen diesen Tempel verlassen und verkommen lassen, heißt es."

Wir folgen den Fußspuren eine Wendeltreppe hinauf, während draußen leise das Prasseln des Regens beginnt.

Eine kalte Schauer überkommt mich. "Es heißt sogar jetzt noch, dass des Nachts immer wieder Insassen des Klosters entführt werden, wenn man nicht Acht gibt."

"Ob das auch das Werk von Dyonix ist…?", denke ich laut. Es würde zu den restlichen Entführungen überall passen.

Sira dementiert diesen Gedankengang aber sofort: "Ach, das ist doch Quatsch! Ein Schauermärchen für ungezogene Novizen! Dieser Berg ist so dicht besiedelt, wie sollte ein Dämon sich über so viele Jahre hinweg verstecken können?"

"Erklär mir lieber, wie ein Schauermärchen einen ganzen Mönchskreis vertreibt!" Ich habe wenig Lust, schon wieder einem Dämon zu begegnen. Mir wird eiskalt, wenn ich mir das bloß vorstelle.

"Mach dich doch nicht so verrückt!", ruft Sira, "Dass die Gläubigen aus diesem Tempel ausgezogen sind, ist nun schon so lange her! Es hatte bestimmt einen viel einfacheren Grund und man hat sich etwas Freiheiten beim Erzählen gelassen!" Na hoffentlich ist das wirklich der Fall...
 

Wir gelangen anhand der Spuren zu einer stabilen Holztüre, die bereits offen steht. Aus dem Inneren des Raumes hören wir Flüche in einer völlig fremden Sprache und wie jemand an etwas rüttelt, als hänge sein Leben davon ab.

Sofort dreht sich dieser Jemand zu uns um, blickte uns wie wild an, bis er feststellt, wer wir sind. Sein Haar wirkt jetzt nicht mehr wiederspenstig, sondern im Jähzorn zerzaust und seine Augen sind stechender denn je.

"Rio!", ruft Griselda erfreut. "Was tust du da?"

"Diese unverfrorene Diebin ist hierher geflohen und hat die Tür verbarrikadiert. Sorgt Euch nicht, Meisterin Griselda, ich werde sie noch aufkriegen und eure Besitztümer zurückholen!"

"Sag mal, Griselda…", fange ich schließlich an, während ich über die knirschenden Holzdielen zu den beiden gehe, "Was hat es mit diesem Anhänger überhaupt auf sich-

Ich stoppe, als es kracht und es mir auf einmal der Boden unter den Füßen wegreißt. Reflexartig schreie ich und spüre das Ziehen im Arm, als ich im letzten Moment von Rio und Griselda festgehalten werde. Sie hat nur eine Hand zur Verfügung, denn sie muss mit der anderen doch den Zauber aufrechterhalten, der uns etwas Licht spendet.

Wie egal mir das blöde Licht doch ist! Mors sei geduldig, ich hänge verdammt noch mal über einem riesigen Abgrund, dessen Grund ich nicht mal sehen kann! Ich höre nicht mal ein Aufprallgeräusch der morschen Holzplanken!

"Zieht… zieht mich hoch, schnell!", dränge ich und wende mich schnell von dem Anblick ab. Gähnende Schwärze liegt unter mir, soviel weiß ich.

Was ich zugeben muss, ist, dass die Angst, die jetzt in mir aufgeschäumt ist, den Anblick jedes Dämonen in seinem Kopf mit Leichtigkeit schlägt. Aus Sicherheit ist urplötzlich Todesgefahr geworden, wesentlich schneller als jede Klinge oder Klaue, die mir hätte entgegengehalten werden können.

Ich probiere, aus eigener Kraft irgendwie hochzukommen oder mich leicht zu machen, was mir zwar die Anstrengung ins Gesicht treibt, aber nichts bringt. Oh, verflucht noch eins!

"Wir… wir ziehen dich auf drei hoch!", veranlasst Griselda hektisch. "Eins… Zwei…" Rio beginnt schon, seine Muskeln anzuspannen und ich kann die letzte Zahl gar nicht abwarten. "Drei!" Gemeinsam zerren sie an mir, schaffen es sogar, mich ein Stück zu ziehen. Ich kann schon fast die Arme auf dem Rand des Lochs auflegen!

"Nun zieht schon weiter!", flehe ich. Es ist doch fast geschafft!

Da wird Rios Miene durchflutet von Schmerzensausdrücken, der Shikigami wird auf einmal leichenblass und sein Arm verkrampft sich plötzlich kraftlos.

Reflexartig lässt er meinen los und stößt einen erstickten Laut aus, der auch der jungen Hexe die Aufmerksamkeit raubt. Auch sie verliert in ihrem Schrecken ihren Halt.

"Nein! Nein, nicht loslassen!", plärre ich.

Einen kurzen Augenblick nur, da rutschen meine Fingerspitzen ab. Bei Terra, alles nur das-

Und mit einem letzten, ohrenbetäubenden Schrei rase ich hinab in die Tiefe.
 

IV.
 

"So ein Mistwetter!", fluchte Alex, als er aus dem Stall zurück ins Freie treten wollte und bereits nach einem Schritt klitschnass vom Regen war.

Craylo ging es nicht viel besser, aber ihm war der Geruch draußen lieber als die Ausdünstungen der Nutztiere, auch gegen so eine kalte Dusche hatte er wenig einzuwenden nach der Schwüle des Tages. Ein Blitz erhellte ganz kurz den gesamten Platz, der Donner aber ließ noch auf sich warten.

"Das Gewitter ist noch weit weg… hoffen wir mal, dass es nicht ausgerechnet hierher zieht.", meinte Craylo.

"Lieber wär's mir, wenn's gleich abzieht!", beschwerte Alex sich, sah jedoch daraufhin ein, dass er noch so viel auf Wetter und Götter schimpfen konnte, davon ginge dieses Unwetter auch nicht schneller vorüber. Daher ging er über zu Wichtigerem: "Nun wird's aber Zeit, dass wir irgendwie ins Verwaltungsgebäude kommen, die neuen Steckbriefe haben lang genug auf uns gewartet!"
 

Den Priestern, Hilfsgeistlichen, Novizen, Wächtern und sonstigen Residenten des Klosters schien der Regen auch zu unangenehm, wieder trafen sie niemanden, als sie den Platz überquerten. Der Regen war so dicht, dass man nur wenige Meter weit sah, sogar von den Fenstern aus würde man sie nicht erspähen können.

Sie hatten fast das Gebäude erreicht, was am ehesten nach der Verwaltung aussah, als ihnen aus dem nahen Hain ein hochgewachsener, hagerer Mann entgegenkam. Finster blickte er drein, so finster, wie sein langes Haar schwarz war.

Alex fühlte sich an den durch die Blume sprechenden Rio erinnert, als er den dunklen Hautton und die gelbe Pigmentierung im Gesicht des Priesters sah, der in beigem Hakama, gräulichem Kosode und einem langen, wallenden Mantel in sattem Grün, dessen beiger Kragen regelmäßig rechteckig eingeschnitten war, ihre Richtung eingeschlagen hatte. Seine Sandalen hatten ungewöhnlich hohe Holzsohlen, die leise auf dem Pflaster klackten und erhoben ihn noch ein ganzes Stück über die beiden.

Ach du Scheiße!, erschrak sich Alex in Gedanken, das war nicht bloß ein Priester, dem sie da in die Arme gelaufen waren, das war eindeutig kein Geringerer als der Flamen, der Hohepriester dieses Klosters!

Spitznäsig und schmalgesichtig war der Dunkelelf, der sie aus seinen goldenen Augen streng und kritisch von oben herab musterte.

"Und wer wollt Ihr Herren sein?", fragte er in einer tiefen, unangenehm klingenden Bassstimme, wobei seine Mundwinkel bereits weit nach unten zeigten.

"Wir sind-", fing Craylo, wenig Hoffnungen hegend, mit einer überzeugenden Antwort daherzukommen, an, aber das Schicksal schien es gut mit ihnen zu meinen. Denn von der anderen Richtung kam noch eine Klosterinsasse, niemand anders als die blonde Zwergin Zea, welche rennend quer über den Platz rief: "Flamen Basgorn!"

Sie erreichte sie wenig später und sah überglücklich aus, obgleich ihre Kleider schwer an ihr kleben mussten, wo sie sich so voll Regenwasser gesogen hatten. "Wie schön zu sehen, dass es Euch schon besser geht, Flamen Basgorn! Habt Ihr Euch schon erholt?"

"Ja… ja, habe ich.", erwiderte der Alba Occulta knirschend, da plapperte Zea gleich weiter: "Der Sacerdos Vetustissimus würde Euch gerne sehen! Oh, aber ich sehe schon, Ihr sprecht gerade mit den beiden Exorzisten Herrn Alex und Herrn Craylo! Da möchte ich nicht stören! Ihr habt ja sicher schon von ihnen gehört, nicht wahr?" Der Flamen zögerte, aber speiste sie dann mit einem einfachen "Ja… die beiden Herren Exorzisten, die hier residieren und wachen, natürlich." ab.

Schon wirbelte er herum und schien gen Norden verschwinden zu wollen, wobei er eine seiner mit spindeldürren Fingern besetzten Hände, an denen die Sehnen unangenehm hervorstanden, an die Stirn legte, den Kopf etwas senkte. Er sagte noch: "Tut mir leid, so ganz wohl ist mir doch noch nicht… Lass Graasch doch bitte wissen, dass ich bis auf Weiteres gedenke, mich erst wirklich auszukurieren, ehe ich an den Sitzungen teilnehmen werde, ja?"

"Sehr wohl, Flamen Basgorn!", versprach Zea und verbeugte sich. Alex tat es ihr gleich und gab Craylo einen Stoß, seinem Beispiel zu folgen.

"Gehabt Euch wohl, Flamen.", grüßte er überzeugend unterwürfig. Der Hohepriester aber verließ bereits ihre Hörweite und ließ die drei im Regen zurück. Noch ein Blitz erhellte die Berge.

Der hat sich aber leicht überzeugen lassen, fand Alex, der sich zögerlich an Craylo und die Zwergin wandte: "Hey, ich weiß ja nicht wie's euch geht, aber ich hab nicht länger Lust, mir hier vielleicht noch 'ne Erkältung zu holen. Gehen wir rein?"

"Mit unseren kleinwüchsigen Freibrief immer gerne!"

"War da grade was?", fragte Zea überrascht, "Mir war, als hört' ich eine Stimme."

"R- reine Einbildung!", beteuerte Craylo und verwünschte diesen Naseweis von Dolch mal wieder. Carod kicherte ganz leise. Die Schwärze des Haares dieses Hohepriesters stimmte auch perfekt mit der von Carods Humor überein!

Dieser Basgorn hatte nicht mal nach ihren Cyclobolen verlangt… nun, wenn ihm wirklich so schlecht war, konnte Craylo das gut nachvollziehen - wenn er selber einen Kater hatte, war er auch nie in geistiger Höchstform. Also betrat er mit den anderen nun die Hallen, wobei er sich fragte, ob Carods Bezeichnung für Zea wirklich so treffend war...

Capitulum VI: Das alte Heiligtum - Die Tiefen


 

I.
 

Eilig hastete derweil das grüne Licht, das da Siras war, hinunter, in den tiefen Schlund voll Dunkelheit. Ganz zum Trotz jeglichen Gebotes, sich jemanden wie Rio nicht so einfach zu zeigen, hatte sie wenige Sekunden über dem Loch verweilt und war dann blitzschnell hinabgeschossen.

Ihre Miene war ängstlich und von Sorge ergriffen. War Maljus wirklich in den sicheren Tod gestürzt? Sie hatte keinen Aufprall gehört, alles war totenstill, nachdem Maljus' Schrei gar hundertfach widerhallt war und sie nach einiger Zeit auch das Prasseln des Regens nicht mehr hören konnte.

"Maljus! Maljus!!", rief sie nach dem Alba, doch ihr antwortete nur das Echo, niemand sonst.

Über und unter ihr verlor sich alles in Finsternis, alles Licht, das ihre Umgebung erleuchtete, kam von ihr selbst, der schwache Magieschein von oberhalb erreichte sie längst nicht mehr. Ihre eigene Lumineszenz half ihr aber genauso wenig. Der Raum, in dem sie war, war viel zu weitläufig, vielleicht war es nicht mal ein Raum, sondern nur eine riesige Kaverne, in der sie nun nach unten strebte, orientierungs- und vielleicht sogar ziellos.

Zeit verging, in der sie erneut Rufe ausstieß und keine Antwort erhielt, ein mal hatte sie nur irgendein undeutbares Geräusch gehört, das alles sein mochte… vom Rufen bis zum knackenden Brechen des Rückgrats eines jungen Mannes, dessen Schicksal durch den Sturz besiegelt worden war.

Sie verwarf den Gedanken daran schnell. Du darfst nicht tot sein, Maljus!, flehte Sira, die ihre Tränen nur mit der winzigen Hoffnung zurückhalten konnte, es möge ein Wunder geschehen sein, dass er noch lebte - ein Wunder, wie treffend., dachte sie verbittert, wegen eines Wunders waren sie doch überhaupt erst hergekommen! Und jetzt bedurften sie selber eines weiteren.

Sie hätte ihn nicht mitnehmen dürfen, es war von Anfang an zu gefährlich für ihn gewesen! Sie hatte es doch geahnt, doch nein, sie hatte seinen Wünschen nachgegeben und den Dickschädel mitkommen lassen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dem kleinen, schwachen Naturgeist zu helfen.

Und jetzt spürte sie diese Ohnmacht wieder - wie sie unfähig gewesen war, das Schwert zu beschützen, war sie auch unfähig gewesen, den Jungen zu beschützen! Wüsste Dyonix, dass es nicht mal einer seiner Handlanger oder irgendeine andere Ausgeburt des Schlechten war, die das Leben des Alba beendet hatte, was hätte er sich daran ergötzt!

Winzig kleine Tropfen aus salzigem Wasser rannen die winzigen Wangen hinunter und tropften ins Leere. Welchen Sinn hatte das alles jetzt noch? Warum sollte sie noch weitergehen, fragte sie sich? Sie sah doch, dass dieses Reich der Dunkelheit endlos zu sein schien… egal, wann er aufkäme, er könnte doch unmöglich noch wohlauf sein!

Ohne es in ihrer tiefen Trauer zu bemerken, sank sie weiter hinunter, und hätte sie ihrem Verlangen, das Gesicht vor all dem Nichts um sie herum in den Handflächen zu verbergen, nachgegeben, wäre ihr nie der plötzliche Lichtschein aufgefallen, der ihr von unten entgegenkam. Hellgrüner, dämmriger Schimmer, ein glänzendes Spiegelbild, das verzerrt im Dunkeln tanzte, wabernd und schwimmend wie… wie Wasser?

Sie erkannte, dass sie nicht weit über einem Teich - oder einem See, wenn sie die angenommenen Größenverhältnisse der Umgebung bedachte - flog, der unter ihr wie ein sanft bewegter Spiegel war. Leicht hin und her schwankend stand unter ihr das Gewässer… winzige, gar kreisrund ausgehende Wellen erschütterten das ansonsten wohl so ruhige, hier tiefschwarz und unendlich tief erscheinende Wasser.

Siras Herz machte einen gewaltigen Hüpfer. Wäre das Wasser tief genug… dann lebte Maljus womöglich noch! Sie war vollkommen überzeugt davon, egal, wie irrsinnig es sein mochte, das für wahr zu halten. Sie interessierte nicht, dass der Sturz gut und gerne zwanzig bis dreißig Meter umfasst haben konnte, dass auch das Aufkommen auf dem Wasser dem Albaleib genug Schaden zugefügt haben könnte, um ihn sofort umzubringen, dass er mindestens das Bewusstsein verloren hätte unter diesen extremen Umständen, für Sira war offensichtlich, dass er nicht tot war, dass er nicht stärbe und bestimmt gleich auftauchte!

Aber wieder zog sich die Zeit dahin… oder kam es ihr nur so vor? Sie konnte es nicht wissen, hier unten war nichts gewiss, alles war dunkel, eigenschaftslos, es war wie die Zeit, bevor selbst die Urgötter Terra, Frigus, Chaos und Lux existiert hatten, die Zeit vor dem Krieg des Lichts und der Unordnung, an deren Ende die heutige Welt entstünde, in der Zweibeiner, Tiere und Pflanzen die von Naturmächten beherrschte Erde bewohnen würden.

Und Sira wartete; wartete, dass ein anderes Lebewesen oder einfach nur irgendetwas außer dem Wasser unter ihren frierenden, grünen Füßen ihr bewiesen, dass sie noch immer in dieser Welt weilte. Schließlich aber tränten ihre Augen wieder, es war zu viel Zeit vergangen, als dass es noch Hoffnung gab.

"… Das war's dann wohl…", schluchzte die Víla und blickte schwach nach oben, ehe sie wieder zu fliegen begann. Warum sah sie überhaupt dort hoch, sie befand sich zu tief, um das winzige Loch auszumachen, an dem die Hexe und ihr Shikigami hockten.

Etwas schoss aus dem See, schleuderte Wasser auf die geflügelte Frau, deren Flügel schwer von den Tropfen wurden und sie in die Wellen rissen, wo sie etwas strauchelnd sich über Wasser hielt. Im selben Moment hörte sie ein übermäßiges lautes Japsen, hastig und gierig atmete jemand, konnte kaum genug Luft holen, ehe er wieder ausatmen musste.

Ein junger Mann, Anfang zwanzig, mit langem, kantigen Kinn, das fein geschoren war, und dem seine braunen, kurzen Haare triefend ins Gesicht hingen, war aus dem Wasser geschnellt. Seine schwarze, mehrfach geflickte Tunika klebte an seinem schmalen athletischen Körper und rasend hebte und senkte sich sein Brustkorb in unregelmäßigem Takt zu seinem Keuchen, während er in seinen Armen keinen geringeren als Maljus hielt. Des Mannes mandelförmige Augen waren offen, Maljus' waren geschlossen und sein Atem ging nur flach. Zuerst starrte der Fremde nur den Jungen an, bis er sich wohl des grünen Scheins gewiss wurde, der ihn anstrahlte.

"Ürhimikmag, jäwilsche antrüchem Albre, derf antüichem Samovíla!", rief der Mann sichtlich überrascht.

Sira blinzelte ebenso perplex ob der alten Zunge, die der Fremde benutzte. Es war eine Sprache aus dem Nordosten, den sogenannten Nördlichen Gefilden, ein Dialekt des Menschenvolkes der Ketlörkü, der so aber schon Ewigkeiten nicht mehr gesprochen wurde, vermutlich fast so lange nicht mehr, wie Sira im Amt war. Doch genau so viel, wie sie über diese verstorbene Sprache wusste und darüber, dass die Ketlörkü nun zum Cardighnischen Großreich gehörten, verstand sie von den Worten.

"Wie… wie bitte?"

"Oh… hoppla, da war ich wohl so überrascht…", keuchte der Mann plötzlich in fast perfektem Hochcardighnisch, ohne wie zuvor das 'R' so auffällig zu rollen, "… dass ich glatt… in meiner Muttersprache gesprochen hab! Kein Wunder, wenn mir erst… fast ein Elf auf den Kopf fällt… und ich gleich… nachdem ich den aus dem Wasser gezogen hab… einer Víla begegne…" Er machte keine weiteren Anstalten, viel zu reden, sondern schwamm weiter, nachdem er Maljus auf seinem Rücken positioniert hatte.

Sira, völlig baff, rief: "H- hey, wohin geht Ihr denn?!"

"Na… irgendwo ans Ufer, wo ich… ihm das ganze Wasser, dass er geschluckt haben wird… rauszudrücken kann!"

"Wartet, ich gehöre zu dem Jungen!"

"Dann folg mir einfach!", erwiderte der Mann grinsend, "Und sag ruhig 'du' zu mir, hier unten braucht's keine Formalitäten!"

Sira seufzte, sowohl erleichtert, als auch mit den Nerven am Ende. Sie flog schnell zu ihm, hockte sich auf Maljus' Hinterkopf und ließ sich von dem kraulenden Mann in irgendeine schier wahllose Richtung bringen.

Schon wieder jemand, der von den Víly wusste und für den sie offenbar nichts besonderes waren - ob das doch bloß in Welsdorf der Fall war, dass man von ihrer Gattung keine Ahnung hatte?
 

II.
 

Sira kam der Weg bis zum Ufer, einem glitschigen schwarzen Felsengebilde mit kuhlenförmigen Einbuchtungen, viel kürzer vor als der, bis sie von dem alten Tempel zu dem unterirdischen See gelangt war. Unterwegs sprach der schwarz gekleidete Mann kein Wort, erst, als er auf dem 'Trockenen' war, ließ er sich ein wenig entkräftet nieder und beklagte: "Hier ist es schon so nicht besonders warm, aber in diesem Wasser erfriert man ja halb, brr~!"

"Ich mache mir mehr Sorgen um Maljus!", warf Sira ein wenig ungehalten wegen ihrer noch bestehenden Sorge ein, "Er hat sich immerhin nicht mit ein paar Schwimmzügen warm halten können!"

"Immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe, das kriegen wir schon hin!", beruhigte der Mann sie und legte den Jugendlichen flach auf den Rücken und drehte seinen Kopf zur Seite, ehe er ihm mehrmals kräftig auf den Bauch drückte. Als Antwort spuckte Maljus würgend fast einen halben Liter eiskaltes Wasser aus, hustete und schien noch immer nicht erwachen zu wollen. Der Mann kramte sogleich ein wenig in den vielen Taschen an seinem Gürtel, der mit einem Riemen quer über seine Brust verbunden war und eine schimmernde Schwertscheide festhielt, und schaute ein paar Fläschchen und Phiolen mit zusammengekniffenen Augen an. Ein wenig verstimmt verzog er sein Gesicht. "Mist, es ist einfach zu dunkel… und meine Lampe ist aus, seitdem ich den Burschen von unten hoch geholt habe."

"Mehr Licht kann ich nun mal nicht machen!", fühlte Sira sich gleich angegriffen, doch erneut behielt der Unbekannte die Ruhe. Er sprach: "Nur nicht die Beherrschung verlieren, ich hab' auch dafür eine Lösung! Kleinen Augenblick." Sie glaubte eher, er sei plötzlich wahnsinnig geworden, als er prompt zu dem golden legierten Heft seiner Klinge griff und das Schwert zog. Sie wollte ihn schon anbrüllen, was er denn jetzt vorhatte zu tun, da sah sie, wie der ungewöhnlich helle, ins Weißlich gehende Stahl der Klinge auf einmal hell zu leuchten begann. Einen ordentlicher Ruck später steckte das Schwert im Stein neben dem Mann und leuchtete alles im Umkreis von vier Metern aus, als scheine Tageslicht herein. Er suchte ein bestimmtes Gefäß heraus, hob Maljus' Kopf leicht an und flößte ihm die Mixtur ein, sofort erklärend, was das eigentlich für ein Gebräu war: "Keine Sorge, das ist kein Gift oder dergleichen. Bloß ein kräftiges Stärkungsmittel, das praktischerweise auch ein wenig von innen wärmt. Gut zur Anwendung an Bewusstlosen… denn das Zeug schmeckt grauenhaft. Damit dürfte er bald wieder fit sein!"

Es lag in der Natur der Víla, das erst zu glauben, wenn sie es sah, jetzt, wo sie sich langsam beruhigt hatte. Im hellen Licht des eigenartigen Leuchtschwertes konnte sie den Fremden nun noch etwas genauer unter die Lupe nehmen. Die grauen, eng anliegenden Stoffhosen, die er unter der Tunika trug, verschwanden in seinen mit Eisenringen gefestigten Stiefeln, sie waren fast so braun wie seine wettergegerbte Haut. Tiefblaue Augen wachten über Maljus. Und dann konnte Sira auch noch etwas an dem Riemen erkennen: ein goldenes Cyclobol!

"Ihr… äh, ich meine, du bist also Exorzist?"

"Klar, oder seh' ich aus wie ein Mönch?", lachte er, "Dafür sind meine Hosen viel zu eng! Wenn ich mich vorstellen darf, ich heiß' Ludwig!"

"Ich bin Sira… sehr erfreut."

"Ah, und dieser junge Hüpfer, wie heißt der?"

"Das ist Maljus. Aber… was machst du hier unten überhaupt?"

"Na ja, wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich erst mal wissen wollen, was ihrüberhaupt hier treibt. Ich mach hier ganz einfach meine Arbeit, ich bin ans Kloster gekommen, um nach dem Rechten zu sehen." Er hockte sich im Schneidersitz hin, verschränkte die Arme und meinte künstlich bockig: "Ach, und jetzt hab ich nicht mal die Prinzessin gesehen, wo sie schon da war! Denn, wenn die noch hier wäre, hätten die Pfarrer euch ja nie im Leben reingelassen!"

Sira war so endlos glücklich darüber, dass Ludwig selbst Schlüsse zog, denn momentan hätte sie sich vermutlich wirklich verplappert und durchblicken lassen, dass Maljus und sie widerrechtlich hier waren - ganz zu schweigen von Alex, Craylo, dessen beiden Dolchen, Rio und Griselda.
 

Ich öffne langsam wieder meine Augen. Ich huste und würge, ehe ich mich schleppend erhebe, mir fest auf die Brust klopfend, und sehe mich nach einem halb-erstickten tiefen Luftzug ganz still und verdutzt um.

Mir ist schwindlig wie sonst-was, ich muss meinen Kopf festhalten, um nicht umzukippen.

Ich erkenne nach einiger Zeit Sira und erblicke dann auch noch einen gebräunten Kerl in dunkler Kleidung, der fröhlich feststellt: "Ah, siehst du, Sira, schon ist er wieder putzmunter!"

Sofort umkreist die Víla mich, wobei sie in einen erfreuten, sing-sang-artigen Redefluss verfällt: "Magna Mater sei Dank, Maljus, du bist tatsächlich wieder am Leben! Hast du dir was getan, ist alles in Ordnung, ist auch nichts gebrochen, ist dir schlecht, fehlt dir irgendwas?"

"… Ich… ich muss wohl weggetreten sein. Ich hab bloß gemerkt, wie ich auf irgendwas geprallt bin, mir ganz kalt wurde und dann… war alles schwarz.", stöhne ich. So ist das also, wenn man ohnmächtig wird…

Ich fühl mich schlimmer, als wenn Gart mich dazu überredet, mit ihm ein wenig von dem scheußlich brennenden Schnaps zu trinken, der in Welsdorf so beliebt ist und den Gart hin und wieder ergattert. Aber im Gegensatz zu dem Kater verfliegt dieser Kopfschmerz und das schwummrige Gefühl wesentlich schneller, bis es auf ein kaum spürbares Pochen reduziert ist. "Wo bin ich hier überhaupt… und… wer ist dieser Typ?"

"Ludwig ist dieser Typ, der dich vorhin mal kurz vor dem Ertrinken gerettet hat!", antwortet der Braunhaarige, nicht im Geringsten beleidigt, sondern viel mehr scherzhaft. "Du bist hier in einer schön weiten Höhle, direkt unter dem alten Tempel, junger Hüpfer! Kannst du von Glück reden, dass ich zufällig da war, als du von da oben runtergesegelt bist!"

"Ludwig ist ein Exorzist.", ergänzt Sira noch.

"Moment… das heißt… hier gibt's wirklich Dämonen?", will ich wissen. Schon wird mir doch wieder etwas flau in der Magenegend.

Ludwig zeigt auf das leuchtende Schwert neben sich und meint: "Ich will mal den Diabolus nicht an die Wand malen, aber ich fürchte, so ist es. Siehst du das Schwert? Es ist mein sogenanntes Lichtschwert, eine magische Klinge, die leuchtet - besonders gern tut sie das aber vor Allem, wenn sie irgendwo Dämonenauren aufnimmt. Noch leuchtet das Schwert nicht so stark, aber wenn du mal deine Hand dran legst…" Er packt, ohne zu fragen, meine Rechte und legt sie auf den Griff, in dessen Parierstange ein hellblauer, runder Edelstein eingearbeitet ist.

Überrascht bemerke ich: "Das… das Heft vibriert ja! Ganz schwach zwar, aber ich bin mir sicher, dass es geradezu bebt!" Ludwig nickt wissend.

"Ja, das ist ein weiteres Kennzeichen dieser Waffe. Sie wird angezogen von Dämonen und Umbramanten. Wenn sie ihnen ganz nah ist, schlägt sie fast eigenständig um sich."

Nachdem er aufgestanden ist, schlägt Ludwig vor: "Daher wäre es wohl besser, dass wir zusammenbleiben, wenn wir einen Weg nach draußen suchen."

"Aber Griselda und Rio sind noch hier!", rufe ich, kaum dass ich aufgesprungen bin. Der Braunhaarige legt den Kopf schief und fragt: "Freunde von dir? Sind die etwa auch heruntergestürzt?"

"Nein, nein, sie sind irgendwo oben, sie haben versucht mich festzuhalten, als der Boden unter mir nachgegeben hat!", beginne ich zu erzählen, "Wir haben eine Diebin verfolgt, die Griselda irgendein Kettchen geklaut hat! Eine rotgefiederte Harpyie!" Ich schaue zu Sira und frage erwartungsvoll: "Den anderen geht es doch gut, oder?"

"Ich denke schon! Aber ich bin sofort dir hinterher, nachdem du gestürzt bist!"

Ludwig, der sich mit einer Hand am Kinn entlang fährt, mischt sich wieder in das Gespräch ein: "Habt Ihr zufällig irgendwas dabei, was Euren Freunden gehörte?" Ich schüttele stirnrunzelnd den Kopf und stelle eine Gegenfrage: "Nein, wieso sollte ich?"

Ich bemerke ein unangenehmes Kratzen und Jucken an meinem Rücken. Ich kratze mich, stelle aber fest, dass da etwas ist und ziehe es schnell heraus. Ein wenig verdattert starre ich die rote Feder an. Die muss mir vorhin unter dieser muffigen Decke irgendwie reingefallen sein…

Kurz bevor ich das nervige Ding wegwerfe, schreitet Ludwig wie vom Skorpion gestochen ein: "Moment, behalt die mal lieber!"

"Wozu das denn? Ist doch bloß eine stinknormale Feder-"

"Du sagtest doch, die Harpyie sei rotgefiedert; also dacht' ich, das hier wird wohl ein bisschen vom Gewand dieser Elster sein. Stimmt's, oder habe ich Recht?" Ich kann mir immer noch nicht ganz vorstellen, worauf dieser etwas eigenartige Exorzist Ludwig damit hinauswill. Noch immer sehr argwöhnisch schaue ich den Menschenmann an.

"… Und weiter?"

Sofort kramt Ludwig in seinen Taschen, um ein kleines rundes Metallstück hervorzubringen. Es sieht wirklich edel aus mit seiner goldenen Legierung und dem blitzblank polierten Glas an der Oberseite. Es erinnert an einen Kompass, tatsächlich sitzt eine hauchdünne Nadel im Inneren. Die Außenseite ist mit verschnörkelten und wohl nur dekorativ wirkenden Linien verziert, während unter dem Glass in der Metallplatte auch eine Vielzahl runder Löcher zu sehen sind. Unter allen sind messingfarbene Rädchen, allesamt mit einem geraden Strich eingekerbt.

Ludwig öffnet eine kleine Klappe an der Unterseite des seltsamen Geräts, die einen winzigen, unscheinbaren Hohlraum preisgibt.

"Das hier, meine Freunde, ist ein sogenannter Reperens!", erklärt er voll Begeisterung und schnappt sich die Feder, um sie in die kleine Kammer zu pressen und die Klappe wieder zu schließen.

"Reperens?", wiederholt Sira, "Was soll das sein…? Ich hab das Gefühl, es schon mal gehört zu haben, aber mir sagt der Name nichts mehr."

"Und mir gleich drei mal nicht.", pflichte ich, der sich neugierig über das Kleinod beugt, bei.

Ludwigs Grinsen ist nicht zu verbergen. Er drückt voller Stolz einen winzigen Knopf, von dem all die Linien ausgehen und sofort ertönt ein eigenartiges Ticken und Klacken im Inneren des Geräts.

Er erläutert weiter: "Dieses winzige Ding ist wohl das größte mechanische Meisterwerk, das ihr je gesehen habt. Eigentlich ist es nicht bloß mechanisch, sondern teils auch magisch. Ich geb's zu, ich selber versteh auch nicht, wie genau das funktioniert, aber ihr werdet sehen, wie nützlich es ist."

Der Reperens rattert weiter, während sich unter den Löchern in der Metallplatte plötzlich die Messingteile rasant drehen, bis eins nach dem anderen stehen bleibt. Die meisten bleiben wieder bei der nichtssagenden Kerbe stehen, doch vier der Rädchen zeigen auf einmal kleine Buchstaben.

K O R A

"So heißt sie also, die Diebin…", sagt Ludwig, doch ich höre ihm kaum zu, denn auch die Nadel zeigt Aktivität. Vorher hat sie sich nie wirklich ausgerichtet, hat sich durch Schwerkraft und Bewegung in ihrer Lage bestimmen lassen, jetzt scheint sie stramm in eine Richtung zu zeigen und von dieser niemals lassen zu wollen. "'Kombass' nennt man den Reperens hin und wieder auch, er funktioniert ja ganz ähnlich wie ein Kompass, der immer den Weg nach Norden zeigt. Tja, dieses kleine Teil aber zeigt uns die Luftlinie zu einer bestimmten Person."

"Ah, ich glaube, ich erinnere mich!", fällt Sira ein, "An der Feder sind Aurenreste der Harpyie und somit kann der Reperens uns zur Hauptquelle führen!" Ludwig nickt wie ein alter Weiser, dessen Schüler endlich ihre Lehre zum krönenden Abschluss gebracht haben.

"Vollkommen korrekt. Jedes Wesen hat eine Aura und die lässt es gerne mal wo zurück… es ist quasi ein ganz spezieller Geruch, den man aber nicht so wirklich wahrnehmen kann - zumindest als Normalsterblicher, außer es sind ganz charakteristische, die sich einem wirklich aufdrängen… wie die gewisser Magier." Das ist zu schön, um wahr zu sein, finde ich. Da muss ich noch ein mal versichert werden: "Und dieses kleine Ding kann uns wirklich weiterhelfen?"

"Na ja, es gibt keinen echten Weg hier heraus an, sondern nur die Richtung, in der sich diese diebische Dame befindet… und wenn sie zu weit weg sein wird, oder die letzten Aurenreste sich von der Feder gelöst haben werden, wird der Reperens sofort aufhören, irgendetwas anzuzeigen. Und ihr wollt das Kettchen des Mädchens ja sicher zurück, also könnt ihr's ja wenigstens mal versuchen, oder?" Das überzeugt mich dann doch ein wenig. Dennoch spreche ich meine nach wie vor bestehenden Zweifel aus: "Hoffentlich finden wir aber auch genauso die anderen…"

Ganz leise flüstert Sira, nur für mich hörbar: "Das hoffe ich auch…"
 

III.
 

Noch düsterere Stimmung herrschte weit über ihnen.

"Sie sind beide nicht zurück…" Griseldas Stimme war nichts weiter mehr als ein kraftloses, unterdrücktes Schluchzen, als sie wie versteinert noch immer an dem Loch saß und schweren Herzens hinunter starrte. Die Feststellung war genauso aufmunternd wie zerschmetternd. Sie hatte es wieder geschafft, wenigstens die Fassung zu gewinnen, um etwas zu sagen, aber gleichzeitig war sie sich sicher, dass sie wohl gleich zwei ihrer Gefährten auf ein mal verloren hatte - nämlich die, an die sie sich gehalten hatte, von denen sie geglaubt hatte, dass sie so viel besser Bescheid wussten über die alte Legende und die Reise bereits genauestens geplant hatten.

Was sollte sie denn ohne sie tun?

"Meisterin Griselda, macht Ihr Euch Vorwürfe?", forschte Rio ohne das Anzeichen irgendwelcher Anteilnahme nach. "Falls die Antwort 'Ja' lautet, muss ich Euch sagen, dass es allein die meinige Schuld war. Mich verließ jäh meine Kraft…"

Über die Schulter hinweg sah sie ihn nur verschwommen. Ihre Lippen zuckten, die Zähne dahinter waren fest aufeinandergepresst und sie kontinuierlich am Zittern. "Das hätte ich nicht passieren lassen dürfen."

Er zwinkerte kein einziges Mal in der langen Pause, die entstand. Er schaute sie direkt an. Oberflächlich betrachtet hätte er wohl genauso kalt und stoisch gewirkt wie sonst immer, aber je länger sie ihn betrachtete, desto mehr konnte sie ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass er auch nicht unberührt geblieben war. Er versteckte es nur so gut, sagte sie sich.

"Was… was soll ich nur tun?", fragte sie ihn wimmernd.

"Was können wir denn tun?", erwiderte Rio, als stellte er sie auf die Probe.

"… Ich… ich weiß es doch nicht!", schrie sie ratlos, sich einem Heulkrampf hingebend. Ständig brachen einzelne Wortfetzen oder Satzteile aus ihren Schluchzern hervor, aber bis sie sich nicht wieder etwas im Griff hatte, konnte Rio nichts Genaues verstehen. "Ohne sie ist alles verloren! Ich weiß doch nicht, wo wir hin müssen…!"

"Weswegen wart Ihr unterwegs mit ihnen?"

"Das Schwert… das… das Schwert aus der Stätte… das heilige Schwert, wir wollten… wir wollten es ersetzen!" Sie weinte wieder, aber Rio bohrte nicht nach, auch nicht, was das grün leuchtende Wesen überhaupt gewesen war, dem Griselda genauso nachweinte wie Maljus; sondern er wartete geduldig ab.

War es geduldig? Oder doch nur eine versteckte Ungeduld, bis Griselda von selbst herausrückte, was sie meinte? Der Hexe war es egal, es war ihr auch egal, dass sie wohl ihren Schwur brach, als sie ihn einweihte: "Wir wollten die vier Wunder der Elementgöttinnen finden! Damit das Schwert, das den Umgedrehten König versiegelt hält, ersetzt werden kann! Damit Dyonix seine Pläne nicht umsetzen und sonst was mit Cardighna anstellen kann! Und jetzt… jetzt sind die beiden, die überhaupt etwas wussten… sie sind…"

"Meisterin Griselda, Ihr nehmt die Dinge zu schnell hin.", fuhr Rio ihr ruhig dazwischen, woraufhin sie ihn erschüttert anstarrte. "Bis Ihr sie nicht gesucht habt, werdet Ihr nicht aufgeben können… sie leben und sie sind tot - momentan stimmt das für uns beides, denn wir wissen nicht, was wirklich ist. Erlaubt Ihr mir, einen Vorschlag zu machen?"

"… Ich war Anweisungen nie abgeneigt…", entgegnete sie mit hauchdünner Stimme, "Sprich."

"Wir dringen weiter vor… wir suchen Eure… Freunde… und auch die Diebin, die Euch etwas ungeheuer Wichtiges gestohlen hat.", bot er an, ehe er mit aller Sänfte ihre zarte Hand griff und ihr hochhalf.

Noch immer waren ihre Augen feucht, aber langsam gab er ihr durch seine unerschütterliche Ruhe neuen Mut. Zaghaft nickte sie, hatte jedoch noch eine Frage: "Du… willst nicht erst wissen, was die Kette ist?"

"Ich bin nur ein Dienergeist - ich habe kein Recht, Euch auszufragen, Meisterin.", sagte er plötzlich, ganz konträr zu seinem Verhalten vorher.

Vom dominanten Berater zum unterwürfigen Diener - so schnell konnte er sich verändern, der Shikigami Rio de Dschahnero. Es entlockte der Hexe ein kaum erkennbares Schmunzeln. Irgendetwas gefiel ihr daran.

Sie ging mit ihm bis zu der alten, aber immer noch fest sitzenden Türe aus dickem Hydraholz, dem wohl langlebigsten und kostspieligsten, das in Cardighna zu finden war. Die eingeschnitzten, winzigen Mythen in Bildern sahen aus, als seien sie erst am vorherigen Tag gemacht worden.

Und Rio trat dagegen wie gegen einen lästigen Köter, der ihm nicht von der Pelle rücken wollte. Mehrmals drückte er seinen Fuß mit aller Kraft gegen die Pforte, die aber starrsinnig blieb und nicht im Geringsten nachgab.

"Warte, Rio…", sagte Griselda, nun vollends aus ihrer Apathie zurückgekehrt, "So wird das nichts, diese Tür ist zu stark. Entweder wir suchen einen anderen Weg, oder: wir benutzen unser Köpfchen!" Erläuternd tippte sie sich kurz an die Stirn und trat vor die Tür.

Ihre magische Kugel flackerte etwas und wieder merkte sie, wie ihre Kräfte eigentlich aufgebraucht waren, aber sie hielt sie aufrecht, um den dünnen Schlitz der Türe zu finden, hinter dem sich die Angeln verbargen. "Manche sagen, Hydraholz ist stärker als Stahl… nun, diese Angeln da hingegen sind sicher nicht mehr so neu. Vielleicht kannst du sie rausschlagen mit deiner Klinge."

"Das ist ein Befehl, oder?"

"Es ist ein Wunsch!", korrigierte sie, diesen Terminus immer noch nicht besonders mögend. Scheinbar war Rio auch damit zufrieden, denn er brachte sich in Position, nahm seinen Gladius und stieß ihn mehrere Male mit Ruck in den Zwischenraum. Erst schlug ein mal etwas Schweres auf dem Holzboden auf, dann noch ein zweites Mal und die Tür fiel sofort in das nächste Zimmer hinein, wobei sie eine dichte Staubwolke vom Boden fegte und in der Luft tanzen ließ.

Rio ging ohne Weiteres hindurch, ehe er auf mittlerem Wege stehen blieb und auf einmal Griseldas Hand ergriff mit der Erklärung: "Wenn die Böden in den anliegenden Räumen ebenso brüchig sind wie hier, ist Vorsicht geboten. Lasst mich Euch geleiten."

Mit eben jener Vorsicht führte er sie langsam weiter, immer probend, wo der Boden noch sicher zu sein schien, ehe er sie hinter sich her zog.

Besser orientieren konnten sie sich, als sie die äußeren Räume erreichten, in denen es keine leeren Fackelhalterungen gab, sondern Fenster, durch die schwaches Licht fallen konnte, bis hin und wieder ein Blitz alles in Helligkeit hüllte.
 

Sie kamen wieder ins Erdgeschoss und suchten von dort aus einen Weg zu dem Raum, in den Maljus gestürzt sein musste.

Rio hielt jedoch inne, als er neben dem ständigen Prasseln das Regens ein ähnliches Geräusch hörte. Als würden winzige, dünne Kettenglieder bewegt, Münzen wie Sand durch Hände rieseln…

Sofort zeigte Rio Griselda, dass sie keinen Mucks von sich geben solle, während er eine halb geöffnete Tür in Augenschein nahm. Auf Zehenspitzen wandelnd, schlich der Schwarzhaarige darauf zu. Wie dankbar er doch dafür war, dass hier der Boden aus festem Stein war, dessen letzte Tat es wäre, Holzdielen gleich zu knirschen und ihn vorzeitig zu verraten. Mit seinem Schwert in der Hand schaffte er es in das Zimmer, in dem es wieder unangenehm düster war. Dennoch konnte er deutlich die Umrisse der geflügelten Diebin erkennen, wie sie mit ihm zugewandten Rücken dabei war, einen Jutesack mit allerhand blitzenden Gegenständen aus einer alten Kiste zu füllen.

Rios Interesse für das Gold und die Geschmeide, die hier geraubt wurden, hielt sich in Grenzen, sie waren doch selber schuld, diese Geistlichen! Ließen alles stehen und liegen wegen ein bisschen Aberglaube!.

Der Groll, den Rio hegte, war ganz anderer Natur. Dieses freche, rotbehaarte Weib hatte seine Meisterin bestohlen und musste zur Rechenschaft gezogen werden! Und zwar unverzüglich!

Er machte einen Satz, als sie im Begriff war, aufzustehen und mit der Beute zu verschwinden, hielt ihr sofort die Klinge an den Hals und drückte sie ihr ins Fleisch. Er wollte sie nach hinten zerren, doch die Harpyie war geistesgegenwärtig genug, ihm den Ellbogen ans Kinn zu stoßen und seinem Griff kurzzeitig zu entfliehen, wobei er seinen Gladius fallen ließ. Er verbrachte keine Zeit damit, den leichten Schock zu verdauen oder seine Waffe aufzuheben, sondern stürzte sich ad hoc auf sie, riss sie nieder und rang mit ihr am Boden.

Griselda kam hinzu, beobachtete, wie die Harpyie mit den Klauen nach ihm schlug, ihm ein paar Kratzer im Gesicht beibrachte, während er sie schlug, immer knapp ihre Nase verfehlend.

Schließlich drehte er sie auf den Rücken, ihr die Arme auf selbigen und blieb auf ihr knien, während ihre Flügel aufgeregt schlugen. Nichts weiter als Schau, wie Rio wusste, weswegen er sich gar nicht erst davon ablenken ließ.

"Loslassen! Lass' mich los, du verfluchtes Langohr!", kreischte die Harpyie wie am Spieß.

"Nicht… nichts da, feiger Langfinger!", knurrte Rio. "Meisterin Griselda, ich habe das unerzogene Küken gestellt! Ihr könnt sie nun nach Eurer Habe durchsuchen!"

"Nur über meine Leiche!", schrie die Harpyie und versuchte mit ihren Beinen ihm in den Rücken zu treten, oder sich auf die Seite zu drehen, "Nimm deine widerlichen Hände von mir und geh von mir runter, du…!"

Mit einem weiteren Ruck schaffte sie es dann, schmiss Rio von sich und sprang auf, ehe sie selbst das Kettchen aus ihrer Hose zerrte und es Griselda gegen die Schläfe warf. Diese duckte sich mit einem kleinen Aufschrei und hob die Hände schützend. "Da habt ihr das verflixte Ding, ihr Kletten!"

Sie wollte sich erneut aus dem Staub machen, hatte bereits den Sack gegriffen, als sie das 'Ratsch' von einem Schwert hörte, das durch den Stoff gezogen wurde; postwendend das Prasseln und Rasseln des erbeuteten Schmucks und Goldes, das sich auf dem Boden verteilte. Rio rappelte sich nach vollendeter Tat auf, das Schwert auf sie richtend.

"So schnell kommst du mir nicht davon, Gesetzlose!"

"… Den Männern hier fehlen wirklich die nötigen Peitschenhiebe, damit sie endlich mal wissen, wann Schluss ist.", keifte die Harpyie, mehr zu sich selbst sprechend. "Muss ich dir erst die Augen auskratzen, damit du, die Hexe und der andere Kerl mich in Ruhe lasst?!"

"Welcher andere Kerl?"

"Verkauf mich nicht für dumm! Der andere Elf, der Blonde, der vorhin bei euch war!" Die starre Wut in ihrer Mimik löste sich etwas, kaum dass sie das Fehlen des Blonden bemerkt hatte. "… War der das etwa vorhin, der so geschrieen hat?"

"Das werde ich dir auch erzählen können, wenn ich dich in Ketten gelegt haben werde!", blaffte Rio sie an.

"Ich weiß gar nicht, was du willst, Mann! Tickst du echt so aus nur wegen dieses Kettchens? … Du bist doch selber genauso hier eingebrochen wie ich, oder wieso haste dich in der Abstellkammer rumgetrieben und versteckt?!" Ein süffisantes, schadenfrohes Grinsen trat in ihre Züge, während sie den lauten Gedankengang weiterspann. "Bist wohl auch ein Dieb, was? … Oder vielleicht auch nur hinter dem Wunder her?"
 

IV.
 

Mein Vertrauen in den Kombass ist bereits wieder erheblich gesunken, als wir endlich durch einen brachial in den Stein geschlagenen Stollen stapfen, der an die Kaverne mit dem See anschließt.

Natürlich hat uns die genaue Weisung in Richtung der Diebin sogleich zu einer soliden Wand gebracht, an der wir so lange entlang zu gehen hatten, bis wir auf einen Ausgang gestoßen sind - keine Sache von wenigen Minuten, sondern eher mehreren gefühlten Stunden.

Ist mir vorhin noch erstaunlich warm gewesen, hat mich mittlerweile die Kälte der Höhlen gepackt.

Dafür gibt Ludwigs Schwert nicht den Geist auf, sondern leuchtet stets hell und beinahe blendend wie die Sonne selbst, sodass wir wenigstens nicht im Dunkeln umherirren. Schwert und Fackel in einem, wirklich praktisch.

"Was seid ihr eigentlich so für Leute, dass ihr dieses alte Kloster aufsucht? Und dann auch noch den verlassenen Tempel, ich dachte, da wäre Zutritt untersagt?", löchert Ludwig uns währenddessen mit Fragen.

"Wir machen eine bloße Entdeckungsreise, mal ein wenig fremde Luft schnuppern, wie man so schön sagt.", lüge ich.

Ludwig nickt, den Blick stets nach vorne gerichtet, und fragt weiter: "Aha, und woher kommt Ihr? Hab schon ziemlich lange keine Víla mehr gesehen, aber Hochelfen sieht man ja alle Tage!"

"Ich bin aus Welsdorf und Sira-"

"Ich komme auch aus Welsdorf! Das ist ein ganz abgeschiedenes Dorf in den Wäldern, nicht weit weg vom Okeans!"

"Das muss toll sein, so nah am Meer zu wohnen.", meint Ludwig ein wenig schwärmerisch.

"Nun ja, ich war noch nie wirklich am Meer… deswegen mach ich diese ganze Reise ja auch, wie gesagt, andere Luft schnappen und sowas.", erkläre ich etwas kleinlaut, während Ludwig lacht: "Kann ich mir vorstellen, dass es in so einer Gegend irgendwann zu langweilig wird! Aber du siehst mir ein bisschen jung aus für so eine Reise, Maljus. Du scheinst ja noch nicht mal den berühmten zweiten Wachstumsschub der Elfen erreicht zu haben, nicht wahr? Was haben denn deine Eltern gesagt?"

Mir wird mulmig zumute, dieser Mann ist nicht so dumm und kauft uns diese Geschichte so einfach ab nach dem Motto 'Ach, wie schön', sondern harkt genauer nach - oder er ist bloß eine Plaudertasche und mag es, tief unter der Erde mit dahergelaufenen Beinahe-Verunglückten wie uns zu palavern.

Ich seufze, lasse mir etwas Zeit mit der Antwort. "Nun… meine Eltern sind tot."

"… Oh, 'tschuldige, das war etwas indiskret, fürchte ich."

"Nein, schon gut, so nahe geht mir das nicht. Ich kann mich nicht mal an sie erinnern." Ich plane, mich geschickter herauszumogeln: "Aber sag mal, Ludwig, was ist mit dir? Wo bist du her?"

"Wo ich herkomme?" Er kratzt sich am Kopf. "Puh, das ist so lang' her… wie hieß der Ort denn noch gleich…? Ah, Hotwürüsch, lag jenseits der Wüste."

"… Lag?" Wie gibt der denn bitte seine Antworten?

Der Braunhaarige erwidert bloß: "Na ja, ich war so lang' nicht mehr dort, wer weiß, ob's das Dorf überhaupt noch gibt!"

"Na, so lange kann das aber auch nicht her sein!", hakt Sira da altklug ein, "Mit allem Verlaub, aber du bist doch auch noch lange keine dreißig Jahre alt!" Ludwig hat darauf nichts weiter zu entgegnen als ein heiteres Lachen und ein gleichzeitiges Achselzucken.

Etwas leiser und wohl nur seine Gedanken aussprechend meint Ludwig: "Hach ja, schon verrückt, wen man so alles trifft auf Reisen."

Wieder lauter will er nun explizit von Sira ein paar Sachen wissen: "Aber nun muss ich doch auch mal meine jahrelange Neugier befriedigen: Ich hab so selten eine Víla gesehen und noch seltener eine, die sich überhaupt auf ein Gespräch mit mir eingelassen hat. Darf ich dich ein wenig ausquetschen, wie ihr denn so lebt?"

"Meinetwegen…?" Sira wirkt ein wenig überrumpelt, geschmeichelt genauso, wie sie bekundet: "Es ist ja nicht jeden Tag so, als ob man einen so interessierten jungen Mann trifft!"

Ich verdrehe bei diesem Spruch die Augen, wirft sie mir da indirekt etwas vor? Wer dich mal wirklich erlebt hat, wird sich hüten, dich nach deiner Kindheit oder dergleichen zu fragen, denke ich, wobei ich heilfroh bin, dass Sira keine Telepathikerin ist. Sonst hätte sie gleich wieder gezetert, nicht zuckersüß erzählt: "Wir Víly sind eigentlich schon immer etwas abgeschiedener gewesen von anderen Völkern… ein bisschen wie die Titanen früher. Wobei… ich habe Geschichten gehört, die sagen, wir seien vor vielen Jahrhunderten noch eng befreundet mit den Elfen gewesen und hätten zur Zeit der Imperatores Albae ihnen stets mit Ratschlägen zur Seite gestanden."

"Stimmt es, dass ihr aber nie wirklich das Stadtleben, das die Elfen mittlerweile angenommen haben, gemocht habt?"

"Meine Familie hat immer gesagt, dass man den eigenen Lebensraum bedroht sah, damals als die Hochkulturen entstanden und sich die Zweibeiner die Wälder untertan machten."

Sira wird sehr nachdenklich, als sie das sagt, und muss ihre Gedanken erst ordnen. "… es stimmt, dass die Zahl der Víly im Lauf der Jahrhunderte immer weiter gesunken ist, aber ich will niemanden dafür verantwortlich machen - ich selbst habe mich ja daran gewöhnt, nicht im Wald zu leben."

"Hm, das ist komisch, grad eben sagtest du doch noch, du wärst aus Welsdorf, diesem abgelegenen Dorf in den Wäldern."

Ertappt!

Sira und mir entgleiten gleichzeitig die Züge, als wir erkennen, wie geschickt Ludwig uns da überprüft und auffliegen lassen hat. Nur ganz dezent triumphierend ist das Grinsen, mit denen er zu uns sieht, seine Schritte etwas verlangsamend. "Mich legt man halt nicht so einfach rein - ich seh' das den Leuten an der Nasenspitze an, wenn sie mich für dumm verkaufen wollen."

Was, wenn er uns nun kaltherzig in Ketten legen, oder mit den magischen Fesslungspapieren, die manch ein Dämonenjäger verwendet, umwickeln und uns schnurstracks bei den Wächtern abgeben wird?!

Ich bin stehen geblieben, so kalt ist ihm mit einem Mal wieder geworden, doch mein Gesicht fühlt sich kochend heiß an.

Ludwig hält ebenfalls inne und dreht sich nun vollständig zu uns beiden um. Er lässt das Lichtschwert uns direkt anleuchten. An seiner freundlichen Miene hat sich nichts geändert. "Was ist, hat euch das so umgehauen?"

"… Willst du denn jetzt nicht die Wahrheit wissen?", frage ich verdattert. Sira wirft mir einen wütenden Blick zu.

"Kommt drauf an - kann man mir das denn anvertrauen?" Er zwinkert geheimnisvoll. "Wenn Ihr's mir nicht erzählen wollt, muss da ja mehr dahinterstecken… und je nachdem, was es ist, werd' ich euch einsperren oder ein Geheimnis bewahren müssen. Also, überlegt's euch - hier rausführen muss ich euch ja so oder so!" Leise lachend geht er wieder weiter, wobei Sira und ich uns verwundert anstarren. Nimmt der das Ganze überhaupt ernst, oder hüllt er sich selber in irgendwelche Geheimnisse, die wir nicht mal im Traum erahnen können? Achselzuckend beschließe ich, auf der Hut zu bleiben und dem Mann nur noch in einigem Abstand hinterherzulaufen.
 

V.
 

Anderswo schienen genauso Geheimnisse langsam offengelegt zu werden. Denn erbleicht ob ihres Schockes musste Griselda wissen, ob sie sich nur verhört hatte, ob die Harpyie wirklich um das Wunder wusste.

Diese deutete mit Hohn ihre Miene, als sie anmerkte: "Du brauchst mir gar keine Antwort mehr zu geben, kleines Hexchen. Ich hab mitten ins Schwarze getroffen."

"Woher… woher weißt du davon?!", schrie Griselda. Sie wäre beinahe zusammengesackt, als sie zurückgetreten war und um Haaresbreite auf einem großem Kiesel eingeknickt wäre.

Für sie war Rio nicht mehr da und der Regen war verstummt, inmitten des Dunkel des Raumes waren bloß sie und diese suspekte Harpyie, vor der ihr jetzt fröstelte, als flößen ihr Mut und ihr Selbstvertrauen aus ihrer Haut und richteten dabei alle Härchen auf. "Du… du gehörst zu Dyonix, nicht wahr?!"

"Zu wem?", fragten Rio und die Harpyie wie aus einem Munde. Es folgte ein verdutzter Blickwechsel zwischen den Beiden und niemand wusste so recht, was zu sagen war. Jeder wartete, dass jemand anderes den ersten Schritt machen würde, doch das tat niemand.

In Griseldas Ohren hallte nach einiger Zeit der Regen wider, nervös schaute ihr Augenpaar mal zu Rio, dann wieder zu dem Rotschopf, die beide ähnlich unsicher den anderen Blicke zuwarfen.

Letztlich aber beschloss Rio, dem ganzen ein Ende zu setzen: "Du wirst uns wohl Rede und Antwort stehen müssen, kleine Diebin!"

"Ach, und wieso das, Spitzohr?"

"Sonst wird es Zeit, dass du büßt! Du Unholdin hast meiner Meisterin genug Unglück beschert!"

"Büßen?", erwiderte die Rothaarige keck eine Frage, "Wieso? Etwa, weil das hier ein Kloster ist? Oh, so viel Buße tun diese Mönche sicherlich auch nicht, wie du es dir denkst! Alles, was sie tun, ist einen uralten Schatz zu bewachen, der bald nach Meskardh wandern wird!"

Nachdem Griselda wieder zu etwas Selbstsicherheit gefunden hatte, folgerte sie: "In die östliche Wüste?"

"Gibt es ein anderes Meskardh?", meinte die Harpyie schnippisch.

"Das Meer der gesetzlosen Vögel…", murmelte Rio derweil, seine Augen weiter verengend, "Du bist also ein Abkömmling irgendeines Räuberstammes von Meskardh. Muss ja ein wirklich wertvoller Schatz sein, wenn du bis hierher gekommen bist!" Kampfbereit spie er seine Worte nur so aus.

"Wenn sich schon kein Pfaffe an den Wundern gesundstoßen will, muss es eben eine Harpyie wie ich tun!", lachte die Wüstendiebin.

Sie stellte sich etwas breitbeiniger hin und straffte ihre Haltung. Im selben Moment packte Rio sein Schwert wieder fester und starrte sie streng an.

"Ach, und du denkst wir lassen dich das so einfach machen?"

"Man hat's ja mal versuchen können!", gab sie ihm weiterhin Kontra, wobei sie ihn agrwöhnisch anfunkelte und bereits ihre Klauen bereit hielt.

Griselda meldete sich geballter Fäuste und lauter Stimme zu Wort: "Du gehst nirgendwo hin, ehe du uns nicht verrätst, woher du von den Wundern weißt und wieso du hinter ihnen her bist! Ich bleibe dabei, dass du eine Spionin Dyonix' bist, also stell dich nicht dümmer, als du bist!"

Auch dieser unterschwelligen Drohung konnte die Diebin nur mit einem müden Grinsen begegnen.

"Ich bleibe dabei, dass ich keinen Dyonix kenne, Ignis drei mal verdammt! Aber wenn's dich so glücklich macht, Kleines, dann verrat' ich dir eben, dass Meskardhs Sanddünen mehr Legenden und Prophezeiungen hergeben als jede eurer schönen Bibliotheken außerhalb des Dünenlands!"

"Ach, und was sagen diese Legenden, dass so eine kleine Gaunerin wie du angekrochen kommt?!" Noch ein mal stutzte das Harpyienmädchen, ihre Augenbrauen zogen sich verwundert zusammen. Vorgeschobener Unterlippe bemerkte sie: "Wüsst' ich's nicht besser, würd' ich vermuten, du hast keine Ahnung von den Wundern. Noch nie von dem sagenhaften Metallum Impristinii gehört?" Rio und Griselda blinzelten, der Dunkelelf warf seiner Meisterin einen fragenden Blick zu und postwendend kramte die Hexe in ihrem Gedächtnis. Impristinium… was war das doch gleich?, fragte sie sich selbst fieberhaft und drückte gedankenverloren mit ihrem angewinkelten Zeigefinger gegen ihre Unterlippe.

Da! Nun fiel es ihr wieder ein. Das Impristinium, die Kurzform des Begriffes Imperium Lucis pristinum - dem Reich der Götter, welches einst der Lichtgott Lux beherrscht hatte. Jenseits der kargen Finsternis, dem Totenreich, das Mors sich vor Äonen beugte, sollte es dem dritten Buch der Libris Confessionis nach liegen, eine weiß-scheinende Aue rund um einen klaren, perfekt kreisförmigen See, an dessen Ufer die Götter verweilten und über die Sterblichen wachten.

Doch die Sterblichen gab es noch gar nicht, als Lux noch dieses Paradies, wo die Früchte der Bäume groß wie Titanen werden mochten und das Ambrosia geerntet wurde, beherrschte. Den Tod gab es nicht, es gab keine Gestirne, sondern nur die fruchtbare Erde, Terra, den Gebieter der Urkälte Frigus, den Herrn des Lichten und Warmen Lux, und letztlich die Fürstin alles Unordentlichen und Verworrenen, Chaos.

Griselda bemerkte gar nicht, wie sie im Geiste die Zeilen des Schöpfungsmythos' rezitierte.
 

Und siehe, es tobte gar immer ein Kampf, denn eine gönnte dem anderen nicht das Zepter. Die Chaos war ein garstiges Biest und mit dem Lux trug sie unzählige Schlachten aus. Keiner von beiden mochte ruhen, ehe nicht der Streit beigelegt sei und Erd und Frost verblieben stumm, belasteten sich nicht mit Dingen außerhalb ihrer Sphären.

Jedoch, wer nicht rastet, verkümmert. Und siehe, es unterlag der Lux nach so vielen Ewigkeiten und als er stürzt' zu Boden, sein Leib zersprang in Tausend und Abertausende von Lichtern, Sol, Luna und die Sides, die kein Mann zählen mag, egal wie viel Zeit Tempus ihm gewähren wird, bevor der Mors ihn holen wird.

Chaos hatte gesiegt und feierte. Und da sie feierte, nahm sie sich den Frigus zum Mann und gebar ihm Kinder, die alle ihren Eltern glichen. Wirr und kalt waren sie, die Frigiden, die da heißen Aqua, Anima und Nox. Und-
 

Griselda brach ab, jetzt war doch nicht die Zeit, sich irgendwelcher Predigten und Gottesdienste zu entsinnen! Sie festigte den Blick erneut und wollte von der Harpyie wissen: "Das Metall des Paradieses?"

"Schnell erkannt!", lobte die Rothaarige zynisch, "Vielleicht helfe ich deinem Verstand ja etwas auf die Sprünge, wenn ich dir sage, das dieser wertvollste Stoff auch einen anderen Namen trägt: Oreichalkos."

Der Groschen war gefallen, doch Rio schnaubte nur belustigt: "Du glaubst dieses Ammenmärchen vom Oreichalkos? Diebe glauben wohl jeden Stuss, wenn es um Geld geht."

"Das sagt mir der Wachhund einer kleinen Hexe, die genauso hinter den Wundern her ist, wie ich? Willst du mich verarschen, kleiner Schattenelf?"

Die gelben Augen des Alba Occulta weiteten sich und wutentbrannt machte er einen gewaltigen Schritt auf sie zu. Blitzschnell sprang sie zurück, breitete ihre Schwingen aus und blieb flügelschlagend vor den beiden in der Luft stehen.

"Oh~, stimmt ja, das nennt man ja heute nur noch 'Dunkelelf'. Hab' wohl einen Nerv getroffen."

"Warte nur, bis ich dich aus der Luft hole!"

"Nein!", schritt Griselda sofort ein, "Erst habe ich noch ein paar Fragen! Wenn du so viel über die Wunder und das Oreichalkos weißt, werden die Legenden doch sicher auch noch von einem ganz anderen Nutzen gesprochen haben, oder?"

"… Was? Oh~, jetzt verstehe ich… ihr redet von dieser Prophezeiung über diesen komischen Typen aus dem Süden. … Und dann werft ihr mir vor, auf den Kopf gefallen zu sein."

"Es ist wahr!", schrie Griselda.

"Nun, gut zu wissen dann.", lachte die Harpyie, "Dann staub ich nicht bloß ein wenig Reichtum ab, wenn ich mir die Wunder unter den Nagel reiß!"

"Du denkst, wir lassen dich so einfach gehen?!" Rio stellte sich in den Eingang.

Die Diebin sah sich um und registrierte, dass die Fenster mit schweren Gittern bestückt waren. Ein leiser Fluch auf Meskardhisch verließ ihre Lippen, aber davon ließ sie sich nicht aus dem Konzept bringen. Großspurig verkündete sie: "Seid mir lieber dankbar! Nichts für ungut, Schwester, aber deine zwei Spitzohrliebhaber sind für so eine Mission nicht geschaffen, dafür nehme ich mich der heiligen Aufgabe an, das Unheil abzuwenden! Ab sofort bin ich die Prophezeite Kora!"

Sie schoss im Sturzflug auf Rio, der, sich der Situation sofort gewahr, schnell mit dem Schwert zustieß. Kora vollführte eine windschnelle Drehung, umging den Angriff und rempelte Rio beiseite. Sie entkam!

"Halt, bleib hier!"

"Keine Zeit, ich muss die Welt retten!" Gackernd machte Kora sich aus dem Staub.
 

VI.
 

Mit dem Aufstoßen der großen Flügeltüre aus Metall erschließt sich uns ein achteckiger, großer Raum im hinteren Flügel des Sakralbaus. Er ist mit prächtigem Marmor ausgelegt und umfasst einen ganzen Turm. Die Wände erstrecken sich weit nach oben und viele Fensterreihen, in die buntes Glas eingesetzt worden ist, lassen großzügig Licht einfallen - genauso wie die Löcher im Gemäuer hier und da, die gut und gerne auch mal ein ganzes Fenster umfassen.

Anhand der verstaubten Holzbänke samt Ablagestellen für Gesangsbücher und Glaubensschriffen, die neben dem alten, grünen Teppich stehen, auf dem wir entlanglaufen, deute ich, dass dies das ehemalige Predigtzimmer sein muss. Direkt gegenüber der Türe führt eine teppichbelegte Treppe zu der untersten von drei Emporenreihen. Die oberste ist kaum noch zu erkennen, viele Stellen sind von herausgebrochenen Mauersteinen mitgerissen worden und aus ihren Verankerungen gerissen, überall liegen Holzsplitter und verbogene Geländer verteilt.

Ich schlucke nervös, als ich merke, wie sich mir der Hals zuzieht. Das erinnert mich nur zu gut an meinenSturz.

"Nicht mal den Altar haben sie in Sicherheit gebracht…", murmelt Ludwig und deutet mit der Spitze seines Schwertes zu dem intarsiengeschmückten Triptychon, in das jemand in tagelanger Kleinstarbeit dünn hervorstehende Lobpreisungen der Gottesmutter eingeschnitzt hat. Es ist ein Jammer, dass das Kunstwerk auch vom Zahn der Zeit angegriffen worden ist. Hier und da sind Ecken abgebrochen, herabfallender Schutt hat die Figuren des dargestellten Bildes zerkratzt, Holzwürmer haben ihren Weg in die Vertäfelungen gefunden und die Staubschicht auf dem Holz ist mehrere Zentimeter dick.

"… Und die Leute, die erst kürzlich hier waren, machen sich wohl auch wenig aus solchen Dingen.", merkt er dann noch an. Auf unsere fragenden Blicke hin zeigt er nun auf den Teppich der Empore. So schmutzig das Grün auch geworden ist, der Dreck ist so wunderbar dick, dass er fast passgenau die Spuren diverser Schuhe abzeichnet.

"Ich würde vermuten, dass Ihr damit mich meint, mein Herr.", entgegnet da plötzlich eine Stimme.

Ich wirble herum, diese Stimme kenne ich doch! Überglücklich bin ich, bis ich das Mädchen sehe, das von der mittleren Empore zu uns kommt. Es trägt ausgesprochen edle Kleider, bestehend aus einem eng-sitzenden schulterfreien roten Oberteil, welches mit Rüschen und einer weißen Kunstrose in der Mitte der Brust geschmückt ist, und einem schwarzen, weitläufigen Rock. Die weit auslaufenden Ärmel sind oben aufgebauscht und mit hübschen Schleifen festgesurrt. Letztlich trägt die junge Dame noch einen roten Hut, mit Seide und Perlen bestückt, sowie herabhängenden Kettchen, an denen umgedrehte Herzen von der geschwungenen Krempe baumeln.

Das zerbrechlich schöne Mädchen macht einen gelungenen Knicks vor uns.

"Guten Tag, meine Herren, ich bin Selet von Ardsted."

Träum' ich, oder wach ich? Ich bin immer noch baff, dass das Gesicht der Dame dem einer ganz bestimmten Hexe ähnelt.

Aber Selets Blick ist anders und ihr Haar, diese ungebändigte braune Haartracht, die ihr bis zu den Hüften reicht, ist auch völlig anders als die glatten, zusammengebundenen Silbersträhnen Griseldas.

Ludwig derweil verbeugt sich vornehm und schnell tu ich es ihm nach. Fast hätte ich vergessen, dass ich nicht irgendwen vor mir habe - und egal, was Gart je gesagt hat, ich halte mich lieber an Alids Weisheit, dass es unanständig ist, eine Frau so indiskret anzustarren... obgleich sie sehr gut aussieht.

Sira ist hinter mich gewichen, sobald sie die Prinzessin gesehen hat, und klettert nun langsam zurück in ihr übliches Versteck.

Ludwig wirft mir einen seltsamen Blick zu, ehe er zur Prinzessin sagt: "Dies ist aber kein Ort für Euresgleichen, wisst Ihr das? Hier soll nicht nur allerhand Ungeziefer hausen, sondern auch der ein oder andere Dämon."

"J… ja doch, Herr Exorzist." Zum Dahinschmelzen… argh, was denk ich denn da, zum Bewundern ist jetzt keine Zeit!

"Oh, Verzeihung, ich habe mich gar nicht vorgestellt! Ludwig heiße ich, zu Euren Diensten!" Er legt noch eine Verbeugung hinterher, in die ich sogleich einstimmte, nachdem ich mit einem Räuspern gesagt habe: "Und ich heiße Maljus. Ich, äh… bin sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, Eure Hoheit, und bitte untertänigst um Verzeihung!"

"Jetzt übertreib's aber nicht, du Schleimer…", zischt Sira mir ins Ohr.

"Seid Ihr ebenfalls ein Exorzist? Ich sehe gar kein Abzeichen, doch eine Waffe tragt Ihr in so jungem Alter schon."

Ich stelle mich gerade vor ihr hin und versuche, so stattlich vor ihr zu stehen, wie ich es aus dem Stegreif beherrsche. Meine Arme hinter dem Rücken verschränkt und die Brust rausstreckend erwidere ich: "Nein, ich bin kein Exorzist, lediglich ein… ein Reisender!"

"Ein ganz schön neugieriger…", ergänzt Ludwig und wirft mir wieder diesen missgünstigen Blick zu, "Hoheit, diesen Burschen fand ich in den Tiefen dieses Gemäuers und anfangs dachte ich noch, er sei ein Klosterbesucher. Doch wenn Ihr noch immer hier seid, muss auch das Tor für Unbefugte noch immer verschlossen sein."

Er packt mich auf ein mal am Kragen. "Und das bedeutet für dich wohl ein paar Tage Arrest, du kleiner Einbrecher!"

"Oh, bitte, führt ihn nicht sogleich ab, Ludwig!", bittet Selet da auf ein mal.

Der Exorzist ist 'ein wenig' platt. "Ihr beiden Herren seid die einzigen hier außer mir! Ich verirrte mich, als ich in tumber Wissbegierde diese Hallen betrat, und nun traue ich mich kaum zurückzugehen! Würdet Ihr mich nach draußen begleiten?"

"Natürlich!", willige ich sofort ein, aber Ludwig sieht ihre Bitte kritisch: "Vertraut Ihr darauf, dass der Junge keine Dummheiten anstellen wird, wenn ich ihn wieder loslasse?"

"Nun hör mal, ich hab auch nichts getan, als ich dir ganz normal gefolgt bin!", wehre ich mich, ohne auf die Antwort der Prinzessin zu warten, welche den Streit mit schüchterner Miene beobachtet.

Bloß weil ich zugegebenermaßen wiederrechtlich eingedrungen bin, heißt das noch nicht, dass ich ein notorischer Spitzbube bin!

Ludwig erwidert nichts mehr und sieht zu Selet. Sie nickt still, also setzt er mich wieder ab, woraufhin ich erleichtert aufatme - und gleich von der Víla einen Denkzettel verpasst bekomme: "Sag mal, was wird denn das?! Wir wollten doch Rio und Griselda suchen!"

Ich kann nichts entgegnen, denn Ludwig widmet sich der nächsten Frage: "Gut, wisst Ihr denn noch ungefähr, woher Ihr gekommen seid, Hoheit?"

"Oh, selbstverständlich! Bitte folgt mir, Ludwig und Maljus." Ich hätte mich am liebsten weiter hinten gehalten, um mit Sira in Ruhe reden zu können, doch Ludwigs aufmerksame Augen schieben mich geradezu in die Mitte des Dreiergespanns.

Ich stecke wirklich in der Zwickmühle… einerseits ist Ludwigs Kombass das Einzige, was mich möglicherweise zu den anderen führen kann, andererseits ist Ludwig ja jetzt genauso damit beschäftigt, Selet zu eskortieren, und scheint mir jetzt wesentlich weniger freundlich gesinnt als vorher. Wie seltsam, dass er erst jetzt echtes Misstrauen gegen mich hegt, er hat doch schon herausgefunden, dass wir ihn bereits einmal anzuflunkern versucht haben.

Aber ich hege auch Hoffnungen: Wenn dies die Prinzessin ist und ich es schaffen kann, mich mit ihr gut zu stellen, werden wir ein gewaltiges Ass im Ärmel haben! Bestimmt kann ich Selet von Dyonix' Plänen erzählen! Sie muss ihn kennen und über sie hätten wir leichtes Spiel, den Consultor Maximus unschädlich zu machen! Sie wird uns bestimmt dabei helfen, wenn sie erst einmal von den Machenschaften des Beraters erfährt!

Selet führt uns hinauf zur mittleren Empore und dort an der Balustrade entlang in Richtung einer weiteren Metalltüre. Sie ist verschlossen und als das Mädchen sich dagegenstemmt, rührt sie sich keinen Millimeter. Sie braucht gar nicht erst: "Ach, würdet Ihr mir bitte zur Hand gehen und die Türe öffnen?" sagen, ich bin sofort bereit, ihr zu helfen!

Ich will mich gerade an der anderen Türe des Doppelportals versuchen, als ein helles Gleißen direkt vor meinem Gesicht auftaucht. Erschrocken schreie ich auf, werde geblendet und spüre einen feinen Schnitt in meiner Wange, der so plötzlich kommt, dass er mich zurücktaumeln lässt.

Ich pralle rücklings gegen die Prinzessin, die gerade noch einen spitzen Schrei ausstößt, als sie das weiße Leuchten im Rücken trifft und vor die Tür stößt.

Als hätte ich nicht schon genug Leuchten gesehen, erfüllt augenblicklich ein hell-gelblicher Schein den Turm, während sich aus dem Dreck des Bodens mehrere lange Tücher, beschriftet voll kryptischer Zeichen, und hell wie das Tageslicht erheben und blitzschnell die Prinzessin an Ort und Stelle fesseln. Sie schnüren sich eng um ihren Körper und nehmen ihr jede Bewegungsfreiheit. Mir stockt der Atem vor Schreck.

"… et coniuge…", murmelt da jemand. Das durch den Raum flitzende Stück Licht wird langsamer und schwebt direkt zu Ludwig.

Ich bin ganz von den Socken, Dutzende von Lücken sind auf ein mal in dem leuchtenden Schwert und langsam erkenne ich, dass das seltsame Projektil, das mich geschnitten und Selet in eine Falle gestoßen hat, offensichtlich die fehlenden Stücke sind, die sich nun perfekt wieder in die Aussparungen einordnen!

Dieser Mistkerl!

Ich habe noch nie so schnell gezogen wie in diesem Moment, da ich aufgeregt brülle: "Was hast du getan?! Bist du übergeschnappt?!" Abwechselnd schaue ich zu der zappelnden Selet und dem sich nähernden Ludwig, der hastig einwendet: "Halt, lass mich das erklären, sie-"

"Erklären?! Du willst mir erklären, wieso du sie gerade in eine Falle gestoßen und mir fast die Nase abgeschnitten hättest?! Du-"

"Solve!"

Ich stocke in meinem Zorn, als sich wieder kalter Stahl gegen meine Haut presst, wie schnell ist Ludwigs Lichtschwert denn?!

Er schüttelt ächzend den Kopf. "Wenn du endlich ruhig bliebest, könnte ich vielleicht erklären, was hier abgeht."

"Einen feuchten Dreck werd' ich tun!", zische ich den Mann unverwandt an.

"Dir ist klar, dass ich dir einfach so mit einem Wimpernzucken die Kehle durchschneiden könnte, oder? Wenn du ruhig bleibst, ruf' ich das Fragment zurück!"

Schöner Mist, ich bin schutzlos ausgeliefert. Zähneknirschend gebe ich mich geschlagen und schiebe mein Schwert langsam zurück. Genauso langsam entfernt sich das schwebende Stück Klinge wieder und fliegt zurück zu seinem Meister. Ludwigs Züge werden etwas weicher und er läuft nun zu mir, während ich überlege, wie ich die Situation doch noch zu meinen Gunsten wenden kann.

"Na also, geht doch. Weißt du, was das da ist, worauf diese 'Prinzessin' gerade getreten ist? Die nennen sich Fesslungspapiere, lange, geweihte Streifen, die sich um Unwissende schlingen, wenn sie auf sie treten. Viele und fast nur Exorzisten benutzen die Dinger…"

Kurz schweigt er und fährt umso ernster fort: "Aber ich nicht."

"Und was soll das heißen?! Dass du Selet zufälligin diese Falle dirigiert hast?!"

"Geht schnell weg von ihm, Maljus!", ruft Selet derweil verzweifelt aus dem Hintergrund.

Ludwig ignoriert sie und bleibt locker: "Na, besser als wenn derjenige jetzt in dieser Falle säße, für den sie ursprünglich gedacht war."

Ich vergesse meine Wut kurz, starre wieder die mitleidig dreinguckende Prinzessin an und kann spüren, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Nein… er will mir doch nicht sagen, was ich denke, dass er es meint?! "Ich seh' dir richtig an, dass du verstanden hast. Ich träume zwar auch schon, seit ich ein kleiner Junge war, davon, mal eine Prinzessin aus irgendeinem Gemäuer zu retten, aber das hier wirkte doch etwas zu märchenhaft. Das Mädchen hier wollte uns auf eine etwas andere Art fesseln!"

"Glaubt ihm kein Wort, Maljus, der Mann ist dem Wahnsinn verfallen!" Tränen treten in Selets tiefbraunen Augen. Herzzerreißend schluchzt sie: "Haltet Ihr mich etwa auch für eine falsche Schlange, Maljus?!" Tiefe Verzweiflung und Todesangst schwingen in ihrer bebenden Stimme mit, ich bekomme zunehmend Gänsehaut.

"Sag etwas, Maljus… bitte…", jammert das Mädchen.

"Ob ich dich für eine falsche Schlange halte…? … Nun-" Ich bin so aufgewühlt… nein, das kann doch nicht sein! Warum sollte sie das denn tun?! Was hätte sie davon?!

"Lass dich nicht einlullen, Maljus!", ruft Ludwig und nähert sich dem Mädchen.

"Und zwar von ihm!", verlangt Selet.

Oh, hört endlich auf, auf mich so einzureden, ich begreife nichts mehr!

"Wenn du mich fragst, ist sie ein D-" Ludwig kommt nicht dazu, zu Ende zu sprechen, denn zu seinem Schrecken sieht er, wie das Leuchten der Fesslungspapiere aufhört. "Verflucht, das ist nicht gut!"

Er rennt zu Selet, hat sie fast erreicht, da zerreißen die grau gewordenen Papierstreifen. Die Prinzessin springt in die Höhe und befördert Ludwig mit einem einzigen Tritt gegen die nächste Wand, wo dieser bewusstlos zusammensackt. Das lässt mich nun doch mein Schwert ziehen, wenn auch nur zögernd. Wie… wie kann ein Mensch denn solche Kräfte besitzen?! Sie ist also doch die Übeltäterin?!

"Du… du bist ein Monster!"

Sie lacht mich nur aus: "Ein Monster? Wegen dieses Angriffs? Oh, das war doch gar nichts!" Sie verzieht die Lippen zu einem unheimlich breiten und bösen Grinsen, das nicht mehr normal ist. Ein ominöses Zischen verhallt neben dem leisen, abnehmenden Prasseln des Regens.

Ich kann sie kaum ansehen!

"… Du bist niemals im Leben Prinzessin Selet!"

"Nur weil ich dich gerade gefangen nehmen wollte, kann ich also unmöglich Selet sein?" Seufzend zuckt sie mit den Achseln. "Und dabei dachte ich, du hättest etwas mehr Grips vorzuweisen." Es zischt noch ein mal, als sie sich beugt, um ihren herabgefallenen Hut aufzuheben, und den gröbsten Dreck aus ihrem Rock klopft. "Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich Selet von Ardsted bin, Maljus!"

Sie macht eine kurze Pause, um ihren siegessicheren Moment voll auszukosten, wobei ihre Hand auf ihrem Schlüsselbein ruht. Schelmisch grinsend fragt sie: "Oder kann hier jemand das Gegenteil beweisen?"

In mir kocht die Wut und kaum habe ich noch mal zu dem blutenden Ludwig geschaut, scheine ich wirklich von innerem Feuer zerfressen zu werden. Ich bin nicht bloß schon wieder in einen Hinterhalt geraten, sondern kann mir auch abschminken, dass dieses Mädchen mir helfen würde, Dyonix aufzuhalten - selbst wenn sie Selet sein sollte! Und Ludwig habe ich misstraut, aber nicht dieser feinen Dame!

Ich will es nicht glauben! Das kann nicht sein, sie kann keine solche hinterhältige Furie sein! Doch nicht die Prinzessin Cardighnas! Sie wird Cardighna eines Tages regieren, wie hätte man ihr so ein widerwärtiges Verhalten je verzeihen, sie als ein solch dämonisches Mädchen aufwachsen lassen können?!

"Ich glaube dir kein einziges Wort! Als ob die Prinzessin Cardighnas so ein abscheuliches-"

Da stößt sie lautes Gebrüll aus: "Mach dich nicht lächerlich du Gutelf!" und macht langsam ein paar Schritt auf mich zu. Sie deutet abfällig mit ihrem Zeigefinger auf mich. "Ich weiß über dich bescheid, Langohr. Irgendein einfältiger Tölpel vom Lande bist du, ein verdammter Naivling, der sich einbildet, Dinge zu verstehen, die Männern und Frauen höheren Standes vorbehalten sind! Und ich weiß auch, dass du impertinenter Niemand hier bist, um eine neue Schwertweihe durchzuführen. Sag' deiner kleinen Víla, sie soll aus ihrem Versteck kommen! Von ihr weiß ich genauso!"

"Dann gehörst du dem Anschein nach auch zu Dyonix' Gefolge.", stellt Sira trocken fest.

"Nur nicht so bescheiden.", beginnt Selet, "Dyonix ist nicht mein Meister - er ist mein Partner! Dachtet ihr etwa, er könne sich so ohne weiteres im Amt halten, besonders wenn man bedenkt, was er vor hat? Oh, mitnichten, das ist mein Verdienst! Ich halte ihm am Hof den Rücken frei und werde dafür gerecht entlohnt werden, wenn unser Ziel erreicht sein wird!"

Ich kann es nicht fassen, was die Prinzessin da sagt. Sie ist nicht nur so abgebrüht, uns hier eine Falle zu stellen oder Dyonix zu unterstützen, sondern auch noch ohne Weiteres bereit, ihren eigenen Vater, den König, zu hintergehen und womöglich sogar aus dem Weg räumen zu lassen?! … Vorausgesetzt, sie ist wirklich Selet von Ardsted. Ich habe noch immer starke Zweifel, doch was heißt das schon? Ich hab auch Zweifel gehabt, dass ich so sehr in Schwierigkeiten geraten könnte.

"Eine schöne Geschichte, die du dir da ausgedacht hast, Mädchen. Und deine Verkleidung ist mit Sicherheit auch alles andere als schlecht.", erhebt da Sira plötzlich ihre Stimme und gönnt sich, triumphierend dreinzuschauen, ihre Arme verschränkt haltend. "Vermutlich hast du auch sehr gut die Leute am Hof hereingelegt und deine Rolle gut gespielt, aber leider bin ich vollkommen sicher, dass du nichts weiter als eine Lügnerin bi-"

Selet wartet gar nicht, dass sie zu Ende redet, sondern ruft gleich: "Ach ja?! Wo sind deine Beweise, du Schmetterlingsfrau?! Den Schlauen spielen kann jeder."

"Nimm den Mund lieber nicht so voll.", weist Sira sie zurecht.

Wie seltsam das ist, wenn ausgerechnet Sira einem Feind so begegnet - sie hat doch den Untoten beim Stättenüberfall schon nichts entgegenzusetzen gehabt! Aber nichtsdestotrotz… es ist gut zu wissen, dass ich nicht allein bin mit meiner Meinung.

"Denn die Prinzessin kann schlecht an zwei Orten gleichzeitig sein. Wie wäre es, wenn ausnahmsweise du uns einen Beweis lieferst? Adelige sind die Minderheit, aber teure Kleider tragen dennoch viele in diesem Land. Tragen Mitglieder hochrangiger Familien nicht eindeutige Erkennungssymbole bei sich, damit auch ja kein Möchtegern sich als ihresgleichen ausgeben kann?"

Selets Augen weiten sich nur ein kleines bisschen, aber merklich. Ja, jetzt hast du sie, Sira! "Kannst du uns einen Gegenstand zeigen, einen Gegenstand wie… einen Siegelring?"

Selets Mundwinkel rutschen nach unten…

"Meine Achtung, kleine Víla!"

Wir drehen uns zu Ludwig um, der ächzend aufsteht und sich das Blut von der Schläfe wischt. Er grinst schief, aber ist soweit wohlauf, was mich wenigstens etwas erleichterte. "Ich weiß nicht, wieviel länger ich noch still hätte warten können, bis ihr diesem Biest auch auf die Schliche kommen würdet!" Er wusste es auch so sicher? Aber warum? Bin ich der einzige hier, der irgendwas nicht weiß?

Ich hefte meinen Blick wieder an die falsche Selet, deren Stirnrunzeln deutlich sichtbar sind. Sie hat den Kopf eingezogen und ihre geballten Fäuste zittern gefährlich.

"Khh… was soll's, ich hatte nie geplant, dass ihr hier lebend wieder raus kommt.", zischt sie. Da schiebt sich aus ihrem Mund plötzlich eine dünne, gespaltene Zunge. Die beiden Spitzen zappeln wild, während das Zischen wieder ertönt. Eine Schlangenzunge! Ich muss an die gefährlichen Silvanattern aus den südlichen Wäldern denken; die Geschöpfe, die meinen Stiefvater auf dem Gewissen haben!

Gerade entsinne ich mich ihrer schneeweißen, langen und gewundenen Leiber, die sich durch das Laub schlängeln und jeden unachtsamen Wanderer anfallen, der ihnen vor ihre Giftzähne kommt, da zieht das Mädchen einen seiner dunklen Handschuhe aus und führt ihre langen, blutroten Fingernägel an ihrer Kehle entlang, bis ein deutlich sichtbarer Riss in ihrer Haut entsteht.

Ich glaub, mir wird speiübel…! Langsam schiebt sie ihre Finger unter ihre eigene Haut und reißt sich plötzlich ihr eigenes Gesicht samt Haarschopf vom Leibe. Sie rupfte die Haut ihrer Schultern ab, wirft die mattdurchsichtige Schicht zu Boden und gibt ihr wahres Äußeres Preis. Leichenfarbene Haut, blass und gespenstisch hell, deren Schatten sanft ins Lilane abdriften, nackenlanges gewelltes Haar in sattem Violett, an den Spitzen in ein weinähnliches Rot übergehend, und ungewöhnlich breite Lippen, die auch schon wieder zu einem schlangenhaften Lächeln verzogen worden sind, sind dem Mädchen zu Eigen, das langsam seine grotesken Augen öffnet. Pupillenlose Augen mit weißer Iris starren mich an, die Lederhaut ist grellorange und feurig.

"Ta-da~!", trällert sie spöttisch.

"Eine Spiegeldämonin bist du also, widerliches Scheusal. Und dein Name lautet?"

"Echidna - und danke für deine herzlichen Worte, Exorzist. Ganz recht, ich bin eine Spiegeldämonin. … Oh, aber ich sehe, dass das einer ganz bestimmten Person nichts sagt."

Sie meint damit ohne Zweifel mich. Doch ich kann einwandfrei sagen, dass sie sich gewaltig von dem Rachedämonen Ventosus unterscheidet.

Ludwig sagt: "Wir verschieben die Erklärungen besser auf später!"

"Für euch wird es kein 'später' mehr geben!", droht Echidna.

Obwohl sie über ungeheuere Kraft verfügt, kann ich mir nicht vorstellen, wie sie sich noch so ihres Sieges sicher sein kann, allein im Angesicht von Ludwigs Waffe. Auf gut Glück frage ich sie: "Bist du eine Magierin? Normale Waffen sehe ich nicht an dir!"

"Ein Dummkopf wie du weiß aber auch gar nichts über Dämonen, oder?", ist die kecke Entgegnung der falschen Prinzessin, die langsam ihren linken Arm ausstreckt. "Du wirst es besser verstehen, wenn ich dir zeige, womit wir Spiegeldämonen kämpfen."

"Nicht, wenn ich da noch ein Wörtchen mitzureden habe! Solve!", ruft Ludwig und hetzt Splitter seines Lichtschwertes auf sie, aber Echidna schlägt sie mit der bloßen Hand so schnell zur Seite, dass sie sich in Boden und Wände rammen. Auf Ludwigs hastiges "… et coniuge!" ruckeln die Splitter etwas, aber lösen sich nicht.

Gebannt schaue ich währenddessen der am Handgelenk verkrampft zappelnden Hand zu, ehe sich Echidnas leichenblasse und spindeldürre Finger zusammenschieben. Unter einem in meinen Ohren ekelerregenden Knacken und Krachen, das aus Echidnas Arm kommt, wächst das Handgelenk plötzlich zu einem langen, stabförmigen Auswuchs an. Sie verzieht nicht mal eine Miene.

Ludwig rast nach vorne, schlägt noch im letzten Moment der Verwandlung nach der Dämonin, da packt Echidna den nach unten ragenden Teil der starren Stange und schwingt ihren defomierten Arm mit Schwung nach ihm.

Zwei Klingen prallen aneinander, eine sehr obskur nach unten sich verjüngende in gleißendem Licht, geführt von Ludwigs gebräunter Hand, die andere schimmernd rot und das, was aus Echidnas zusammengewachsenen Fingernägeln geworden ist: ein riesiges, geschwungenes Sensenblatt!

"Verflucht, warum muss ausgerechnet immer uns so etwas passieren?!", flucht Sira. Dann stupst sie mich an der Backe an. "Nun schau nicht so beängstigt! Hilf lieber Ludwig, er hat dir das Leben gerettet!"

"Das… das brauchst du mir nicht zwei mal sagen!" Ich habe dennoch einen kleinen Schubs benötigt, um aus dem Staunen herauszukommen. Was können diese Dämonen denn nicht? Sie haben Augen an den unerfindlichsten Stellen, können sich spurlos in Luft auflösen, sich als andere Personen ausgeben und nun sogar ihre Gliedmaßen in Waffen verwandeln!

Ich nehme all meinen Mut zusammen und beiße die Zähne fest aufeinander, als ich zu Ludwig und Echidna renne mit dem Ziel, die ungeschützte Seite der Schlangendämonin anzugreifen. Doch sie riecht den Braten, lässt den Exorzisten aus der Parade und springt, leicht wie eine Feder, in sichere Entfernung hinfort. Ludwigs Schwertsplitter kommen endlich aus dem Stein der Empore frei und fliegen zurück, um das Schwert zu komplettieren.

Er sagt: "Du musst verdammt auf der Hut sein, Maljus. So eine Spiegeldämonin wie sie macht keine halben Sachen."

"Schön, dass du es erkannt hast!", schallt es da plötzlich neben uns, nachdem Echidna mit einem gewaltigen Sprung den Zwischenraum der Emporen überbrückt hat. Sie ist noch nicht mal gelandet, da schwingt sie ihre Sense bereits nach Ludwig, dem nichts übrig bleibt, außer mit einer Seitwärtsrolle auszuweichen. Ich ducke mich blitzschnell.

"Was, bist du darauf aus, mir unter den Rock zu stieren?!", schreit Echidna theatralisch über mir, "Hinfort mit dir, du Lustmolch!" Postwendend trifft mich ihr Stiefel an der Wange und befördert mich in Richtung der Wand. In meinem Kopf dreht sich alles, aber ich habe nicht die geringste Zeit, mich zu erholen, ich muss sofort wieder aufstehen und dem nächsten Angriff der Möchtegernprinzessin entgehen.

Ludwig nutzt die Gunst der Stunde und hetzt Echidna laut rufend sein Schwert auf den Hals. Sie bemerkt seinen Ausruf noch rechtzeitig, um die Wunden auf ein paar oberflächliche Schnitte an Arm und Taille zu beschränken. Trotzdem verzieht sie schmerzhaft ihr Gesicht und sinnt sogleich auf Rache. In einer mörderischen Geschwindigkeit nähert sie sich Ludwig, welcher sich bereit macht, ihren Angriff abzufangen - nun, so denkt die Dämonin wohl, ehe die Schwertsplitter hinter ihr aufglimmen und erneut Treffer verbuchen können.

Sie stolpert nach vorne, während ich - sobald ich Atem gefasst habe - nun auch wieder zu ihr presche.

Ich habe sie noch gar nicht erreicht, da wirbelt sie schon herum, ihre leeren Augen glotzen mich wutentbrannt an wie der weiße Kern einer glühenden Esse.

Mit gefletschten Zähnen reißt sie die Sense herum, die gerade noch auf Ludwigs Hals gezielt und den schwarz Gekleideten veranlasst hat, sich auf den Boden zu werfen, und ist kurz davor, mich horizontal zweizuteilen.

"Solve!!", brüllt Ludwig aus voller Kehle, schickt mir die ganze Klinge zur Hilfe, teilt die Außenpartien des leuchtenden Metalls mit seiner Gabe in kleinste Splitter, die den Kern wie ein schimmernder Nebel umgeben.

Doch es ist vergebens. Ich habe mich instinktiv, völlig von der Todesangst zum Handeln gezwungen, nach hinten fallen lassen und trotzdem spüre ich die brennende Schneide der Sense in mein Fleisch eindringen. Ich lasse einen bestialischen Schmerzensschrei verklingen, ehe mir vom Aufprall auf dem Boden der Atem weg bleibt und ich erst merke, wie verheerend dieser eine Schnitt gewesen ist: Meine Sicht wird trüb, die Farben explodieren und werden trotz der zunehmenden Dunkelheit schrill und unerträglich grell. Aber nichts bewegt sich, ich fühle meinen Körper zucken. Endlich dringt wieder Luft in meinen Brustkorb, doch die Welt bleibt statisch und stumm.
 

Außerhalb seiner Wahrnehmung war aber keineswegs niemand mehr in Bewegung. Wie ein Berserker hatte sich der braunhaarige Dämonenjäger auf das lilahaarige Dämonenweib gestürzt, das schnell das Weite suchte und hinunter in den Mittelpunkt des Gebetsraumes auswich.

Ludwig studierte prüfend Maljus' starre Augen, hob den zuckenden Jüngling an und ließ sein Schwert fallen, um wieder nach einer Mixtur zu suchen. Ein dunkelgrünes, moosfarbenes Serum war, was er zu Tage förderte, um es dem Blonden so schnell wie möglich zu verabreichen.

Zu gerne hätte er noch wundlindernde Salbe auf die Blutung, die sich quer über den verschrammten Rumpf des Elfen zog, aufgetragen, nur Echidna war alles andere als gewillt, zu warten, sondern ergriff sofort wieder die Initiative.
 

Wesentlich mehr Glück bei ihrem Vorhaben hatten währenddessen Alex und Craylo, die neben Zea und mit einem großen Papierstapel in den Händen unter dem Vordach der Verwaltung standen.

Zufrieden blätterten der Elf und sein Magiergehilfe durch die Steckbriefe.

"Kolxe Lotsch klingt nach schnell verdientem Geld. Eine mehrfache Mörderin, die bevorzugt in Dörfern ihr Unwesen treibt. Besonders stark wird sie nicht sein, ich seh' niemanden in ihrer Opferliste, der wohl je richtig gearbeitet hat.", meinte Alex, ohne den Blick vom Papier zu nehmen.

"Wieviel ist auf ihren Kopf ausgesetzt?", fragte Craylo, woraufhin der Blonde ihm wortlos den Zettel reichte. "… Hm, zwanzig Silbermünzen, das klingt nicht schlecht. Aber hör dir das an: Bodo, der Dellenkopf. Der ist so auffällig, den würden wir sofort erkennen. Er ist zwar der Sündedämon eines Titanen, aber auf seinen Kopf sind fünf Goldmünzen ausgesetzt!"

"Craylo, seit wann weißt du denn so gut, wie man Goldmünzen in Bier umrechnet?"

"Sei doch mal still, Carod!", zischte Dorac leise, "Oder willst du unbedingt die Aufmerksamkeit der Zwergin auf dich zieh-"

"Dafür steht bei dem Kollegen aber auch, dass er zuletzt in Wilmvar gesehen wurde! Ich möcht' nicht wissen, wie du da so schnell hinkommen willst, das liegt ganz weit im Westen!"

Craylo schämte sich richtig, Zea nicht zu sagen, dass er mit zwei sprechenden Dolchen reiste, als sie ihn und Alex so verwirrt anschaute, wie sie gar keine Reaktion wegen der beiden Stimmen zeigten. Sich ihr Gesicht genauer zu besehen, genügte, um zu schlussfolgern, dass sie sich ernsthaft fragte, ob sie wahnsinnig oder erleuchtet sei mit den ganzen Geistern, die scheinbar nur sie hören konnte. Nervös zupfte sie an ihrem Ohrläppchen, beschloss dann aber, nicht zu viel Gedanken daran zu verschwenden.

Stattdessen erkundigte sie sich ein wenig enttäuscht bei den beiden: "Arbeiten alle Exorzisten so und wägen lieber ab, was das meiste Geld bringt bei dem wenigsten Aufwand?"

"Ich weiß nicht, ob das alle so machen - aber wir sind damit gut über die Runden gekommen, ja.", meinte Alex. Seine Bartstoppeln abtastend, blätterte er weiter, entdeckte hier und da einen Namen, der schon länger im Gesuchtenregister verzeichnet war, aber nichts besonders Lukratives.

Zea derweil erklärte: "Wenn alle Exorzisten so eigensinnig handeln, werden doch alle kleinen Verbrecher und zurückhaltenden Dämonen gar nicht gejagt und werden weiter viel Leid über uns bringen!"

Alex lachte trocken und tätschelte die Novizin.

"Ach, du bist drollig, Kleine. Aber so ist die Welt nun mal, allein die Tatsache, dass man ein Kopfgeld aussetzen muss, zeigt doch, dass sich wenig bis gar keine Leute finden, die aus gutem Willen unser Land von Dämonen und Sündern befreien."

"Lass' dich von ihm nicht so runterziehen, Zea.", sagte Craylo, um sie aufzumuntern, "Immerhin sind wir beide Exorzisten von einer Schule, wir sind viel weltlicher als ein Dämonenjäger, der an einem Kloster wie diesem sein Bekenntnis abgelegt hat."

"Sag wenigstens dazu, dass die euch das Geschäft versauen mit ihrer Nächstenlie-"

"Die sind auch wesentlich freundlicher als manche dieser Halsabschneider, mit denen wir schon zusammenarbeiten mussten. Arme Schläger, die beschlossen haben, ihr eigener Herr zu bleiben und ihre Muskeln nicht gleich ans Militär zu verkaufen, sondern lieber auf eigene Faust windelweich prügeln, was auf einem Stückchen Papier bebildert ist." Er wollte noch weiter von den unterschiedlichsten Exorzistentypen erzählen, als von fernher ein lautes Rumpeln und Donnern sie zusammenfahren ließ.

"Das… das war jetzt aber kein gewöhnliches Donnern, oder?", vermutete Craylo beunruhigt. Als er über dem fernen Wald eine riesige Staubwolke aufsteigen sah, fühlte er sich bestätigt.

Aus dem Verwaltungsgebäude kamen mehrere Geistliche gelaufen und schauten ebenfalls hinüber. Einer rief erschrocken: "Das muss aus dem alten Heiligtum gekommen sein!"

"Die Dämonen! Das müssen sie sein! Sie hausen tatsächlich dort, o Terra!"

"Wer's glaubt! Irgendein morscher Balken muss gebrochen sein und dadurch ist ein Teil des Gebäudes eingestürzt!", mutmaßte noch ein anderer Priester, eine erregte Diskussion brach aus, welche die drei wie unsichtbar beobachteten.

Zea schlug vor: "Solltet Ihr Euch das nicht ansehen, die Herren Exorzisten?! Vielleicht sind das wirklich die Dämonen, die Ihr jagt!"

Still diskutierend, starrten Craylo und Alex einander drängend an. Der Blonde versuchte, seinem Partner durch ein energisch Zucken zu verstehen zu geben, dass er gefälligst etwas sagen solle, doch dezent und rasch schüttelte der Magier seinen Kopf und fletschte kurz die Zähne.

Schließlich erübrigte sich langes Verständigen, denn Alex erspähte nicht weit entfernt die Titanen, welche ebenfalls den Aufruhr bemerkt hatten und aus einem der anderen Gebäude traten. Er gab Craylo einen Stoß, griff sich Zeas Handgelenk und lief schnellstens in Richtung des Haines.

"H- hey, warum nehmt Ihr mich denn mit?"

"K- komm einfach, wir brauchen jemand Ortskundigen!", zischte Alex, die Zwergin hinter sich herschleifend.

"Aber-!"

"Kein Aber!"
 

Mein eigenes Husten reißt mich endgültig aus meiner Starre. Nachdem ich wieder vollkommen ins Geschehen zurückgekehrt bin, finde ich mich plötzlich in einer dichten Staubwolke wieder, während ich dicht neben mir den Regen hereinfallen höre.

Als ich überrascht nach oben sehe, zeigen die schemenhaften Umrisse außerhalb der Wolke mir, dass die Decke eingestürzt sein muss.

Langsam legt sich der Staub.

"Was… was ist passiert?", murmele ich leise, ehe ich vor Schmerz zusammenzucke. Ich habe zu schnell versucht, mich wieder aufzurichten, und gleich wieder meine Wunde zu spüren bekommen. Vermaledeit, das ist schon das zweite mal an diesem Tag!

"Das war Ludwigs Verdienst…", erklärt Sira plötzlich, kaum dass sie in meinem Blickfeld aufgetaucht ist, "Er hat mit seinem Schwert die Decke eingerissen, um Echidna in den Trümmern zu begraben."

Ich brauche etwas, bis ich ganz verstehe, noch sind meine Gedanken durcheinander und es benötigt Zeit, sie wieder zu ordnen. Ich huste erneut und frage dann: "Dann… ist sie jetzt also tot?"

Noch ein mal mache ich den Versuch, aufzustehen, dies mal langsamer und mit mehr Bedacht - sowie Erfolg.

Keine Sekunde vergeht, nachdem ich aufgestanden bin, schon ertönt hinter mir das altbekannte Zischen. Das Blut gefriert mir in den Adern.

"Sss… wie sagt… ihr Sterblichen doch? Man soll den Tag… nicht vor dem Abend loben. Sss…"

Blitzschnell fahre ich in Erwartung eines Angriffes herum und starre die blutüberströmte Echidna an, die sich verkrampft auf ihre Sense stützt. Ihr Hut liegt irgendwo zerknittert zwischen ein paar Trümmern und ihr Kleid hängt in blutigen Fetzen. "Du… du siehst ja gar nicht froh aus mich wieder zu sehen! … Und dabei sind wir beide wie… von den Toten auferstanden. Sss..."

"An deiner Klinge klebt ein Gift, habe ich Recht?", will ich viel lieber wissen.

"Gut… gut erkannt, Maljus! Und wäre dieser Exorzist dir nicht zur Hilfe geeilt… würdest du immer noch verkrampft deinem Ende entgegen… sehnen.", keift Echidna angestrengt.

Nicht lange, dann schleicht sich seichte Belustigung in ihre verzerrte Miene. "Aber… dafür sieht es so aus… als habe dein Freund weniger Erfahrung… in Selbsthilfe. Hehe…" Jetzt erst erkenne ich am anderen Ende des Raumes Ludwig, der bewegungslos über dem Geländer hängt und sich hin und wieder angestrengt weiter verkrampft, ehe seine Muskeln wieder erschlaffen. Er starrt vor Dreck und hat eine schlimme Wunde am linken Arm.

Schwach phosphoreszierend liegt das Lichtschwert in Splittern auf dem Schutt verteilt und leuchtet von Zeit zu Zeit schwach auf. "… Sss, er war ein guter Kämpfer… aber nicht gut genug… mit uns Spiegeldämonen hält niemand mit… unsere Waffen sind schneller… weil sie zu unseren Körpern gehören!"

Sie schlägt ganz plötzlich wieder nach mir. Stolpernd weiche ich aus und gehe zum Gegenangriff über, sobald ich mein Schwert aufgehoben habe. Sie hüpft flink über mich hinweg, tritt im Flug mit ihrem Füßen nach meinem Kopf.

"Na warte, du Scheusal!" Da lasse ich mit einer Hand das Heft los und packe ihren Fuß. Sofort schlägt sie auf dem Teppichboden auf, stößt sich noch am Geländer den Kopf und ist nicht mehr schnell genug, meinem Schwertstreich zu entgehen. Gepeinigt schreit die Dämonin auf, da der Stahl ihr durchs Bein fährt.

Meiner anschließenden Attacke kann sie aber wieder entkommen, verteilt dabei ihr Blut auf dem Boden, als sie zurückspringt und keuchend einknickt - genauso wie ich. Die Wunde… sie hat sich wieder geöffnet und lässt mich Blut spucken! Ich ringe nach Atem.

"Du… du redest dummes Zeug!", rufe ich, "Du bist schneller…?! Schneller, weil deine Waffe mit dir verbunden ist, sagst du?!" Ich muss mich ganz breitbeinig aufstellen, um nicht hinzufallen, und das Schwindelgefühl ignorieren, um bei Sinnen zu bleiben. "Das Erste… was ich damals gelernt habe, als ich anfing… mit dem Schwert zu kämpfen… war: 'Für einen guten Kämpfer, der seine Klinge kennt, ist die Waffe kein Werkzeug… sie ist nichts weiter als eine Verlängerung seines Armes!'" Noch ein mal lege ich eine längere Pause ein, um mich ein wenig zu regenerieren. "Aber weißt du noch was, Echidna…? Wir Sterblichen… sind fähig, uns zu entscheiden… ob wir kämpfen wollen, oder nicht! Ihr… ihr Dämonen seid zum Töten geschaffen, weil ihr so blutlüstern und… bewaffnet auf die Welt kommt!"

"Ssssss… was weißt du denn schon?!" Echidna hustet und spuckt, ihre Augen fest zusammengekniffen.

Als sie mich wieder anblickt, schreit sie: "IhrSterblichen seid es, die uns eine Lebensgrundlage geben mit all euren Sünden, Lastern und Makeln! Ihr verdient nichts anderes als… als den Tod!"

Was dann über ihre Lippen gleitet, kann ich weder als eindeutiges Heulen noch Lachen einordnen, es klingt wie beides auf ein mal. "… Du weißt ja nicht mal… welche Frevel dein Freund begangen haben muss..." Obwohl ich hellhörig werde, bleiben meine Gesichtszüge wütend.

"Worauf willst du hinaus, Scheusal…?!"

"Huhu… das sage ich dir nicht so einfach… warum… warum folgst du mir nicht? Komm auf unsere Seite - und lass dich unterrichten in den wahren Begebenheiten dieser Welt! Denn weißt du…" Auf einmal entspannt sich ihr Gesicht unheimlich und wie eine gnädige Geliebte sieht sie mich aus mitleidigen Augen an. "… du könntest noch ein prächtiger, junger Mann werden… sss... wenn du den richtigen Weg einschlägst, anstatt so blind den Tod zu wählen…" Na wunderbar, jetzt bin ich also schon der zukünftige Traummann einer Dämonin? Es ist so lächerlich, dass ich kurz den Ernst der Lage vergesse.

"Wenn ich so attraktiv auf dich wirke… warum kehrst du dann nicht Dyonix den Rücken?!"

"Das geht nicht... du siehst, was mit unseresgleichen bei euch gemacht wird... wir werden von Exorzisten grausam gejagt und getötet... wir werden als die Antagonisten verurteilt von denen… sss… die selber nur kleine Rollen spielen!" Sie klammert sich krampfhaft an ihre deformierte Hand und hält inne, als ein Hustanfall ihren Leib erschüttert. "Aber Meister Dyonix ist anders, er weiß um unseren Wert. Er ist mächtig und weise! Und schließt man sich nicht immer jemandem an, der... mächtig ist? Das müsste doch auch auf dich zutreffen, Maljus… Dyonix wird sicher auch dich willkommen hei-"

"Wer sagt, dass ich mich so blenden lasse wie du?! ... Vergiss es, das kann ich Sira, Rio, Griselda und all den anderen nicht antun!"

Echidna ist über diese Antwort alles andere als glücklich, sie setzt sich humpelnd wieder in Bewegung und macht sich für einen Angriff bereit. "Mal sehen, wie dich diese verwöhnte Schlampe dann mag, wenn du erstmal tot bist! Sss...", faucht sie, während aus ihrem Auge ein winzige Träne fließt. Verwöhnte Schlampe? Von wem redet- ach, egal, ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren!

"Ich glaub nicht, dass du das noch sehen wirst!", erwidere ich fest entschlossen, die Sache nun zu Ende zu bringen.
 

VII.
 

"Schneller!", rief Griselda, "Ich bin mir sicher, wir sind ganz nah!" Sie scheuchte Rio regelrecht vor sich her, der Richtung folgend, aus der vorher das ohrenbetäubende Tösen und Schreien gedrungen war.

Sie war fest überzeugt, dass Maljus dort sein musste und betete für ihn - sie wusste bereits, dass er in Schwierigkeiten steckte.

Sie und Rio hatten das Treppenhaus des Gebäudes durchquert und liefen nun durch einen weiten Flur, welcher reich an bröckelnden Zierbögen und Arkaden an den Wänden, sowie zersplitterten Keramikfliesen am Boden war. In den Putz geschlagene Metallhalterungen für Fackeln säumten ihren Weg.

Ein in Altcardighnisch verfasstes Schild gab an, dass eine der Abzweigungen am Ende zum Reinheitsbad führe, die andere zum Oratorium. Rein aus der Überzeugung, dass Maljus wohl kaum in der alten Therme um sein Leben kämpfte, schlugen sie letzteren Weg ein.

Alsbald darauf wurden sie für ihre Wahl belohnt, als sie hallende Stimmen vernehmen konnten: "Wir werden als Antagonisten verurteilt von denen… sss… die nur kleine Rollen übernehmen."

Verwundert starrte Rio die blass gewordene Griselda an. Zwischen mehreren hastigen Atemzügen fragte er: "Meisterin Griselda… war das nicht grad… EureStimme? Die Ähnlichkeit… ist erschreckend hoch!"

Die Hexe wusste gar nicht, wie ihr geschah, was hatte das denn zu bedeuten? Und vor allem: wovon redete diese Unbekannte mit ihrer Stimme?

Sie beschleunigte ihren Schritt abermals, obwohl sie bereits nach Luft schnappte und spürte, wie Schweißbäche ihr über die Haut rannen.

Im Dunkel des Ganges kam gerade die Tür zum Gebetssaal in Sichtweite, als ein grässlicher Schrei ihnen entgegenschlug. Nie hatte Griselda so eine Gänsehaut bekommen wie in den Moment, da sie selbst hörte, wie sich ihr Todesschrei anhören musste. Schlagartig blieb sie stehen, ihr Herz schien stehen geblieben zu sein.

Zu viel, es war… zu viel. Als sie wegsackte, fing Rio sie schnell auf.

Er starrte sie bohrend an, wie sie bewusstlos in seinen Armen lag. Die Gelegenheit, sie war hilflos und niemand da, um ihr zu Hilfe zu eilen. Er könnte- ein sanfter Schock ging durch ihn und beendete seinen erschreckenden Gedankengang. Er schüttelte seinen Kopf und lud sich die bewusstlose Hexe auf den Rücken, um mit ihr das Oratorium zu betreten.
 

Schlaff hängen Echidnas Arme herab, das Sichelblatt hat sich krachend in die Empore gebohrt und leblos baumelt das schneeweiße Haupt der Spiegeldämonin nach hinten, leicht zur Seite, den Blick schielend ins Leere gerichtet.

Ich bin so erstarrt, dass ich gar nicht merke, wie all ihr Gewicht auf meinem Schwert lastete, das direkt durch ihre Brust gedrungen ist und mit einem Ruck ihr Schulterblatt auf der anderen Seite durchbohrt hat.

Es ist so schnell passiert, dass ich es anfangs gar nicht richtig wahrgenommen habe. Blitzschnell ist sie auf mich zugerast, hat mir den Kopf von den Schultern trennen wollen und ist dabei fast von selbst in die Klinge gerannt, die ich ihr reflexartig entgegen gestoßen habe.

Angewidert und verstört trete ich mit der Sohle gegen ihren Bauch, stemme mich gegen sie, um sie von seinem Schwert zu bekommen. Zäh und dunkel fließt ihr Blut an der Unterseite der Klinge entlang und tropft auf den Boden.

Als ich sie endlich losbekomme und sie wie eine fallen gelassene Marionette wirr ihre Gliedmaßen an- und abwinkelnd auf dem Boden regungslos liegen bleibt, lasse ich erschöpft mein Schwert und mich auf die Knie fallen, um von langsamen Keuchen in unterdrücktes Schluchzen überzugehen.

Sie war ein Dämon, ein verfluchter Dämon!

Doch sie wirkt so menschlich, ihr Gesicht ist dasselbe wie Griseldas, ihre Stimme, ihre Bewegungen, sie ist wie ein verzerrtes Abbild eines unschuldigen Mädchens!

Was hätte ich tun können, außer sie zu töten?!, frage ich mich selbst weiter.

Und dennoch… es ist ein schlimmes Gefühl… ich habe immer nur gegen Tiere gekämpft, gegen Untote, gegen menschenunähnliches… und als ich gegen Ventosus gekämpft habe, habe ich ihn nicht getötet, ich habe nicht gesehen, wie er sich nach Erlösung von dem endlosen Pein verzehrt, der seine Miene anfüllt, wenn die Seele ausbricht und entschwindet.

Ihr Schrei… Echidnas Schrei hat grauenvoll geklungen. Und ihr Leben ist schneller dahin gewesen als dass ich sie ganz durchstoßen habe.

"… Du hast dich… nie entschieden, zu töten, nicht wahr…?", dringt Echidnas Stimme aus den letzten Sekunden wieder zu mir durch, holt mich wieder ein.

Ich kann ihre Leiche nicht ansehen, ich habe mich zusammengekauert und fasse mit beiden Händen an meinen pochenden Kopf. Auch die anderen, die inzwischen im halbzerstörten Turm stehen und wohl fassungslos die Bestandteile der Situation erfassen, will ich nicht ansehen.

Wieder flammt die letzte Erinnerung auf. "… Du bist… wirklich ein Idiot… Maljus. … Basgorn wird Prometheus befreien… und du… hast dich aufhalten lassen… wie ich es mit ihm… gerade noch abgesprochen hatte. Ich… ich habe gewonnen…" Dann ist sie still geworden und hat seitdem keinen Muskel mehr bewegt.
 

"Maljus! Maljus!!", schrie Rio, bis er zu ihm ging, ihn packen und hochzerren wollte, um ihn mit einer kräftigen Ohrfeige zurückzuholen, aber Sira schritt ein: "Nein, nicht! Du, sieh zu, dass du hier rauskommst und einen Priester namens Basgorn ausfindig machst! Falls du Craylo und Alex unterwegs triffst, nimm sie gleich mit und mach diesen Mann sofort unschädlich!"

"Aber Meisterin Griselda ist-"

"Lass sie hier, wir kümmern uns um die Verletzten!" Erneut unterwarf Rio sich dem Willen jemandes anderen und legte die Hexe vorsichtig ab, ehe er wieder verschwand.

Einige Zeit geschah nichts, weder Maljus, noch Ludwig, noch Griselda, noch Echidna waren ansprechbar und niemand betrat mehr das Oratorium. Es war totenstill geworden, der Regen war bis auf ein leises Nieseln abgeschwächt.

Sira zwang sich zu eiserner Ruhe, während sie wartete, dass Maljus oder Griselda wieder zu sich kamen.

Schließlich regte die Hexe sich langsam wieder, blinzelte und richtete sich halb gefühlstaub auf. Langsam kehrte die Wärme wieder zurück und dennoch fröstelte ihr. Ihr entwich ein erstickter Schrei, wie sie Maljus und Echidna erblickte. "Bei Sols warmer Güte…!"

"Endlich bist du wach!", platzte es sofort aus Sira heraus und sie flog zu Griselda. Sie nahm keine Rücksicht auf sie und forderte gleich: "Los, geh' zu dem jungen Mann dort und durchwühl ihn nach so einer grünen Mixtur! Wenn du sie hast, gib sie ihm schnellstens zu trinken, sonst wird er auch nicht mehr munter!"

Erschrocken von dem plötzlichen Auftauchen der Víla wich Griselda aus Reflex zurück.

Sie nickte schlagartig und lief zur anderen Seite der Empore. Sie fand das erwähnte Gegengift und kippte es dem Braunhaarigen, der sie glasig anschaute und ganz langsam seine Pupillen bewegte, den Rachen hinunter.

"G… gut so?", fragte sie verunsichert.

"Ja! Es wird wohl ein wenig dauern… Maljus hat vorhin auch eine Weile gebraucht, um wieder zu sich zu kommen.", erläuterte die grüne Dame mit den Schmetterlingsflügeln beherrscht.

Einen Moment später wurde ihre Miene steinhart und sie nahm die Hexe anklagend ins Visier. Mit in die Hüften gestemmten Händen sagte sie: "Aber nun zu Euch… Prinzessin Selet…"

Ein augenblicklicher Ruck ging durch die Hexe, bei der sie mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Panisch fasste sie sich an den Hals und merkte, wie ihr schon wieder fast die Luft weg blieb.

"Wo… woher weißt du… dass ich Selet bin?" Sie hätte sich ohrfeigen wollen. Jetzt war sie so überrumpelt gewesen, dass sie es gleich ausgeplaudert hatte!

"Ich habe mir so meine Gedanken gemacht und als eins zum anderen führte, bin ich darauf gekommen, dass Ihr die Prinzessin sein müsst - und das da drüben… EuerSpiegeldämon ist." Sie deutete auf Echidna und schnaubte.

Irgendetwas stieß ihr sauer daran auf, dass sie das Mädchen nun so konfrontieren musste, aber sie war nicht über zweihundert Jahre alt geworden, um das alles auf sich beruhen zu lassen: "Und nun wüsste ich doch gerne ein mal, was hier wirklich gespielt wird!"

"… Du hast bereits erkannt, wer ich wirklich bin, aber kannst nicht erahnen, was das alles soll? … Ich wünschte, ich könnte das. Was… was macht diese Dämonin hier?!"

"Sie übernimmt offenbar deine Rolle als Königstochter und hat deine Abwesenheit ausgenutzt, ein großartiges Drama zu inszenieren! Dyonix muss mitgedacht haben, er hat das Kloster abschotten lassen, indem er die 'Prinzessin' hier einreisen ließ, und wollte so garantieren, dass niemand Basgorns Zeremonie unterbrechen kann!"
 

"… und dann…" Ich hebe träge meinen Kopf, um die Silberhaarige anzuschauen, "… hat er sie rechtzeitig in Kenntnis von uns gesetzt, um uns eine Falle zu stellen."

Die Hexe bricht in Tränen aus, als sie mich erblickt. Fassungslos schlägt sie sich die Hand vor den Mund.

"Aber mich würde wirklich interessieren, wieso die Prinzessin lieber draußen in der Welt umherreist, uns über die Gräber ihrer Urahnen erzählt und ein Abenteuer erlebt, anstatt am Hofe dafür zu sorgen, dass Dyonix nicht komplett treiben kann, was er will! Wenn du mich fragst, wusstest du von Anfang an, dass er es war, der in Cardighna für Unruhe sorgt!"

"Was… was hast du denn für eine Ahnung?! Du bist eine kleine Víla, die jahrzehntelang unter der Erde gelebt hat! Weißt du überhaupt, wie das ist, wenn man auf ein mal erfährt, dass man ab sofort in Verkleidung durch Cardighna reisen muss, stetig in der Angst, dass man von einem Verräter am Hofe gefangen genommen und heimlich exekutiert wird?!", fragt Selet schreiend und stapft auf die Víla zu.

Siras Mund öffnet sich aus ihrer Verwunderung heraus, nur kommt sie nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Griselda ist noch lange nicht am Ende: "Hast du auch bloß eine Vorstellung davon, wie ich mich gefühlt habe, als ich vor mehr als sieben Wochen von meiner Zofe erfuhr, dass es einen handfesten Verdacht gab, dass irgendjemand aus den höheren Kreisen Ardsteds es auf mein Leben abgesehen und seine Finger bei den steigenden Unruhen im Spiel habe?! Mir wurde nichts gesagt! Weder, wer genau gemeint sein könnte, noch woher diese Informationen stammten! Ich habe meinem Vater nicht ein mal 'Lebewohl' sagen können, bevor ich mit gefärbten Haaren und in diesem demütigenden Aufzug irgendwo in einem Bergdorf abgesetzt und fast nur mir selbst überlassen wurde! Ich war gezwungen, in einer Magierschule eine Schnellausbildung zu absolvieren und ständig vor eventuellen Übergriffen durch die Häscher des Verräters zu fliehen!"

"Du… du warst über einen Cardighnischen Monat lang allein unterwegs?", frage ich verblüfft nach.

Ich traue mich wieder aufzustehen und drücke ihr mit einem Blick all mein Verständnis und Mitleid aus. Auch Sira fasst sich - etwas langsamer - ein Herz und schwächt ihren energischen Gesichtsausdruck angesichts Selets Schicksals etwas ab.

Diese nickt schwach.

"… Ja. Und ich war keineswegs so froh darüber, von zuhause wegzugehen wie du, Maljus."

"Wirst du also zurückkehren, wenn wir hier fertig sein werden?"

"Nein… es ist noch nicht an der Zeit. Solange ich keine Beweise habe, dass Dyonix hinter diesem Schauspiel steckt, bin ich am Hofe immer noch nicht sicher. Außerdem…"

Zu ihren Tränen gesellt sich auf einmal ein wehleidiges Lachen. "… muss ja jemand auf dich aufpassen. Du kannst kaum noch stehen und bist noch voller Tatendrang." Ich bin stumm, als sie das sagt und verschweige ihr, wie ich wirklich denke… dass es womöglich so oder so einen Abschied in naher Zukunft geben wird, so wie die Dinge nun stehen.

Sich dessen nicht im geringsten bewusst, bittet Selet: "Sira, gestattest du es mir, noch länger bei euch zu bleiben? Am Hof… bin ich zu nichts gut momentan."

"Ich schätze…", beginnt die Víla. Nach einem kurzen Seufzer erklärt sie sich einverstanden: "… ich schätze, wir können nicht auf dich verzichten. Aber ich will ab sofort besser informiert werden!"

Ich derweil werde auf ein leises Gähnen aus einer anderen Richtung aufmerksam, was meine Ohren kurz zucken lässt, ehe ich den Blick zu Ludwig lenke, der sich ein wenig unbeholfen wieder auf die Beine schwingt und vorsichtig seinen Arm abtastet. Er murmelt so etwas wie: "Autsch, bevor ich dann auch wieder aufbreche, sollt' ich mich wohl doch noch hierum kümmern…"

Nun drehen sich auch Griselda und Sira ihm zu, woraufhin Ludwig grinsend eine Verbeugung andeutet und sagt: "Und auch euch begrüße ich, echte Prinzessin von Cardighna! Gestatten, mein Name ist Ludwig!" Dieser Kerl ist schon wieder so fidel, obwohl sein Arm und er im Allgemeinen immer noch schlimm zugerichtet aussehen - er ist einfach unfassbar!

"Ist das so eine Angewohnheit von dir, dich immer bewusstlos oder schlafend zu stellen?", reagiert Sira etwas forsch auf seine Begrüßung. Aber auch das ist außer Stande, ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu wehen.

Er winkt lachend ab: "Ach quatsch! Aber jetzt weiß ich zumindest, dass ich euch wirklich nicht den Wachen übergeben muss. nichts läge mir ferner, als bei der Wiederauferstehung des Prometheus behilflich zu sein! Also, was sagt ihr, soll ich euch nun endlich nach draußen führen, sobald ich mir noch mal die Wunden besehen habe?"

Dagegen hat wahrlich niemand etwas einzuwenden, doch vorher muss Ludwig sich noch um andere Dinge kümmern, sagt er. Wie zum Beispiel sein Schwert holen.

Er klettert, so gut es geht, hinunter, zieht den Griff zwischen all dem Schutt, der von der einst prächtigen Kuppel des Turmes geblieben ist, hervor und besieht sich all die winzigen Metallsplitter, die herumliegen. "Coniuge!", muss er nur rufen und jeder einzelne fliegt zurück an seinen Platz, keine Sekunde dauert es, die bis aufs Kleinste zerstörte Klinge wiederzusammenzusetzen.

Wieder bei uns angekommen, macht der Exorzist sich auch sogleich daran, wieder in seiner Sammlung von Behältern zu wühlen. Er kramt dies mal ein kleines Döschen heraus, in dem eine rosafarbene Paste ist. Diese trägt er sowohl auf meine, als auch auf seinen eigenen Wunden auf.

Anschließend drückt er mir das ganze Döschen in die Hand und sagt: "Behalt's gleich, es ist eine wundstillende und desinfizierende Salbe."

"Soll ich wirklich die ganze Dose behalten?"

"Haha, keine falsche Bescheidenheit, das Zeug wird schneller leer, als dir lieb ist!"

"Gut…" Ich packe das Döschen sicher ein. Hoffentlich brauche ich es nicht wirklich so oft, wie Ludwig sagt.

Er schaut jetzt wieder Selet an und spricht etwas lauter und humorloser: "So… und jetzt noch etwas anderes, bevor wir gehen… da gibt es noch eine Sache, über die ich mit Euch reden muss, Prinzessin." Als habe sie es geahnt, schlussfolgert Selet: "Es geht um diese Echidna, nicht wahr?"

"Ja. Ich weiß nicht, wie sehr ihr alle über Spiegeldämonen informiert seid, aber ein wichtiges Faktum an diesen Biestern ist… dass sie nicht so einfach sterben wie andere Dämonen, wenn man ihnen das Herz durchbohrt, den Kopf abhackt oder was für eklige Tötungsmethoden es da noch gibt."

Jetzt ist mir wieder ganz unwohl zumute. Heißt das, Echidna ist nicht ein mal tot?! Sofort will ich wissen: "Wie denn dann?!"

"Nun ja…", Ludwig kratzt sich verstört am Nacken, da ihm schwerzufallen scheint, was er uns nun mitzuteilen hat: "Die einzigen, die einen Spiegeldämon töten können, sind diejenigen, denen sie so ähneln. Andernfalls fallen sie lediglich in eine länger anhaltende Starre, bis sie sich irgendwann regeneriert haben und von Neuem Unsinn anstellen. Sie sind derbe Spiegelbilder unserer schlechten Seiten und nur wir selbst können sie ausmerzen. Leider bin ich ungeschult im Versiegeln und exilieren kann ich diese Schlangendame grade genauso wenig."

Selet ist ganz klein und angstvoll geworden bei diesen Worten, verständnislos sucht sie Ludwigs Gesicht nach Anzeichen eines schlechten Scherzes ab. "Es ist der einzige Weg, sicherzugehen… aber wenn Ihr wollt, kann ich-"

"Nein…!", schneidet sie ihm entschieden das Wort ab, "Ich kümmere mich selber darum! … Bitte, wenn es euch beiden nichts ausmacht, Ludwig und Maljus, würde ich euch bitten, den Raum zu verlassen."

Nicht nur ich bin ein wenig überrascht, sondern auch Sira, die gleich erfahren will: "Und was ist mit mir? Werde ich jetzt schon vergessen, nur weil ich so klein bin?!"

"Nein, Sira. Du sollst dabei sein und später bezeugen, dass ich meine Schuldigkeit wirklich getan haben werde." Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Warum soll dann nur Sira dabei sein und Ludwig und ich nich-

Mein Gedankengang wird unterbrochen, da Ludwig mich wortlos nach draußen führt.
 

Draußen auf dem Gang, wo wir uns postwendend an die Wand lehnen und warten, ist es ebenfalls unheimlich ruhig und auch aus dem Oratorium vernehmen wir lange Zeit keinen Mucks.

Diese Zeit nutze ich, um eine Frage los zu werden, die mir jetzt wieder richtig auf der Zunge brennt: "Sag mal, Ludwig, Echidna hat vorhin so eine komische Äußerung gemacht… irgendetwas wie 'du weißt ja gar nicht, welche Sünden dein Freund auf sich geladen hat' oder so. Was meinte sie damit?"

"Tja, da hat sie wohl gerochen, dass ich nicht bloß Exorzist, sondern sogar Mors-Krieger bin. Informier dich mal darüber, wenn du etwas Zeit hast, dann wirst du verstehen, was sie meint… ich will dich nicht wirklich mit so etwas vertraut machen." Das ist nicht wirklich die Antwort, die mir viel bringt.

Ludwig schneidet bereits ein anderes Thema an: "Mal was ganz anderes, Maljus: Denkst du, du kannst so weitermachen…?"

Wie geschlagen zucke ich zusammen und richte meine Augen auf die Bodenfliesen, während Ludwig fortfährt: "Ich war zwar halb-betäubt, aber ich hab trotzdem mitbekommen, dass das das erste Mal war, dass du jemanden 'getötet' hast. Es ist nicht schön, was?"

Ich schüttele meinen Kopf.

"Und es bringt eine Menge Schuldgefühle mit sich, nicht wahr?"

Nun nicke ich schwach.

"Dann lass mich dir eins sagen, Maljus: Wenn du nicht aufhörst, es schlimm zu finden und wenn du weiterhin tiefe Reue verspürst, wenn du gezwungen bist, deinen Gegner zu töten…"

"Dann sollte ich diesem Abenteuer den Rücken kehren…?", beende ich den Satz.

Ich bekomme einen heftigen Schreck, weil mir sofort auf den Hinterkopf gehauen wird und Ludwig herrisch "Quatsch!" ruft. "Wenn es dich so plagt, dann ist das gut so! Hör nicht auf, dich dieser Problematik zu stellen und ruf' dir immer ins Gedächtnis, dass es schlecht ist, jemandem das Leben zu nehmen. Denn kämpfst du nicht genau dafür, dass Leute nicht durch die Hand anderer sterben? Oder wieso hast du dir so ein Schicksal aufgebürdet?" Darauf weiß ich anfangs gar nichts zu erwidern.

Ja, habe ich nicht jedes mal nur gekämpft, um mich oder jemand anderen zu beschützen? Sara vor dem Untoten im Wald, die Familie in Keslynth vor Cheeta, Aaron in- nun gerät meine anfängliche Überzeugung ins Wanken. Ja, wie war das mit Aaron? Ist es Selbstverteidigung gewesen, als ich mit ihm gekämpft habe - oder habe ich ihn bloß niedergeschlagen, um an ihm vorbei zu kommen und das Geheimnis hinter der Identität des Umbramanten zu lüften, welcher Cheeta befehligt?

"Deine Freundin weiß genauso wie du und ich, dass Töten nichts ist, worauf man stolz sein darf. Und du, der das gerade erst zu spüren bekommen hat, sollst nicht gleich wieder sehen müssen, wie getötet wird. Sie ist ein Schatz, merk dir das."

"… wenn ich aufhören würde, darüber nachzudenken und kaltblütig töten würde, würde mir ein Sündedämon entspringen, nicht wahr?"

"Ja. Wer weder einen Läuterungsgegenstand besitzt, noch sich seiner Fehltritte in irgendeiner Weise schämt, ist schuld an einem weiteren Sündedämon, der uns heimsuchen wird. Exorzismus ist ein großes Geschäft geworden… und ich will nicht, dass ich eines Tages deine Dämonen austreiben muss, verstehst du? Bei vielen setzt die Reue erst dann ein, wenn es bereits zu spät ist." Er klingt wie ein alter Mann, der die Welt lang in ihrem Gang beobachtet hat und nun zu einer schrecklichen Erkenntnis gelangt ist.

"Ich denke, ich habe verstanden, Ludwig…", erwidere ich nach einer Weile.

Und just in diesem Moment ertönt ein dumpfes Krachen, ehe man Stein auf Stein fallen hört.

Capitulum VII: Terras Krypta - Tod und Geburt


 

I.
 

Der Regen hatte komplett aufgehört und nur noch das verwaschene Graugemisch aus Wolken am Himmel erzählte von dem Unwetter, das kurz zuvor noch getobt hatte. Gen Süden lichtete sich das Wolkenmeer über den Wipfeln der Bäume. Eine lange Steintreppe zog sich durch den Schlamm und zog eine Linie weiter hinauf, fast bis zur Spitze des Berges.

Und diesen Weg hatte Kora eingeschlagen, die zufrieden eine Schriftrolle zusammenrollte und wegsteckte. Kein Zweifel, dies war der Weg zum Wunder des Terratempels. Für eine gewiefte Diebin wie sie würde es sicher nicht das geringste Problem werden, sich in die Krypta zu schleichen, wo das Wunder wartete.

Aber irgendetwas war seltsam an diesem Hain. Es lag in der Luft wie ein Unheil verkündender Geruch, wie das Aroma einer Leiche, aber sie wusste nicht, was es war. Sie sah nichts Besonderes, roch es nicht, fühlte es nicht auf ihrer Haut, sondern tief in ihrem Inneren. Drohend kündete die Vorahnung, sie solle umkehren, sich entfernen - oder war das ihr Körper, der sie warnte vor was auch immer am Gipfel des Berges wartete?

Was es auch war, da spielte ihre Fantasie nur mit ihr, sagte sie sich! Nichts würde sie davon abhalten, das Wunder einzusammeln, das Oreichalkos zu erschaffen und sich als Heldin Cardighnas feiern zu lassen!

Sie erreichte endlich die Lichtung, wo sich der Zugang zur Klosterkrypta befand. Mitten aus der monumentalen Felswand ragte ein steinerner Eingang voller Reliefen von Ranken und Dornengestrüpp. Die schwere Eingangstüre stand sperrangelweit offen.

Das wird ja noch einfacher als ich gedacht habe!, freute Kora sich und setzte einen Fuß in die riesige Halle im Inneren des Gipfels.

Ihr Geist konnte den unvorstellbaren Druck und die unaussprechlichen Visionen, die plötzlich über sie hereinbrachen wie schäumende Wellen aus kalter Säure kaum bewältigen.
 

Die drei Hastenden waren einige Zeit gerannt, bis sie den schwarzhaarigen Burschen aus dem Inneren des alten Heiligtums laufen sahen. Die beiden Männer und das Zwergenmädchen bei ihnen waren gebadet in Schlamm, der von ihren schnellen Schritten in die Höhe spritzte. Craylo und Alex ignorierten es gekonnt, aber Zea in der Mitte verzog angeekelt ihr Gesicht, war sie doch klein genug, um die aufgeweichte emporschießende Erde ins Gesicht zu kriegen und auf ihrer ganzen Kleidung schnell ein Muster aus großen und kleinen Klecksen und Punkten zu erblicken.

Alex' Verdacht, den er sofort gehabt hatte, als er die Flucht ergriffen hatte, bestätigte sich spätestens, als er sah, wie gehetzt Rio war. Zweifelsohne gab es Ärger - schließlich verhieß so ein lauter Krach samt Rauchwolke nie etwas Gutes.

Für lange Erklärungen blieb auch keine Zeit, denn Rio rief sofort: "Schnell, wir müssen sofort einen Priester namens Basgorn finden!"

"Ihr sucht Priester Basgorn?", fragte Zea überrascht, "Aber wer seid Ihr denn überhaupt-"

"Wisst Ihr, wo er ist, Maid? Dann verratet es mir schnell, oder ein furchtbarer Dämon wird in Kürze auf die Erde kommen!"

"Denke nur ich, dass diese Wolke irgendwelche giftigen Dämpfe freigesetzt haben muss, oder ist er einfach so durchgedreht?"

"Hört zu, ihr zwei Exorzisten und plappernden Dolche, wir wissen selbst erst seit Kurzem, weswegen Meisterin Griselda und Maljus ihre Reise angetreten haben, aber Ihr tätet gut daran, uns genauso zu glauben, wenn wir Euch sagen, dass ein Priester mit Namen Basgorn zu eben dieser Stunde dabei ist, einen uralten Dämon zu befreien, den man den 'Umgedrehten König' nennt!"

Zea konnte nicht anders als das flugs zu dementieren: "Das kann nicht sein! Wie könnt Ihr ihm so etwas unterstellen?!" Eindringlich schaute der Dunkelelf die Zwergin an, welche erschrocken etwas zurückwich. "Was… was Ihr da sagt, ist ungeheuerlich!"

"Leute…", versuchte Craylo, sich zu Wort zu melden, dennoch überstieg Alex' Lautstärke seine Stimme sofort: "Hey, hey, ich versteh' von alledem nur die Hälfte! Erst mal möcht' ich wissen, was mit dem Kleinen und der Hexe ist!"

"Na, was wohl! Sie ziehen noch mal ordentlich an der Kräutermischung, die sie da unten gefun-"

"Maljus ist verletzt und Meisterin Griselda kümmert sich um ihn!", berichtete der Dunkelelf mit sich überschlagender Stimme, "Sie sollten bald hier auftauchen, da unten hat ein Spiegeldämon sein Unwesen getrieben! Und bestimmt einer, der auch mit Basgorn in Verbindung steht!"

"Hört mal-"

"Hört auf zu lügen, wer seid Ihr überhaupt?!", kreischte Zea, "Gehört dieser Rüpel etwa zu Euch, Herr Alex und Herr Craylo?!" Alex gab sich größte Mühe, sie zu beruhigen, während Craylo sich bemühte, sich endlich Gehör zu verschaffen, doch niemand wollte ihm zuhören.

Zea hatte sich immer noch nicht beruhigt: "Und wie kommt Ihr überhaupt auf solche abstrusen Geschichten?!"

"Nun hört mir doch alle mal zu, verdammt!", schrie Craylo mit aller Lautstärke, die seine Lungen und Stimmbänder hergaben. Schlagartig war jedes Gesicht ihm zugewandt und jede andere Stimme verstummt. Er atmete schwer und blickte ganz gequält drein.

In Alex' Kopf begann zu dämmern, was los war. "Wenn das stimmt… dass dieser Hohepriester gerade eine Zeremonie vorbereitet…", keuchte der Magier unter starken Schmerzen, "… dann macht euch sofort auf zu dem Berg dort! Er… er hat schon längst begonnen."

"Bitte, liebe Zea, schenkt seinen Worten Glauben! Craylos Migräne hat sich nie geirrt, wenn es um schwarze Magie ging!", bat Dorac für alle Anwesenden. Zea war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen und eine Welt schien für sie zusammenzubrechen. Sie holte tief Luft…

"Er… er muss irgendwo bei der Krypta sein! Kommt, ich bringe Euch hin!"

"Aha! Da drüben sind sie, haben wir das Geschrei richtig gedeutet!", dröhnte im selben Moment von anderer Stelle eine tiefe Stimme.

Alex, Rio und Craylo fuhren erschrocken herum, das waren ja schon wieder diese verflixten Titanen! Sie stampften durch den Schlamm auf die eigenartige Versammlung zu und hatten auch noch ein paar bullig aussehende Klosterinsassen bei sich.

Alex übernahm blitzschnell das Kommando und beorderte alle: "Alles klar! Kleine, du und Rio rennt zu diesem Berg, Craylo, du verschwindest und hältst dich versteckt, um Maljus und Griselda abzufangen! Wenn du sie aufgelesen hast, geh' auch zu diesem Priester! Ich kümmere mich solange um diese Dickwänste!"

"Na wunderbar, er muss unbedingt wieder den Helden spielen! Na, dann beweis du uns mal schön, wie gut du noch im Versteckspielen bist, Craylo!"

"Seid bitte alle vorsichtig und nehmt euch vor dem Flamen in Acht!"

"… Alles klar, Alex.", murmelte Craylo und rannte davon.

Zea zögerte erst, bis Rio ihr einen leichten Stoß gab und ihr querfeldein durch das Unterholz folgte.

Mittlerweile rannte Alex todesmutig den Soldaten entgegen.

Nach wenigen Minuten hurtigen Spurts schlug Zea einen scharfen Haken und führte Rio vom moosbewachsenen, feuchten Erdreich zwischen den hochragenden Stämmen, deren Wurzeln sich einen Spaß daraus machten, das Vorankommen zu erschweren, auf eine gut ausgebaute, steinerne Treppe, die eine echte Schneise in den Wald schlug. Harz- und Erdgeruch lagen in der Luft und ein eisiger Wind pfiff ihnen entgegen.

Zea war zielstrebig und schenkte den vorbeihuschenden Eichhörnchen keinerlei Beachtung.

Ein mal schaute sie über ihre Schulter zurück zu Rio.

"Ich stelle hiermit eines klar: ich bin immer noch nicht überzeugt von Eurer Geschichte!"

"Verständlich…", gab Rio zu, der selbst noch immer haderte, seine Gedanken über Griseldas Erzählungen und die Mission zu ordnen.

Zea sprach sofort weiter, redete fast schon wie ein Wasserfall: "Und was wollt Ihr bitte tun, wenn wir ihn finden und er wirklich das tun sollte, was Ihr behauptet?! Wollt Ihr… wollt Ihr ihn etwa umbringen?!" Sie sah aus, als würde sie jeden Moment anhalten und ihn die Treppe hinunterstoßen, wenn sie auch nur den Ansatz einer Bestätigung in seinem Gesicht fände. "Das ist Unrecht und das wisst Ihr! Ihr seid doch sicher hier eingedrungen und plant doch jetzt nicht auch noch wirklich nach unbefugtem Betreten des alten Heiligtums Euch mit Priestermord zu belasten, oder?!"

"Wir stecken alle zusammen in der Klemme, wenn wir nicht versuchen, die Sache gütlich zu lösen.", bestätigte Rio sachlich, "Und die Gefahr, dass dieser Umgedrehte König sich befreit, verfliegt lange nicht damit, dass Basgorn bezwungen würde, soweit ich weiß."

Zea wirkte mit Rios Denkweise sehr zufrieden.

"Schön, dass es Euch einleuchtet! Und deswegen bin ich ja auch mit von der Partie." Rio schaute sie überrascht an. "Priester Basgorn ist mein Lehrmeister, wir beide kennen uns sehr gut! Und daher werde ich all meine Kraft darin investieren, ihn von seinen Taten abzubringen! … Vorausgesetzt, Ihr bindet mir keinen Bären auf."

"Aber niemals."

"Weit ist es nicht mehr… langsam kann ich ebenfalls spüren, dass dort oben etwas Seltsames vor sich geht." Sie hatte Rios volle Zustimmung, der schon länger diesen ächzenden Hauch bemerkt hatte, der vom Tod sprach. Und auch die Bäume um sie herum sahen aus, als hätten sie an Leben und Farbe verloren. Die Rinde sah steingrau aus, die Blätter schienen sich bräunlich verfärbt zu haben, als sei der Herbst bereits eingekehrt.

Das beklemmende Gefühl wuchs schlagartig auf das Doppelte an, als sie eine eisig wirkende Lichtung rund um den Berggipfel erreichten. Aus der Exklave des Felssaales tönte ersticktes Keuchen und Schreien.

"Da ist offenbar schon jemand drin! Gehört der zu Euch?"

"Nein.", knirschte Rio, der die Stimme trotzdem erkannte, "Das ist nur eine dreiste Federfrau!" Ohne Zeas Reaktion abzuwarten, rannte er hinein in die marmorskelettgestützte Halle im Inneren des Berges. Im diffusen Schein der riesigen, bunten Bogenfenster sah er Kora erschöpft in der Mitte des Raumes stehen. Vierunddreißig Marmorfliesen weiter entfernt, vor dem Altar, stand Basgorn, nicht im Geringsten angestrengt und finster dreinblickend.

"Ich frage mich, wieso ausgerechnet eine Magie, die mit dem Tod so eng vermählt ist, die Leute so sehr anzieht.", begrüßte er Rio und Zea zähneknirschend, "Sagt, was denkt ihr, das ihr hier wollt, junge, unerfahrene Wesen, an so einem alten, geweihten Ort?"

"Wir wollen verhindern, dass dieser Ort und so viele andere dem Übel zum Opfer fallen, das Ihr im Begriff seid, wieder auf die Welt loszulassen.", erklärte Rio mit erstaunlicher Fassung, während er den Schweiß auf seiner Haut kalt werden fühlte. Flimmernde Luftschemen flackerten und bildeten grausige Grimassen.

Der Priester seufzte: "Zusammen mit tausend anderen Frevlern, Mördern, Verrätern und sonstigen Tunichtguten auf dieser Erdplatte fällt ein eurer Aussage nach böses Wesen nicht mehr auf als alle anderen."

Kora festigte ihre Stimme, bevor sie Worte für ihren Ärger fand: "Ach, und deswegen meinst du, du darfst einfach alles schlimmer machen als es ist?! Echt mal, mit euch Dunkelelfen stimmt doch was nicht!"

"Du, als ein Mitglied der Diebesgilde von Meskardh, eine Harpyie, die wohl in vielen Teilen unseres Landes auf Verachtung stößt, zu jenen gehörig, die ich soeben erst aufgelistet habe, siehst auf mich herab?", fasste er zusammen. "Und du willst so mit Sünde beladen zur großen Mutter Terra durchdringen?"

Zea fror am meisten von allen. Basgorns tiefe Mundwinkel zuckten noch weiter hinunter, als er mit seinen gefühllosen Augen seine Schülerin streifte. Da verkündete er mit donnernder Stimme: "Ihr seid gekommen, um eine Göttin aus ihrem gerechten Schlaf zu wecken! Ihr seid Wesen, die sich erdreisten, ihren Schöpfern keine ruhige Minute zu lassen! So seid euch eurer Frevel bewusst und legt euch in die kalten Arme eines anderen Gottes, der nach einem viel längeren Schlaf erweckt werden muss!" Kaum wurden die Umbramantischen Schwingungen in just diesem Moment wieder stärker, drohten sie, Kora ganz vorne zu erdrücken, und veranlassten Rio und Zea, ungewollt zurückzuweichen vor dem Mann. "Doch da ihr nun hier seid, dürft ihr euch einer besonderen Rolle bewusst sein bei diesem Ritual! Immerhin ist dies… eine Opferstätte!"
 

II.
 

Es ist ein schleppender Weg gewesen, den Selet, Sira, Ludwig und ich zurückgelegt haben. Uns allen ist jetzt erst wirklich bewusst, wie sehr wir uns verausgabt haben - und diese Anstrengungen reichen Sira noch lange nicht: "Wir müssen sofort hinter Rio und dieser Harpyie her, um ihnen zu helfen!"

"Sie heißt Kora, wie oft denn noch?", erinnere ich mit entkräfteter Stimme die Víla, wobei ich mehr humple als gehe.

Sira verdreht genervt die Augen. "Kora hin, Kora her, es ist wirklich wunderbar zu wissen, dass wir jetzt sogar einen Wettlauf gegen eine Harpyie zu gewinnen haben! Einer Harpyie aus Meskardh zu allem Überfluss auch noch!" Dann macht sie sich vor Selets Nasenspitze breit: "Und das obwohl ich sogar noch ausschließlich gesagt habe, dass wir nicht jedem Dahergelaufenen von unserem Auftrag erzählen dürfen!"

"Sie wusste doch ohnehin schon von den Wundern!", ruft Griselda zornig.

"Wärst du ihr gar nicht erst gefolgt, hätten uns weder Echidna noch sie im Wege gestanden!"

"Ich soll eine Harpyie gehen lassen, die mein Siegel gestohlen hat?!", empört Selet sich. Das ist also die Bedeutung dieser Kette, die nun wieder sicher versteckt um Selets Hals ruht.

"Nun streitet euch doch nicht so!" Zur Antwort erhalte ich, wie im Chor geplärrt von beiden: "Misch du dich doch nicht ein!"

Immerhin leuchtet mir nun ein, wieso Selet so energisch geworden ist - und vermutlich auch bleiben wird, nun da sowieso klar ist, dass sie eigentlich eine Dame ist, die sich mit einem Wimpernschlag ein Haus aneignen könnte, das rechtschaffenen Bürgern bis zu ihrer schicksalhaften Liderbewegung gehört hat.

"Nun mal immer hübsch die Ruhe bewahren, meine Damen!", schlägt Ludwig vor, als der Streit immer noch tobt, und legt zur Besänftigung eine Hand auf Selets Schulter - wäre Sira nicht kleiner als seine Hand, hätte er bei ihr wohl dasselbe getan. "Ich halte es für alles andere als dienlich, blindlings in den nächsten Kampf zu stürmen. Seht mal, Maljus kann kaum laufen!"

"Du brauchst mich nicht so zu exponieren, es geht schon!" Ich brauch nicht auch noch jemanden, der mir meine so formschöne Gangart vorhält. Sie missfällt mir selbst schon genug. "Außerdem… außerdem kann ich Rio jetzt doch nicht hängen lassen!"

"Nun bleib mal auf dem Teppich, Maljus! Du musst Vertrauen haben in ihn. Was könnt ihr schon tun, wenn ihr jetzt zu ihm geht?"

"S… sie im schlimmsten Fall zurückholen, falls es hart… auf hart kommt.", ächzt jemand zur Antwort. Der Moment, in dem wir die vertraute Stimme des stöhnenden Craylos hören, und der Augenblick, in welchem wir kurz davor sind, die Eingangshalle zu verlassen, überschneiden sich. Leicht an die Wand gelehnt und den Kopf gesenkt haltend, erwartet der Magier uns bereits. Er sieht aus wie in einen Kampf um sein Leben verstrickt.

"Endlich seid ihr gekommen! Wenn ihr bloß spüren könntet, wie sehr die dunklen Mächte im Gange sind…!"

"Alex hält die Wächter fern, sie haben uns entdeckt… ich habe, um ehrlich zu sein, schon fast aufgegeben, dass ihr noch rechtzeitig wiederkommt…", gesteht Craylo mit bitterer Miene, welche wir vier erwidern.

Ludwig, der den Trupp angeführt hat, fährt sich mit einem Seufzer durch sein Haar. Aus heiterem Himmel beschließt er: "Gut, wenn es wirklich so ernst ist, leihe ich euch noch ein mal meine Kräfte. Ich werde diesem Alex etwas unter die Arme greifen!" Da schaut er uns schon mit einem Grinsen an. Kurz begutachtet er auch noch mal seinen rechten Arm und seine Hand. "… Mal sehen, ob 'Beidhänder-Ludwig' wirklich noch so gut mit der Linken kämpfen kann wie mit der Rechten! Und auch euch wünsche ich viel Glück - hoffentlich sehen wir uns mal wieder!"

"Warte, Ludwig, du geh-" Meine Hand, die nach dem Braunhaarigen greift, fasst ins Leere, weil der Exorzist schon längst losgesprintet ist.

Craylo blickt ihm kurz nach, ehe er fragt: "Also... seid ihr bereit, dass wir gehen?"

"Und uns womöglich ein baldiges Ende setzen?"

"Darauf kannst du Gift nehmen, du dämlicher Dolch!", rufe ich.
 

"Wie ich sehe, erdrücken euch bereits die Querschläger meines Rituals. Doch war es auch lachhaft, sich mit ungestählten Körpern, kindlichem Geist und verblendeten Vorstellungen mir gegenüberzustellen… als wären wir gleichauf - eine Beleidigung!"

Rio zwang sich selbst dazu, gerade zu bleiben, er wollte sich keine Niederlage vor diesem falschen Priester eingestehen müssen.

Genauso bäumte sich Kora noch etwas gegen den starken Druck auf und hielt ihre Krallen bereit, obwohl vor ihren Augen bereits alles unscharf wurde.

"Wer zuletzt lacht… lacht am besten…!", knurrte sie und näherte sich Basgorn blitzschnell unter kräftigem Schlagen ihrer Flügel. Jedoch bremste seine Hand sie abrupt, er hielt ihren Kopf mit Leichtigkeit fest.

Dafür war seine anfängliche Freude ob der Gegenrede wie weggeblasen.

"Wer zuletzt lacht, begreift den Ernst der Dinge zu spät. Du und deine Freunde seid keine Ausnahme."

Er verengte seine Augen etwas und Kora spürte, wie sich seine Finger in ihre Haut bohrten. "Warte nur, wie dich dieser unüberlegte Sprint das Leben kosten wird." Da weiteten sich ihre blauen Augen drastisch, ein schwerer Schock durchzuckte ihren ganzen Körper. Anfangs elektrisiert, ermüdete ihre Muskeln plötzlich, ihre Sinne wurden stumpf. Schon tat sich eine verschlingende Leere in ihr auf, es war, als verließe das Lebensgefühl selbst sie durch die Hand des Priesters. Verzweifelt hob sie ihren zitternden, schwachen Arm, Finger- und Zehenspitzen froren ihr, die Kälte kroch hinauf. Ein Auge gegen ihr Leben, wenigstens das Gesicht zerkratzen wollte sie ihm!

Der Spuk fand jäh ein Ende, weil Rio sich noch rechtzeitig gegen Basgorn warf. Schnell packte er Kora am Handgelenk und zerrte sie weg von ihm.

"Hey, loslassen!", keifte sie ihn erschrocken an und schlug seine Hand weg. Ihr Atem war vermutlich nur selten so schnell gegangen, und sie hatte erst gar nicht begriffen, dass er sie gerettet hatte. Ohne ihn wäre das ins Auge gegangen, doch sie überwand sich nicht, ihm ihre Dankbarkeit zu offenbaren.

Scheinbar war sie in Ordnung, befand Rio anhand ihrer Reaktion derweil und konnte sich ein wenig Ärger nicht verkneifen.

"Hm… eure Zahl ist euer einziger Vorteil.", presste Basgorn hervor und erhob sich von dem kalten Steinboden. "Wollt ihr nicht ehrenhaftsterben wie all diese großen Kämpfer aus den Geschichten? Euer Leben geben, anstatt jemanden feige von hinten zu erdolchen? Zeigen, wie viel besser ihr doch seid?!" Seine Worte trieften vor Abscheu, Kritik und Sticheleien, als er wirklich in Fahrt geriet. Sein langes, dunkles Gesicht verfärbte sich rot.

Er hielt seine Kraft nicht mehr so einfach hinter dem Berg, sodass Rio und Kora in die Knie gingen. Zea sackte zuckend zusammen und verlor fast das Bewusstsein, als der alte Alba schrie: "Ich vergreife mich also an Regalien, die der Götter Eigen sind, ist es das, wessen du mich belehren willst, heuchlerischer Knabe?! Das ich nicht lache! Eure Gottesfürchtigkeit ist eine Lüge, die jeder Beschreibung spottet! Terra sei unser aller Mutter?! Eine seltsame Mutter, die gewissenlos und unbehelligt ihren Kindern erlaubt, sich gegenseitig auf Feldern zu verstümmeln, wo Ackerbau hätte betrieben werden können!" Er senkte seine Stimme auf ein zischendes Flüstern herab und trat vor Kora. "Gib es zu: hätte dir nie jemand erzählt, Terra sei geschwächt oder gefangen genommen worden, dir wäre kein Unterschied in dieser Welt aufgefallen! Du hättest dein Leben ganz und gar in deiner sterblichen Ignoranz weitergelebt, du hättest dasselbe Leid, dasselbe Glück wie vorher gesehen in allem, was du erblickt hättest!"

Seine Augen waren weit aufgerissen und er ging zu Rio, den er am Kragen hochriss. "Und du! Gerade du müsstest den Frevel aus nächster Nähe betrachtet haben - du als Elfenbastard!" Die Worte schlugen wellenhaft gegen die Wände und wurden laut zurückgeworfen. Zitternd vor Jähzorn hob Basgorn seine andere Hand, formte eine feste Faust, kurz davor, alles mit einem Schlag in das Gesicht des Jungen herauszulassen.

"Sag das noch mal…", zischte Rio plötzlich und packte den Arm des Priesters.

War Basgorn doch unbeeindruckt ob der Kraft des Burschen, hielt er dennoch inne, und ehe er sich versah, leuchtete Rios Handfläche plötzlich auf und ein Blitz jagte in den Arm des alten Dunkelelfen. Brüllend vor Schmerz warf Basgorn Rio beiseite und hielt sich die schwelende Haut unter dem verbrannten Ärmel seines Mantels. Keuchend quälte Rio derweil sich wieder auf die Beine und verdrängte die eigene Brandwunde auf seiner Handfläche, von der dünner Rauch zum Himmel aufstieg. Er hatte es gerne in Kauf genommen, da durfte er nun nicht heulen!

Zea und Kora wurden sich der abnehmenden schwarzmagischen Wellen gewahr und waren sichtlich erleichtert.

"Nicht schlecht, Kerl… dem… hast du's… gegeben.", meinte Kora anerkennend, wurde aber scharf abgewiesen: "Sei ruhig, du bist nicht gefragt worden!" Abwartend schaute Rio zu Basgorn.

"Meine Güte… ich hätte nicht erwartet… dass du auch Magier bist. Oder ließ dich die Wut so zu Kräften kommen?" Der Flamen stützte sich auf ein Stück Boden, wo die Fließen fehlten und saftiges Gras hervorquoll. Urplötzlich verdorrte es, die Halme vertrockneten und wurden brüchig. Es entstand ein hässlicher Fleck aus Grau und Braun - und die schwarze Stelle an seinem Arm wurde dafür wieder normal fleischfarben mit einer nur gering erkennbaren Rötung. "Spürst du nun den Zorn, der sich in dir aufgetan hat? Du weißt, was damit verbunden ist, wenn man nach dem Volke behandelt wird. Besonders beim Volk der Dunkelelfen."

"Ich gehöre nicht zu deinem verfluchten Volk!"

"Ja… genau das haben sie alle gesagt, als das Ende nahte - die Dunkelelfen, die sich lossagen wollten. Oder nein… damals hießen wir noch Schattenelfen, aber das weißt du selbst sicher gut genug." Rio konzentrierte sich in seinem Wutausbruch schon auf den nächsten Zauber, ließ eine blitzende Kugel auf seiner Fingerspitze wachsen, aber Basgorn fuhr seelenruhig fort, wieder die Hocke verlassend. "Zehn Schattenelfen wurden im Durchschnitt für einen Umbramanten unter ihnen exekutiert, so besagen es die alten Dokumente dieses Klosters, die ich in meiner Studienzeit in der Krypta des alten Heiligtums entdeckt habe. Wenn sich Menschen oder Hell- oder Schneeelfen oder wer auch immer mit einem Schattenelfenmädchen einließen, wurden der Mann, die Elfe und die Kinder allesamt hingerichtet… oder schlimmer noch: Sie wurden gleich in das Imperium Mortis verbannt!"

"Sei endlich still!", brüllte Rio und schickte den Blitz los, der rasend schnell dem Priester den Tod bringen wollte, doch der hagere Priester riss lediglich seine Hand in die Höhe, ein dunkler Schein zog dabei einen leuchtenden Schweif hinter sich her, und das Geschoss zersplitterte in verglimmende Funken, welche zischend in der Luft verglühten.

Rio konnte sich nicht mehr halten und zog sein Schwert für einen blinden Frontalangriff.

"Nein, hört auf!" Entsetzt schreiend rappelte Zea sich auf und stellte sich schützend zwischen die Beiden. Im letzten Moment konnte Rio stoppen und starrte die Novizin aus seinen wilden, gelben Augen an. Sie drehte sich zu Basgorn herum, starrte ihm ungläubig und flehend ins kühle Antlitz. "Das… das ist doch nicht wahr! Hohepriester Basgorn, was sagt Ihr da?! Warum wollt Ihr wegen dieser vergangenen Dinge… nun… warum wollt Ihr Euch so eine Schuld auflasten?! Die Verfolgung der Dunkelelfen liegt jahrhundertelang zurück, seit dem Niedergang des Alten Reiches sind die Völkertrennungen aufgehoben! Selbst wir Zwerge haben unsere Fehde mit den Elfen beigelegt!"

"Frage doch lieber dich selbst, warum du es nicht tun wolltest, wenn das Blut deiner Eltern an den Händen anderer klebte, die glauben, über die anderen Völker bestimmen zu können." Zeas Herz schlug schneller und unregelmäßiger, als er plötzlich ganz traurig aussah. W… weinte er etwa?! "Du unwissendes Ding, du… lebst im Glauben, die Völker seien geeint. Ist es das, was man noch gelehrt wird, wenn man von den Eltern in ein Kloster geschickt wird?"

"Was-?!" Sie stöhnte überrumpelt auf, als seine Hand sich um ihren Hals schlang. Rio erwachte aus seiner Starre und verlangte lautstark: "Lasst sie in Ruhe!"

"Weshalb? Sie will selbst wissen, was mich dazu bewegt, heute diese Revolution einzuläuten. Soll sie doch die armen Seelen im Totenreich fragen! Wir wurden alle in einen Topf geworfen, werden noch immer in Rollen gezwungen, die nicht zu uns passen wollen!" Basgorn drückte fester, verschloss gewaltsam ihren Hals, was sie veranlasste, zu schreien.

"Und Ihr wollt damit dann wieder dasselbe Licht auf die Dunkelelfen werfen wie die früheren Ausüber der dunklen Künste?!" Augenblicklich hielt Basgorn inne, Zea nutzte die Gelegenheit, um japsend Luft zu holen und sich damit abzuplagen, seinen Griff irgendwie zu lösen. "Seid Ihr wirklich so ein Schwachkopf?! Ich verabscheue Euch!" Ganz schnell war Zea frei, nämlich als sie von Basgorn weggeworfen wurde, doch kometenhaft schnell drückte er sie mit seinem Fuß zu Boden. Fest schaute Basgorn Rio in die Augen und sprach: "Sobald ich mit einem von euch als Tribut den Umgedrehten König aus seiner Verbannung geholt haben werde, wird niemand es mehr wagen, aus meinen Taten Schlüsse für die Gesamtheit der Dunkelelfen zu ziehen. Dann lassen sie selbst einen Bastard wie dich laufen, wenn es nur ihre eigene Haut rettet."

Prompt kochte die Tobsucht in Rio erneut auf, er rief: "Vorher beende ich dein dreckiges Schattenelfleben mit einem einzigen Stich, du erbärmlicher Heiland! Und dann lass ich dich in deinem eigenen Blut bedenken, ob ich zu Dreck wie dir gehöre, oder nicht!"

Die scharfe Klinge raste auf den Priester zu, Zea stieß einen erstickten Ruf aus, flehte die beiden aus trockener Kehle an, den Wahnsinn zu beenden. Basgorn blockte das Schwert mit der bloßen Hand, um die sich wieder ein flammenartiger, violetter Film gelegt hatte.

Verflucht, diese Umbramanten waren ja teilweise sogar in der Lage, bereits kleinste Wunden von sich fernzuhalten!

Rio änderte schnell seine Taktik, riss sein Schwert auf ein mal leicht zur Seite, was der Flamen zu spät bemerkte. Er hatte nicht mehr genug Zeit, um sich zur Seite zu werfen - da riss der andere Dunkelelf sein Schwert plötzlich schon wieder weg, an der Brust des Mannes vorbei, auf ein Funkeln im Mantel zu. Die Klinge frass sich durch den Stoff, der Fetzen fiel auf den Boden und bekam Rios festen Fußtritt zu spüren. Leise knackte etwas unter der grünen Seide.

"Nein!", rief Basgorn ungläubig aus und taumelte leicht zurück. Dunkle Schlieren stiegen unter Rios Schuh auf und verflüchtigten sich rasch.

"Meine Entschuldigung, Herr Pater… aber euer Seelenstein ist wohl 'angeknackst'!"

"Du weißt recht gut bescheid über Umbramantie…", begann Basgorn stichelnd, sobald er sich von dem Schreck erholt hatte, "… aber wen wundert es, wir Dunkelelfen sind doch sowieso allesamt Adepti Umbrarum, nicht wahr?"

Rios Gelassenheit fiel von ihm ab wie eine Maske. Kaum starrte er auf den blanken Stahl in seiner Rechten sah er, wie tief seine Stirnfalten schon geworden waren vor Wut. Zeit wurde es, dass die Klinge Blut zu schmecken bekam! Und er war sich nicht sicher, ob der verklumpte, schwarze Lebenssaft dieses Schweinepriesters ausreichen würde, um die Schneide zu stillen.

Basgorn derweil war nicht tatenlos, er hob die immer noch um Atem ringende Zea hoch und hielt sie vor sich wie einen Schild. Drohend positionierte er seine freie Hand neben ihrem Hals. "Überleg' dir genau, was du tust! Ich mag vielleicht keine Beschwörung mehr ausführen können… aber ihr Leben auszusaugen, vermag ich auch ohne Seelenstein!"

"Und weiter?"

"Wie meinen?"

"Soll mich das abhalten, dich Abschaum zu töten? Ich schneide einfach durch sie durch und töte sie mit dir, du Lump! Sie ist selber schuld, sich gefangen nehmen zu lassen! Also sprich dein letztes Gebet, 'Flamen'."

"Du… du Filius Diaboli!"
 

Mit Sira an der Spitze rennen wir die Treppe hinauf, nachdem wir der Sicherheit halber einen Umweg durch den Wald genommen haben. Vom Hauptplatz des Klosters höre ich zahlreiche Leute durcheinanderschnattern. Für die Geistlichen scheint die Welt unterzugehen in all dem Trubel, der herrscht.

Und irgendwo weiter weg führt Alex die beiden Titanen mitsamt ihrem weniger friedfertigen Gefolge aus aufgebrachten Mönchen an der Nase herum. Bei Fortuna, hoffentlich kann Ludwig ihm wirklich helfen.

Als Schlusslicht der Gruppe, an deren Spitze Craylo und Sira sind, komme ich kaum hinterher, obwohl ich mich bereits weit über meine Grenzen verausgabe. Carod hat selbst jetzt noch die Nerven, ein wenig Galgenhumor zum Besten zu geben: "Na los, häng' dich mal etwas mehr rein! In deinem Alter sollte man doch schon etwas sportlicher sein!"

"Du hast gut Reden! Du musst ja auch nicht laufen, sondern Craylo!" Und der sieht genauso alles andere als in guter Form aus, ständig hämmert er sich gegen die Schläfe, wohl, um sich von dem eigentlichen Kopfschmerz abzulenken.

Zwischen zwei Atemzügen füge ich dann noch an: "Außerdem bin ich wegen dieser Paste dieses Mors-Kriegers noch lange nicht geheilt!"

Sira bremst urplötzlich, als sie das hört, und knallt gegen mein Gesicht, wodurch sie mich nach hinten umreißt. Überhaupt nicht zu meinem Wohle rolle ich gleich noch ein paar Stufen nach unten.

"Sag mal, was soll das verdammt noch mal denn?!", beschwere ich mich, "Gib nächstes Mal bescheid, bevor du mich so einfach anfällst, du Naturkatastrophe!" Sol verflucht's, mein Rücken fühlt sich an wie über ein Waschbrett gezogen.

Craylo und Selet halten an und wechselten verwunderte Blicke.

"Beruhig' dich und sag mir lieber, ob ich mich grad' verhört habe, oder du wirklich das Wichtigste vergessen hast, mir zu sagen!"

"Ich kann dir nicht wirklich folgen…" Ich halte mir zischend den Hinterkopf. Der Schmerz verdient eines der Worte, für das es zuhause rote Wangen und noch längere Ohren gegeben hätte.

"Ist dieser Kerl allen Ernstes ein Mors-Krieger?! Und wir haben ihn so ohne Weiteres gehen lassen?!"

"Warum ist das denn so eine große Sache?", wirft Craylo drängend ein.

"Vily kennt niemand mehr und Mors-Krieger auch nicht?! Wer von uns hat die letzten Jahrzehnte unter einer Stadt verbracht, ihr oder ich?!" Sira rauft sich die Haare und ich stehe wieder auf. Für dieses Theater hab ich keine Zeit! Schnurstracks gehe ich weiter, bis Sira brüllt: "He, du gehst?"

"Natürlich! Was soll ich denn sonst machen? Rio da oben seinem Schicksal überlassen?!"

Sira gibt nicht nach: "Aber Ludwig-"

"Wie wahrscheinlich ist es bitte, dass der schwarzgekleidete Schönling da Zeit hat für was-auch-immer-du-ihm-erzählen-willst?"

"Maljus hat nicht das Wichtigste vergessen! Das Wichtigste ist jetzt Rio… und Zea!", meint auch Dorac.

"Und ich werde mich auf Ludwig und Alex verlassen, die für uns da unten ihr Leben riskieren, damit wir in der Zwischenzeit das der Anderen retten können!", schließe ich und laufe humpelnd und mehrere Stufen auf einmal nehmend los. Gleich darauf gibt auch Craylo sich einen Ruck und schließlich noch Selet, die Sira einen letzten ernsten Blick zuwirft.
 

"Nun, meinst du es wirklich ernst, Junge?", wollte Basgorn von Rio wissen,"Lass mich die Schärfe deiner Klinge spüren, oder ist sie genauso stumpf wie dein Verstand? Egal, was du tust, dieses Mädchen wird sterben." Entsetzen machte sich in Zea immer weiter breit. Unter Angstschweiß und kräftigem Zittern schluckte sie schwer, bevor sie mit vor Todesangst geweiteten und geröteten Augen schrie "Nein, tu es nicht! Nein!!"

Rio erwiderte nichts mehr, beachtete nicht mal ihre Tränen, sondern machte sich gefasst, spannte seinen Körper an, seine Beine waren gerüstet für diesen einen Sprint, aber eine Hand packte ihn wie aus dem Nichts an der Schulter. Er wirbelte halb herum und schaute Kora an, die mindestens genauso wütend wie er zurück starrte.

"Was willst du, Harpyie?!", zischte Rio wütend mit achtsamen Blick auf Koras Klauen. Dennoch war er nicht vorbereitet, dass sie ihn gar herumriss und anplärrte: "Sag mal, spinnst du, oder was?! Lass das Mädel in Ruhe, du hirnloser Mann!"

"Halt' dein freches Mundwerk, Diebin! Ich töte diesen Priester und die Sache ist erledigt! Wenn dir das nicht passt, verkriech dich doch in dein-"

"Du denkst also, mich so einfach töten zu können?", schnitt Basgorns tiefe Stimme einem tiefschwarzen Schwert gleich durch Rios Satz. Zusammen mit einem schlagartigen, erneuten Anstieg von Basgorns Kräften durchfuhr die beiden Streitenden ein kräftiger Schrecken. Nachdem Rio sich zu dem Priester gedreht hatte, schoss bereits ein violetter Blitz auf ihn zu und traf ihn mitten an der Brust. Die Wucht riss sowohl ihn, als auch Kora zu Boden. Rio konnte schwören, sein Herz setzte aus, vor unbeschreiblichem Schmerz krümmte er sich, kriegte keine Luft, keinen Ton zustande, starrte gebannt zum grauen Himmel und befürchtete bereits das Schlimmste, als seine Gliedmaßen anfingen, starr zu werden und die Sicht nebelig wurde.

Gerade, wie ihm schon der Körper schwer wurde, zu schwer für die Seele, die kurz davor war, ihn unter den letzten qualvollen Sekunden der Pein zu verlassen, glätteten sich die Angstfalten in seinem Gesicht wieder etwas, Luft strömte in seinen brennenden Brustkorb, der Blick wurde flugs wieder klar...

"Bas... Basgorn... ihr seid...", verfluchte er den Umbramanten atemlos.

"Ich bin was?", fragte Basgorn, ohne eine Antwort abzuwarten: "Hinterhältig? Ich würde die Bezeichnung 'vorausdenkend' bevorzugen. Glaubst du, mein Meister würde mir die Wiedergeburt des neuen Gottes anvertrauen, wenn ich ein zweitklassiger Umbramant wäre, der so dumm ist, sich mit nur einem einzigen Seelenstein auszustatten? Euch Kindern mangelt es wirklich an Intellekt."

Dennoch verbargen all seine Bemühungen nicht, dass er zunehmend beunruhigter wurde. "Aber dein Durchhaltevermögen überrascht mich... dieser Angriff hätte ausreichen müssen, dich zu töten... dieser Schmerz erreicht selbst die Seele, er soll sogar bis ins nächste Leben hinweg spürbar sein, heißt es."

In Gedanken versinkend schwieg Basgorn für wenige Sekunden. Seine Lider waren fast nur noch zwei winzige Schlitze, hinter denen die Augen wachsam alles im Blick behielten. "Oder kann es sein, dass du dich selbst mit Umbramantie weiter befasst hast? Bist du doch genauso einer, der 'Gesetze der Götter' auf den Kopf stellt?"

Rio gelang es nicht, aufzustehen, er hob schwach den Kopf und erwiderte Basgorns Provokation mit einem gequälten: "Ihr... ihr redet Unsinn." Er war wieder zu Ruhe gekommen, er bedachte noch einmal die Ereignisse der letzten Minuten und sah angestrengt zu der Novizin. "Zea... ich hoffe... Ihr nehmt mir das gerade… nicht länger übel. Ich... ich bin nicht ganz ich selbst gewesen..." Er drehte seinen Kopf schließlich auch zu Kora. "Du... ach, du weißt schon."

"Wenn ihr Kerle uns Frauen nicht hättet, mein Lieber.", erwiderte die Harpyie schwach grinsend, aber scheltend.

Sie stellte sich wieder gerade hin, wobei sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. "Aber jetzt müssen wir dennoch diesem Schweinepriester eine Ohrfeige links und rechts geben!" Basgorn lächelte müde und führte seine Hand zurück zu Zeas Gesicht.

"Du vergisst, dass ihr Leben am seidenen Faden hängt - und ich besitze die unaufhaltsame Schere, die diesen Faden durchtrennen kann, wenn du auch nur eine falsche Bewegung machst."

"Warum zögerst du dann? Du wolltest sie doch sowieso töten?", fragte Kora provokant, als sie mit ihren Augen ganz dezent etwas auf der Lichtung wahrnahm.

Zea verschlug es die Sprache. "… A-aber… ihr…!", rief sie nur und weitere Tränen flossen aus ihren blauen Augen, die Kora fest fixiert hatten.

Auch Basgorn zeigte sich verwundert: "Wie schnell ihr eure Meinung ändert, wenn es um das Leben der jungen Auszubildenden geht. Aber nun gut, dann will ich es jetzt zu Ende bringen und meine Zeremonie endlich fortführen. Eine Diebin ist nur gut im Wegrennen, sonst nichts." Am liebsten wäre Kora ihm an die Gurgel gesprungen, doch all ihre Willensstärke aufbringend hielt sie sich zurück. Von unten ächzte Rio: "Harpyie... ist jetzt in dich…der Teufel gefahren?!"

"Pscht!", zischte sie bedacht dumpf, "Wenn der Filius Diaboli sich mal ruhig verhält, dann haben wir noch eine Chance. Pah... Männer!"

Basgorn begann leise, alte Formeln aufzusagen, eine Ansammlung wirrer Zischlaute und aneinandergereihter Konsonanten, die ihn klingen ließen, als verknote seine Zunge sich selbst. Zea nahm panisch einen violetten Schein aus dem Augenwinkel wahr, die Hand Basgorns leuchtete bedrohlich. All die wie ein unsichtbares, tausendarmiges Ungetüm um sich schlagende Umbramantie hörte auf, Rio und Kora auf den Schultern zu lasten, zog sich mehr und mehr zusammen. Der dunkle Zauber konzentrierte sich in Basgorn, in seiner Hand, die fast schon Zeas Wange berührte und in deren Schein sie meinte das eingefallene, vernarbte Gesicht eines Ungeheuers sehen zu können.

Und während der Priester immer unruhiger seine unverständlichen Sätze murmelte, die Zwergin den kalten Hauch bereits an ihrer fröstelnden Backe spürte, begann sie in Gedanken, ein verzweifeltes Gebet zu sprechen. An Terra, Fortuna, Sol, oder Mors, oder welche Gottheit auch immer, irgendjemand musste sie doch erhören!

Basgorn brach abrupt ab, stieß Zea beiseite und warf sich selbst ungeschickt zu Boden, als ein heller Lichtschein die Krypta erleuchtete. Ein Feuerball von der Größe zweier ausgewachsener Männer raste durch die Halle. Zea blickte in die gierig lodernden Flammen, tauchte ein in das rote Licht der Verzehrung… doch spürte sonderbarerweise nichts. Es war nicht heiß... es brannte nicht. Nein, eigentlich waren die Flammen sogar recht kühl.

Sie fiel durch den zischenden Kometen aus Zinnoberrot, welcher schließlich lautlos an der Rückwand in tausende kleine Funken zersprang, und landete sanft in den Armen eines Mannes, der sie trotz sichtlicher Schmerzen anlächelte.

Craylo erkundete sich lachend: "Na, alles in Ordnung?"

Verwundert schaute Basgorn auf, erblickte die Truppe, die im Eingang erschienen war und den Feuerball als blanke Ablenkung benutzt hatte. Er verfluchte seine Unachtsamkeit an die acht mal und mit ihr die Harpyie, die ihn so in Sicherheit gewogen hatte.
 

Der Augenblick ist einer der wenigen, in denen wir alle, Craylo eingeschlossen, froh über sein miserables Magievermögen sind. Noch während er das Klostermädchen aufgefangen hat, bin ich in Position gegangen und halte Basgorn die Klinge entgegen.

"Also hab ich mich doch nicht getäuscht!", jubelt die Harpyie Kora triumphierend, langsam wieder den Priester in Augschein nehmend. "Tja, Basgorn, ich bin vielleicht als Diebin auch gut im Wegrennen, dafür ist meine Sehstärke als Harpyie wesentlich besser als deine!"

Ich kann sehen, wie der verschrammte und leicht verkohlte Rio mir schwach zulächelt.

"Ihr… ihr frechen Burschen!", sprechen tiefsitzende Furcht und Hass aus Basgorn, "Hätte diese Dämonin nicht wenigstens einen von euch vernichten können?!" Er speit verächtlich aus. "… Es war zu erwarten, dass dieses stolze Mädchen wohl doch nur große Töne spucken kann."

Er streicht seine zerzausten Haare zittrig zurecht, wobei er von Sekunde zu Sekunde wieder in gespielter Ruhe und Überlegenheit untertaucht. Kaum ist er wieder komplett darin verschwunden, kommentiert er: "Trotzdem kann ich hier niemanden sehen, der die Fähigkeiten besäße, gegen die Fälschung anzukommen. Wer von euch will mich denn belehren? Dieser Magier, der bereits jetzt zu kämpfen hat?! Die blutjunge Hexe ohne wenigstens einen Abschluss im Elementorum II?! Diese winzige Víla?! Dieses Kind mit dem Schwert, die einfache Diebin oder doch der Schattenelfbastard?!"

"Haha, wir zwei können ja mal drüber reden! Na los, komm her, wenn du dich traust!", fordert Carod ihn heraus.

"Wie wäre es, wenn Ihr einfach von selbst zur Vernunft kämet?", schlägt Dorac hingegen vor. Ich zweifle, dass das etwas nutzt - und siehe da, wie erwartet beeindruckt es den Flamen Terrae nicht im Geringsten: "Ich bin so vernünftig wie noch nie. Ich werde dieser Welt einen Spiegel zeigen, während sie im Angesicht eines neuen Gottes erzittern wird!"

"Und weiter?", krächzt Rio, der von Kora gestützt wieder auf den Beinen ist, "Davon werden die Dunkelelfen auch nicht wieder… lebendig. Und das wisst Ihr…" Er hätte noch etwas angefügt, fasst sich aber verzweifelt an die Brust, als er erneut Schwäche zeigt und beinahe Kora mit zu Boden zieht. Selet läuft bestürzt zu ihnen, um zu helfen, während Sira fortführt, was Rio begonnen hat: "Nur Terra kann das Leben wieder erneuern! Und selbst wenn jemand anderes es täte... der Umgedrehte König wird nicht zwischen Elfen, Menschen, Zwergen, Nymphen, Harpyien oder Dämonen unterscheiden! Und ganz bestimmt erst recht nicht bei den Dunkelelfen!"

Basgorn zieht die Augenbrauen zusammen und bohrt nach: "Was willst du damit sagen, kleines Geschöpf?"

"Er… wird sie alle gleich verdammen.", spricht Rio wieder, "Ihr hättet dieselben Seelen nur… vom Regen in die Traufe geführt. Oder sogar schlimmer."

"Bedenke, was du von dir gibst, Unwissender! Jeder ist fürsorglicher als eine Mutter, die ihre Kinder im Streit nicht unterbindet. Und selbst wenn der König ein grauenvoller Tyrann würde - es wäre das beste."

"Was redet Ihr da für ein dummes Zeug?!" Wozu benutzt dieser Mann seinen Kopf eigentlich? Damit es ihm nicht in den Hals regnet?! Mit Freuden erwidere ich den bösen Blick des Hohepriesters.

"Was du da dumm nennst, ist für dich nur nicht zu begreifen, weil du ein unerfahrener Simplex bist. Dummköpfe verstehen nie die großen Geister… aber vielleicht findet sich unter euch ja doch wenigstens einer, der fähig ist, es zu begreifen. Ihr kennt die Sage, wie Prometheus verbannt worden sein soll, also warum lest ihr nicht zwischen den Zeilen? Die Göttinnen haben den Helden damals mit der heiligen Klinge ausgestattet, indem sie ihm Wunder darbrachten! Nicht etwa, um das Ende aller Lebewesen zu verhindern - sondern ein aufkommendes Gemeinschaftsgefühl!"

"Oh je, da sind jemandem aber eindeutig ein paar dumme Ideen zu Kopf gestiegen. Aber erleuchte uns doch ruhig weiter, was du sagst, ist wenigstens nicht langweilig!"

"Ich nehme deinen Spott als Kompliment.", weist Basgorn die Kritik zurück. "Habt ihr euch nie gefragt, ob die Sterblichen sich nicht auch hätten selbst helfen können? Unter solchen Umständen hätten sie gelernt, zusammenzuarbeiten und gemeinsam die Umgedrehten Männer zu verjagen! Und anschließend wären die Götter an der Reihe gewesen, denn wer einen Schreckensherrscher besiegen kann, kann hundert weitere genauso besiegen!" Er schweigt und sieht jeden einzelnen von uns noch mal aus seinen eiskalten Pupillen an. "Die Götter sind es, die Zwietracht säen und Leid heraufbeschwören. Aber ich werde diesem willkürlichen Treiben nicht länger zusehen, mit Dyonix werde ich das Regiment der Götter einreißen und dieser Welt den Weg entweder zum Urfrieden oder der endgültigen Verdammnis für dieses gottlose Leben öffnen!"

Als er geendet hat, hebt er seine Hand, über der sich augenblicklich eine dunkle Kugel formt. Ein unnatürlich starker Wind fegt vom Wald herein, Basgorn will nun mit uns abrechnen! Ich bin geblendet von der sich sträubenden Kugel, die der Schwarzhaarige schweißgebadet in ihre Form presst.

Doch da kommt ein Blitz ihm zuvor, lässt die Kugel zerplatzen und sich in einem schwarzen Schlierenwirbel verflüchtigen. Im nächsten Moment fliegen zwei bekannte Klingen surrend durch die Luft, schneiden Basgorn in die Hand, ehe er noch gar von Kora, die Rio ganz in Griseldas Obhut belassen hat, zu Boden gerissen wird. Sie hält ihm die Klauen an den Hals und zum krönenden Abschluss fischt sie mit dem Geschick einer eingespielten Taschendiebin noch zwei Klunker aus seinem zerrissenen Umhang, die sie mir vor die Füße wirft.

Prompt höre ich auf, das Geschehen gespannt und beeindruckt zu beobachten, sondern zerquetsche die empfindlichen Steine mit meinem Fuß. Kein Zweifel, dass das Seelensteine waren.

"Du… du penetrantes Miststück…!", flucht Basgorn zappelnd. "Lass mich… lass mich dir dein kümmerliches Leben rauben!" Mit seiner unverletzten Hand will er nach ihr greifen, da findet er seinen Arm plötzlich festgetreten auf dem Boden vor… von der Zwergin. Sie weint bitterlich, aber keine Tränen der Trauer oder Angst mehr, sondern Tränen der Wut.

Halb knurrend, halb schluchzend sagt sie: "Priester Basgorn… wie immer klingen Eure Thesen schlüssig…"

"Aber da gibt es zwei Probleme!", ergänzt Sira, "Es stimmt zwar, dass die Sterblichen sich selbst zu helfen wissen, wenn sie in Bedrängnis geraten." Basgorn wird ruhiger und betrachtet sie aus großen, staunenden Augen. Auch seine Magie wird schwächer, sodass Craylo wieder weniger Probleme mit den dunklen Auren um sich herum hat.

So zeigt er auf: "Und genau das machen wir gerade. Wir arbeiten zusammen, um die Wiedergeburt dieses Umgedrehten Königs zu verhindern."

"Außerdem hast du verpennt, dass die Sterblichen einen Plan wie deinen ganz einfach verhindern.", leitet Kora den zweiten Fehler ein und ich verstehe es nun auch. Daher sage ich: "Indem sie sich der Hilfe der Götter bedienen, die Ihr zu schwächen versucht!" Die Miene des Klerikers wird schleppend sanfter.

Schließlich sagt Selet: "Und Terra ist keine Rabenmutter, nur weil sie uns uns selbst überlässt. Irgendwann müssen wir lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich kann nicht wissen, welches Leid Ihr erfahren haben müsst, um so zu denken, wie Ihr es tut. Aber das kann doch nicht Euer Ernst sein! Dyonix wird bestimmt nicht daran denken, dem Volk vorzuführen, wozu es in der Lage ist! Niemand kann ein solches Blutbad verantworten, versteht Ihr?! Er lebt fernab der Gegenden, in denen gekämpft wird, er sitzt im Schloss von Ardsted und gibt alles aus der Hand, wofür er selber sich zu schade ist, anstatt wie echte Könige an der Spitze seines Heeres zu reisen! Ihr denkt, jemand wie er ist uneigennützig genug, eine Läuterung der Welt durchführen zu lassen?!"

Basgorns Leib bebt, wild sieht er von einem zum anderen und wehrt sich anfänglich noch schwach gegen Kora und Zea, doch er gibt nach kurzer Zeit auf. Die gefährliche Aura, die ihn umgibt, kommt zum Erliegen und der beklemmende Eindruck verfliegt. Bitter schlägt er die Augen nieder.

"Ihr… ihr habt Recht.", gibt er sich zitternd geschlagen, "Bei Allem, was mir etwas bedeutet, ich sehe es nun ein."

"Ach wirklich?", stochert Sira spitzfindig nach. Basgorn nickt - wenn man das so nennen kann, denn Koras Klauen lassen ihm kaum die Bewegungsfreiheit, auch nur einen Muskel zu rühren.

"Ihr habt mein Wort als Dunkelelf, dass ich mich ergebe. Und nun lasst mich bitte aufstehen… ich will für meine Fehler geradestehen und um eure Vergebung bitten." Zögernd lassen Zea und Kora ihn los. Ich derweil beobachte jede seiner Bewegungen genauestens.

Basgorn tut nichts, greift nicht an oder Sonstiges, sondern schreitet langsam zu einer Treppe im hinteren Teil der Halle.

"Ihr seid sicherlich hier wegen der Wunder… um einen Bruchteil meiner Schuld zu begleichen, ehe ich unverzüglich mein Amt ablegen und mich der Buße für meine Sünden hingeben will, werde ich euch zu dem Wunder dieses Klosters führen."

Ob ich ihm das glauben soll? Was, wenn es eine Falle ist? Fragend schaue ich die anderen an.

"Priester Basgorn…", erhebt Zea zögernd ihre Stimme. Der Priester bleibt stehen. Er dreht sich nicht um.

"… Zea?"

"Tut Ihr das wirklich aus freiem Willen? Oder werdet Ihr wieder zu etwas gezwungen wie… wie damals, als die Dunkelelfen-"

"Wenn ich mich jetzt aus freien Stücken entscheide, gezwungenermaßen für das, was ich verbrochen habe, die Verantwortung zu tragen, ist es besser, als gezwungen zu sein, diesen heiligen Boden mit meinem verdorbenen Blut zu beschmutzen, oder?"

"Damit Ihr es wisst…", beginnt Rio ernst währenddessen, immer noch auf Griseldas Hilfe angewiesen, "Ich… ich für meinen Teil werde nie verzeihen… was uns oder mir angetan wurde. Auch Euch werde ich nie verzeihen können."

Basgorn erwidert nichts. "Nur, wenn meine Meisterin es wünscht, werde ich Euch verschonen."

"Nenn' mir deinen Namen, Halbblut."

"Rio… Rio de Dschanehro."

"Auch wenn es dich nicht gütlich stimmen mag, Rio, ich werde die wenigen Heilkräfte, die mir neben meiner Totenmagie gegeben sind, gebrauchen, um deine Wunden zu behandeln."
 

III.
 

Nachdem er Rios Verletzungen gelindert hat, ist er uns voraus flugs die lange Treppe emporgestiegen, ehe ein unnötig langer Gang uns wieder aus dem Berg herausführt. Dass das, was sich uns erschließt, zweifelsohne das Wunder sein muss, wissen wir alle sofort, als wir die Lichtung erblicken, die auf einer riesigen Klippe am äußersten Rande der Bergspitze liegt. Das in der Mitte muss der größte Olivenbaum Cardighnas sein! Er erhebt sich weit über die anderen hinaus und streckt seine knorpeligen, grün- und silberbesetzten Äste wie ein zu den Göttern Flehender dem Himmel entgegen. Viele Jahrhunderte muss dieser Baum alt sein mit seiner Höhe von mehr als zwanzig Metern und mit seiner dicken Borke, die den knorrigen, krummen und gewundenen Stamm bedeckt.

"Wäret ihr nicht gekommen, hätte ich den Baum in Brand gesteckt und mit ihm den gesamten Hain, um ein letztes Zeichen zu setzen - und um Dyonix zu benachrichtigen, dass sein Vorhaben geglückt ist.", erklärt Basgorn ein wenig wehmütig, aber immer noch auffällig kühl, "Das Öl dieses altehrwürdigen Baumes ist eines von vier Wundermitteln, die Allerweltsmetall zum Stahl des Impristinum machen."

Nachdem ich nicht mehr von Demut und Erstaunen ergriffen bin, wage ich, ihn zu fragen: "Was wird passieren, wenn das Feuer nicht entzündet und Dyonix damit sicher sein wird, dass Ihr seinen Befehl nicht ausgeführt habt?" Er ist einflussreich und überall, wohin wir auch gereist sind, sind seine Gefolgsleute damit beschäftigt gewesen, uns bis ans Ende der Welt zu jagen. Aaron, Basgorn, Cheeta, Echidna und Ventosus kennen wir bisher, aber irgendwie kann ich mir schon denken, dass sie bei Weitem nicht alle sind, die in Diensten des Consultors stehen.

"Wer weiß, wozu ihn das veranlassen wird. Vermutlich wird er mich auf die ein oder andere Art zur Rede stellen." Dass das milde formuliert ist, steht ihm auf die Stirn geschrieben.

"Könnt Ihr nicht etwas tun, dass Dyonix entlarvt wird? Wir hätten es um Einiges leichter, wenn wir ihn gar nicht erst als Gegenspieler hätten!", bittet Selet.

"Ein einfacher Flamen der Terra soll den Consultor Maximus des Königreiches stürzen? Das ist lächerlich, so leid es mir tut."

"Aber es wäre das Mindeste, was Ihr tun könntet, wäre es Euch auch nur ansatzweise ernst, etwas wiedergutzumachen.", sagt Rio ihm daraufhin auf den Kopf zu. Es lässt den Priester scharf die Luft einziehen.

"Aussichtslose Kämpfe sind keine Heldentaten, nur weil man sie dennoch bestreitet und sein Leben gibt. Ich tue besser daran, auf einen günstigeren Zeitpunkt zu warten, an dem Dyonix verwundbar sein wird. Bis dahin werde ich durch die Qualen wandern, die das Leben ab sofort für mich bereithalten wird." Während Basgorn zu dem Baum geht, bemerke ich, wie die blonde Zwergin, die laut Craylo Zea heißt, sich aktiv im Hintergrund hält und misstrauisch alles beobachtet.

Irgendwie will in mir keine Siegesstimmung aufkommen, wenn ich sie so sehe - obwohl wir das erste Wunder vor uns und zum Greifen nahe haben.

Mit einer faustgroßen Olive in der Hand spricht Basgorn: "Nun, gebt mir die Klinge, welche geweiht werden soll."

"Los, Maljus, gib es ihm schon!", verlangt Sira, ehe sie Craylo, Rio und Selet zuflüstert, wachsam zu sein. Ich bezweifle, dass Basgorn als Alba das überhört hat. Und eben deswegen zögere ich besonders, als ich mein Schwert aus dem Gurt löse und es Basgorn übergebe.

Wachsam hätten wir sein sollen, doch auf die Harpyie, die aus unseren Reihen hervorschießt wie ein Pfeil, blitzschnell die Olive gepackt und sich damit in die Lüfte begeben hat, sind wir nicht vorbereitet gewesen, als es auch schon passiert ist.

"Tausendfachen Dank!", lacht sie schallend von oben und ihr triumphierendes Gelächter verhallt in den ungeahnten Weiten der Schlucht. "Damit hätte ich das erste Wunder eingesackt, fehlen bloß noch drei! Ach, nun macht doch kein so mürrisches Gesicht!"

"Du verdammte Diebin änderst dich nie!", schreie ich zu ihr empor.

"Oh~, das ist eben meine Natur und gegen die kann ich nicht an. Tja, Blondchen, du bist eben nicht der Prophezeite, sondern ich!" Sie fliegt weg und bloß eine herabsinkende, rote Feder erinnert noch an sie. Oh, ich könnte dieses Teufelsweib erwürgen!

Basgorn muss leise lachen. "Ihr zwei seid wie die heiligen Geschwister Gergna und Sacc aus der Comoedia Cosmica."

So irritiert ich ihn auch erst angucke, desto herrischer werde ich, als ich rufe: "Sie hat gerade das Wunder gestohlen und Ihr könnt darüber grinsen?!" Und überhaupt, wenn das meine Schwester wäre… bah, was würde ich mich nach einem Engelchen wie Sara sehnen!

Basgorn wird wieder etwas ernster, bleibt aber zuversichtlich. Erst, als er mit einer zweiten Olive, mindestens genauso groß wie die andere, zurückkommt, beruhige ich mich etwas.

Er sagt: "Dieser Baum wäre kein Wunder, könnte er bloß eine Frucht mit genügend heiligem Öl hervorbringen."

Die dürren, knöchernen Hände des Priesters schließen sich kurz darauf um Scheide und Heft meines Schwertes. Er zieht die Klinge schwerfällig heraus, legt die Schwertscheide zu Boden, um mit seiner Hand nun die dicke Olive auszupressen und ihren Saft präzise auf die Klinge zu träufeln. Zäh- und dickflüssig klebt das Öl nun am Stahl. Als nächstes zieht Basgorn ein feines Taschentuch hervor und wischt noch ein mal über die Klinge, um das Öl hauchdünn auf beiden Seiten der Schneide zu verteilen. Zu guter Letzt platziert er die Waffe wieder in der Schwertscheide und gibt sie mir zurück.

"Hier… das wäre alles. Terras Segen liegt nun auf dieser gesalbten Klinge. Geht behutsam damit um, bis ihr noch die restlichen drei Wunder gefunden haben werdet!"

"Priester Basgorn, wisst Ihr denn auch, worum es sich bei den anderen drei Wundern handelt?"

"Nun… ich weiß nur, was Wunder des Aqua-Nymphaeums im Gersaitsee ist. Tief unten, in den Kammern, die längst unter dem Wasserspiegel verlaufen, entspringt angeblich einer Quelle gleißend blau leuchtendes Wasser. Dies müsst Ihr genauso auf die Klinge auftragen wie die anderen zwei Wunder, über die ich nichts weiß."

"Ich denke, Ihr habt uns schon mehr als genug geholfen, Flame-"

"Bei Weitem nicht!", fährt Sira mitten im Dankesausspruch dazwischen, "Denn da gibt es noch etwas, worum Ihr Euch kümmern müsst, bevor wir das Kloster so mir-nichts-dir-nichts verlassen können!"

"Ich habe eine leise Vorahnung…"

"Einer unserer Freunde hält gerade diese unheimlich freundlichen Titanen auf, die dank Dyonix' Ablenkungsmanöver das Kloster bewachen! Ihr habt uns jetzt das Wunder gezeigt und uns ein wenig mit Informationen versorgt, aber noch ist nicht vergeben und vergessen, was Ihr vorhin noch Rio, Griselda und dieser Novize antun wolltet!" Beschämt senkt Basgorn den Kopf.

Rio unterstützt Siras harte Worte: "Ihr wisst, dass sie Recht hat, denn ich habe Euch genauso darauf hingewiesen, dass die zwischen uns gerissene Kluft zu tief ist!"

"Nun macht mal halblang, ja?!", rufe ich. Im wahrsten Sinne des Wortes bin ich auf Basgorns Seite, als ich Sira und Rio wie meine ärgsten Feinde anstarre. "Ich bin ja genauso der Meinung, dass wir noch lange nicht gute Freunde sein müssen! Aber wenn ihr von vornherein auf ihn einprügelt und ihm sagt, dass zwischen uns nie Frieden herrschen kann, wundert es mich doch sehr, dass ich bis jetzt noch keine Klinge im Bauch habe und er schließlich doch diesen Wald abfackelt! Dyonix hat mit ihm genau dasselbe abgekartete Spiel abgezogen wie mit uns…"

Ich balle meine Hand zur Faust und drücke mit dem Daumen gegen meine Brust. "Ich bin damit einverstanden, in Basgorn ab sofort einen Verbündeten zu sehen, egal, ob er uns jetzt auch noch hilft, Alex vor den Titanen zu schützen!"

"Und ich werde mich erkenntlich zeigen.", verspricht Basgorn mit einer Verbeugung.
 

IV.
 

"Werdet Ihr Euch wohl unterstehen, sie anzugreifen?!", donnert Basgorns Stimme über das Forum und der dichte Kreis aus schaulustigen Novizen, Capellani und Priestern zerspringt augenblicklich. Der klobige Titan vor Alex blutet aus der Nase und mehreren kleinen Wunden im Gesicht, in dem sich Bestürzung breit macht, als er den Alba Occulta erkennt.

"Flamen Terrae Basgorn! Was gibt es?!", haucht er zu Tode erschrocken.

"Das habe ich doch soeben deutlich angeführt!", schimpft Basgorn den Titanen mit gebrochener Nase wutentbrannt aus, "Lasst diesen Mann sofort in Frieden und erklärt mir, wieso Ihr auf ihn losgegangen seid wie eine Belua Peccati!"

Der Titan gibt sich aber nicht so einfach geschlagen: "Mit Verlaub, Hohepriester, aber was haben überhaupt diese Kinder da bei Euch zu suchen?!" Er dreht sich vollends zu uns um und zieht seinen Speer weg von Alex, der in Schweiß, Schmutz und ein paar Regentropfen getaucht auf den Knien gelandet ist. "Diese Spitzbuben und die junge Hexe sind hier trotz der strengen Auflagen eingedrungen! Seine Majestät selbst hat veranlasst, dass wir niemanden im Kloster einlassen sollen, der keine Befugnis hat, während seine Tochter hier residiert!"

Basgorn wartet, bis der Riese ausgesprochen hat, um ihn zurechtzuweisen: "Hat König Gustere damit gemeint, dass Ihr diesen guten Bekannten meinerseits nicht einmal die Möglichkeit gebt, sich auszuweisen?! Soweit ich weiß, habt Ihr versucht, sie ohne Weiteres wegzuscheuchen!"

"Aber das stimmt doch gar nicht-"

"Werft Ihr ihnen vor, mich zu belügen?! Hütet Eure Zunge, oder ich werde Eurem Vorgesetzten Gerdonis anraten, sie abtrennen zu lassen!" Der Titan schrumpft immer weiter zusammen, je lauter Basgorn ihn anherrscht. Meine Güte, das ist erstaunlich, wie gut er seine Rolle spielt!

Etwas zurückhaltender entgegnet der Wachmann dennoch: "Aber Flamen, wie kommt es, dass Eure Bekannten so zugerichtet sind? Ich schwöre auf mein Amt und meine Familie, dass wir damit nichts zu tun haben!"

"Wir haben mit Dämonen gekämpft!", rufe ich da, weil ich Basgorn etwas unter die Arme greifen sollte, "Während Ihr Alex nachgestellt habt, mussten wir im alten Heiligtum mit einer Bestie kämpfen!"

"Das Ungetüm hat sogar die Prinzessin angegriffen!"

Selets Ausruf lässt den Wächter kreidebleich werden und die Mönche und Nonnen schockiert die Hände vor den Mund schlagen.

Ich nutze die Aufregung, um meinen nächsten Zug zu bedenken, dann sage ich: "Dieses Vieh hat sogar einen Teil des Gebäudes eingerissen. Wir sind mit dem Leben davongekommen!"

Basgorn nickt und fährt fort: "Und dann sind sie zu mir geeilt, um Hilfe für Prinzessin Selet zu holen! Da aber manche Wächter eher hinter ihnen her waren als dieser Ausgeburt des Bösen, ist wertvolle Zeit verloren gegangen!" Er deutet ausschweifend in Richtung Heiligtum. "Na los, holt die Prinzessin sofort da raus und lasst einen Medikus oder Heiler holen, sonst gnade ihr Mors und euch der Rex Sacer et Cosmicus!"

"Aber halt!", schreitet Craylo noch ein, als der Titan im Begriff ist, folgsam von dannen zu laufen, "Wo ist denn der andere Wächter? Und… und…"

"Und Ludwig!", helfe ich dem Magier auf die Sprünge.

Der Wächter will wissen: "Was…? Dieser schwarzgekleidete Mann mit der braunen Sturzfrisur? Der ist verschwunden! Wächter Thioklez ist ihm nach in die Stadt! Aber jetzt aus dem Weg, ich muss Prinzessin Selet retten!" Er trampelt an den aufgeregt ausweichenden Hakama- und Haoriträgern vorbei, welche zuvor noch ihre Blicke an Basgorn und uns geheftet haben, wie eine Zecke sich an ihren Wirtskörper.

Priester unterhalten sich tuschelnd mit ihren Adjutanten, während manche der weiblichen Novizen sich ängstlich aneinanderklammern. Zea schaut uns starr an.

"Das klappt ja wie am Schnürchen.", murmelt Dorac, "Während die beiden beschäftigt sind, hauen wir ab und sind noch vor Sonnenuntergang weit weit weg!"

"Ihr beliebt zu scherzen. Nichts garantiert, dass ihr nicht als Vogelfreie endet, wenn ihr flieht.", flüstert Basgorn uns zu.

Er schaut auf, um Alex vor sich stehen zu sehen. Er ist auch ganz schön angekratzt und zischt: "Was für eine komische Scheiße ist das denn jetzt?! Kann mich mal jemand aufklären, was zum Fatum plötzlich los ist?! Craylo?!"

"Ich rette Euch gerade das Leben, mein Herr. Zumindest solange, bis Ihr aus der Stadt seid!"

"Alex, halt dich zurück, bis wir unseren Hals aus der Schlinge gezogen haben!", bittet Craylo energisch, "Wir erklären's dir alles noch, versprochen!"

"Als ob du nicht selbst das ein oder andere mit den Kindern zu bereden hättest!", giftet Alex sich nur langsam beruhigend, ehe er dann still bleibt.

Basgorn fährt fort: "Consultor Majoris Gerdonis von der Stadtverwaltung ist ein guter Bekannter von mir. Vielleicht kann ich andeuten, worum es wirklich geht, wenn wir ihn jetzt aufsuchen, und dafür sorgen, dass er euch auch weiterhin in Schutz nimmt, sollte die Situation sich verkomplizieren."

Also eines ist klar… die Sache ist noch lange nicht gegessen.
 

Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über das von einer zunehmend verblassenden Wolkendecke überdachte Forum schweifen, auf dem die Geistlichen noch immer aufgelöst versuchten, zu erfahren, was vor sich ging.

Wer waren diese Kinder und die zwei Männer, die sich um den Hohepriester der Terra geschart hatten?

Hausten nun also wirklich Dämonen in ihrem alten Heiligtum?

Und war Prinzessin Selet wohlauf? Was würde passieren, wenn sie verletzt oder sogar gestorben wäre?!

Auch die auszubildende Zwergin Zea war überwältigt und perplex, da sie ihren obersten Lehrmeister zusammen mit diesen eigenartigen Reisenden, deren Namen sie teils noch nicht ein mal kannte, von dannen ziehen sah. Inmitten der verstreuten Kreisstücke verblieb sie mit offenem Mund, umringt von anderen Novizen, die nicht viel weniger wussten als sie, und glaubte, ihre Brust zerspringe an dem wild pochenden Herzen darin.

Nein, es war noch lange nicht das Ende.

Capitulum VIII: Der Weg hinfort - Oder doch bloß hinein?


 

I.
 

Die monumentalen Architekturunterschiede der Titanen und 'Üppchen', wie sie uns anderen Völker nennen, lassen erkennen, wieso so viele von ihnen bevorzugen, auf diesem Berg zu leben, wo die Treppenstufen für sie genau richtig sind. Für die anderen und mich sind sie das nicht im Geringsten, es ist eher wie das Erklimmen eines Berges, der lauter steile Kanten voller großer titanischer Lettern hat, die Treppe zur Stadtverwaltung hinaufzusteigen. Am Eingangstor, das stolze zwölf Meter misst, lässt man uns ohne weiteres ein, als man den Flamen erkennt. Wir werden dazu aufgefordert, kurz in der Empfangshalle am Ende des Gartens zu warten, ehe Consultor Majoris Gerdonis uns eine Audienz gewähren wird.

Die Verwaltung selbst ist ein kleines Schloss, eine winzige Feste, deren Innenhof von einem perfekt symmetrischen Prunkgarten ausgeschmückt wird. Bis auf Basgorn begutachten wir alle die zu Schönheitsdienern geknechteten Hecken, Bäume und Büsche durch die riesigen Spitzbogenfenster. Am Ende der Eingangshalle befindet sich ein breiter Säulengang, an den weitere Galerien mit Blick auf den Garten anschließen.

Zwischen den hohen Säulen und auf den großen Treppe zur Linken und zur Rechten, welche mit einem wunderschön bestickten, roten Teppich ausgelegt sind, tummeln sich zahlreiche ältere Herren und ein paar wenige Damen höheren Alters, die es sich nicht haben nehmen lassen, ihr vermutlich längst ergrautes Haar nachzufärben und kunstvoll hochzustecken, im Diskurs. Sie alle sind in prächtige Togen gekleidet, die meisten davon dunkelblau gefärbt mit schwarzen Rändern, aber ich sehe auch ein paar wenige, die zusätzlich zu dem schwarzen Streifen noch einen goldenen auf ihren Gewandungen haben.

"Das sind die Consultores.", erklärt Selet mir im Flüsterton, "… hochrangige Männer oder niedere Adelige, die in den Senaten der Stadtverwaltungen und im Gericht sitzen. Die mit den goldenen Borten sind entweder Consultores Maiores - das sind die Vorsitzenden, allesamt adelig und von den anderen Consultores gewählt."

"Und was können sie noch sein?"

"Nun, sie könnten genauso gut zum einfachen Gefolge eines Präfekten gehören und stellvertretend für ihn hier sein. Das erlaubt ihnen auch schon, eine golden verzierte Toga zu tragen." Ich nicke, doch beeindruckt von den bärtigen und glatzköpfigen Männern und alten, ehrfurchtgebietenden Damen, die fast alle irgendwelche Bücher, Schriftrollen oder sogar noch kleine Steintafeln mit sich führen.

Ständig öffnet sich irgendwo eine Pforte, worauf man für einen kurzen Moment einen sehr erregt sprechenden Consultor eine Rede halten hört, und weitere Sitzungsteilnehmer treten ein oder verlassen den Raum.

Selet fällt noch etwas ein: "Ach ja… und dann gibt es noch den Consultor Maximus, von dem solltest du ja gehört haben."

"Ja… das ist die rechte Hand des Königs und momentan kein anderer als Dyonix." Mein Blick verfinstert sich augenblicklich.

"Richtig…" Besorgnis schleicht sich in Selets Züge. "Dyonix wurde vor Jahren vom Präfekten des Regierungsbezirkes Wilmvar zum Vorsitzenden des Ardsteder Senats und damit zur rechten Hand meines Vaters erhoben."

"Und offenbar reicht ihm die für ihn höchst erreichbare Position im Staate nicht.", flüstert Sira düster, "Wäre er nur so ein einfacher Consultor, hätten wir ein wesentlich leichteres Spiel."

"Hören wir auf, darüber zu sinnieren, was hätte sein können, und wenden wir uns den Dingen zu, die wirklich sind.", mahnt Basgorn und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die beiden Wächter, die auf uns zukommen. Über dem üblichen Wams tragen sie noch einen kurzen, bis zur Oberarmmitte reichenden Überhang in strahlendem Weiß und mit goldenen Rosenverzierungen.

"Der Consultor Majoris Gerdonis erwartet Euch und Eure Begleitung, Flamen Terrae Basgorn."
 

Unter strengen Blicken der Consultores und Custodes in den Hallen werden wir in Gerdonis' Arbeitszimmer geführt, das von seinen Ausmaßen genauso gut einer der Hörsäle hätte sein können, in denen nun immer noch hitzig diskutiert und Urteile gesprochen werden.

Auch Gerdonis trägt die traditionelle Robe der Richter und Denker, sie verschleiert seine üppige Körperfülle nur kaum. Sein dunkles, krauses Haar und der gut gestutzte Backenbart lenken mangelhaft von seinen stets schielenden Augen ab, in deren Anwesenheit ich eine Gänsehaut bekomme, da ich nie sicher weiß, ob der Mann mich wirklich ansieht oder nicht.

Vier der durch ihre Kleidung exponierten Custodes stellen sicher, dass der Consultor Majoris Basgorn, uns ohne jegliche Furcht um sein Leben empfangen kann. Dass er diese ohnehin nicht hat, entnehme ich seiner freundlichen Begrüßung: "Mein werter Freund Basgorn, es ist angenehm, Euch zu sehen."

"Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Herr Consultor."

"Nur der Anlass scheint unangenehmer zu sein, oder?", deutet Gerdonis in seiner langsamen, träge klingenden Stimme. "Ich habe schon gehört, dass im Kloster Aufruhr herrscht. Haben Eure Begleiter etwas damit zu tun?"

"Ja, das fürchte ich. Das Kloster stand unter Angriff eines Dämons, der sich in unserem alten Heiligtum breitgemacht hat."

"So, so… muss man jetzt fürchten, dass die Schauermärchen um das Gemäuer wohl doch Prophezeiungen waren?", wundert sich der Consultor, der auch in seinem fein gefertigten Stuhl mit von kräftigen Querbalken gestützten Armlehnen den Elfen überragt.

"Ein dunkles Vorzeichen ist es gewiss, wenn jetzt sogar unser ehrwürdiges Kloster von Beluae heimgesucht wird. Es ist sogar zu befürchten, dass Prinzessin Selet von Ardsted - welche ebenfalls am Kloster verweilt, wie Ihr ja wisst - zu Schaden gekommen ist."

Ein tiefes Ächzen dringt aus Gerdonis' Kehle. Er beugt sich vor, um seine Ellbogen auf seinem Arbeitstisch aufzulehnen und die Hände vor seinem Furchen bildenden Gesicht zu verschränken. Wieder klingt er verwundert, nur dass nun auch der Zorn in seiner mächtigen Stimme wie die eines Jahrtausende alten Berges mitschwingt: "Die Ruhe selbst seid Ihr, Basgorn. Ihr habt Euch schon mit dem schlimmsten Schicksal abgefunden?"

"Es hat keinen Sinn, unnötigen Optimismus zu verbreiten, wenn Ihr seht, was die Bestie mit meinen Begleitern angestellt hat.", erklärt Basgorn sich, die Hand zu einer Geste ausgeholt. "Ich würde gerne vermeiden, dass sie in dieser momentan so feindlichen Gegend bleiben."

Gerdonis schielt zu seinen Wachen - so ist die Bewegung seiner unterschiedlich gerichteten Augen zumindest am ehesten zu deuten. "Ein großer Wunsch im Angesicht der bevorstehenden Unruhen, die meine Stadt heimsuchen werden… da ist auch Freundschaft mir noch kein triftig genügender Grund, solch eine Bitte zu erfüllen."

Mir wird heiß und kalt, so wie das Gespräch sich entwickelt. Ich kann spüren, wie ich blass werde, als Gerdonis sagt: "Um ehrlich zu sein, wäre es doch besser, wir warten mit Reiseplänen, bis wir Genaueres über Prinzessin Selets Wohlergehen wissen."

Auch Basgorn ist nun leicht in die Enge getrieben. Ist der Redefluss bis jetzt ununterbrochen und spontan klingend abgelaufen, gerät er ins Stocken und der Flamen muss erst ein mal nachdenken, bis er etwas zu entgegnen hat.

"… Mit Verlaub, je nach Ausgang dieser Sache wird die unruhige Göttin Chaos auf die Stadt hinabsteigen und ich möchte nicht, dass diese Mutigen erst innerhalb ihrer verworrenen Präsenz abreisen. Es passiert so viel Schreckliches dieser Tage, warum dann nicht einem Übel vorbeugen?"

"Ihr scheint mir bloß sehrin Eile zu sein. Seid Ihr so besorgt, dass seine Majestät im Affekt diese jungen Männer und die junge Dame irgendwelcher Meucheltaten beschuldigen würde?"

"Bedingt, Gerdonis. Mit seiner Hand würde Gustere schnell den Finger erheben und angesichts des tragischen Verlustes seine Trauer und Wut an den Erstbesten auslassen, die seiner Autorität vor die Klingen kommen.", spricht Basgorn, seine Stimme absenkend. Kommt mir das nur so vor, oder hat er mit diesen Worten mehr gesagt, als die Wächter erahnen könnten?

Tiefer graben sich die Denkfalten in Gerdonis' angespannte Miene. Er streicht sich ein paar auf seine Stirn herabfallende Strähnen zurück, als er seufzend auf die Tischplatte starrt. Schnell erhebt er sein Haupt wieder und im nächsten Moment auch sich selbst. Er verkündet: "Wenn dem so ist, werden wir zu verhindern wissen, dass seine Majestät womöglich die Falschen zum Schafott schicken wird. Hoffen wir das Beste für seine Tochter und beten wir, dass es wirklich nur dem Dämonen an den Kragen geht, der ihr etwas angetan haben mag." Umringt von seiner Leibgarde geht er um den Schreibtisch herum und schüttelt Basgorn noch ein mal die Hand.

"Ja, ich werde auch für sie beten."

"Die Götter müssen uns auf die Probe stellen, so viel wie nun passiert. Es bleibt nur zu hoffen, dass dies nicht Vorzeichen für das Ende des Aenea Aetas sind. … Verzeiht, dass ich so etwas Banales jetzt frage, aber was kommt danach noch ein mal?"

"Wenn selbst Eisen Wert verliert, ist es nichts weiter als Stein, mein guter Gerdonis. Chaos hat uns mit Lux' Ermordung das Gold genommen, mit der Geburt des Diabolus durch Sols Unzucht ist uns auch das Silber verkommen… und wenn nun das Eisen durch Sterbliche zu Stein wird, steht das Ende Terras kurz bevor."

"Dann ist es wohl wirklich besser, wir flehen die Götter an, uns zu bewahren und die Verdorbenen zu läutern. Ich werde sofort sehen, wie ich Euch behilflich sein kann!"
 

II.
 

Medicus Ottonenglorw ist ein unangenehmer Zeitgenosse, dessen gelangweilt klingenden Erzählungen aus der Zeit des Bürgerkrieges ich schnell entnommen habe, dass der bucklig gewordene Elf sich wohl immer gewünscht hat, mit den anderen als glorreicher Kämpfer in schimmernder Rüstung an der Front zu kämpfen, anstatt die schwächlichen Verletzten, die blutbesudelt und halb verstümmelt in ihren zerbeulten Panzern zu ihm gekommen waren, zusammenflicken zu müssen.

Er hatte immer diesen einschüchternd stechenden Blick an sich und wohl schon so lange nicht mehr gelächelt, dass es ihm offenbar körperliche Anstrengung bereitete, seine Mundwinkel wenigstens in eine neutral erscheinende Stellung zu bringen. Stets schaute er bitter drein und das die ganzen vier Tage lang, die wir mit ihm auf der Fahrt verbrachten.

Flugs sind wir nach unserem Besuch bei Gerdonis einer von Soldaten bewachten Delegation zugeteilt worden, die aus drei großen Titanenkutschen bestanden hat. Allesamt wurden die Gefährte von je drei Ogereseln gezogen, deren dickporige Rücken groß genug sind, um darauf auch zwei junge Titanen reiten zu lassen.

Gerdonis hatte sich im Vorraus ein mal konkret für die Umstände, unter denen wir gereist sind, entschuldigt, aber hatte wohl verstanden, dass Basgorns Tross, also wir, angesichts der Eile, in der wir gewesen waren, sowieso wenig dagegen einzuwenden gehabt hatte.

Man darf eben nicht wählerisch sein, wenn man auf der Flucht ist. Das habe ich versucht, mir einzureden, während ich mich als geduldetes Anhängsel eines Gefangenentransportes auf holpriger Fahrt die baldige Ankunft herbeigewünscht habe.

Und das dies mal ohne irgendwelche lustigen Erzählungen des Exorzistenduos oder kleinen Schlagabtauschen mit Carod und Dorac. Alex und Craylo sind nämlich nicht mitgekommen, sie haben vorgezogen, sich rauszuhalten.

"Wie, du bist nicht mehr interessiert?", hatte ich Alex verdutzt zur Rede gestellt.

"Ach, lass ihn lieber, Maljus. Wenn er sich beruhigt, dann kann er oftmals wieder ganz schön gleichgültig sein."

"Pff!", hatte Alex gemacht, "Ich hab bloß was Besseres zu tun, als in einem Gefangenentransport mitzufahren! Ich verlasse Titania auf eigene Faust. Schon vergessen, Craylo? Garang 'Schwarzbart' Emm, der Sündedämon, wartet auf uns! Oder hast du das zehn-Silbermünzen-Kopfgeld vergessen?" Craylo hatte nur tief geseufzt und sich Alex' Willen unterworfen. Der anschließende Abschied war knapp und unspektakulär verlaufen.

"Ich kann's kaum erwarten, mal wieder nach Seestfor zu kommen!", hatte Alex bloß gelacht. "Kleiner, wenn du da jemals hinkommst, dann lass es dir mal richtig gut gehen! Du könntest Erholung gebrauchen!"

Der hat vielleicht ne Ahnung.

Kleinverbrecher und bereits länger gesuchte böse Burschen und Frauen haben mit uns die Gefährte geteilt - glücklicherweise entweder in hölzernen Zellen untergebracht oder mit gefesselten Füßen an den Wänden festgekettet. Sie waren Ottonenglorws eigentliche Aufgabe; bis diese Übeltäter den Rest ihrer Strafe im Endziel Klemensbürgen absitzen oder dort an Ort und Stelle hingerichtet werden, hat er dafür sorgen müssen, dass sie die grenzwertigen Verwahrungsbedingungen überlebten.
 

Es war fast nie ruhig, denn irgendein Schreihals fand sich immer, der noch nicht aufgegeben hatte, mit Flüchen auf Cardighna und die Götter irgendetwas an seinem Schicksal zu ändern, während die bereits seelisch gebrochenen unter dem Lärm endgültig die Nerven verloren - ich auch fast bei dem Anblick.

Ich weiß nicht, wie oft ich erwachsene Kerle oder hartgesotten aussehende Mannsweiber in klägliche Heulkrämpfe ausbrechen und sich selbst einnässen gesehen habe, bis wir endlich ins Klemensbürgen angekommen sind.

Ottonenglorws guckte mich schief an, als ich meinen Unmut bei einer letzten Untersuchung meiner Wunden, die der Mitte-Vierziger auch nebenbei gepflegt hat, erwähnte, und sagte: "Ist's nicht passend, dass solche Drecksäcke, wie sie's sind, so abstoßend weggeführt werden? Immerhin haben sie genug Leuten das Leben schwer gemacht, um selbst mal zu sehen, wie das ist."

"Ich halt's einfach nicht aus zwischen all dem Unrat und wäre gern' irgendwo, wo mir nichtjeden Moment was hochkommt."

"Stell dich mal nicht so mädchenhaft an. Wer so zerschnitten ankommt wie du, hat sich nicht über ein paar stinkende Gerüche aufzuregen!"
 

Noch unfreundlicher begegneten uns bloß die begleitenden Wächter, darunter auch dieser Thioklez, welcher versucht hatte, Ludwig einzufangen, als wir bei Gerdonis gewesen waren.

Thioklez ließ Selet nach einigem Herumdrucksen wissen, dass der Braunhaarige ihm entwischt war, was bloß eine Bestätigung für unsere Hoffnungen war; hatten wir den braun Gebrannten doch nirgends unter den Gefangenen entdecken können.

Am ersten Tag der Reise widmeten wir uns auch meiner Frage, was denn überhaupt ein Mors-Krieger ist. Sira erklärte es uns: "Es kommt alle Jahrzehnte oder sogar bloß Jahrhunderte vor, dass die Sünden eines Sterblichen schwer genug sind, dass sie nicht mehr länger im Lebenskreis bleiben dürfen."

"Das heißt, der Mann ist tot…?", wunderte ich mich da.

"Nein, das habe ich damit nicht gesagt! Sondern nur, dass er nach seinem Tod nicht wiedergeboren werden wird! Bis dahin ist er dazu verdammt, in alle Ewigkeit Dämonen zu jagen." Sie fasste sich an den Kopf. "Jetzt ergibt sein Verhalten auch einen Sinn!"

"Zum Beispiel, dass er nicht wirklich mehr wusste, wie es mit seinem Dorf steht?"

"Nicht nur das… Mors-Krieger altern nicht. Dieser Mann, dem wir begegnet sind, kann gut und gerne so alt sein wie der Umgedrehte König oder sogar älter…" Und ich hab ihn bloß für einen leichten Spinner gehalten - na gut, das hätte ich vermutlich erst recht, wenn er mir gesagt hätte, dass er älter als hundert Jahre sein könnte.

"Verrückte Geschichte…", sagte Selet, "Aber ich habe von ihnen gehört. Ein Ritterorden soll unter diesem Namen in Meskardh residieren. Mein Vater hat mir von ihnen erzählt. Die Zitadelle von Sepromor hieß ihr Sitz, denke ich."

"Sepromor… Sedes Proeliatorum Mortis - Der Sitz der Mors-Krieger.", murmelte Sira. "Ja, jetzt erinnere auch ich mich. Ich habe ebenfalls von dieser Feste im Wüstenmeer gehört. Sie soll genau in Meskardhs Mitte liegen, zwischen den Harpyienstämmen und der Stadt der Ost-Titanen."

Griselda verarbeitete das Gesagte kurz, indem sie wissen wollte: "Heißt das, du hast vor als nächstes nach Meskardh zu gehen, um jemanden wie Ludwig aufzutreiben?"

"Das klingt gar nicht so schlecht. Denn in Titapolis befindet sich zufällig auch noch der Ignis-Krater, wo wir das Wunder des Feuers fänden!" Nervös lachte ich daraufhin und tippte mir mit der Stirn gegen den Kopf.

"Noch mal zu Titanen? Und dies mal sogar zu den Ost-Titanen?! Macht ihr Witze?" Selbst ich mit meiner wenigen Kenntnis der Außenwelt weiß, dass mit Ost-Titanen noch weniger zu spaßen ist als mit den West-Titanen… selbst 'Beidhänder-Ludwig' würde vor denen erzittern, fürchte ich.

Jedenfalls bin ich dafür gewesen, es lieber mit dem Aqua-Nymphaeum zu versuchen, von dem wir ja wenigstens wissen, was das Wunder ist. Obwohl Sira gedehnt seufzte, ließ sie sich überzeugen.

"Er hat schon Recht.", pflichtete Selet bei, "Immerhin lassen Ost-Titanen Außenseiter nicht in ihre Stadt und sagen inzwischen ja, sie gehören nicht mal mehr zum Königreich… genauso wie die Schneeelfen von Frigus-Hehm."
 

III.
 

Am dritten Tag machte ich eine weitere mir weniger geheuere Bekanntschaft. Als ich mir zur Hora Sexta dieses Tages ernst dreinblickend und nur zaghaft mein Mittagessen einverleibte, eine klebrige bittere Paste in weiß bis grauem Farbton, die meiner Meinung nach niemand auf der ganzen Welt 'schmackhaft' nennen könnte, wurde einer der Gefangenen auf mich aufmerksam.

Ich hatte ihn schon vorher bemerkt, denn selten sieht man einen, dessen Haar so feuerrot und hochstehend ist wie eine Tanne. Seine Frisur war fast doppelt so groß wie sein ganzer Kopf! Er hatte einen unfreundlichen Blick, den ich in letzter Zeit auch geübt habe, wenn ich mit Ottonenglorws oder den Wächtern gesprochen habe.

Grade eben erst hatte ich wieder eine kleine Diskussion mit Thioklez geführt, ob wir wirklich alle diese Pampe essen mussten. Natürlich war ich damit nicht weiter gekommen, doch der Mann in der Zelle meinte: "Wenn's Euer Hochwohlgeboren nicht mundet, lasst's rüberwachsen, ich ess' es gern!"

"Ich glaub, mehr als eine Schüssel pro Mahlzeit sollte man davon nicht runterwürgen, sonst kommt's alles zusammen wieder hoch.", erwiderte ich und löffelte lustlos weiter.

"Lieber irgendwas im Magen als gar nichts!", entgegnete der Stachelkopf wütend. "Was bist du überhaupt für ein Pimpf?", wollte er dann wissen.

"Ich wüsste nicht, was dich das angeht."

"Du gehörst nicht zu diesen Wachen, das weiß ich schon mal.", stellte der Rothaarige fest, während ich mich schon umdrehte. "Und wenn ich so hör', was du mit dem Rest deines kleinen Vereins beredest, glaub ich auch nicht, dass du 'n Reisender bist, der die falsche Kutsche bestiegen hat."

"Was willst du damit sagen?" Ich hatte mich ihm wieder zugewandt. Der Stachelkopf lächelte, "Ich glaub', wir zwei beide sollten uns mal über Dinge unterhalten, gegen die solche Mors-Krieger Bagatellen sind."

Er senkte seine Stimme mit hämisch verzogenem Grinsen. "Was weißt du über das Zwifratzjuwel?"

"… Ich hab nicht im Geringsten Ahnung, wovon du redest." Und das war nichts als die blanke Wahrheit. Die Zwifratzmaske? Was soll das denn sein? Und was um des Impristinums Willen hat das mit Mors-Kriegern, Dämonen, Víly und Wundern zu tun?!

"Verkauf mich nicht für dumm!", blaffte der Gefangene, "Verrat mir, was du weißt, jetzt, sonst wird's dir später leidtun!"

"Oh~, ich hab ja solche Angst!", schauspielerte ich übertrieben. "Zwischen dir und mir sind dicke Gitter, Stachelkopf."

"Ach ja, Zauselbirne?!"

Ein Wächter wurde auf uns aufmerksam und lief herbei, um brüllend an den Gitterstäben zu rütteln: "Zurück an die Wand, du Missgeburt! Los, weg von ihm, du Stück Scheiße!" Prompt wich der rothaarige Mann zurück, aber auch ich, der fast das Gefühl hatte, die Warnung gelte auch mir.

Doch der Titan redete erst mit mir, nachdem er sich umgedreht hatte: "Bleib weg von denen, hörst du, Üppchen? Der Doktor hat dich erst zusammengeflickt, also mach dir nicht noch Feinde!"

"J- ja…! Ich hab's ja begriffen!"

Der Wächter war noch nicht fertig. "Sei besonders vorsichtig mit dem Kerl! Er könnte ein Magier sein nach dem, was wir gehört haben! Da können die Gitterstäbe schon mal nutzlos sein." Dass auf diese Aussage hin ein dreckiges Lachen folgte, gefiel mir überhaupt nicht.

Der Stachelkopf grinste auch in sich hinein und ließ mich nicht aus den Augen - auch nicht, als ich aufstand und den Ort meines Mahles verlegte. Ich konnte an seinen Armen sehen, wie ich eine Gänsehaut bekam, da meinte ich, ganz leise eine Drohung zu hören: "Nicht lange und ich werd' hier draußen sein…"
 

IV.
 

Doch nun, am vierten Abend seit unserer Abreise sind wir schließlich angekommen in Klemensbürgen, einer Ortschaft, die es wohl nur knapp geschafft hat, dem Titel 'Stadt' gerecht zu werden. Auf weiten Flächen innerhalb der doppelten Palisade ist die Landschaft noch unbebaut oder von schlichten Holzhütten geprägt. Das Steinpflaster ist noch nicht vervollständigt, ganze Viertel bestehen noch aus Holzgerüsten und ausgehobenen Lehmgruben, die wohl eines Tages mal Keller eines kleinen Anwesens sein werden.

Direkt vor dem großen, steinernen Herrenhaus im Südwesten, an welchem der Gefangenentransport Halt gemacht hat, fließt der Wolpartartn unter einer breiten Steinbrücke hindurch, deren Balustraden von steinernen Fabelwesen gekrönt sind. Im Abendlicht funkelt das Wasser in den frisch gezogenen Gräben bezaubernd und lässt einen denken, der riesige, steinerne Torbogen vor der auf einer Anhöhe errichteten Villa sei die Einfahrt ins Reich der Götter.

Auch auf die anderen schlägt sich gute Stimmung nieder trotz der verzweifelten und hoffnungsleeren Gesichter, die uns hinter Gitterstäben und dem Boden zugewandt umgeben. Ach, aber wir können endlich raus aus diesen miefenden Wägen und sind wieder unsere eigenen Herren!

Bis Sira das Ruder wieder an sich reißen wird…

Während die Gefangenen in Ketten gelegt und in einem langen Zug zur Rückseite des Hauses geführt werden, überreicht Theokliz mir die Zügel meines Pferdes, das man auch in den Zug eingespannt hat. Es ist wie ein perfektes Gemälde, die ehemaligen Feinde vereint in Freundschaft und die Zügel mit fertig gesatteltem Reittier als Zeichen des bevorstehenden Abschieds.

"Und jetzt verschwindet, ich hab euch lange genug ertragen müssen!" Oder so ähnlich…

Keiner lässt sich lange darum bitten, dieser Aufforderung nachzukommen, nur noch ein kurzer Blick zu dem dunkel gebrannten glatzköpfigen Titanen mit schwarzem Vollbart auf der Treppe in einer gelben nietenbesetzten Rüstung und blauem Umhang, dann machen wir uns auf, eine Unterkunft zu finden.
 

Und zu unser aller Glücke - unverhofft aber bloß für die, welche nicht Selet heißen - erweist sich auch die Unterkunftsbeschaffung als ein Leichtes, denn die Hexe hat im Stillen längst Pläne geschmiedet, seitdem ihr der Name des Zielortes bekannt gewesen ist, wie wir erfahren.

Der Empfang im gerade um ein paar Anbauten zu erweiternden Haus der Magiergilde von Klemensbürgen ist warm und herzlich. Nicht nur für die Silberhaarige hat Rheomin, der Gildenmeister, eine Umarmung übrig, auch wenn sich mir fast das Gesicht zusammenzieht, als ich die Titanenmenge Parfüm rieche, die der überaus prächtig mit Geschmeiden und goldenen Ringen ausgestattete Mann aufgetragen hat. Da hat nicht nur die Brokatrobe ein paar Silbermünzen verschlungen.

"Mein Onkel würde wohl sagen, dass Mors' Schicksalsmetze gute Arbeit geleistet haben!", ruft ein tonfarbener Zwerg aus einer Ecke der mit edlen Dielen ausgelegten Eingangshalle, deren Vielzahl an langen Tischen und Hockern und geschwungen gearbeitetes Rednerpult offenbaren, dass hier wohl auch Versammlungen der Gilde stattfinden. "Ist gut, dich wiederzusehen, Griselda!"

Der für einen Zwerg wenig beleibte Mann, der seinen Bart zu einer dünnen Flechte aus schwarzem, gekrümmten Haar gestutzt hat, steht von seinem einsamen Platz auf und geht zu uns. Ausgesprochen still beäugt Rio ihn kritisch.

"Hallo, Jallom!"

"Und die zwei da? In so wenig Wochen gleich zwei Freunde gefunden?"

"Ach, Quatsch! Wir sind uns nur zufällig begegnet und reisen seitdem zusammen!", kichert Selet.

Rheomin lächelt: "Das sind uns willkommene Gäste! Ihr habt gut auf meine Schülerin aufgepasst, wie ich sehe!"

"Das ist doch selbstverständlich!", sage ich. Rio hingegen schaut mit bitterer Miene weg. Irgendwas scheint ihn seit unserer Reise unter den Gefangenen verdrießlich zu stimmen. Er ist wortkarger als sonst, fasst sich so kurz wie möglich und schläft schlecht, hat Selet erzählt. Aber so verschlossen, wie er ist, frage ich ihn lieber nicht danach - das wäre Garts Art, mit der Tür ins Haus zu fallen.

"Dann stell' sie uns doch mal vor, die zwei Brüder!", fordert Jallom.

"Brüder?", fragen Rio und ich wie aus einem Mund. Ich sage sogar noch spaßeshalber: "Als Schmiede sollt ihr ziemlich gut sein, aber mit den Augen habt ihr's nicht so, oder?"

"Höhö! Wenn du wüsstest, was Leute wie mein Großvater Chalmaran geschmiedet haben! Da kann's mir egal sein, ob ich mal etwas über's Ziel hinausschieße. Na ja, nichts für ungut - von hier unten seht ihr Spitzohren euch halt so ähnlich!"

"Wenn jemand Maljus auch nur im Geringsten ähnlich sehe…", erklärt Selet, "… dann vielleicht Alex, der auch mit uns gereist ist!"

Irgendwie mag ich den Zwerg. Obwohl er sich mit der reichlich unzwergischen Kunst des Zauberwebens befasst, erkenne ich in ihm dennoch die in zahlreichen Büchern beurkundeten Eigenschaften eines waschechten Kriegers der Steine: Ehrlichkeit, angenehme Schlichtheit im Umgang mit anderen und ein kräftiger Bart statt Etikette. Selbst eine obligatorische Streitaxt erkenne ich am Gürtel von Jalloms Lederrüstung.

"Gut, da wir uns dann ja alle kennen…", ergreift Rheomin wieder das Wort, "… biete ich euch allen an, euch an unserer vollen Speisekammer zu bedienen." Das klingt auch wunderbar nach dieser Pampe auf der Fahrt. "Und später zeige ich euch dann die Zimmer. Lomina, Ville und Xaoli sind seit wenigen Tagen außer Haus, im Süden helfen sie den Arbeitern im Auftrage der Stadt, mehr Holz zu fördern. Und unsere besten Eismagier Helga, Perwanus, Lombarth und Erik sind im Steinbruch mit Sprengen beschäftigt. Wie ihr ja seht ist Klemensbürgen im Bauwahn … und auch ich hab mich in diesen geldbringenden Zeiten dazu verleiten lassen, unserem Haus ein paar neue Kammern zu spendieren. Nach all den Jahren scheint die Miliz endlich die Grenzen gefestigt zu haben. Und selbst die Ungesühnte Armee soll schon lange nicht mehr gesehen worden sein. Gute Zeiten, um eine große Stadt zu errichten."

"Gut genug, dass ich mich noch mal beim Met bedien', wenn ich denn darf! Immerhin bin ich heut' erst wieder zurückgekehrt vom Bau!", johlt Jalom.

Rheomin nickt ihm zu und der Zwerg entfernt sich.

Nachdem der Zwerg den Raum verlassen hat, wechselt der Gildenmeister einen ernsten Blick mit Selet, die kurz die Augen schließt und den Kopf dezent senkt. Ein Seufzen verlässt die Lippen des Gildenmeisters.

"Jalloms Onkel hätte ganz Recht… die Schicksalsmetze meinen es gut mit Euch, Selet.", sagt Rheomin, die Schultern senkend. Ich habe gar nicht gesehen, wie angespannt der dünne Herr unter seiner langen, bunten Robe gewesen sein muss. "Ich habe gelogen. Die Zeiten sind gar nicht so gut, wie man denkt. Die Stille ist trügerisch, was die Dämonen angeht…"

"Sprecht Ihr von der Ungesühnten Armee?" Junge Erinnerungen stoßen mir sauer auf, wenn ich bloß an Dämonen denke. Ich sehe kurz Ventosus und Echidna gackernd nebeneinander stehen und auf mich herabschauen. "Denn wir hatten jetzt schon genug Ärger mit nur einem Dämonen auf einmal!"

Ich atme heftig und stammle entsetzt "… Tut… tut mir leid.", als mir bewusst wird, wie ich den Magier angefahren habe. Ich muss selbst wie ein Dämon gewirkt haben, wenn ich so ausraste!

Rheomins anfangs erschrockener Blick wird ernster, aber er klingt nicht erbost: "Dann ist es nur gut, dass ich Gerüchte aufgeschnappt habe. Ein Heer von Sündern samt Dämonen soll durch Rosetum-Rubicundum ziehen. Ardnas haben sie hinter sich gelassen und das scheinbar, ohne wirklich aufzufallen… einzig und allein ein kleines Dorf ist angegriffen worden, sagt man. Auch der Consultor Majoris von Klemensbürgen, Herzog Kyotin III., ist beunruhigt deswegen."

"Muss er denn Angst haben, dass die Stadtwache mit den Dämonen nicht fertig würde?"

"Das ist nicht sicher… ich fürchte, Kyotin ist bereits verängstigt, weil auch nur die Möglichkeit besteht, dass die Dämonen einfallen werden, denn-"

Just in diesem Moment trifft Jallom fröhlich pfeifend wieder ein; bewaffnet mit einem randvoll gefüllten Krug Met - wobei dieser Zustand auch nur von kurzer Dauer ist. Er 'nippt' bereits wieder.

"Steht ihr da immer noch rum? Na los, setzt euch doch, im Sitzen plaudert sich's gemütlicher!", lädt der Zwerg uns ein und schwingt sich auf eine Bank. Zaghaft lassen wir uns gegenüber von ihm nieder. "Da fällt mir ein, wie lang gedenkt ihr eigentlich zu bleiben?"

"Nun, ich fürchte, viel Zeit werden wir nicht haben. Wir haben dringende Termine.", entschuldigt Selet ganz in ihrer schüchternen Griselda-Rolle.

Rheomin setzt sich ebenfalls zu uns und bedauert: "Könnt ihr nicht etwas bleiben?" Eine gewisse Víla würde jetzt am liebsten aufschreien, wie mir meine Nackenhaare erzählen. "Vor kurzem hat mich nämlich ein Brief erreicht. Deine Tante möchte hierherkommen, Griselda."

Von einer Sekunde auf die andere leuchten Selets braune Augen geradezu. Sie kann es kaum fassen: "Wirklich? Tantchen Flera reist hierher?!" Rheomin nickt mit breitem Grinsen. "Sie wollte sich eigentlich nur erkundigen, wie es dir geht, aber das geht noch besser, wenn du selber hier bist, denke ich."

"Oh, dann muss ich wirklich noch ein mal nachdenken. Komm, Maljus!" Was hat das mit mir zu-?! Schon schleift sie mich an beiden Armen nach draußen vor die Tür des Gildenhauses, während Jallom herzhaft lacht und irgendeinen Spruch über meine angeblich hochrote Birne loslässt. Was denkt der denn?!
 

Es dämmert bereits draußen. Als hätten die Mädels jetzt schon eine geheime Zeichensprache entwickelt, erscheint Sira prompt, da wir auf der dunklen Straße stehen.

"Nachtigall, ich hör dir trapsen!"

"Och bitte, Sira, können wir nicht ein, zwei Tage länger bleiben?" Selet setzt einen richtigen Schmollmund auf, bei der auch ihr nie etwas abschlagen würde. Ist das jetzt noch Teil ihrer Rolle als Hexe?

"Ist diese Flera wirklich deine Tante?", frage ich verdutzt. Das müsste ja heißen, sie wäre irgendwie mit der Königsfamilie verwandt. Aber das ist doch viel zu auffällig, wenn jeder im Prinzip weiß, dass die Hexe Griselda Verbindungen zum regierenden Stand hat!

Selet schüttelt ihren Kopf und kichert. Sie erklärt: "Mitnichten, Flera ist nicht meine Tante! Aber sie ist meine Zofe und auch ein bisschen sowas wie eine Ersatzmutter… nun ja, meine Mutter ist schließlich schon lange tot." Bedrückt schaut sie auf den Boden und Sira fasst sich kopfschüttelnd an die Stirn. Nach einigen unruhigen Blicken zu mir, auf den ich mit einem unsicheren Achselzucken antworte, lässt sie sich erweichen und sagt: "Na gut! Du darfst sie sehen! Aber übermorgen reisen wir weiter! Haben wir uns verstanden?"

"Klar und deutlich! Vielen Dank, Sira, das bedeutet mir wirklich viel! Und weißt du, Flera kann ich dann auch erzählen, wer wirklich hinter den Machenschaften am Hofe steckt! Dann sind wir nicht mehr ganz so alleine auf weiter Front!"

"Wenn sie Geheimnisse behalten kann, soll es mir recht sein." Damit ist die kleine Unterredung auch schon beendet und wir gehen wieder nach drinnen, wo Rheomin und Jallom uns blöd grinsend erwarten.
 

V.
 

Am nächsten Abend erzählt Jallom mir grade stolz von seiner Familie und den vielen Heldentaten, die sie angeblich Jahrhunderte lang erlebt haben. Obwohl das in meinen Ohren nach plumpen Lügen klingt, höre ich interessiert dem gedrungenen Magier zu, denn er versteht sich bestens darauf, seine Sagen auszuschmücken und mich bei Laune zu halten.

Gerade, als er ausschweift, wie sein Urgroßonkel Umpelboer in den Wüsten am Ende der Welt auf Drachenjagd war, höre ich die Eingangstüre klappen. Mit kleinen, schnellen Schritten tippelt eine beleibte Frau herein, die sich samt ihrem roten, schönen Kleid unter einem dunklen Kapuzenmantel verbirgt hält. Erst halte ich sie für Alid und kriege einen Mordsschrecken, da springt Selet von ihrem Platz neben Rio auf und rennt zu der Dame, die ihre Haare streng unter ein seidenes Kopftuch gebunden hat. Selet fällt fast auf die Knie, die beiden sich in die Arme und Freudentränen werden von beiden Frauen geweint, als die vor Staunen groß gewordenen Augen der untersetzten Zofe vor Glück glänzen.

"Tantchen Flera!"

"S-" Im letzten Moment korrigiert sie sich. "Griselda, bist du's wirklich?!"

"Ja, ich bin's! Tantchen Flera, ich hab dich so vermisst!" Selet drückt die Frau fester an sich, deren von Elfenblut stammenden spitzen Ohren erregt wackeln.

Jallom steht auf und geht zu den beiden, um 'Tantchen Flera' mit einem gut gemeinten Nicken zu begrüßen. Er sagt: "Potzblitz, wenn man euch sieht, möchte man auch vor Freude weinen!" Doch die zwei nehmen kaum Notiz von ihm.

"Griselda, bin ich vielleicht froh, dass es dir gut geht!" Auf Jallom mag sie vielleicht bloß unheimlich froh über das Wiedersehen wirken, aber mit etwas tieferem Wissen um Selets wahre Identität, wie ich es besitze, kann man die große Erleichterung raushören - aber selbst so klingt Flera mir doch etwas zu aufgeregt und verwundert. Warum wittere ich bloß wieder irgendetwas Schlechtes…?

"Willst du nicht vielleicht auf eines der Zimmer und dich von der Reise erholen? Meister Rheomin überlässt dir sicher eines!"

"Danke, danke, Liebes, aber ich habe bereits eine Unterkunft hier.", lehnt Flera schmunzelnd ab. "Aber vielleicht solltest du mich trotzdem ein wenig herumführen. Ich würde gerne mal sehen, wie es hier so aussieht. Hier, wo du dich hast ausbilden lassen."

"Selbstverständlich, Tantchen Flera!" Selet schaut mich an. "Maljus, kommst du mit?"

"Öh… ja, meinetwegen!" Komisch, was soll ich denn dabei?

Aber andererseits ist es besser, ich gebe Jallom etwas Zeit, sich noch mehr Geschichten einfallen zu lassen. Und ich muss auch nicht die ganze Zeit Rios durchdringenden Blick auf mir spüren. Der Dunkelelf hat mich heute kaum aus den Augen gelassen, was mir allmählich unheimlich wird. Auch Flera entkommt seinem Wachhundsblick nicht und guckt viel mehr ihn verwundert und befremdet an als mich. Ich stehe auf und schiebe mich in ihr Blickfeld, um sie von ihm abzulenken.

"Guten Tag, ich bin Maljus.", stelle ich mich vor und reiche ihr die Hand, die sie mir fast zerdrückt. Boah, was hat die denn für einen Händedruck drauf?!

"Freut mich, ich heiße Flera, wie du wohl schon weißt… obwohl man mich meistens bloß 'Tantchen Flera' nennt." Sie streichelt Selet lachend den Kopf und lässt sich von uns aus der Halle dirigieren.
 

Auf den Gängen im Obergeschoss des Gildenhauses ist es noch stiller als im Versammlungsraum, wo neben Rio und Jallom bloß zwei sehr müde dreinblickende Magier ausprobieren, wie weit man eine einzige Partie Yömigä in die Länge ziehen kann. Entlang der Schlafstuben strömt durch mehrere Deckenluken Luft und Licht herein und verziert die Wände mit Streifenmustern aus Dunkelheit und Sonnenschein.

Verschwörerisch fragt Flera: "Und wer genau bist du nun, Maljus?"

"Er ist eingeweiht, Tantchen.", antwortet Selet für mich, "Du brauchst mich auch nicht 'Griselda' nennen, wenn er da ist… und Sira vermutlich auch, oder?"

"Ich komm ja schon, ich komm ja schon…", tönt es lustlos hinter meinem Hals und Sira quält sich zermürbt hervor. Sie und Flera mustern sich eindringlich, bis sich das feiste Gesicht der Halbelfe ein wenig lichtet. Trotzdem behält sie ihre Brauen gesenkt, als sie wieder zu Selet guckt: "Warum hast du sie eingeweiht?"

"Sie sind meine Verbündeten! Stell dir vor, Tantchen Flera, wir konnten herausfinden, wer am Hofe Dreck am Stecken hat! Er plant sogar, einen uralten Dämon heraufzubeschwören und hat Siras Stätte deswegen überfallen lassen!"

"Durchaus, gnädige Frau.", bestätigt die Víla, "Der Schuft hat unverzeihliche Dinge angerichtet, weswegen wir nun eine heilige Klinge weihen müssen. Die Dinge stehen laut meiner Einschätzung sehr schlecht." So, so, sie kann sich also auch etwas zurückhaltender ausdrücken - aber nichtsdestotrotz redet sie wieder so, als seien wir noch ganz am Anfang unserer Mission.

Flera indes macht ein sehr erstauntes Gesicht und raunt: "Ach wirklich? Um des Impristinums Willen, das ist ja schrecklich!" Selet wird von ihren dunklen Augen im Schatten des Mantels angesehen. Nicht nur der Schrecken über die drohende Enthüllung des Unfriedenstifters stechen daraus hervor. "Selet, ich hatte bereits einen riesigen Schrecken gekriegt, als ich dich bloß gesehen habe!"

"… Wieso das denn?", will Selet völlig vom Hocker wissen.

"Na… na, du bist doch angegriffen worden! Vor wenigen Tagen in Titania!"

"Tantchen Flera, das war ich nicht! Das war ein Spiegeldämon, der meine Gestalt angenommen hatte! Dyonix hat ihn geschickt, um seine Machenschaften nicht zu gefährden!"

"Dy- Dyonix?! Kind, bist du von Sinnen?! Der Consultor Maximus ist der Schuldige…?!"

"Wenn ich mich mal einmischen dürfte…", fange ich an, die Zofe etwas mehr ins Bild zu rücken, "… wir haben ihn belauschen können. Es besteht kein Zweifel, dass der Premierminister dahinter steckt." Flera bekommt ihren Mund gar nicht mehr zu vor Staunen. Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und murmelt nur immer "Terra, Terra, Terra… das ist nicht gut." oder "Was mache ich nun bloß…?"

"Was hast du denn, Tantchen Flera?"

"Das darf nicht wahr sein… was wurde bloß getan, dass Mors uns so übel mitspielt?!"

Weil mir diese Verwirrung langsam über den Kopf wächst, bitte ich direkt: "Könntet Ihr etwas deutlicher werden?"

"Was denkt ihr, wie ich überhaupt hierher gekommen bin? Ich bin nichts weiter als Zofe und Köchin!" Sie atmet tief durch und sammelt sich zuerst. "Kyotin, der Herr dieser Stadt, hat nach deinem Vater verlangt, Selet. Und weil er sowieso vor hatte, sofort nach Titania zu reisen, als wir von der Tragödie gehört haben, hat er stattdessen seinen Stellvertreter geschickt." Ich mag überhaupt nicht, wonach das klingt! "Dyonix ist hier! Direkt in Klemensbürgen!"

Wie besessen wirble ich augenblicklich herum und bin kurz davor, mit gezogener Klinge aus dem Haus zu stürzen. Dieser verdammte Bastard ist hier! Er ist schon wieder zum Greifen nahe! Und dies mal darf ich nicht versäumen, diesen Scharlatan eines Ministers zu bestrafen und Rache walten zu lassen für das, was er mir - was er uns allenangetan hat! Er soll bezahlen! Er-

"Du wirst jetzt nirgends hingehen." Ich erschrecke ob der Kälte von Fleras zischender Stimme, als mich die Hünin fast schon anspringt und meinen Kopf in ihre Armbeuge klemmt. Oh Hilfe, ich glaube, ich ersticke! Wie wild reiben ihre harten Knöchel auf meinem Kopf, bis ich glaube, zu kochen. "Was du vorhast, ist unüberlegt, Junge! Und so ein rauer Starrkopf ist mit meiner kleinen Selet gereist?! Untragbar!"

"Äh, Tantchen Flera, bitte lass ihn noch ganz, ja~?"

"Werde ich schon, Selet. Aber so eine Lektion muss sitzen, das hast du doch oft genug gelernt!" In jeder Situation, wo mein Kopf nicht grade wie mit einem Hobel behandelt würde, hätte ich über die versteckten Andeutungen wohl lachen können. Jetzt aber wünschte ich mir fast, dass statt Flery Alid mich für meine Flucht aus Welsdorf maßregeln würde.

"Ich denke, die Lektion sitzt besser als alles, was ich diesem Dickschädel versucht habe, einzutrichtern."

"Vielen Dank, Sira…!", presse ich hinter fest aufeinanderruhenden Zähnen hervor, "Ich hab dich auch lieb…!"

Endlich lässt mich Selets Zofe gehen. Mir ist vielleicht schlecht - so ein Monster einer Ziehmutter!

Flera meint: "So, das dürfte dir eine Lehre sein! Sich in einen offenen Kampf mit Dyonix zu wagen, ist Selbstmord, hörst du? Nicht allein hat er seine eigene Leibgarde, sondern genießt auch noch den Schutz von Kyotins angeheuerten Söldnern!"

"Ja doch…"

"Und überhaupt… wer soll denn auf meine kleine Selet aufpassen, wenn du nicht da bist?!" Vom Adoptivsohn zum Prophezeiten und jetzt zur Leibgarde der Prinzessin - da soll mal einer sagen, ich erfülle nicht viele Aufgaben!

"Am liebsten würde ich jetzt sofort aufbrechen…", sagt Sira, "Aber man wird die Stadttore bereits geschlossen haben und wir sitzen für diese Nacht fest - in derselben Stadt wie unsere Nemesis!"

"Dyonix hat doch keine Ahnung, dass wir hier sind!", argumentiert Selet.

"Ach, genauso wie er keine Ahnung hatte, dass wir den Friedhof vom Mons Mortuorum passieren würden?" Selet wird ganz kleinlaut. Sie lässt ihre Schultern hängen und schlägt die Augen nieder.

"Ich denke, wir sollten es gut sein lassen für heute.", schlägt Flera vor.

"Man wird man dich auf Kyotins Anwesen vermissen, Tantchen Flera?"

"Erst in über einer Stunde. Ich habe gesagt, ich würde ein wenig die Stadt besichtigen und mich umhören. Das heißt, etwas Zeit habe ich noch, damit wir uns im Detail austauschen können. Allerdings werde ich früher gehen müssen." Verwundert werfe ich ein: "Wieso denn?"

"Nun, um mich eben umzuhören. Mit leeren Händen erwartet man mich ja nicht zurück!" Selet registriert es mit genehmigenden Nicken. Sie beschließt: "Lasst uns dann die Zeit nutzen! Denn ich will brennend wissen, wie es zuhause steht!"

"Ohne mich, ich geh schlafen.", sage ich.

"Nun doch alles andere als tatendurstig?", stichelt Sira.

"Hast du ein Gedächtnis wie ein Sieb? Erinnerst du dich noch an das vor zwei Minuten?", zische ich, während Selet und Flera belustigt kichern. Ein Lächeln weht auch durch meine ernste Miene. "Außerdem will ich morgen ausnahmsweise wach sein, wenn du wieder voller Aufbruchsstimmung sein wirst."

"Oh, ein bisschen Drill tut dir doch ganz gut!", meint Sira, "Aber gut, dann wünsche ich eine gute Nacht und Euch einen sicheren Aufenthalt, Madame Flera. Seid besonders vorsichtig in Anwesenheit dieses Blenders."

"Ihr habt meinen Dank. Ihr alle. Aber versprecht ihr mir genauso, auf euch aufzupassen. Vor allem du, Selet! Verstanden?"

"Wenn das mal keine Selbstverständlichkeit ist, Tantchen Flera!"

Capitulum IX: Seestfor - Hier spielt die Musik!


 

I.
 

Es gab nur wenig Dinge, die Rheomins müden Geist morgens besser belebten als ein warmes Bad. So viel heißes, klares Wasser war immer noch günstiger als die schwarzen eingekerbten Bohnen aus dem heißen Norden. Das Getränk, das man daraus herstellen konnte, wenn man sie röstete und mahlte, sollte wunderbar aufwecken - zumindest die glücklichen Bauern aus dem Norden und die Kaufleute und Adeligen, die das nötige Kleingeld hatten.

Wohlig dahinschmelzend streckte Rheomin sich im Wasser und stellte sich vor, in den Meeren dahinzutreiben, auf den Wellen vor Cironetia. Obgleich er schon wach war, träumte er… vom Rauschen der Wellen, von zarten Nymphen und Albaefrauen, die das Wasser mit ihm teilten, von einem anschließenden Besuch in der berüchtigten Stadt Las Xertos, wo nun nicht mehr Kaiser und Kaiserinnen, sondern Glücksspiel und Intrige herrschten. Inmitten der Stadt, wo die Festung auf den vier größten Hügeln stand, gab er sich im Ballsaal dem Tanze hin und probierte mit flüssigen Bewegungen, den Deckenstuck und die leuchtenden Fresken nichtig gegen seine Erscheinung aussehen zu lassen.

Doch was war das? Die Dame, der er seine Tanzkunst preisgab, hielt ihren Fächer in der Linken… sie drehte ihn herum. Was für ein Schock, eben hatte sie noch so glücklich ausgesehen, doch auch in ihren Augen las der gewandte Rheomin die Worte: "Verschwindet!"

Das Klopfen an der Tür des Bades riss ihn aus seinen Tagträumen.

"Verzeihung, aber hier ist besetzt!", rief der Gildenmeister überrascht, aber entschieden.

"Meister Rheomin, habt Ihr den Burschen gesehen?", rief Jallom von der anderen Seite der Tür. Rheomin runzelte die Stirn und fragte zurück: "Welchen Burschen?"

"Na, das Spitzohr halt! Diesen Maljus! Er ist weg!"

Ja, selbst das Getränk aus den nördlichen Gefilden hätte nicht die Kraft gehabt, Rheomin so eiskalt wach zu kriegen. Er sprang beinahe auf in seiner Wanne, stieg sofort aus dem Wasser und schwang sich ein Handtuch um die Hüften.

"Seit wann?", fragte er bloß, nachdem er die Tür aufgerissen hatte und auf den Zwergen hinunterblickte. Der erwiderte mit energischen Schulterzucken: "Ja, wann wohl? Letzte Nacht, wenn ich im Rausch nicht über einen Tag lang dem Kopfkissen gelauscht habe!"

"Das hast du nicht. Sicher, dass er weg ist?"

"Griselda hat das gesagt! Im Zimmer haben wir nichts gefunden außer seinem Schwert!"

"Was, wenn er bloß in der Stadt ist?"

"Die anderen suchen ihn schon. Aber irgendwie glauben sie das nicht so recht." Rheomin fasste sich an seine nasse Stirn, wobei kleine Wassertropfen aus seinen ungetrockneten Haaren fielen und den Boden benetzten wie dicke Tränen.

Nach einer Weile beschloss der Gildenmeister, sich gar fertig zu machen und dann bei der Suche zu helfen, wenn die anderen noch nicht zurückgekehrt sein würden.

"Habt ihr schon mit dem Rest der Gilde gesprochen?"

"Nein, noch nicht."

"Dann wird das jetzt deine Aufgabe, Jallom! Los, Griselda wird es dir danken!"
 

Als Selet mit Rio, aber keinen erfreulichen Neuigkeiten zurückkehrte, hatte auch der Zwerg wenig Gutes zu berichten. Jallom und Rheomin hatten die Augen niedergeschlagen, sobald sie auch nur die Eingangspforte klicken hörten.

"Ich hab die andern Magier gefragt, ob sie was gesehen haben.", fing Jallom niedergeschlagen an, "Polz, der Nymph, hat was bemerkt letzte Nacht. Du weißt ja, wie schlecht er jede Nacht schlafen kann."

"Was hat er bemerkt?", drängte Selet. Sie bereitete sich auf alles Mögliche vor, um die schlechte Botschaft mit all ihrer Fassung zu tragen. Jallom redete etwas um den heißen Brei herum, bis er offenbarte: "Na ja… er hat mitbekommen, wie jemand das Haus verlassen hat. Er hat durch den Türspalt auf den Gang gespäht und irgendjemand Kleinen mit spitzen Ohren schleichen sehen." Selet war doch nicht bereit gewesen, sie spürte ihre Knie weich werden und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Wie konnte das denn passieren?! Warum war Maljus denn weg?!

Und zu allem Überfluss fehlte Sira auch, aber das erzählte sie den Magiern natürlich nicht. Bloß Rio wusste es. Auf ihm lagen Selets glasige Augen.

Dann plötzlich hatte sie eine Frage an den Gelbäugigen: "Rio… warst es nicht vielleicht du, den Polz gesehen hat? Dann hat er vielleicht nicht wirklich gesehen, was mit Maljus geschehen ist!" Trocken und tonlos lachte der Alba Occulta auf diese Frage. Fast schon entrüstet entgegnete Rio: "Was hätte ich zu dieser späten Stunde zu schaffen gehabt, Meisterin Griselda? Außerdem sagte der Nymph, es sei ein kleiner Elf gewesen. Der einzige Alba von geringer Körpergröße, den ich hier gesehen habe, ist Maljus."

"Wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, dass Maljus wohl nicht mehr in Klemensbürgen ist." Jeder wusste, dass Rheomin damit richtig lag. Aber er war der einzige, der gewagt hatte, es so entschieden zu sagen. "Und je länger wir hier tatenlos bleiben, desto ferner wird der Junge, wohin auch immer es ihn verschlagen hat, sein!"
 

II.
 

Majestätisch erhebt sich das Krähen eines Hahnes aus dem zunehmenden Gemurmel und weckt mich in Begleitung des schneidenden, kalten Morgenwindes. Inmitten des schweißgeruchverhangenen Planenwagen, auf dem Holzboden in eine kratzige, fleckige Decke gehüllt, öffne ich schlaftrunken meine noch trüben Augen. Eine Erschütterung geht durch die Planken, als jemand sich aus der Hängematte über mir schwingt und mit seinen unangenehm riechenden Füßen dicht vor meinem Gesicht landet. Sein knapper Gruß, ehe er den Wagen verlässt, geht im Gähnen rundherum fast unter. Als der Kerl die Plane öffnet, kitzeln mich die hereinfallenden Sonnenstrahlen in der Nase.

"Jeden Morgen auf ein Neues…", seufze ich mit noch rauer Stimme, wobei ich mich kratze und daran mache, aus der Decke zu schlüpfen. Nur in dürftiger Unterbekleidung taumle ich durch das düstere Gefährt. Ich bin sehr bedacht darauf, keinem der anderen auf das Gesicht oder den Bauch zu steigen, geschweigedenn über kraftlos voneinander gestreckte Gliedmaßen zu stolpern.

Nicht in der Stimmung, jemanden nach den wilden Träumen der letzten Nacht im wackelnden Wagen zu grüßen, finde ich, was ich jeden Morgen suche: die große Truhe, die wohl drei mal so alt ist wie ich selber. Ohne Weiteres stoße ich sie auf und krame in dem Kleiderhaufen darin, bis ich meine eigenen Sachen finde. Zumindest ist anzunehmen, dass das meine sind, die Größe stimmt, aber ich bin ja nicht der einzige dieser - wie Dirk, der Anführer, es nennt - mickrigen Gewichtsklasse.

Ich ärgere mich leise über den Ruß auf meiner Weste, der bloß von den Feuerspuckern stammen kann, und kleide mich an. Eine kurze, dünne Hose in dunklem Farbston, fest verschnürt mit einer feuerroten Schärpe, schnell noch ein einst weißes Hemd hineingestopft und darüber die Weste gelegt, die ich nie zuknöpfe - es fehlen ja sowieso fast alle dafür erforderlichen Knöpfe -, dann kann ich mir auch schon mein Bandane überstreifen und prüfen, ob die vereinzelten, hauchdünnen Flechtzöpfe in meinen Haarsträhnen ordentlich sind. Kaum getan, torkle ich langsam wach werdend nach draußen.
 

Ja, das Lager ist schon lange nichts Neues mehr für mich, egal, ob es nun auf einem Hügel liegt, oder in einem Tal - oder eben im Flachland vor Seestfor, wie jetzt, nach einigen Tagen Fahrt durch Berg- und Hügelland.

Es ist doch immer derselbe Aufbau: Kreisförmig scharen sich die robusten Wagen unseres bunt gemischten Gauklerhaufens um eine große Feuerstelle, die inzwischen erloschen ist, und wie immer ist der Wagen von uns Jungs neben dem von Dirk, der trotz der schlichten, hellen Plane an ein richtiges Häuschen auf Rädern erinnert.

Die Gäule, die unsere Wagen gezogen haben, stehen mit dem Schweif um sich schlagend an der Tränke, die nahe des Wagens der Mädels und fast direkt gegenüber von Dirks steht. Die jungen Damen sind auch schon fast alle draußen versammelt, bürsten und schmücken sich gegenseitig das Haar. Manche von ihnen sind in rüschenbesetzte Kleider gepackt, die sich eng an ihre Körper schmiegen, andere - vorwiegend die Tänzerinnen - tragen wie immer ihre knappen, fast nur aus zwei langen, in sich verschlungenen, leuchtenden Tüchern bestehenden Gewandungen. Die nackten, zarten Gliedmaßen, von prallem Busen und hübschem Unterleib nur das Nötigste bedeckt, machen die verführerischen Damen unverkennbar. Ein paar dekorative Fransen und etwas Schmuck wie Armreife oder Ketten sind die einzige Ergänzung ihrer Kleider, auch die Füße sind blank und alle Mäntel, die es im Gauklerlager gibt, sind stets für diese Mädchen gebucht.

Auch an diesem Morgen rüttelt mich dieser Anblick wach. Das macht ja jeder Harpyie Konkurrenz! Das Weibsvolk wirft mir schon kichernd und neckend Kusshände zu, bevor es von einer der älteren Frauen mit den zerfurchten Gesichtern und faltigen Händen zurück zur Arbeit beordert wird. Ich spüre meine Wangen glühen und entscheide lieber, aus dem Kreis der Wagen zu entschwinden - besser ich erledige andere Sachen, anstatt zu gaffen!
 

Sobald ich etwas weiter weg das niederschlagsarme Land bewässert habe, kehre ich zurück, schwatze ein wenig mit Kal'Poh, dem Messerschlucker aus dem Osten, und Gregor, dem Gnom, und mache mich dann ans Üben für die Vorstellung. Gegen Abend muss das Volk bei Laune gehalten - und viel wichtiger, wie Dirks Weisheiten es besagen, Geld verdient - werden. Damit das auch klappt, macht man sich früh ans Proben, das Frühstück wird dafür einfach und kurz gehalten, geht für die meisten von uns oft nicht über ein dünn belegtes Brot hinaus.

Ich gehöre zu den Musikern. Genauer gesagt, spiele ich die Schalmey. Etwas fernab hocke ich mich mit dem hageren, dunkelhaarigen Petrus. Wie immer trägt er seinen Strohhut auf dem Kopf und den Zwicker auf der Nase, während er summend in die Saiten seiner Gitarre haut. Wir haben schon oft zusammen geübt, schon seit ich vor Jahren der Gauklertruppe beigetreten bin.

Doch heute scheinen all diese Jahre, die er mich beaufsichtigt und gelehrt hat, verloren, denn kaum ein Ton sitzt und mein Kopf ist leer, was die Handhabung des Instruments angeht. Bin ich denn auf dieser kurzen Reise vom Ardnaser Hochland bis in die Hochebene von Seestfor so eingerostet, weil ich nicht geprobt habe?

"Will wohl nicht so ganz?", lacht Petrus, wobei sein dünner Oberlippenbart in seinem roten, freundlichen Gesicht zuckt, "Schau lieber zu, dass du's bis heut Abend kannst, sonst wird Dirk einen Tobsuchtsanfall haben."

"Bevor ich mir von dem den Hals umdrehen lasse, leg' ich mich lieber ins Zeug!", verspreche ich. Noch ein mal setze ich das flötenähnliche Instrument an die Lippen, doch wieder klingen die Töne schief und dissonant, bis mir schließlich die Puste ausgeht.

"Gleich in aller Früh' solche Katzenmusik, das wird Dirk gar nicht gefallen, wenn er das hört!"

Wir drehen uns herum zum Fuß des kleinen Hügels. Dort steht eine der Tänzerinnen, eine junge Alba, deren knappe Kleidung in grellem Rotrosa gehalten ist. Ihr hüftlanger, blonder Flechtzopf und die Schleppen ihrer Bekleidung wehen wild im Wind.

Mit kecker Verwunderung schaut sie mich aus rosafarbenen Augen an und kichert dann. Belustigt will sie wissen: "Was errötest du denn so, Caemintus? Irgendwas Interessantes gesehen?" Sie neckt mich und ich Idiot kann nicht anders, als geniert nach unten zu glotzen. Fehlt nur noch, dass sie mir durch meine Haare fährt, oder mich hätschelt.

"Q- quatsch, Tina! Ich hab's bloß nicht gern, wenn ich so beim Üben gestört werde!" Es klingt gesprochen abweisender als gedacht. Tina zieht eine beleidigte Schnute und zuckt mit den Achseln.

"Na, dann lass ich euch zwei wieder allein. Aber übt dann auch, ich möchte nicht erleben, wie Dirk uns alle runterputzt, wenn ihr die Vorstellung vermasselt!" Leichtfüßig läuft sie davon - nachdem sie mir noch kurz zuzwinkert. Tina eben… sie ist schon immer so drauf gewesen, schon seit wir uns vor etlichen Jahren das erste Mal gesehen haben. Sie hat es gern, mich so zu necken und kommt ständig vorbei, um mit mir zu reden. Wir sind beste Freunde, würde ich sagen.

Ich schüttle meinen Kopf, ich kann dafür jetzt nicht meinen Kopf riskieren. Sonst empfiehlt Dirk mich noch für Mors.
 

III.
 

Sie ist noch viel riesiger, als ich sie mir vorgestellt habe: Die große Freiluftbühne auf dem Pälinter Platz. Sie könnte gut und gerne die Hälfte unserer Wagen, sowie all uns Spielleute tragen, ohne dass wir uns nebeneinander quetschen müssten. Der Front eines unvollständigen Palastes mit winzigen Zwiebeltürmen und bunten Erkern gleich kitzelt der Rahmen des noch geschlossenen Vorhangs die finsteren Abendwolken, welche schwarze Wirbel in das orangene Meer des Firmaments schlagen.

Hinter der Bühnenverkleidung befindet sich ein großer Hof, eingeengt von bröckeligen Häuserfassaden und vollgestopft mit Artisten, die noch in letzter Minute zur Ruhe kommen.

Der Feuerspucker Hermann prüft noch ein mal eine Ölvorräte, ein paar Beitänzerinnen schnüren ihre Korsetts enger und die Fechtartisten putzen ihre Klingen ein letztes Mal, während Petrus und die anderen Gitarristen ihre Instrumente stimmen.

Neben mir steht Dirk und räuspert sich mit ernster Miene. Wenn man den rundlichen Zwerg ansieht, denkt man, vor einer Marmorstatue zu stehen. Unter seiner fast schneeweißen Haut zeichnen sich hier und da die Adern blau ab, ein wenig rötlicher sind nur seine dicken Backen und sein riesiger Zinken. Um über seinen krausem, weißen Haarkranz hinwegzutäuschen, trägt er wie immer sein schwarzes Barrett.

Eindringlich gucken mich seine kleinen, fuchsschlauen Augen an.

"Na, fühlst du dich bereit für die erste Vorstellung seit ein paar Tagen?" Nervös nicke ich, aber ich weiß, dass die Lüge nicht besonders gut gespielt ist. Ich hab das Gefühl, noch nie auf einer Bühne gestanden zu haben. Angstvoll und besorgt, weil ich so viele Fehlschläge beim Spiel vorhin hatte, kann ich jenseits des riesigen Vorhanges die gespannte Menge beim Plausch hören. Dieses Stück Stoff ist alles, was sie von uns trennt. Wie viele erwarten uns da draußen? Hundert? Zweihundert? Oder Dirks Glückszahl zweihundertdreiundvierzig?

"Wird schon schiefgehen.", scherzt der Zwerg und streicht noch mal an seinem dünnen Kinnbart entlang. "Falls irgendwas schief läuft, denk einfach daran: orientier dich an Petrus und Jomo, die stehen dir zur Seite. Das Publikum will immerhin ordentlich unterhalten werden und zu hübschen Mädels wie unseren Schönheiten passt immer etwas Musik!"

"Gib dein Bestes, Caemintus!", feuert Tina mich dann auch noch an und schenkt mir ein herzliches Lächeln. Sie ist für die Vorstellung noch extra gepudert worden und im Abendlicht funkelt ihr Schmuck wie helle Sterne. "Wir sind wie eine riesige Familie, wir halten zusammen, und schaukeln das Schiff gemeinsam!"

"Hast ja recht. Ich werd mich ins Zeug legen!" Ich hadere etwas, weil ich noch etwas anfügen möchte. "U- und du auch, ja?"

"Soll ich für dich noch ein bisschen verwegener tanzen?", fragt sie scherzhaft. Oder ist es nicht so schelmisch, wie es klingt? Ich beruhige mich mit ein paar tiefen Luftzügen. Ruhig Blut, nicht zu viel nachdenken.

Dirk gibt jeder Gruppe Gruppe noch ein paar wertvolle Hinweise und ermahnt jeden, sich anzustrengen, ehe er als Erster durch den Vorhang schlüpft, um die erste Attraktion anzukündigen. Ich kann mir nur vorstellen, wie gewaltig die Traube von Zweibeinern ist, vor denen er steht.

"Verehrtes Publikum! Diesen Abend mögen wir uns nicht scheren um schlechtes Wetter, Dämonen und all das Unglück dieser Welt! Legt Euren Kummer und Eure Sorgen ab wie alte Gewänder, lasst Euch von uns entführen in eine Welt des Kuriosen, wo Schönheit und Eleganz Hand in Hand gehen mit atemberaubenden Verrenkungen, den beachtlichsten Balanceakts, die Ihr je gesehen haben werdet, und halsbrecherischen Attraktionen, die Dis Pater Mors geradezu herausfordern - natürlich alles zu Eurer vollsten Zufriedenheit und Unterhaltung unterlegt und begleitet von unserer mannsstarken Musikantentruppe! Die Besten der Besten, wenn es um die Handhabung von Saiten- und Zupfinstrumenten, Trommeln, Akkustgladien, Streichern und Holzbläsern geht!" Dirks mächtige Zwergenstimme überschlägt sich fast und immer ausschweifender werden seine großzügigen Gesten, während mein Herz bis zum Hals schlägt. "Damen und Herren, Buben und Mädchen, heute an diesem Abend habe ich das Vergnügen, sie Euch zu präsentieren: Die einzigartigen Artifices Delectationis Divinae!"

Mit einem Knall und bunten aufstiebenden Wolken, die der Schaualchemist Gregor zu verschulden hat, wird der vordere Vorhang gehoben. Jetzt geht es los! "Und damit soll der Abend begonnen werden!"

Die Tänzerinnen beginnen ihre wilden, verführerischen Bewegungen, wobei Fideln, Flöten und meine Schalmey ihren perfekt abgestimmten, aber chaotisch angeordneten Schrittfolgen und schnellen Radschlägen einen Takt geben, bei denen nicht wenige aus dem Publikum hoffen, sie mögen langsam genug sein, um die verhüllenden Tücher beiseite wehen zu lassen. Die Welt, in die Ringmeister Dirk die Spectatores entführt, ist nunmal eine selig simple.
 

Die Vorführung wird ein großer Erfolg, mit perfekten Überleitungen und blitzschnellem Kostümwechsel vermögen unsere Gaukler, binnen Sekunden ihre Kunststücke nacheinander vorzuzeigen und das Publikum immer wieder aufs Neue zu begeistern. In Seestfor tobt ein Sturmgewitter von Applaus und begeisterten Rufen.

Nach der Vorstellung glänzen Dirks Augen fast selber wie die Bronze-, Silber- und sogar Goldstücke, die er mit Genuss aufeinanderprasseln lässt, um glücklich das Geräusch aufzunehmen.

Ich bin unvorstellbar glücklich dafür, dass wir es geschafft haben - dass ich es auch geschafft habe, obwohl ich damit zu kämpfen habe, nach so vielen Liedern noch Luft zu kriegen. Auf Allegri sind Presti gefolgt, ein aus langen Tönen bestehendes Lento begleitete einen Hochseilakt, ehe wieder Vivaci Moderati überholt haben. So viel in für mich so kurzer Zeit und nur bei Trommelwirbeln oder ganz besonderen Nummern konnte ich mich etwas erholen. Dunkel ist es schon längst, aber für mich ist die Vorstellung wie im Fluge vergangen.

Ein wenig abseits der anderen, die feiernd hinter Dirk, dem König des Abends, durch die Straßen zum Lager ziehen, erhole ich mich von den Anstrengungen. Mich bemerkt nicht wirklich jemand.

Bis dann Tina wieder auftaucht, sich durch die Menge nach hinten schiebt, um zu mir zu gelangen. Ganz verwundert begutachtet sie mich.

"Was machst du denn hier hinten wie das fünfte Rad am Wagen? He, du bist ja richtig am Schnaufen!" Mit Besorgnis positioniert sie sich zu meiner Seite, beugt sich leicht vor und guckt mich schräg von unten an. "Alles in Ordnung, Caemintus?"

"Bei so einem… Programm… komme ich eben ein wenig ins Schwitzen.", keuche ich.

"Tja, Dirk macht eben keine halben Sachen.", lächelt sie charismatisch, "Für morgen denkt er sich bereits wieder einen Ablauf aus!"

"Manchmal glaube ich… dass ich ohne Dirk… ganz schön aufgeschmissen wäre. Ohne alle von euch!" Tina guckt mich merkwürdig an. "Ich meine, wenn ihr mich damals nicht aufgenommen hättet-"

"Ach, du meinst, als wir dich in der Steppe aufgelesen haben? Das… ja, das…" Sie schaut plötzlich weg. Was hat sie denn? "Ja, das war schon eine Riesenportion Glück." Sie druckst herum, sodass ich gar nicht mehr richtig schlau aus ihr werde. "Ich denke, ich sollte noch mal nach den anderen schauen!", erklärt sie da. "A- aber vorher noch eine Frage: Hättest du Lust… also würdest du… morgen mit mir üben? Mich ein wenig mit der Schalmey begleiten, meine ich. Du hast bei der Vorstellung richtig gut gespielt."

"Oh, danke für das Kompliment! Du warst auch fantastisch." Stumm gucken wir beide uns an, hüsteln ein wenig, bis ich endlich realisiere, dass sie mich etwas gefragt hat. "U- und ja, warum nicht? Ich würde gerne helfen.", erwidere ich perplex und schon läuft Tina wie von der Hummel gestochen davon. Was hatte das bitte zu bedeuten?
 

IV.
 

Im Lager steigt eine ausgelassene Fete, als ich als einer der Letzten dort ankomme. Haldfried, der Schwertschlucker, gibt eine Sondervorstellung für die anderen, während unsere 'Feuertänzerin' Irma ihre Sohlen ausgeschweift auf den glühenden Kohlen und zwischen niedrigen Flammen hin und her sausen lässt, ohne dass ihr ausgelassenes Grinsen ins Wanken gerät.

Grade, als ich mich ein wenig zu Petrus und den Akrobaten gesellen will, bemerke ich jemanden hinter mir, der mich verblüfft anguckt. Ein Magier in abgewetzten Sachen und einem spitzen Hut auf den Kopf.

"Maljus…?!", haucht er verwundert. "Du bist's wirklich?!"

"Wer? Ich?", erwidere ich verdutzt.

"Ja… erkennst du mich denn nicht? Ich bin's, Cr-" Der will mich doch über's Ohr hauen, also sage ich entschieden: "Ich hab euch nie gesehen, tut mir leid! Das muss eine Verwechslung sein!"

"Aber-"

Wie aus dem Nichts taucht Dirk auf und stapft zu uns. Auweia, sieht der geladen aus! Er starrt den Magier abschätzig an und fragt bärbeißig: "Was gibt's?! Ist irgendwas?"

"Ach, ich dachte bloß, dass… also-", stammelt der Fremdling.

"Was dachtet Ihr? Na los, seht Ihr nicht, dass wir hier für uns sein wollen?!"

"Ach, guter Mann, ich habe heute nur Eure Vorstellung gesehen! Ihr seid nicht zufällig der Ringmeister dieser fabelhaften Spielleute, oder?"

"Was war das für eine Stimme…?!" Der Magier wird schreckensbleich, da meldet sich noch so eine körperlose Stimme zu Wort: "Oh, ich bin Bauchredner, guter Mann! Und ich würde gerne meine Dienste anbieten, da ich zurzeit ohne Arbeit bin!" Dirk horcht auf und ist plötzlich sehr interessiert an dem eigenartigen Mann. … Der führt ja Dolche mit sich! Wieso denn das?!

Dirk währenddessen knetet seine Unterlippe und möchte erfahren: "Ach? Hm… und wozu dieser Aufzug? Ihr seht eher aus wie ein Magier."

"Oh, ich bin auch Magier!" Dirk runzelt misstrauisch seine Stirn.

"Schaumagier, versteht sich! Für richtige Magie wäre ich viel zu schlecht!", fügt der Mann schnell an, ohne die Lippen zu bewegen. Dafür verzieht er ganz schön das Gesicht. Muss man solche Grimassen schneiden, um ohne Lippen zu reden?

"Interessant - wirklich interessant. Nun, das müsst Ihr mir mal zeigen, mein Herr. Kommt doch bitte zu meinem Wagen, dort können wir in Ruhe alles besprechen und ihr könnt mir ein paar Tricks zeigen." Schon leuchtet in Dirks Augen die Aussicht auf viele weitere Münzen. "Wenn Ihr gut genug seid, könnten wir Euch gleich morgen zur nächsten Vorstellung dem Publikum als neue Attraktion präsentieren! Einen Schaumagier hatten wir schon lange nicht mehr! Und einen Bauchredner schon gleich drei mal nicht!"

Lachend führt er den seltsamen Kauz von dannen, während der sehr nervös drein blickt. Hat wohl jetzt schon Lampenfieber. Was für ein Anfänger!
 

V.
 

Dirk und der seltsame Magier diskutieren noch immer, als die Feier langsam erstirbt und Müdigkeit uns alle packt. Im Schein des großen Feuers schlurfen wir langsam zu den Wägen, wo uns nun wieder triste Nächte auf harten Holzplanken erwarten.

Nur mich erst nicht, denn wieder ein mal taucht Tina auf. Ich sehe ihr das leichte Unbehagen an der Nasenspitze an und frage ganz einfach: "Was ist denn los, Tina?"

"Nun, Caemintus…", beginnt sie und schluckt einen Kloss herunter. "Ich wollte nur noch mal fragen, ob das mit morgen auch in Ordnung geht." Ihre Unsicherheit bringt mich zum Grinsen.

"Natürlich, ich hab's dir doch versprochen! Was ist denn in dich gefahren? So kenne ich dich ja gar nicht. Und immerhin kennen wir beide uns fast schon, seit wir in den Windeln lagen!"

Ein trauriges Schmunzeln ziert ihre vollen Lippen, als sie darauf ihren Kopf ein wenig senkt. Sie sieht mich nicht an und holt tief Luft. "Caemintus. Da… gibt's was, was ich dir gerne sagen würde." Es klingt fast schon unheilschwanger, als sie das offenbart.

"Oh? Was denn?"

"Caemintus, du bist nicht irgendwie stutzig über die Lage grade, oder?"

"Was meinst du?" Fast hätte ich 'Ja' gesagt, denn in der Tat ist etwas Seltsames heute in Gange.

"Nun… ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Caemintus… und vermutlich erklärst du mich für verrückt, wenn-"

"Soll Mors mich holen, bevor mir noch der Kopf platzt vor Wut!", hackt eine plärrende Frauenstimme den Redefluss unerwartet ab und ich glaube fast, mein Herz bleibt stehen. "Was muss ich denn jetztsehen?!" Das frag ich mich aber auch! Sobald ich mich umgedreht habe, sehe ich über der dunklen Wiese ein grünes Lichtlein rasant näher kommen. Etwa ein Irrlicht?! Ein Geist?!

"Tina, geh sofort weg!", rufe ich und weiche ein paar Schritte vor der Lichtkugel zurück. Tina kauert sich hinter mir zusammen.

"Kannst du mir mal ganz schnell erklären, was ich verpasst habe und wieso du in so einem Aufzug rumrennst, Maljus?!", brüllt der vermeintliche Geist mich an, noch bevor er mich erreicht hat. Schon wieder dieser Name, das ist das zweite Mal heute schon! Ich bin viel zu irritiert, um wegzulaufen oder etwas zu sagen, da erreicht mich das unbekannte Wesen schon.

"Was bist du denn?!", bringe ich flach atmend heraus.

"Das hatten wir schon mal, du Witzbold! Und jetzt raus mit der Sprache, Maljus! Was suchen wir hier, was hast du da an, und wieso hat mich dieser komische Zwerg die ganze Zeit eingesperrt?!" Es sind viel zu viele Fragen auf ein mal, in meinem eigenen Kopf kommen noch gefühlte hundert dazu, was diese Begegnung betrifft.

Empört rufe ich zurück: "Ich bin nicht Maljus, mein Name ist Caemintus, warum frag- Warte, wer hat dich eingesperrt?" Erst starrt mich die kleine Frau in Grün an wie ein tollwütiges Biest.

"Na, dieses Bleichgesicht mit dem lichten Haar und der Kappe eben!"

"Dirk?!", fragt Tina erschrocken. Das Fräulein hebt kurz die Schultern.

Dann ist sie aber auch schon wieder ganz drängend: "So, und was wird hier jetzt gespielt? Caemintus?! Verkauf mich doch nicht für dumm, Maljus!"

"Was wollen du und dieser Magier bitte von mir?!" Von all dem Gebrülle werden jetzt auch wieder ein paar schlaf- und alkoholtrunkene Gaukler wach und gucken neugierig aus den Wägen zu uns hinüber. Schließlich taucht sogar Dirk auf, der aussieht, als habe er in einen sauren Apfel gebissen - was für eine Untertreibung, er ist richtig angepisst!

"Nicht der schon wieder!", zischt das leuchtende Fräulein und verschwindet ungefragt in meiner Hosentasche. Was das denn solle, hätte ich gerne gefragt, aber Dirk ist schon fast bei uns und krakeelt: "Was ist denn hier los?! Was soll das Theater, ihr Früchtchen?!" Mir schlägt eine brennende Alkoholfahne ins Gesicht, als er vor mir steht - dann Dirk. So unerwartet, dass ich gleich danach mit dem Gesicht im Gras lande und mir vorsichtig meine brennende Wange halte. "Ihr brüllt ja das ganze Lager zusammen!", lässt Dirk aus voller Kehle erklingen.

"Wir hatten nur einen kleinen Streit, Dirk!", wirft Tina ein, doch da packt der Zwerg sie mit seinen kräftigen, zerfurchten Armen schon und zerrt sie weg.

"Ab mit dir! Jetzt wird geschlafen und morgen reden wir noch mal ein ernstes Wörtchen, Mädel!" Er schaut wutentbrannt zu mir. "Und du auch! Morgen muss eine Vorstellung über die Bühne gehen, die sich gewaschen hat! Und… und wehe, ich höre morgen noch einen einzigen falschen Ton von dir, du Wurm!" Ich würde meinen Ohren am liebsten nicht trauen, aber das trifft mich alles viel zu deutlich, um es als kleines Missverständnis abzutun. Am liebsten würde ich Tina zu Hilfe eilen, unsere erschrockenen Blicke treffen sich, als Tränen ihre Wangen hinabrollen.

Sie schüttelt den Kopf. Sie lässt sich abführen wie eine Schwerverbrecherin. Dirk, du… was ist bloß mit allen los auf einmal?!

"Falls das Dirk ist… dann war's Dirk, der mich eingesperrt hat." Ich will die grüne Frau nicht ansehen, mein Kopf dreht sich. Dirk trinkt hin und wieder mal einen über den Durst, aber so ausgerastet - er ist wie ausgewechselt!

Auf die Stille hin stöhnt die Geflügelte langgezogen. "Nun, gut… dann mach, was du willst! Wer auch immer du bist, du bist offenbar nicht Maljus! Und ganz sicher nicht der Prophezeite, der das heilige Schwert weihen oder führen wird!" Sie fliegt noch mal direkt vor mich. Herbe Enttäuschung kommen mir aus ihrer Miene und Stimmlage entgegen. "Ich gehe und suche die anderen. Du kannst meinetwegen hier bleiben und den Rest deines Lebens mit einem betrunkenen Zwerg und ein paar blutjungen Flittchen verbringen!"

"Geh nicht.", flehe ich mit brüchiger Stimme.

"Wieso nicht?"

"Bitte sag mir, was los ist. Warum geht seit heute alles drunter und drüber?"

"Diese Frage müsstest du eigentlich mir beantworten. Wie kommt es, dass wir hier sind? Was ist nachts in Klemensbürgen passiert?" Klemensbürgen… was ist das für ein Ort? War ich da etwa mal?

"Wenn wir uns einmischen dürften…", höre ich eine der drei Stimmen des Bauchredners. Mit wässrigem Blick schaue ich zu ihm hoch. Mitleidig starrt er zurück und reicht mir seine Hand, als wäre er grade aus dem Boden gewachsen.

"Du hast keine Ahnung mehr, wer wir sind, oder?", fragt er und zieht mich hoch. Ich schüttele kraftlos meinen Kopf. "Wir sind deine Freunde, Maljus."

"Ich fürchte, da muss sogar ich mich dazu zählen. Also Kopf hoch, Herr Langohr! Der gute Carod wird dir mal zeigen, wie der Hase läuft - na ja, oder du bleibst ewig ein Gaukler mit einem Säufer als Vormund, wenn du Pech hast!"
 

VI.
 

"Na, wenn Chaos da nicht mal wunderbar auf uns gespuckt hat!", flucht Alex mit erhobenen Händen, "Garang Emm ist uns entwischt und jetzt haben wir den Kleinen am Hals, der sich nicht mal an unsere Namen erinnert!"

"Nun lass ihn doch erstmal zur Ruhe kommen, Alex! Er hat Schlimmes durchmachen müssen und ist noch ganz durcheinander!"

"Oder bloß ganz gehörig auf den Kopf gefallen!"

"So wie ein gewisser schwarzer Dolch auch, nachdem er ein paar Benimmregeln gelernt haben sollte?"

"Oh, ich vergesse bloß, was nicht wichtig ist! Nicht wahr, Craylo? Wann war dein Geburtstag noch mal? Muss mir doch gla~tt entfallen sein!"

"Ihr seid schlimmer als die Hungersnot von Wilmvar manchmal!", knirscht der Magier, nachdem er die beiden Plappermäuler bereits in ein Holzfass in dem karg eingerichteten Zimmer eines kleinen Gasthauses gerammt hat. "Ihr erfindet auch mir nichts, dir nichts die Geschichte, dass ich Bauchredner sei!"

"Du wolltest doch zu Maljus, nachdem du ihn bei der Vorstellung entdeckt hast!"

"Also haben wir dir etwas unter die Arme gegriffen, damit dir das auch gelingt. Aber ichwäre Überzeugungskraft genug gewesen für die Saufbirne!"

Noch immer bin ich ganz überflutet von all den Ereignissen und, dass diese beiden Klingen sprechen können, ist das kleinste Übel.

Ich habe mich nicht groß gewehrt und Craylo mich nicht groß gefragt, ehe er mit mir in die Stadt abgehauen ist und mich in dieses Zimmer im ersten Stock geschleppt hat, wo der etwas genervte Alba Alex erst mal aus dem Schlaf gerissen wurde.

Wir sitzen uns jetzt gegenüber auf den zwei knirschenden Betten und haben gerade die Erzählung beendet, was passiert ist - die Hälfte der ausgetauschten Geschichten leuchtet mir gar nicht ein. Vor Allem Sira, die Víla, deckt mich ordentlich mit irgendwelchen Erzählungen von einer Mission und irgendwelchen kopfüberstehenden Dämonen ein.

"Wenn wir dann wieder dazu kommen könnten, was wir jetzt eigentlich machen…", erinnert Alex Craylo, Dorac und Carod kühl.

"Nun, es ist ja eigentlich ganz einfach!", meint Dorac zuversichtlich, "Wir müssen Maljus bloß helfen, seine Erinnerung zurückzukriegen! … Oh, Verzeihung, dass ich dichimmer 'Maljus' nenne. Momentan wäre dir 'Caemintus' lieber, oder?"

"Ach, macht nichts. Ich weiß sowieso nicht mehr, welchen Namen ich eigentlich trage…", seufze ich niedergeschlagen, aber lächelnd. Ich hab einfach nicht im Lager bleiben können nach dieser Szene… aber ich will eigentlich genauso wenig die anderen im Stich lassen. Die werden morgen doch sicher todkrank vor Sorge sein! Und Dirk wird toben, dies mal mit einem triftigen Grund.

Ich beobachte Alex. Er trägt bloß ein Nachthemd und schüttelt fassungslos den Kopf. Wenigstens einer, der genauso durcheinander ist wie ich. Das tröstet immerhin ein wenig.

"Das bringt uns doch alles nicht weiter. Wir wissen nicht mal, wieso der Kleine umgeschult hat auf Schalmeyspieler."

"Ach, stimmt ja, die Schalmey!", erinnere ich mich und krame sie hervor. Zum Glück ist ihr nichts passiert in all der Aufregung. Nachdenklich streiche ich über das glatte, dunkle Holz. Mit den Fingern erfasse ich die kleine Gravur in der Seite, Von Tina für Caemintus, und entsinne mich der schönen Stunden, durch die mich dieses Instrument begleitet hat. Oder gab es die gar nicht? Ich weiß momentan nicht mal mehr wirklich, ob ich sie mal in Abwesenheit aller anderen gespielt habe. Einfach nur so, um für mich zu sein.

"Hey, ihr kennt doch alle dieses Geschichten von den Kerlen aus den Südlanden, wo sie mit Flöten die Schlangen verzaubern!", prustet Carod, "Vielleicht haben sie's mit ihm ja so ähnlich gemacht!"

"Ach, so ein ausgemachter Blödsinn!", keift Sira.

"Das klingt fast so abenteuerlich wie die Sagen von irgendwelchen Vergessenstränken.", wirft Craylo ein, "Aber immerhin haben wir auch jemanden hier, der an plötzlichem Gedächtnisschwund leidet. Vielleicht sollten wir einen Heiler fragen." Alex tippt sich wie wild gegen die Schläfe.

"Die zeigen uns doch den Vogel, wenn wir ihnen die Geschichte erzählen."

"Nicht, wenn wir einen ganz bestimmten Heiler fragen.", schlägt Sira plötzlich vor und erlangt damit jedermanns Aufmerksamkeit. Wen könnte sie schon kennen? "Ich hoffe, ihr werdet damit einverstanden sein, dass wir Meskardh besuchen - genauer gesagt, die Zitadelle von Sepromor."

Capitulum X: Meskardh - Erinnerungen und Erzählungen


 

I.
 

Die Leute sagen, wer nach Meskardh geht, suche bloß Ärger. Nicht umsonst trägt die große Wüste unweit von Seestfor den Namen Gesetzloses Land, denn hier hausen zahlreiche Völker und Kreaturen, denen man in Cardighnas stabileren Gebieten kaum begegnet. Zahlreiche autarke Nomadenvölker gehen in der Wüste ein und aus und zeigen sich wenig erkenntlich über ihre Entdeckung durch Außenstehende; irgendwo im Westen, wo die Berge Kolltbers, das all den Regen für sich beansprucht, aufragen, hausen die vielen Harpyienstämme, die sich vor Allem im Rauben und Plündern der Städte rings um das Ödland verstehen; und zu guter Letzt sind die ungekrönten Herrscher, die sich seit Jahrhunderten mit den Harpyien um das Revierrecht streiten, die Ost-Titanen - seit mehreren Jahren nicht mal mehr im Auftrag des Königreichs, sondern bloß noch in eigener Sache.

"Dass diese Gegend zu Cardighna gehört, stimmt maximal auf dem Papier.", meint Alex, "Und wer schert sich schon um einen Haufen roter Dünen?"

"Offensichtlich wir, sonst wären wir nicht hier.", entgegnet Sira spitz.

In einen viel zu großen Mantel gewickelt schlottere ich ob der unvorstellbaren Kälte dieser Nacht. Ich dachte, das sei eine Wüste, soll es da nicht brüllend heiß sein?! Aber ich komm mir vor, als wär' ich viele Meilen westwärts in den eisigen Bergen!

Ich hocke hinter Alex auf dessen Pferd, das sich mürrisch durch das Meer aus rotem Sand quält. Ich hätte ja schon jegliche Orientierung verloren, seit einiger Zeit sehe ich nicht mal mehr einen einzigen markanten Felsen irgendwo aus dem Landschaftsbild ragen.

Craylo und seine beiden Dolche sind in Seestfor zurückgeblieben, was mich immer noch etwas wundert. Sira meinte, er solle auf eine gewisse Griselda und irgendeinen Rio warten, falls sie nach Seestfor fänden. Sira bewirft mich mit all diesen Namen, die ich nicht kenne und selbst Alex, der vorher auch nichts von irgendeinem heiligen Schwert wusste, ist jetzt besser informiert als ich.
 

II.
 

Wenige Tage vergehen, und das nur schleppend, auch wenn es für mich immer noch kaum eine ruhige Minute gibt. Zu verunsichert bin ich von dem, was passiert ist, und dem, was kommen mag.

Alex lässt uns wissen, wir seien bald an der Wüstenburg angekommen, zu der wir wollen.

Sira benützt die Zeit im tagsüber dann doch brüllend heißen Meskardh, um zu versuchen, mein Gedächtnis mit allerlei ausführlichen Erzählungen aufzufrischen. Doch bei mir stellt sich keine wirkliche Erleuchtung ein. Für mich sind Namen wie Cheeta, Hena oder Basgorn immer noch ferne Sagenfiguren - was aber nicht heißen soll, dass ich nicht interessiert bin!

"Und dann wäre da ja noch Griselda.", erzählt Sira, "Das ist eine Hexe, die wir auf einem Bauernhof aufgelesen haben, als wir grade erst unsere Reise begonnen haben!"

"Und wie ist sie so?"

"Oh, sie ist eigentlich ganz nett, aber manchmal wirklich aufdringlich und sogar ein bisschen naiv." Sie hält inne. Ein schelmisches Grinsen schleicht sich in ihre Miene, was mich ganz irritiert werden lässt. "Hm, aber dich scheint das nicht gestört zu haben." Ich frage: "Und was soll das heißen?"

"Oh, ich erinnere mich da an solche kleinen Turteleien~. Und bei so einem kleinen Kuss im Mondschein hab ich euch auch erwischt!" Nicht bloß ich, der ungläubig "Was, echt?!" ausruft, bin mehr als überrumpelt, sondern auch Alex, welcher ausruft: "Was, die beiden sind wirklichein Pärchen?!"

"Du machst doch Witze!", protestiere ich. Sira lacht. Oh nein, stimmt das wirklich?! Aber was wird Tina denn dann denken?

"He, würde eine Víla denn lügen?", säuselt Sira hämisch.
 

III.
 

Am Horizont erhebt sich bereits eine bemerkenswert hohe Schattensäule, da wir einmal wieder unser Nachtlager im Licht des hellen Mondes aufschlagen.

"Das wird sie sein, die Zitadelle. Dann können wir maximal noch eine Tagesreise entfernt sein.", stellt Alex fest.

"So weit noch?!", erschrecke ich regelrecht, "Aber siehst du denn nicht, wie groß der Umriss da drüben allein schon ist?"

"Du hast wohl noch nie von Sepromor gehört, oder?" Sira und Alex belächeln mich wie ein kleines Kind. Das sollen die gefälligst lassen!

Ein wenig genervt bohre ich nach: "Ja, und was ist jetzt mit diesem Turm?"

"Ich war zwar noch nie selbst bei der Zitadelle, aber jeder sagt, sie wäre wohl das größte Bauwerk in ganz Cardighna. Und das nur wegen des Turms am Ende der Anlage, der wohl den Durchmesser eines kleinen Dorfes hat und etliche hundert Meter in die Höhe ragt. Dieser Turm ist fast so groß wie ein Berg.", erklärt Alex mit Fingerzeig auf den schemenhaften, dunkelroten Umriss.

"Heute weiß keiner mehr genau, wer diese Anlage erbaut hat und zu welchem wirklichen Zweck.", erzählt Sira noch, "Vielleicht war es ein Versuch, die Sphäre der Götter zu erreichen, oder das Bauwerk sollte als riesiger Leuchtturm im Wüstenmeer dienen. Hena und ich kennen von einem guten Bekannten sowohl unzählig viele schöne, als auch schlimme Geschichten über diese Festung und ihre vermuteten Ursprünge. Viele munkeln, das sei eigentlich ein göttlicher Gerichtshof, oder irgendsowas, wo Sünder verurteilt und hingerichtet wurden. Oder noch schlimmer, exiliert, und zwar direkt ins Totenreich!"

"Und das ist doch eine wunderbare Gute-Nacht-Geschichte, nicht wahr?", scherzt Alex. "Also, haut euch auf's Ohr, morgen geht's dann zum Endspurt!"

"Hoffentlich finden wir Ludwig auch.", hofft Sira. Ich zucke mit den Achseln und wickle mich mit einem unangenehmen Kribbeln im Bauch in die Decken ein, um neben dem knisternden Feuer etwas Schlaf zu finden.
 

"Ich fühle mich wirklich betrogen."

Die tiefe Stimme lässt mich vor Schreck aus dem Schlaf hochfahren. Die Decken um mich verstreut, sitze ich aufrecht im pechschwarzen Sand und wie ich sehe, sehe ich niemanden. Nicht mal Alex oder das Pferd.

"Sira? Alex?", rufe ich in die Nacht. Ganz schleppend und gemächlich stehe ich auf. Außer meterhohen Sanddünnen aus Dunkelheit und dem vom brennenden Mond erleuchteten Nachthimmel kann ich nichts sehen.

"Sag mir, wie du heißt." Unverwandt hallt die Stimme aus der Ferne.

"Caemintus.", antworte ich verängstigt. Keine Sekunde später zerreißt die Luft, eine filigrane Stahlspitze schießt aus dem schwarzen Firmament, das in zappelnden Fetzen aufgeht. Reflexartig springe ich aus dem Weg der krummen Klinge, komme sprintbereit auf und fasse an meine Seite. Meine Hände greifen ins Leere.

Ich starre sie an. Was habe ich grade versucht zu tun?

Ich kann das Zerfasern des Himmels gradezu hören, ein auf- und abschwingendes Klingen von hohlem, leisen Rauschen, dann ein Splittern wie von Glas und ein Prasseln.

"Der Körper behält, was der Geist vergisst." Ich blicke starr den bärtigen Mann in Weste und Hemd an, der vor mir mit dem gebogenen Schwert aufgetaucht ist. Sein Haar ist dunkel, die Nase spitz und das Kinn lang. "Ein echter Kämpfer beherrscht auch nach Jahren noch die Reflexe, die er einst unter seinen Lehrern erlernt hat." Spannung liegt in der Luft.

"Wer seid Ihr?!", will ich heftig atmend von dem dunkelhaarigen Muskelprotz wissen. Unter seinem geschwungenen Schnurrbart sind die Mundwinkel weit nach unten gerutscht.

"Was brächte es, wenn ich dir meinen Namen noch verraten würde? Du weißt inzwischen noch weniger über mich als bei unserer letzten Begegnung, Maljus." Er führt einen weiteren Streich aus, auch diesem entkomme ich mit einem waghalsigen Sprung und einer kurzen Rolle. Ich rapple mich auf.

Ich werde aus diesem Menschen nicht schlau! Noch so einer, der mir wie aus einem vorherigen Leben vorkommt.

"Also kannten wir uns?"

"Man könnte es so sagen.", erwidert der Mann mit dem Spitzbart kühl, "Wir sind uns mehrere Male begegnet, seitdem du dich aus deinem Versteck im Wald begeben hast."

"Nachdem ich dieses Welsdorf verlassen habe, etwa?"

"Ganz genau, Maljus. Man könnte denken, du erinnerst dich wieder. Ich fürchte, der Name 'Forsiano' wird dir dennoch nicht geläufig sein, oder?" Eine flüssige Bewegung und eine Stichattacke folgen, aber zum dritten Mal weiche ich der dünnen Klinge aus. Währenddessen rufe ich: "Den Namen hab ich nie gehört! Nicht mal von Sira und die hat mir erzählt, was angeblich auf meinen Reisen passiert ist! Du musst ein Hochstapler sein! Wo hast du Alex und Sira hingebracht?!"

"Mach dir nicht um die Gedanken, die nicht in Gefahr sind, Junge!", mahnt dieser Forsiano mich, "Und bleib lieber aufmerksam!" Als hätten seine Worte etwas ausgelöst, ertönen hinter mir Schritte. Ich muss mich fallen lassen, damit das Sensenblatt mich nicht trifft. Ein grotesk bleiches Mädchen mit violetten Haaren starrt mich aus ihren weißen, orange eingerahmten Augen an. Gleich darauf zerfließt die Erscheinung schon wieder, bis nur noch die Augen reglos in der Luft stehen.

"Wo siehst du hin, Spitzohr?!", brüllt ein lockenhaariger Bursche, der sich mit bloßen Fäusten auf mich wirft. Er fällt in den Sand, da ich entkomme, und rappelt sich wütend auf, startet aber keinen zweiten Versuch, mich zu schlagen. Schon löst er sich in dunkle Wolken auf, sein Blick aber hängt in der Luft.

"Erkennst du sie nicht, Maljus, die Feinde deiner Vergangenheit?!" Forsiano klingt wie ein unheilverkündender Weiser und hat die Arme weit ausgebreitet.

"Was soll das alles?! Wer bist du - wasbist du?!"

Aus dem Sand springen plötzlich drei sich bewegende Skelette, allesamt mit gezogenen Kurzschwertern bewaffnet. Kein Streich geht ins Schwarze, nur einmal habe ich kurz das Gefühl, gestreift worden zu sein. Schon verharren die Wiedergänger in ihrer Haltung und rühren sich nicht mehr.

"Ich bin hier, um dich zu warnen, Junge. Du hast es mit vielen Übeln bereits aufgenommen, aber was dir bevorsteht, ist schlimmer als alles andere. Vor Allem, wenn du nicht mehr weißt, wie du deine alten Gegner besiegt hast!"

"Wovon redest du, verdammt?!", schreie ich.

Ich bin schon gefasst, dass jeden Moment die nächste Kreatur versucht, mir den Kopf abzutrennen. Wie gerufen taucht da eine orangehaarige Dame mit welligem Haar auf, die mit der flachen Hand auf meinen Nacken zielt. Knapp entkomme ich der Frau, die sich in eine beigefarbene Nietenrüstung mit goldenen Akzenten und ein blaues Kleid gehüllt hat. Auf ihrem Kopf ruht ein Barett mit einer goldenen Anstecknadel, die ein großes G formt. Sie ist gut gebaut und athletisch, aber aus ihren braunen Augen spricht viel weniger der Kampfgeist.

Kaum habe ich sie kurz erfasst, löst sich alles bis auf ihre Augen auch schon auf.

Forsiano ergreift wieder das Wort, seine Stimme fegt durch den Sand wie Donner: "Maljus, ich habe ihn gesehen! Einen mächtigen Dämonen, den dein Feind Dyonix aus dem Totenreich beschworen hat."

"Etwa diesen Prometheus?!"

"Nein, nicht den Umgedrehten König selber." Forsianos Stimme schwillt ab auf ein windgleiches Flüstern. "Sondern seinen Gefolgsmann Geras, den Blutfänger."

"Wer ist das?" Forsiano ignoriert meine Frage komplett: "Maljus! Finde zurück zu deiner alten Selbst und entkomme Geras' kalten Klauen des Todes!"

"Woher weißt du all diese Dinge, Forsiano?! Nun spuck's schon aus!"

"Falls wir uns wiedersehen, wirst du alles erfahren, Maljus. Bleib am Leben…" Er verdampft. Und dann explodiert das Firmament erneut, gibt einen blutenden Himmel frei, die Wüste geht in flammendem Rot auf. Ehe ich mich versehe, steckt da ein Katar in meiner Brust. Und der Maskierte unter dem Helm starrt mich aus seinen dunklen Augen an. "… und enttäusche mich bloß nicht noch einmal."
 

IV.
 

Wenige Tage vor dieser ereignisreichen Nacht, am Nachmittag, irrten zwei ganz andere durch das große Seestfor. Nachdem sie bereits zahlreiche der vielbesuchten Tavernen abgeklappert hatten, schlauchte ihre Suche langsam wirklich und beiden stand die schleichende Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.

"Meisterin, ich glaube wirklich nicht, dass es Sinn hat, so nach ihm zu suchen.", erlaubte Rio sich zu sagen.

"Aber was sollen wir denn sonst machen?! Ohne Maljus und Sira sind wir aufgeschmissen! Und ohne das Schwert sind sie es!", wehrte sich Selet heftig gegen die Vorwürfe.

In ein schützendes Tuch gewickelt, wurde das werdende Siegelschwert fest von ihr umklammert, während Rio Maljus' Pferd an den Zügeln durch die Stadt zog. In dem Pulk aus traditionell gekleideten Cardighnern, modebewussten in terfschen Gewandungen wie dem Kimono oder dem Hakama, sowie lauter fahrenden Händlern aus den Nördlichen Gefilden jenseits von Meskardh, die bunt gestreifte Abayas trugen, fielen sie kaum auf.

Auch der in ein paar zu große Lumpen gekleidete Bursche von vielleicht elf Jahren oder zwölf Jahren tat es nicht, der sich ihnen plötzlich näherte und ganz aufgeregt war. Er rief: "Heda! Wartet, ihr zwei! Ihr da, die Hexe und der Dunkelelf!"

Sie wandten sich überrascht herum. Der Lockenschopf des kleinen Jungen wehte wie Aschewolken um seinen Kopf, während er sich geschickt durch die Menge manövrierte. Er war ganz außer Atem, als er bei ihnen angekommen war.

"Was willst du?" Rios Stimme klang kalt wie Eis. Der Junge ließ sich davon aber nicht beirren. "Seid ihr zufällig die Bekannten von Herrn Craylo? Die suche ich nämlich!" Selets Herz machte einen richtigen Sprung und sie wurde ganz aufgeregt: "Craylo sucht uns?"

"Ja, ich sollte nach einer silberhaarigen Hexe und einem schwarzhaarigen Dunkelelfen in Rüstung Ausschau halten, hat er gesagt!"

"Was könnte der bloß von uns wollen?", wunderte Rio sich stirnrunzelnd, der den Magier nicht besonders mochte. Er und seine Dolche waren ihm zu lebhaft und aufbrausend.

"Bitte bring uns gleich zu ihm!", bat Griselda, die einen Hoffnungsschimmer witterte. Was für ein glücklicher Zufall, dass die beiden Exorzisten hier waren! Vielleicht ist Maljus ja bei ihnen?, überlegte sie.

"Nichts leichter als das!", versprach der Junge. "Ach übrigens, ich heiße Alfred!"
 

V.
 

Von Alfred waren sie ins Gasthaus gebracht worden. Craylo saß bereits im Schankraum an einem Tisch in Wandnähe. Direkt hinter ihm hing ein großes Gemälde, dessen metallener Rahmen fast die Deckenbalken berührte.

Sowohl der Magier, als auch die Hexe waren mehr als erleichtert, als sie sich gegenseitig erkannten. Flugs setzten sich Rio, Alfred und Selet zu Craylo. Dorac begrüßte sie gleich: "Wie schön, euch wiederzusehen! Siehst du Carod, die Wette hast du verloren! Du schuldest mir was!" Carod erwiderte nur ein mies gelauntes Knurren. Selet kicherte darüber, dass auch dem sprachgeübten Meckerdolch mal die Laune verhagelt wurde.

"Gut gemacht, Junge!", lobte Craylo Alfred und drückte ihm zwei Silbermünzen und ein paar Bronzemünzen in die Hand, die der ärmlich aussehende Bursche mit glänzenden Augen anstarrte. Überglücklich rief er: "Herr Craylo, Ihr seid ein herzensguter Mann! Ich danke Euch von ganzem Herzen und hoff', dass Mors's Euch vergelt'!"

"Nicht der Rede wert, du hast uns wirklich geholfen, Alfred! Wenn du willst, darfst du noch etwas bleiben und dir was bestellen, das geht auf mich!", bot Craylo dem Jungen an.

Dann guckte er wieder Selet und ihren Shikigami an. Schnell beherrschte wieder der Ernst seine Mimik und Stimmlage. "Ich wette, ihr seid hier, weil ihr Maljus sucht."

"Ja, aber woher weißt du das?!"

"Nun… es gab da eine Begegnung: Wir haben Maljus getroffen. Aber bevor ich euch das erzähle, würde ich zu gerne wissen, wie er überhaupt hierher gekommen ist. Ohne euch, meine ich!"

"Viel haben wir nicht herausbekommen.", gab Selet beschämten Blickes zu, "Und wir sind selber noch ganz verwirrt." Sie erzählte Craylo, wie Maljus und Sira eines Morgens verschwunden waren, die Hexe und ihr Diener ganz Klemensbürgen abgesucht hatten und am Abend dank Jallom einen Custos ausfindig gemacht hatten, der bei ein paar Bieren zugegeben hatte, für einen riesigen Trupp fahrender Spielleute das Tor nachts geöffnet zu haben. Er hatte glücklicherweise auch gewusst, dass sie nach Seestfor unterwegs gewesen waren.

"Maljus kann eigentlich nur bei dieser Gelegenheit unbemerkt entkommen sein, denn sonst hat niemand ihn gesehen. Natürlich sind wir postwendend hierher." Die Prinzessin stieß einen erleichterten Seufzer aus. Ihre einzige Spur hatte sich als Volltreffer erwiesen, das nahm ihr einiges an Gewicht von den Schultern.

"Wir waren auch bei diesem elenden Gauklerpack, aber die haben sich quer gestellt!", schimpfte Rio. "Ich hätte diesem Zwerg die Hand abschlagen sollen, als er Euch packen wollte, Meisterin…"

"Das muss dieser Dirk gewesen sein.", leuchtete Craylo ein, der anschließend berichtete, wie er Maljus und Sira gefunden hatte, um sie zu Alex zu bringen.

Sobald er geendet hatte, ächzte er mitleidig: "Man, hat er vielleicht Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen…"

Alfred meldete sich plötzlich wieder zu Wort: "Das klingt ja richtig gemein! Wer auch immer daran schuld ist, dass euer Freund sich nicht mehr erinnert, hätte es verdient, von den Königsrittern persönlich bestraft zu werden!"

"Die Königsritter…?", fragte Rio.

Der kleine Alfred zeigte auf das Gemälde über Craylo. Eingeschlossen von einem teuren Metallrahmen voller Schnörkel und Rosenblüten waren darauf acht Ritter in voller Montur abgebildet, die alle ihre Schwerter, erhoben und ihre Wappen auf den Schilden prangen hatten. Von allen Seiten des Bildes ragten die Männer dem Mittelpunkt, Cardighnas schwarzstängliger Rose, entgegen, sodass ihre sich kreuzenden Klingen ein großes Herz beschrieben. Nicht nur die Kunstfertigkeit des Bildes war bemerkenswert, auch die Schwerter der Ritter waren ein Augenfang, denn alle Hefte leuchteten vor roter Farbe, muteten an wie aus lupenreinem Edelstein gefertigt.

"Acht Familien, vereint im Herzen des Königs, so heißt es!", begann Alfred aufgeregt zu erzählen, "Die Königsritter waren früher die engsten Vertrauten seiner Majestät neben dem Premierminister."

"Diese Geschichte kenne ich!", sprach Selet, "Zaméter von Ardsted, die Tochter von König Alsomas, war einst der Erzfeind der Ungesühnten Armee und sollte ständig geraubt oder ermordet werden, weil sie halbgöttischen Blutes gewesen sein soll."

"Ja, genau!" Alfred kam richtig in Fahrt und setzte die Geschichte selber fort. "Darum hat König Alsomas die fähigsten acht Ritterfamilien aus Cardighna ausgewählt, um seine Tochter beschützen zu lassen. Und sie sollen die Ungesühnte Armee in Grund und Boden gestampft haben. Und deswegen hat der König sie als seine obersten Generäle und engsten Vertrauten verpflichtet!" Selet schmunzelte über Alfreds kindliche Begeisterung. Sie lachte: "Du weißt ja eine ganze Menge über die Königsritter! Das hätte ich gar nicht von dir erwartet!"

"Das liegt daran, dass meine Familie selbst zu den Königsrittern gehört hat!" Rio verzog nicht mal annähernd seine Steinmiene. Das machten Craylo und Selet aber tausend mal wett. Der Magier hauchte fassungslos: "Dubist ein Nachfahre der Königsritter?!"

"Sir Alfred, der Hüter von Recht und Ordnung auf Seeforts Straßen." Alfred zog eine beleidigte Schnute und Dorac zischte allerhand Flüche gegen Carod. Der kleine Junge rief: "Lacht nicht, es ist wirklich so!"

"Aber du siehst so heruntergekommen aus.", sagte ihm Rio auf den Kopf zu, "Wie könntest du ein Rittersohn sein?"

"Meine Eltern sind tot, aber meine Mutter hat mir immer gesagt, dass Papa ein Ritter war! Und dazu brauche ich auch kein Schwert, um es zu beweisen! Wenn es sein muss, stelle ich die Ehre der Königsritter alleine wieder her, wenn ich groß bin!" Er stand abrupt auf und rannte wutroten Kopfes nach draußen. Selet rief und lief ihm hinterher, doch schon war der Junge weggerannt und im Gewimmel der Straßen verschwunden, so flink, wie er erschienen war.
 

VI.
 

Es war nur ein Traum… man, ich habe vielleicht Bammel gehabt. Kaum hat mich dieser maskierte Kerl durchbohrt, bin ich wirklich aufgewacht. Und dann waren sie auch wieder da, Sira, Alex und der Gaul, auf dessen Rücken ich nun seit einigen Stunden wieder hocke.

Diesmal ist der Tag schneller vergangen, als mir lieb ist. Ich fühle mich nicht bereit dafür, die Zitadelle von Sepromor zu erreichen. Liegt es an Forsianos Worten? An seiner Warnung vor Geras, dem Umgedrehten Mann? Oder bin ich bloß nicht vorbereitet, womöglich zu erfahren, dass mein bisheriges Leben tatsächlich eine Lüge war und ich wirklich kein Musikant, sondern ein Prophezeiter bin?

All die schönen Erinnerungen an Dirk und seine Leute, ich werde sie einfach verlieren, oder? Wie werde ich den anderen ins Gesicht blicken können, wenn ich weiß, dass sie mir bloß etwas vorgespielt haben?

"Du siehst mal wieder nachdenklich aus, Maljus.", spricht Sira mich auf einmal an. Sanftmütig mustert sie mich und beginnt, zu grinsen. "So erkenne ich dich schon eher wieder."

"… Sind die Gaukler schlechte Leute?"

"Wieso fragst du denn sowas?"

"Ich meine, ob ich ihnen etwas vorwerfen kann, wenn ich wieder… 'ich selbst' bin. Kann ich sie dann dafür verurteilen, dass sie mich so freundlich aufgenommen und wie einen der ihren behandelt haben?"

"Wir wissen nicht, was genau die Gaukler damit zu tun haben. Aber Maljus, bitte behalte im Kopf, dass dieser Dirk mich eingesperrt hat! Er hat um alles in der Welt verhindern wollen, dass ich mit dir rede. Hätte ich an unserem letzten Tag in Klemensbürgen nicht in deiner Tasche übernachtet, wäre ich vielleicht nie da gewesen, um mit dir zu reden. Was ich sagen will… sie waren mindestens Mitwisser bei deiner Entführung, also haben sie auch Mitschuld." Wieder versinke ich in tiefes Schweigen. Es ist nicht das, was ich mir erhofft habe. Aber wenn Sira Recht behält und ich mich an alles erinnern werde, werde ich ihr danken müssen. Und genauso Craylo und Alex und wohl sogar diesen beiden Dolchen Dorac und Carod.

Vorausgesetzt, dass unser Vorhaben von Erfolg gekrönt sein wird - und wir nicht diesem Geras in die Hände fallen.
 

Spät abends, da die Luft schlagartig abkühlt und die Aaswölfe in der Ferne heulen, kommen wir an. Mir fehlen die Worte, um die Imposanz von Sepromor zu beschreiben. Gänzlich aus rotem Sandstein erbaut verschmelzen die letzten Sanddünen mit der langen Treppe, die zu der burgenhaften Front des Bauwerkes führt. Zwei massive Türme, trotz Löcher im Mauerwerk und müde gähnenden Fenstern einem Bergfried ebenbürtig, begrenzen das langgezogene Vorderhaus auf dem erhöhten Plateau. Hinter den Zinnen und Erkern kann man knapp noch das Ende des spitz zulaufenden Kathedralendachs erkennen, auf dessen äußeren Stützsäulen hoch aufragende Zierspitzen aus Gold hocken.

Und hinter alledem, immer noch von der abnehmenden Sichtweite schleierhaft und wabernd dargestellt, erhebt sich der unfassbare Hauptturm der Zitadelle, ein Monstrum, das in seinem Durchmesser fast der Breite der Vorderfront entspricht, aber in seiner Höhe diese vielfach übersteigt.

Zitadelle ist eine Untertreibung - hier findet nicht bloß eine kleine StadtPlatz!

"Nun, Kleiner, biste bereit, in diesem Koloss nach einem braunhaarigen Kerl in schwarzen Sachen und mit einem leuchtenden Schwert zu suchen?", fragt Alex mich ernsten Blickes.

"Wenn ich mir Gewissheit verschaffen will… dann habe ich keine andere Wahl.", erwidere ich entschlossen. Jetzt bin ich auf alles gefasst! Ich fühle mich, als könne nichts mich aufhalten!

"Das ist die richtige Einstellung!", lacht Alex und gibt mir einen leichten Stoß, ehe ich durch den Schlund von Eingangstor ins Innere von Sepromor hinabsteige.

Capitulum XI: Zitadelle von Sepromor - Neue Ketten werden geknüpft


 

I.
 

Man kann sich kaum vorstellen, wie gespenstisch es ist, durch Nebel in einem Gebäude zu laufen. Weiße, geruchlose Dunstwolken stehen unbewegt in den Gängen und verschlucken uns, ohne dass auch nur ein Partikel sich vom Fleck bewegt. Alles ist alt und verfallen. Wirklich schaurig hier... Ich hätte wenigstens eine Lampe mitnehmen sollen! Alex hat zwar eine dabei, aber deren Licht reicht keine vier Meter weit. Als ob der Nebel es verschlucke.

Ein wenig lahm taste ich mich vorwärts, die lange Treppe hinunter, doch da verfehle ich eine Stufe und komme zu Fall. Es ist nicht sehr angenehm, eine Treppe hinunterzupurzeln…

Nach etwas Herumkullern komme ich wie gerädert unten an, nur um mich in absoluter Dunkelheit wiederzufinden. Wer hat denn hier all die Fenster vergessen?!

"Alles in Ordnung, Maljus?", fragt Sira.

"Abgesehen von den blauen Flecken ja…" Hinter mir hallen Alex' schnelle Schritte, die fast Ewigkeiten später von den Wänden der Halle zurückgeworfen werden. Auch sein rufendes: "Man, hast du vielleicht Schwein gehabt, dass dir nichts passiert ist!" wird erst von der Umgebung verschluckt, bis es wie die Stimme einer antwortlahmen Person ausgespuckt wird.

Ich erstarre zu einer Salzsäure. "Kleiner, was glotzt du so?"

Bitte sagt mir jemand jetzt, dass ich träume! Aus den Schatten schält sich etwas. Etwas, das keine Beine hat, keine Arme, vielleicht nicht mal einen richtigen Kopf! Hell leuchtende Ketten rasseln, ich kann in meinen Ohren das Blut rauschen hören. Eine schwarze, metallene Klauenhand hängt an der einen Kette, die aus den flammenhaft flatternden Fetzen ragen, schleift hin und wieder über den Boden unter einem ächzenden Kreischen.

Und in der dunklen Kapuze, die aus dem Nebel wächst, ist nichts als bodenlose Tiefe. Kein Kopf, kein Gesicht, kein Schädel, gar nichts! Der Totenkopf baumelt dafür an der zweiten Kette, schwingt pendelhaft hin und her, während die zu spitz und lang geratenen Beißer mich angrinsen. Glänzend wie Stahl reflektieren die Knochen den unwirklichen, bläulichen Lichtschein, der aus den dreieckigen Augenhöhlen die Umgebung abtastet.

Sira ist ganz gewiss kein Irrlicht! Aber bei Anima, das ist bestimmt eines!

Keiner von uns findet die Sprache wieder, aber ich endlich meine Muskeln! Ich hau ab, bloß weg von diesem Gespenst!

"Halt, Kleiner, nicht!", schreit Alex mir hinterher und hat vielleicht probiert, mich zurückzuhalten, aber ich mach mich vom Acker! Ich habe ja vieles erwartet! Eklige Krabbeltierchen, irgendwelche seltsamen Dunkelheitsfanatiker, die sich Mors-Krieger nennen, einen Wunderheiler namens Ludwig oder sogar einen Dämonen namens Geras, bloß kein Irrlicht!

"Was machst du denn?! Wir sollten uns unter keinen Umständen tren-"

"Ich renne um mein Leben, wonach sieht's denn aus?!", blaffe ich Sira an.

In Todesangst begehe ich den Fehler, hinter mich zu sehen. Ich starre fast direkt in die kalte Leere der Kapuze und lege noch einen ordentlichen Zahn zu. Jedoch lang schaff ich dieses Tempo nicht mehr! Ich bräuchte irgendein Versteck oder etwas, um mir dieses Gespenst vom Leib zu halten!

Da, ich kann wieder ein wenig Licht sehen! Wie eine göttliche Fügung kommt es mir vor, dass ich absolut blind zufällig in eine lange Längsgalerie der Zitadelle gerannt bin.

Das Mondlicht, das durch die großen Fenster flutet, könnte dem Geist vielleicht etwas anhaben! Zumindest ist das alles, worauf ich nun noch setzen kann, denn langsam holt das Gespenst auf, während ich bereits auf die abschließende Apsis zu renne.

Mein Herz schlägt noch schneller, als das Irrlicht unbehelligt durch die Lichtfälle gleitet. Mein letztes Stündlein hat geschlagen, jetzt ist's aus! Trotzdem haste ich in die sichere Sackgasse, das Halbrund der Apsis.

"Nein, nicht weiter, Maljus!", ruft Sira und im letzten Moment komme ich zum Stehen, ehe ich einen Fuß in das kreisrunde Wasserbecken gesetzt hätte.

"Deswegen hältst du mich auf?!", frage ich luftlos und fürchte jeden Moment den kalten Hauch eines rastlosen Geistes. In Erwartung des Schlimmsten sehe ich wieder hinter mich. Das Irrlicht ist langsamer geworden, wieder so schleichend wie in der Eingangshalle, als wage es nicht mehr, den Raum zu belebt aussehen zu lassen.

Rückwärts gehend umrunde ich das kreisrunde Becken zur Hälfte, bis ich an der Wand zum Stehen komme. Vor Angst schwitzend brülle ich ins Halbdunkel: "B- bleib w- w- weg! Nicht näher!" Wie lächerlich muss ich eigentlich klingen?! Als hätte ich dieser Erscheinung etwas entgegenzusetzen!

Mein Blick fällt auf die Wasseroberfläche. Sie ist spiegelglatt und hebt und senkt sich bis zu dem erhöhten Rand, in den altcardighnische Lettern gemeiselt worden sind. Sie sieht aus wie ein flüssiger Spiegel.

Mein Blick verliert sich in dem traurigen Spiegelbild, das ich abgebe. Klein, mickrig und ganz und gar nicht so heroisch, wie ich es mal gewesen sein soll.

"Maljus…" Sira flüstert bloß noch. "Maljus, du musst versuchen, an ihm vorbeizurennen!" Die Mundwinkel wandern langsam nach oben. "Der Geist wird bald hier sein, also bitte, hör mir doch zu!"

Ganz schön lästig, was?Ein schiefes Grinsen wird entblößt. "Maljus, was starrst du so auf das Porta-" Kurz flackern sie auf, weit aufgerissene Augen, das Spiegelbild springt mir entgegen, etwas bricht durch die Wasseroberfläche! Das Gespenst bleibt augenblicklich in der Luft stehen und reckt seine Kapuze zu dem faustgroßen Etwas empor, von dem nun auch die letzte Lage schwarzer Überzug abfällt und schnurstracks in dem Becken verschwindet, ohne die kleinste Welle zu hinterlassen.

"Oh, Terra sei uns gnädig, sag bloß nicht, dass…" Siras eigene Worte bleiben ihr im Hals stecken. Der dicke Muskelknoten voller Adern und Gefäße pulsiert heftig, so heftig wie mein Herz. Wie Wurzeln sprießen aus dem nekrotischen Fleischbrocken neue Bahnen, fein verästelt und langsam konkrete Formen bildend. Plötzlich wachsen Knochen aus den faulenden Blutbahnen, zerrüttetes Fleisch trieft heraus und wird von teils verbrannter, teils blutunterlaufener Haut überzogen.

Mit schmatzenden Geräusch landet das nun zweibeinige, humanoide Etwas gebeugt auf der anderen Seite des Beckens, lässt seine Muskeln unter der offenen, fleischfarbenen Jacke spielen, als habe es zum ersten Mal einen Körper. Zwischen blauen Haarsträhnen guckt ein trübes, weißes Auge hervor, um das herum ein dunkelblauer See liegt. Das andere ist irgendwo unter dreckigen Bandagen versteckt, die eine Schädelhälfte der Kreatur bedecken. Eine Brandwunde zieht sich von dort seinen gesamten Oberkörper entlang bis dorthin, wo seine Taille in einer weißen Hose verschwindet.

Ich dachte, es hätte nicht schlimmer kommen können, bis ich das meinem zum Verwechseln ähnliche Gesicht des grinsenden Dämons sehe.

"Wenn das mal kein schönes, erstes Treffen ist."

"Warum siehst du so aus wie ich?!"

Der Dämon kichert und leckt über seine Lippen, ertastet dabei auch die rasiermesserscharfen, gebogenen Zähne seines Mundwerks, ehe er sich zu voller Größe aufrichtet.

"Nun, wer könnte ich bloß sein, dass ich dir so ähnle?", fragt er rhetorisch. "Natürlich Typhon, das Spiegelbild des Prophezeiten Maljus!" Mein Spiegelbild will er sein?! Bestimmt nicht! Der kann nichts weiter als ein Monster sein, das irgendwie versucht hat, meine Gestalt anzunehmen!

Sira widerlegt meine Überlegung unerwarteterweise: "Maljus, du wirst mich für verrückt erklären, aber du hast tatsächlich deinen eigenen Spiegeldämon in unsere Welt gelockt!" Sie unterdrückt mit Ernst ihre Angst.

"I- ich soll den da heraufbeschworen haben?!", empöre ich mich, "Diese Fälschung?!"

"Du solltest aufpassen, was du sagst!", brüllt Typhon. Nie habe ich jemanden so schnell rasend werden sehen. Keinen Augenblick später steht er plötzlich direkt vor mir und, obwohl wir genau gleich groß sind, muss ich zu ihm hinaufblicken, als überrage er mich. "Zittert eine Fälschung so erbärmlich wie du, Weichei?! Mir ist, als verlangst du nach dem Tod!"

Es ist fast schon zu belächeln. Wie bitter ironisch: der Geist hätte mich gleich umgebracht, aber stattdessen erscheint extra ein Dämon.

Wo ist das Irrlicht überhaupt? Es ist nicht mehr da! Aber wo ist es dann?!

"Du solltest deine Waffe ziehen, falls du eine hast, ich bin längst bereit!" Ich habe gar nicht gesehen, dass Typhon überhaupt eine Waffe hat, aber ich verschwende keine Zeit, darüber nachzudenken, bis ich mich knapp unter der einschneidigen Klinge weggeduckt habe. Sie bohrt sich in die Wand und Typhon zerrt wild daran.

Ich könnte weglaufen, oder sogar den Dolch ziehen, den Alex mir gegeben hat. Mich fesselt aber viel zu sehr der widerliche Anblick des aufgeplatzten Eitergeschwürs, das wohl mal Typhons linke Hand war. Der scharfe Stahl, in dessen stumpfer Seite sich lauter rechteckige Lücken befinden, ragt direkt aus der klaffenden Wunde.

Jetzt greife ich doch nach dem Dolch, ich kann mich von dieser Ausgeburt befreien, wenn ich nur einen gezielten Stich hinkriege!

"Dieser feurige Blick ist schon besser." Es gelingt ihm, sein Schwert aus der Wand zu reißen und perfekt mein Messer in eine der Lücken zu lenken. Zu schnell für mein Auge dreht er seinen Arm herum und krachend bricht mein kümmerlicher Dolch entzwei.

"Schnell, zur Seite!", weist Sira mich an, was mir im wörtlichsten Sinne den Kopf rettet. Überstürzt auf allen Vieren mich fortbewegend bringe ich Abstand zwischen mich und Typhon, der spöttisch langsame Schritte macht.

Ich drehe mich herum, als ich weiß, dass er direkt an meinem Fußende steht.

"Na, kleiner Mann? Hast du schon keine Lust mehr, weiterzukämpfen?"

"Wenn du mich so fragst-"

Etwas schleift über den Boden zu mir hinüber. Schreiendes Metall rutscht aus der Dunkelheit wirbelnd über die schwarz-weißen Rauten auf dem Boden. Typhon realisiert es zu langsam, um mich davon abzuhalten, das Heft des Schwertes in die Hand zu nehmen. Egal, wo es hergekommen, scheißegal, wer es mir zugesandt haben mag, es könnte ein Geschenk der Götter sein!

Als sei es das Natürlichste der Welt hebe ich das auffällig mit Gravuren übersäte Schwert von nicht mal einem Meter Klingenlänge. Sira erkennt: "Das ist ja ein Richtschwert!" Mir doch egal, Hauptsache ich kann es führen und mich vor diesem Monster retten!

Ohne weitere Worte kreuzen Typhon und ich die Klingen. Ich gebe etwas mehr Druck und Typhon fletscht angestrengt die Zähne. Es folgt eine lange Folge von beidseitigen Angriffen und Paraden, wir sind auf einmal perfekt gleichauf, sodass ich mich frage, ob das wohl mein Talent von früher ist.

Ich erkenne einen Fehler in Typhons Abwehrhaltung und bohre ihm das Schwert in die Schulter.

"Nimm das, du Bestie!", rufe ich. Sofort fällt der leidende Blick von Typhon ab und er bereitet vor, die in seiner Schulter fixierte Klinge abzubrechen wie den Dolch zuvor. Ich ziehe das Richtschwert heraus. Blut läuft aus Typhons Schulter und tropft auf den Boden, wo es zischend Kuhlen in die Fliesen frisst. Sein Blut ist ätzend!

Viel zu spät bemerke ich, dass auch die Klinge schon Schäden getragen hat, eine dicke Schicht ist zersetzt, die Spitze selbst fehlt bereits.

"Mit diesem Spielzeug wirst du mich nicht in die Knie zwingen können!" Er schafft es, mich leicht am Arm zu verletzen und mir schließlich das Richtschwert aus der Hand zu schlagen. Blutend stolpere ich die flachen Stufen vor dem Becken hinunter, als eine Frauenstimme mit erschreckend viel Echo sagt: "Aber es hat dich lange genug beschäftigt, bis ich dasgefunden habe!"

Kaum habe ich mich herumgedreht, schleudert mir jemand mit größter Leichtfertigkeit… eine Hellebarde entgegen! Der lange Metallschaft trifft mich vor die Brust, zappelnd schließe ich meine Finger um ihn. Erst dann erblicke ich, wer mir die Waffe zugeschmissen hat - genauso wie das Schwert vorhin, wette ich: Das Irrlicht! Dieses verdammte Irrlicht hat mir geholfen!

"Schnell, dreh dich wieder um!", dröhnt es aus den unergründlichen Tiefen der Kapuze. Postwendend wirble ich herum zu Typhon. Er sieht überrascht aus, bloß nicht so verblüfft, dass er davon abließe, mich anzugreifen. Ich halte seinem Schwert den Metallschaft entgegen, stemme mich beidhändig gegen den Druck von oben, bis ich ihn mit meinem Fuß zurücktrete. Typhon prallt gegen die Wand.

Jetzt hab ich ihn! Ich hab zwar noch nie im Leben eine Hellebarde in den Händen gehabt, aber ihm jetzt noch die vielklingige Spitze in die Brust zu rammen, erschließt sich sogar mir!

Kurz bevor ich aber losstürme, wie ich schon fest entschlossen bin, den Dämon auszutreiben, schießt plötzlich ein riesiger Feuerschwall aus dem Waffenkopf. Typhon schreit wie am Spieß, beißender Qualm steigt aus der Flammenblase. Das Brüllen verzerrt sich kurz und klingt wie aus tausend schwachen, zischenden Kehlen, bis es ganz erstirbt. Da rasen zahllose geflügelte Schlangen aus der Feuerwolke hervor und verschwinden als lebendige Fackeln in alle Richtungen.

Die Flammen erlöschen, als ich ihnen nachblicke. Nachdem der Rauch sich gelichtet hat, ist Typhon nicht mehr da. Ich kann's nicht glauben! Ich muss ihn vertrieben zu haben! Ich hab es mit einem Dämon aufgenommen! Vielleicht bin ich ja tatsächlich ein Kämpfer, ein richtiger Dämonenjäger fast schon!

Lässig lege ich die Hellebarde auf meine Schulter und gucke zu dem Irrlicht. Ich kann mir kein Grinsen sparen, als ich mich bei ihm bedanke: "Ich hab dir Unrecht getan, dass ich so einfach weggerannt bin. Du warst meine Rettung!"

"Selten trifft man als rastlose Seele noch einen, der keine Furcht zeigt. Aber wer bist du?"

"Ich bin Caemin- nein, ich bin Maljus! Und das da ist Sira. Wir sind hier, um Ludwig zu finden!"

"Freunde von Ludwig also." Vor meinem geistigen Auge taucht das sanftmütige, aber auch traurige Lächeln einer jungen Frau auf. "Weshalb seid ihr hier?"

"Das ist etwas komplizierter. Wir brauchen seine Hilfe bei etwas."

"Ihr werdet vorher ihm helfen müssen.", sagt das Irrlicht.

"Warum?"

"Weil Sepromor erobert worden ist. Wir befinden uns im Reich von Geras, dem Blutdieb."
 

II.

"Maljus, weißt du überhaupt, was das vorhin für eine Brühe war, aus der Typhon aufgetaucht ist?", durchbricht Sira später die tiefe Stille. Fast schon schleichend streifen wir weiter durch die Bastion. Ich habe jegliche Orientierung verloren - hoffentlich hat Alex da ein glücklicheres Händchen bei der Wahl seiner Wege. In diesem Gemäuer kann man bestimmt ganze Tage nur mit Herumirren verbringen! Hoffentlich geht es Alex gut…

"Hörst du überhaupt zu?!", fährt Sira mich an.

"J- ja, schon! Ich hab bloß grade nachgedacht. Und nein, ich hab nicht den blassesten Schimmer, was das war!"

"Das war nichts anderes als ein Portal zur Unterwelt, zum Imperium Mortis."

"Jetzt willst du mich aber verkohlen!"

"Sie sagt die Wahrheit.", mischt sich das Irrlicht plötzlich ein, das uns anführt. Lautlos gleitet es vor uns durch die dunklen Säle und Korridore. "Spiegeldämonen tauchen immer aus solche Portalen auf. Deswegen hat man Stellen wie diese auch mit der Inschrift Imperium Mortis Speculum Mortalum Est versehen. Es bedeutet soviel wie: Das Reich des Todes ist ein Spiegel der Sterblichen." Sira guckt ein wenig empört, dass sie das nicht hat erklären dürfen und drängt sich mir auf: "Und nicht zu vergessen, werden diese Portale genauso verwendet, um Dämonen oder andere Störenfriede zu exilieren! Setz nur einen Fuß auf diese Flüssigkeit und du wirst verschlungen." Sie will vom Irrlicht wissen: "Gibt es von diesen Dingern noch mehr hier?"

"Die ganze Zitadelle ist voll davon. Besonders der große Turm strotzt vor Portalen. Seine Erbauer haben es sich nicht mal nehmen lassen, künstlerische Wasserfälle aus dem schwarzen Wasser zu errichten."

"Wie geschaffen für einen Dämon wie Geras…", murmelt Sira düster.

"Aber immerhin ist Typhon Geschichte!", werfe ich stolz ein.

"Freu dich nicht zu früh…", ermahnt mich da das Irrlicht und dreht sich sogar zu uns herum, nur um mir wohl ins Angesicht blicken zu können - wie man das ohne Augen kann, ist mir ein Rätsel.

Noch immer wirkt die feminine Stimme des Geistes befremdlich und unpassend. "Er hat bestimmt nur die Flucht ergriffen. Wesen wie er hassen Feuer und Licht. Falls diese winzigen Drachen die Flammen überlebt haben sollten, wird er zurückkommen."

"Oh je, hätten diese schlimmen Botschaften nicht warten können…?" Sira mustert eindringlich meine Miene. "Jetzt ist er wieder bleich wie Luna!" Wenn das mein größtes Problem wäre… noch mal gegen diese zweibeinige Bestie antreten?!

"Lasse nicht die Hoffnung fahren, junger Krieger. Du trägst immer noch die heilige Hellebarde mit dir und den Mut in dir, um sie zu benutzen.", beruhigt das Irrlicht mich ein wenig. "Du hast gesehen, was diese Waffe vermag und ich möchte sie dir für die Zeit in Sepromor überlassen." Ich gebe mir Mühe, zuversichtlich zu lächeln. Der Geist hat wohl gar nicht so Unrecht; mit diesem Werkzeug bin ich fürs Schlimmste gewappnet.

"Und wo soll Ludwig jetzt sein? Er ist doch hier, oder?!", frage ich.

"Ja, Ludwig ist in Sepromor. Kürzlich erst habe ich seine Aura wieder wahrgenommen und nun folge ich ihr. Falls die Dinge schlecht stehen, ist er bereits im Kerker gelandet." Während das Gespenst redet, erklimmen wir bereits mehrere niedrige Stufen, die bis zu einer Pforte von vier Metern Höhe führt. Ich sehe nirgends zwischen all den einst kupfernen Ornamenten eine Klinke. Daneben befindet sich aber ein großes Rad aus Metall, das aussieht wie ein Schiffssteuer.

"Das musst du drehen.", sagt das Irrlicht. Ich packe zwei der gegenüberliegenden Griffe und beginne, das Rad mit viel Kraft zu drehen. Das geht verdammt schwer! Und nur sehr langsam, während die Pforte über ein wenig Steinstaub schleifend nach innen schwingt. Das Rad rastet hörbar ein. Sofort lasse ich los und wische mir den Schweiß von der Stirn.

Das Irrlicht aber ruft: "Nicht! Sofort durch die Türe, ehe sie sich wieder schließt!" Ich laufe schnell durch den breiten Türrahmen und kaum, da ich im Raum bin, bemerke ich ein leises Klicken und die Tür schlägt mit Karacho zu. Der Boden bebt geradezu und das Echo des Knalls reicht weit ins Ungewisse.

"Nicht gerade sehr gastfreundlich!", merkt Sira an, "Wer das nicht weiß, wäre geliefert gewesen!"

"Aber hallo…!", werfe ich ein. Die Tür hätte mir alle Knochen gebrochen, bevor ich irgendwo vor der Treppe aufgekommen wäre.

"Dies ist nicht umsonst eine Verteidigungsanlage." Die schwebende Klauenhand deutet unter Rasseln der Ketten auf eine kompliziert aussehende Vorrichtung voller Zahnräder, Achsen und Federn. "Eigentlich wäre sie deaktiviert, aber Geras muss den Mechanismus entdeckt und wieder in Gang gesetzt haben."

"Ist er denn ganz alleine hier?"

"Nein. Bloß weigern wir uns, von seinen Handlangern als Lebewesen zu sprechen. Er schart lediglich unzählige Untote um sich und hat durch sie seine Augen fast überall in der Zitadelle."

Ich stutze: "Wir? Wer denn noch außer dir?"

"Selbstverständlich die anderen Mors-Krieger, oder dachtest du, ich sei die einzige, die dazu verdammt ist, in diesen Hallen auf ewig zu wandeln?"
 

III.
 

Wir streifen über eine lange Marmorempore, bis auch die Eingangstüre im Nebel verschwunden ist. Zu der einen Seite hängen zahlreiche, von der Zeit gebleichte Wandteppiche herab, während rechts von mir die Balustrade uns von den ungewissen Tiefen des Kathedralenschiffs fernhält. Düstere Säulen ragen in der Ferne aus einem Nebelsumpf empor.

Allmählich geht mir dieses Dämmerlicht wirklich auf die Nerven! Ich kann fast nichts sehen und jeden Moment erwarte ich wieder irgendeinen Angriff wegen der Ungewissheit, welche die miserablen Sichtverhältnisse mit sich bringen.

Einen Augenblick halte ich inne, als ich einen sanften Luftzug verspüre, der einen der Teppiche leicht bewegt.

"Sind da etwa Fenster dahinter?"

"Mit hoher Wahrscheinlichkeit.", erwidert das Irrlicht. "Aber was hast du vor?"

"Pass nur auf!" Nachdem ich mit der Hellebarde auf einen der Teppiche gezielt habe, schießt schon Feuer auf ihn zu und er zerfällt wenig später zu Asche. Schlagartig wird es ein wenig heller, sogar den Nebel scheint das Mondlicht zu vertreiben. Mal so nebenbei, das hat sogar ein bisschen Spaß gemacht und da wir ruhig noch etwas mehr Licht gebrauchen könnten, sind flugs auch die anderen Vorhänge dran!

Ich höre auf, sobald ich gemerkt habe, dass die Hellebarde doch ganz schön schwer in meinen Händen liegt - und sich hinter dem einen Teppich gar kein Fenster befindet. Sondern stattdessen ein niedriger Zugang zu einer Art Burgerker, in dem eine lange Metallleiter in die Tiefe reicht. Ein Geheimgang!

So langsam fesselt mich diese Reise doch. Sira meint mit müdem Blick zu meinem breiten Grinsen bloß: "Denk bloß nicht, dass der Rest dieses Abenteuers auch so lustig wird!"

Das Irrlicht besieht sich den Abstieg nur kurz. Währenddessen höre ich von fern her plötzlich ein metallisches Stapfen, wie näherkommende Schritte. Schon schält sich aus der Dunkelheit der Umriss eines massiv gepanzerten Ritters. Der Helm bedeckt das ganze Gesicht und zwei lange Hörner mit klimpernden Ringen daran ragen seitlich heraus.

"Ganz toll gemacht, Maljus! Jetzt hat man uns bemerkt!"

"Steigt die Leiter hinab!", befiehlt das Irrlicht, "Wir dürfen uns nicht fangen lassen!" Ich lasse es mir nicht zwei mal sagen und stelle mich dem Unterfangen, mit der Hellebarde in der Hand die Sprossen hinabzufliehen.

Kaum unten angekommen, sehe ich oben schon den Ritter in den Durchgang klettern - und halsbrecherisch hinunterspringen. Ich laufe davon, sehe über die Schulter, wie er scheppernd auf dem Boden aufkommt und einknickt, aber sofort wieder aufsteht. Der ist nicht von dieser Welt! Das Irrlicht hatte Recht, sowas verdient nicht die Bezeichnung Sterblicher!

Es fliegt uns voraus und lenkt uns zu einer stahlverstärkten Türe. Ich reiße sie auf, schmeiße mich in den Raum und verriegle die Tür sofort. Dennoch höre ich weiterhin die Schritte des Monsters im Gang.

"Keine Sorge, durch diese Tür kommt er nicht hindurch!", verspricht das Irrlicht, "Wir haben sie schon vor Langem gegen Umbramantie geweiht. Wesen wie diese Rüstung können den Bannkreis nicht überschreiten, geschweigedenn auch nur die Tür anrühren." Dann sind wir ja immerhin vorerst sicher.

Ich atme tief durch und nehme mir erleichtert etwas Zeit, die Trogfackeln zu entzünden. Unter prasselndem Knistern werden wir uns mehrerer uralter Holztische gewahr, auf denen allerhand dickbäuchige Flaschen und Messbehälter einstauben. In einem Regal stehen allerhand Flüssigkeiten, eingesperrt in Fläschchen und Glaskugeln. Selbst ein Bett findet Platz in dem Durcheinander aus Pergamentrollen und Zetteln. Es ist schmutzig, doch der unangenehme Geruch wird zu einem Großteil überlagert von vielen exotischen Aromen, teils brennend, teils süßlich und oft auch bitterschmeckend in der Nase.

Sira schlussfolgert: "Sieht aus wie das Reich eines begeisterten Medicus oder Alchemisten." Sie seufzt übertrieben. "Wir suchen den Heiler und finden seine Arbeitsstätte…" Das Irrlicht horcht auf, vermutet: "Meint ihr mit Heiler etwa Ludwig?"

"Ja. Ihr dürftet ihn ja gut genug kennen, um zu wissen, was für Mixturen er die ganze Zeit mit sich rumschleppt.", entgegnet Sira.

Es lacht plötzlich in sich hinein und sagt: "Hättet ihr das gleich gesagt, hätte ich euch sofort hierhergeführt. Ludwig mag sehr bewandert sein im Tränke- und Giftmischen, aber von wem, glaubt ihr, hat er das erlernt?" Es wartet keine Antwort ab, obwohl mir einleuchtet, worauf es hinauswill: "Von niemand anderem als mir. Also, wo drückt denn der Schuh? Ich habe zwar meine menschliche Gestalt verloren, aber ich denke, ich kann euch sehr wohl noch behandeln."
 

Sira erzählt - mit ein paar Ergänzen meinerseits - die ganze Geschichte von meinem Erinnerungsverlust. Schon währenddessen sucht das Gespenst die Behälter nach irgendeinem Gebräu ab. Sobald alles gesagt ist, hält es mir mit seiner eisernen Klaue eine Phiole mit farblosem Inhalt unter die Nase.

"Öffne sie bitte."

Zögernd ziehe ich den Korken heraus. Beinahe zeitgleich steigt ein scharfer Gestank in meine Nase, gegen den die schlimmsten Schweißfüße alt aussähen! "Reicht bereits, du kannst die Phiole wieder zumachen."

"Mit Freuden!"

Ich bemerke, wie meine Nase läuft. Schneller, als das ich es hochziehen kann. Das Irrlicht beobachtet indes: "Tatsächlich… blaue Färbung des Nasensekrets. In diesem Falle…" Es erklärt mir nicht mal, was genau das zu bedeuten hat, oder wie das bitte sein kann und greift sich plötzlich einen Haken an einer langen, spindeldünnen Stange. Mir schwant Übles.

"Und… wozu ist das gut?!"

"Keine Sorge. Es wird schneller vorbei sein, als du denkst.", prophezeit das Irrlicht und kommt näher. Nicht wirklich das, was ich hören wollte!

Es setzt den Haken unter einem meiner Nasenlöcher an. Sira und ich ziehen fast gleichzeitig scharf die Luft ein. "Beweg dich bitte nicht, wenn ich dir jetzt gleich den Schuldigen aus der Nase ziehe, wenn du nicht willst, dass ich dir vielleicht das Naseninnere ankratze." Ich traue mich nicht ein mal zu nicken, sondern warte furchtsam ab, bis der dünne Haken meine Nasenhöhle hinaufwandert.

Ich verkrampfe komplett und atme nur ganz flach, um mich zu beherrschen. Meine Güte, hoffentlich geht nichts schief, hoffentlich nicht! Hin und wieder stößt der Haken irgendwo an etwas und ich erstarre sofort noch weiter. Tränen steigen mir in die Augen, mehr vor Angst als vor Schmerz.

Dann greift der Haken plötzlich etwas. Was, weiß ich nicht, aber ich kann es spüren. Feine Härchen kitzeln mich im Inneren meiner Nase. "So, und jetzt ganz ruhig!", zischt das Irrlicht.

Sira hat sich abgewandt und sogar das Gesicht in ihren Händen vergraben, um nicht teilzuhaben an dem Schauspiel. Ich selbst kneife auch die Augen zu, aber mir kommt es so vor, als sei ich nun noch verwundlicher.

Da zieht das Irrlicht ganz plötzlich an, reißt mir etwas aus der Nase und treibt mir den Schmerz in die Stimme, die laut entweicht. Scheiße! Oh, von allen Göttern verflucht, Donnerwetter noch mal, tut das weh! Ich keuche, reiße meine Augen weit auf und schaue auf eine kleine Blutpfütze unter mir. Hin und wieder tropft noch etwas Blut aus meiner Nase nach, aber das meiste fließt herunter an einer dunklen, schwammartigen Wurzel, die an dem Haken hängt, den das Irrlicht in der Hand hält. Auch Sira schaut wieder her und kriegt fast einen Schreikrampf, als es den schleimigen Blutbatzen sieht. Sie ruft: "Was… was in aller Götter Namen ist das?!"

"Eine Oblivienwurzel.", erklärt das Irrlicht, "Das ist ein Gewächs, was man in Cardighna gar nicht findet, das aber immer wieder eingeschmuggelt wird. Man führt es durch die Nase ein und platziert es nahe des Gehirns. Die genaue Dosis und Verknotung der Wurzeln ergibt dann eine geheime Sprache für das, was der Vergiftete ab sofort denken soll und benebelt die Sinne. Es gibt kaum jemanden, der dieses Handwerk so unheimlich gut beherrscht. Das hier ist die stunden- wenn nicht tagelange Arbeit eines Experten gewesen!" Ich starre das daumengroße Labyrinth aus Knoten und Wurzelhöhlen an.

"Aber… sollte ich dann jetzt nicht geheilt…" Meine Stimme versagt, abrupt wird mir schlecht. Das Irrlicht schiebt mir einen leeren Tonkrug zu, der schnell gefüllt ist. In meinem Rachen scheint alles zusammenzulaufen und eine üble Mischung zu ergeben.

"Es dauert, bis dein Körper all die Ausdünstungen der Pflanze abgebaut haben wird. Meist benötigt es einen ganzen Tag, bis das Gift seine Wirkung erreicht, und mindestens genauso lange, bis sie verflogen sein wird. Bitte leg dich hin und schlafe. Du kannst jetzt in dieser Verfassung nicht weiter suchen."

"Aber… was wird denn dann aus Alex?! Und Ludwig?! Ich lasse sie nicht im Stich-" Meine Knie geben nach.

"Jetzt hinauszugehen, wäre Wahnsinn! Du wirst hier bleiben. Und ich werde nach ihnen suchen. Haben wir uns verstanden?" Ich habe dem strengen Ton nichts entgegenzusetzen und krieche entkräftet zum Bett. Das Irrlicht sagt noch irgendetwas, aber binnen Sekunden bin ich bereits eingedöst.
 

IV.
 

Weit weg von Sepromor und den drei Reisenden, die Maljus', Siras und Alex' Spuren folgten, war zu dieser Zeit Flera, die Zofe, welche trotz der späten Stunde noch außer Haus war. Unter dem Schutz des Regenmantels durchquerte sie fernab von entzündeten Laternen mehrere Häusergerippe, lief die dunklen Stiegen einer abknickende Steintreppe in einen verlassenen Hinterhof hinab und klopfte leise an die verschlossene Holztüre.

"Die Spatzen haben heute Nacht frei.", zischte jemand hinter der Türe.

Flera erwiderte den anderen Teil der Erkennungsparole: "Aber ich höre sie immer noch pfeifen."

Mehrmals klickte es, Schlösser wurden geöffnet, Riegel entfernt. Dann öffnete Rheomin ihr die Tür und bat sie mit einer ausschweifenden Geste, einzutreten. Der dunkle Regenmantel, in dem er sich verbarg, überdeckte sogar sein Parfüm.

Es brannten nicht mehr als sechs Kerzen in dem weitläufigen Schankkeller, wo längst kein Wirt mehr war, um Gäste zu bedienen. An seiner Stelle bevölkerten den Raum neben Rheomin und Flera nur drei andere Damen und Herren.

Flera ging ohne weiteres auf den Mann mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze zu. Ein Lächeln zierte seine älteren Züge, die er guten Gewissens versteckte. Er trug einen hellen Wolfsfellmantel und wann immer er sich auch nur ein bisschen rührte, klapperte irgendetwas darunter. Keiner nahm davon Notiz.

Die Zofe setzte sich zu ihm und legte ihre Hand auf seine. Ihr "Du bist später da, als verabredet, mein Freund.", klang nicht scheltend.

"Tut mir leid. Ich habe etwas Zeit vertan. Als ich deine Nachricht erhalten habe, bin ich noch in Seestfor gewesen. Alfred hat mich eben mal wieder gelöchert…" Flera schüttelte seufzend ihren Kopf und sagte: "Du kannst einfach nicht zusehen, wie er alleine am Wegesrand lungert, oder?"

"Ich wittere großes Potential in ihm. Er ist doch schließlich der Sohn eines Königsritters!"

"Das behaupteter zumindest!", korrigiertw sie den Mann mit dem verborgenen Gesicht. "Und du beflügelst seine Fantasie bloß noch, wenn du ihm immer wieder von den alten Tagen erzählst. Solange er keine der Ritterinsignien vorweisen kann, ist nichts bewiesen."

"Also hat er weder ein Diamantschwert, noch eines der acht Familienjuwelen.", schlussfolgerte eine der beiden Dame, die nach nicht mehr als einer einfachen Dirne aussah. Flera würdigte sie nur eines kurzen Blickes, kannte die insgeheime Magierin schon längst.

So sagte sie zu dem Mann im Wolfsfell: "Aber wo wir schon von vielversprechenden jungen Kerlen reden, ich muss dir was erzählen!"

"Hat das etwas mit unserem Treffen hier zu tun?", wollte er wissen, "Denn ich glaube, Rheomin, Simon und die beiden verehrten Damen fühlen sich etwas ausgeschlossen."

"Oh, lasst euch nur Zeit.", säuselte Rheomin grinsend, die beiden Frauen kicherten, während der dritte Mann im Bunde düsteren Blickes sein Rüstzeug putzte.

Flera blieb aber ernst: "Es hat auch mit dem Widerstand zu tun. Wir wissen jetzt den Namen unseres Gegners." Das fegte jedem das Lächeln aus dem Gesicht und ließ den Söldner herumfahren, bis das Grinsen umso triumphaler wiederkehrte.

"Und der Name des Jungens, der das herausgefunden hat, lautet Maljus, Roy. Weckt das Erinnerungen?"

"Mehr, als mir lieb ist…"
 

V.
 

Hätte ich gewusst, dass das passiert, hätte ich mich nachts nicht raus geschlichen! Es ist, als dürfe man sowas nur ein mal im Leben machen. In Welsdorf ist das noch gut gegangen, aber in Klemensbürgen…

Ich hatte nicht schlafen können, also hatte ich mich auf den Korridor und hinaus in die Nacht gestohlen. Ich wollte allein sein - ich hab ja nicht ahnen können, dass Sira sich irgendwo in meinen Taschen verkrümelt hatte und damit auch nach Seestfor gebracht werden würde - und außerhalb des engen Gemachs meine Gedanken ausschweifen lassen.

Verloren darin irrte ich durch die nächtliche Ortschaft, begegnete niemanden und war erst wieder wach gerüttelt, als ich das Herrenhaus mit ein paar noch erleuchteten Fenstern vor mir aufragen sah.

Dyonix war irgendwo darin, schlief ruhig oder arbeitete wohl akribisch weitere Gemeinheiten aus, mit denen er Cardighna in Angst und Schrecken versetzen konnte. Ich fragte mich, was in dem Kopf dieses Mannes vor sich ging, dass er sich offenbar daran erbaute, Leben zu opfern und zu zerstören. Anstatt meiner Person hätte er es verdient, nicht schlafen zu können!

"Ich wusste, dass ich dich Abschaum wieder sehen würde."

Ich fuhr herum und verdammte zugleich, dass ich mein Schwert zurückgelassen hatte. Aaren trug ein Jackett mit Silberfäden und seine Nase spöttisch hoch. Ich machte einen Schritt zurück und hätte ihm gerne eine Beleidigung an den Kopf geworfen, weil ich ihn bloß sah, wie er selbstgefällig näher kam; als eine starke Hand mir den Arm auf den Rücken drehte. Ich kniff meine Augen zusammen vor Schmerzen, legte den Kopf in den Nacken, um den Mann zu sehen.

Der dunkelhäutige Titan, den ich bei unserer Ankunft nur am Rande bemerkt hatte, grinste mich mit seinen blitzend weißen Zähnen an, der perfekte Kontrast zu seinem dichten, schwarzen Vollbart. Sein Blick war bohrend.

"Madame Kile, wenn Ihr die Güte hättet!", rief Aaron mit falschem Respekt vor der vollbusigen Frau, die sich zu uns gesellte, nachdem das Muskelpaket mich hinters Haus gezerrt hatte. Die Frau, die mir später in meinem letzten Traum von Forsiano erscheinen würde, blickte mich bedauernd, aber gestreng an. Sie fragte: "Das ist also der Junge?"

"Natürlich! Na los, lasst Eure Gehirnwäsche wirken, wie Ihr es Onkel Dyonix versprochen habt!", drängte Aaron. Er knackte mit seinen gepuderten Knöcheln. "Oder ich kümmere mich auf meine Art um diesen impertinenten Schandfleck!"

"Das wird nicht nötig sein. Aber vergesst auch nicht Euren Teil der Abmachung!"

"Genau!", rief auch der Titan, "Fradexus' Freilassung gegen Kiles Dienste als Illusionszauberin!"

"Ja, ja, der Rothaarige kommt frei, sobald wir diesen Pöbel verzaubert und den Gauklern verkauft haben!" Ich wurde noch aufgeregter, meinte er damit den Hahnenkopf, diesen Gefangenen, der mich nach irgendeiner Maske gefragt hatte?! Und er gehörte zu dieser Kile und dem Riesen?!

Ich hielt es nicht mehr aus und wand mich verzweifelt im Griff des Titanenkriegers. Wütend schrie ich Aaron an: "Du aufgeblasener Wichtigtuer! Wenn du glaubst, dass ich dich so davon kommen lasse-" Die Frau schleuderte mir funkelnden Sand in die Augen. Fast zeitgleich, als ich meine Augen zusammenkniff, überkam mich eine tiefe Müdigkeit.

"Keine Sorge, 'Prophezeiter', wenn du wieder aufwachst, wirst du dich nicht mal mehr an deinen echten Namen erinnern.", lachte Aaron gehässig.

"Es ist besser als der Tod. Du bist noch jung…", flüsterte die Orangehaarige mitleidig und führte wohl ihre dubiose Prozedur durch, sobald sie mir noch einen Schlag in den Nacken verpasst hatte.

Aber nun bin ich wieder im Bilde, jetzt ist alles wieder klar.

Und wenn ich Aaron erwische, dann gnade ihm Mors!
 

VI.
 

Die Fackeln sind längst niedergebrannt, als ich aufwache. Zum ersten Mal wieder ein ganz ruhiges und erfrischendes Erwachen und dann ausgerechnet inmitten feindlichen Territoriums. Wieviel Zeit ist vergangen? Ein Tag? Zwei Tage?

Mein Körper fühlt sich ausgeruht, aber eingerostet an. Ich dehne mich etwas, um endlich wieder Gefühl in meinen Gliedern zu bekommen. Das Irrlicht ist verschwunden… Sira auch? Nein, ich sehe ihr schwaches Leuchten auf einem der Tische, wo sie dösend hockt.

"Sira? Sira, wach auf!"

Verschlafen öffnet sie ihre Augen und blinzelt konfus.

"Du… du bist wieder wach?"

"Ja. Und keine Sorge, jetzt sehe ich wieder klar. Ich weiß wieder, wer ich wirklich bin und was ich zu tun habe."

"Das hat aber auch gedauert! Du hast einen ganzen Tag lang geschlafen!"

"War das Irrlicht schon mal wieder da?", frage ich ungebremst.

"Nein. Ich fürchte, es ist aufgehalten worden." Unwohl fügt sie noch hinzu: "Ich habe durchs Türschloss gespäht, eine dieser untoten Rüstungen hält immer noch Wache. Geras verharrt, bis wir uns entweder aus dem sicheren Hafen wagen, oder hier zugrunde gehen." Und prompt sind wir zurück in der Gefahr. Das war ja eine kurze Illusion von Ruhe und Geborgenheit.

An der Wand sehe ich die heilige Hellebarde lehnen, direkt neben einer Truhe, aus der ein paar Stofffetzen ragen. Ich gehe zu der Truhe und sage zu Sira: "Wir müssen irgendwie an diesem Monster vorbei." Aber vorerst will ich sehen, ob sich in dieser Altkleidersammlung auch was für mich befindet. Meine Sachen sind verdreckt von Sand, Staub, Blut und müffelnden Bettdecken.

Ich werde fündig. Ich tausche Weste und Hemd gegen eine beigefarbene Tunika mit einem schwarzen Skorpion darauf aus - die sogar in meiner Größe ist -, binde meine Hosenbeine mit hellen Schärpen fest und tausche die unpraktischen Gauklerlatschen gegen hohe Sandalen aus. Zum Schluss werfe ich mir noch einen braunen Juteumhang über und ziehe ein Paar fingerlose Handschuhe an.

"Wären Eure Majestät dann bereit, sich den Unholden zu präsentieren?", nörgelt Sira.

"Nur weil du nackt, wie Terra dich schuf, rumflatterst, musst du nicht gleich so hetzen!", erwidere ich genervt. "Mit dir hab ich sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen, wegen diesem angeblichen Kuss im Mondschein!"

"Du hast es geglaubt! Und nun komm scho~n: dir wäre es doch sicher lieber, wenn's wirklich passiert wäre!" Sie schüttet sich aus darüber, während mein protestierendes "So ein Blödsinn!" in ihrem Gelächter untergeht.

Verdammt, es ist wirklich alles wieder beim Alten.
 

Es vergehen nicht mal Sekunden, nachdem ich die Tür aufgerissen habe, und ich blocke das Schwert ab und lenke es weg von mir. Die Rüstung stolpert ins Leere, ich ziehe ihr mit der klingenbewehrten Stange die Beine weg und flüchte in einen der abzweigenden Gänge, sobald der Metallmann zu Boden gefallen ist. Nach vier Metern rappelt er sich auf und beginnt mit der Verfolgung.

Ich haste am Ende des Korridors eine niedrige Wendeltreppe nach oben, kann schon eine weitere lebendige Rüstung zwischen zwei Säulenkunstwerken erblicken, aber das Überraschungsmoment ermöglicht mir, sie die Treppe hinunterzuschmeißen, sodass sie unter ohrenbetäubenden Scheppern direkt in die andere knallt.

So weit, so g-

"Jungs!", ruft da eine donnernde Stimme.

"Beim Satinarsch von 'nem Westchen, schaut mal, was sich hierher verirrt hat!", grölt eine andere brüllend.

Nicht auch das noch! Jetzt hätten wir also Spiegeldämonen, einen Umgedrehten Herren, dessen Metalldiener und jetzt auch noch eine ganze Bande von Ost-Titanen in dieser vermaledeiten Burg! Obwohl sie vielleicht nur zwei oder maximal drei Jahre älter als ich sein mögen, überragen sie mich um gut zehn bis zwölf Hauptlängen.

Einer von den abfällig grinsenden Halbstarken sticht mir besonders in Auge, nämlich der blonde mit dem spitz zulaufenden Kinn, der sich sein Haar mit Pomade vorne zu einem aufragenden Blatt frisiert, ansonsten aber alles in zotteligen Spitzen nach hinten gekämmt hat.

Seine schmale Nase rümpfend grunzt er: "Ich glaub, mich tritt 'n Pferd, war das grade echt dieses winzige Albenüppchen, das uns einen Spielball weggenommen hat?!" Verstreut zwischen ihren Füßen und in ihren geballten Fäusten erkenne ich die kümmerlichen Überreste zerbeulter Panzer und Metallplatten. Und keiner hat Waffen! Die haben sie mit bloßen Fäusten in Grund und Boden gerammt!

"Sollen wir den genauso wie die anderen Eindringlinge auch erledigen, Icondor?"

"Natürlich! Jeden, der in unser Hoheitsgebiet eindringt!"

"Was?! A- aber nein, ich bin doch nicht eingedrungen!", versuche ich, das Missverständnis gütig zu klären.

"Oh doch!", dröhnt Icondor, "Du stehst auf dem heiligen Grund der Wüstentitanen, elendes Würstchen!" Was ist dem denn zu Kopf gestiegen? Ich dachte, diese Festung gehöre den Mors-Kriegern!

Etwas fester sage ich: "Entschuldigung, das wusste ich doch nicht! Nur musste ich hierher, ich suche-"

Der größte und älteste der Titanen, dieser Icondor fällt mir ins Wort: "Klappe! Ist mir egal, was dich hierher getrieben hat! Hau ab, oder wir machen Matsch aus dir!" Er schaut zu seinen Kumpanen. "Los Männer, auf ihn!" Wenn ich das gewusst hätte- ach, das hatten wir doch schon mal, ich sollte lieber die Beine in die Hand nehmen und verduften!

Zu spät! Der erste Titanenjüngling rast schon auf mich zu. Die Angst in mir steigt, denn ich weiß nicht, was diesen Fleischberg aufhalten könnte. Sira brüllt mich an, ich solle wegrennen, aber das Beben des Bodens unter den Füßen des Titans friert meine Beine ein. Weniger als ein Meter trennt mich noch von der riesigen Faust, das kann jetzt nur noch schief gehen!

Nie hab ich mich behüteter von Göttern gefühlt, als jetzt, da der Titan plötzlich mit beiden Füßen durch den Boden bricht und mit einem gellenden Aufschrei verkündet: "Helft mir, ich stecke fest!"

"Boah, bist du vielleicht erbärmlich!", schimpft Icondor ihn. "Und du, Bürschchen, wirst jetzt sehen, was du davon hast!" Meine Wut über diesen aufgeblasenen Wichtigtuer überspielt meine Furcht, sodass ich energisch frage: "Wie oft denn noch?! Ich wusste nicht, dass das hier euer Gebiet ist!"

"Darüber wirste im Bergwerk nachdenken können!" Icondor krempelt die Ärmel seines Hemdes hoch und lässt seinen muskulösen Unterarm kreisen. "Und jetzt zieh deine Waffe! Du beleidigst uns bloß noch mehr, wenn du nicht wenigstens ein bisschen deine Kraft unter Beweis stellen kann! Bei uns gilt das Recht des Stärkeren!"

"Ach so~, bei euch benutzt man die Muckis, der Kopf ist ja sowieso hohl."

"Was hast du da grade gesagt?!" Mit offenen Mündern starren sie mich an. Was ist mir denn jetzt wieder rausgerutscht?! Man könnte meinen, ich sei selber kopflos momentan!

Einer der Titanen feuert Icondor an: "Los, Anführer, den versenkste doch mit einem Schlag im Boden!"

"Höhö, so wie Jex, die taube Nuss!"

Der Titan, der bis zur Hüfte im Boden versunken ist, ruft: "Dir zeig ich später noch, wer hier 'ne taube Nuss ist!" Die kindischen Streitereien der Halbstarken halten Icondor nur kurz auf, er hat sich geistig und körperlich vorbereitet, um mir Manieren beizubringen. Wenn ich Glück hab, kann ich ihm ein wenig seine zik-zak-förmigen Augenbrauen versengen. Und wenn nicht… tja, dann war es das wohl!

"Wer wagt es, diese heiligen Hallen mit seinen gottlosen Füßen zu entweihen?!" Noch nie habe ich die Stimme des Irrlichts donnernder erklingen gehört. Icondor und seinen Freunden entweicht mit einem Mal alle Farbe aus dem Gesicht. Eine weitere Stimme, wie das Schreien eines erbosten Vulkans, hallt durch die Halle: "Ihr sucht wohl den Tod, Kinder? Den sollt ihr haben, für Heiligtumsschänder wie euch hat Mors eine eigene Hölle!"

"Scheiße, wir hauen ab! Los, Jex, oder willst du verschlungen werden?!" Icondors Stimme ist ganz zitterig und kleinlaut geworden. Er rennt mit den anderen nach draußen, während Jex versucht, sich aus dem Loch zu stemmen. Da fliegen fünf Irrlichter durch das Eingangsportal und führen einen angsteinflößenden Reigen mit ihren Schädellampen auf, der den etwas klobigeren Titanen noch weiter das Fürchten lehrt.

"Einer ist noch da! Wir mögen seine Seele als Mahnmal für die anderen zerrupfen und seine Leiche den vermaledeiten Titanen schicken!"

"Nein! Nein, bitte lasst mich leben!" Er ist den Tränen nahe und hilflos dabei, irgendwie seinen dicken Hintern nach oben zu ziehen. Ich fühle ihm nach, ich weiß, wie das ist, in Todesgefahr zu schweben - ohne sicheren Boden unter den Füßen. Aber soll ich diesem Dickerchen wirklich helfen? Grade eben wollte er mich noch zusammenschlagen! Und die Geister haben wohl auch ein Wörtchen mit ihm zu reden.

Ach, soll Mors mich holen, ich lass ihn nicht verrecken!

"Verschwinde und verpass diesem Icondor von mir eine, kapisch?", sage ich zu ihm, ehe ich die Hellebarde nehme und zwischen den Rand des Loches und den Hosenboden des Riesen klemme. Die Irrlicht umkreisen uns noch ein paar mal, rücken wie in Trance näher und scheinen mich zu ignorieren. Der Nebel wirkt rot-leuchtend, der Sandstein mit Licht zu brennen, aber ich stemme mich unbeirrt von oben auf den Metallschaft, den ich als Schuhlöffel missbrauche.

Jex ächzt, die Irrlichter, wütende Wächter der heiligen Feste heulen stimmlos ein Lied des Todes. Nun mach schon, ich will nicht rausfinden, was wütende Gespenster anrichten können!

Jex flutscht aus dem Loch, krabbelt die ersten Meter, geht zu gebücktem Rennen über und saust direkt unter dem flatternden Mantel eines Gespenstes hindurch zur Tür. Er rennt durch ein großes Stahlportal nach draußen auf eine zehn Meter hohe Brücke, von der er todesmutig hinunterspringt.

"Das vergess' ich dir nich', Üppchen!", höre ich ihn noch atemlos rufen.

Die Geister halten inne, ihr Kreistanz kommt zu einem Stopp, das glühende Nebelrot erlöscht zu einem trostlosen Blaugrau wie vorher.

Als hätten sie nichts mitbekommen, sagt eines: "Der Schuft ist entkommen. Mors wird wütend mit uns sein." Sie verstreuen sich ohne Weiteres wieder, nur das Irrlicht, welches wir bereits kennen, bleibt bei uns. Es stellt fest: "Du bist wieder bei Bewusstsein. Sehr gut."

"Und endlich haben wir dich wieder gefunden!", ruft Rio, der mit Selet, Alex und Craylo hereingelaufen kommt. Die Prinzessin fällt mir beinahe um den Hals, während Alex und Craylo augenzwinkernd grinsen. … Supi, da hat Siras blöder Scherz ja zwei gefunden, die drauf reingefallen sind.

"Wie seid ihr überhaupt hierher gekommen?", frage ich verblüfft.

"Sie hat uns alle nacheinander aufgesammelt, als wir vorhin hierher gekommen sind!", antwortet Selet mit einem Fingerzeig auf das Irrlicht.

"Kleiner, bist du etwa wieder bei Sinnen?"

"Natürlich! Aber das erklär ich alles später!", verspreche ich. Denn nun komme ich von den schönen wieder zu den dringenden Angelegenheiten: "Ludwig ist noch nicht gefunden und einer der Umgedrehten Männer hat die Burg eingenommen!"

Das Irrlicht schwebt zu der riesigen Brücke, die hunderte von Meter über die eisigen Dünen hinweg zum Turm von Sepromor führen. Es lässt uns wissen: "Sowohl Ludwig, als auch Geras werden dort drüben sein."

"Der erwartet uns sogar schon.", zeigt Alex auf. Er hat Recht, ein ganzer Trupp laufender Ritterrüstungen ist dabei, die Brücke zu überqueren!

"Craylo, darf ich drauf hinweisen, dass sogar ich ein wenig um das eigene Leben bange, wenn du jetzt hoffentlich nicht ernsthaft denkst: Mensch, ich sollte mich mit meinen Freunden waghalsig in eine Armee von lebendem Metall werfen, damit sie mich auch bloß vierteilen!", krakeelt Carod, "Wir haben die Turteltäubchen wieder beisammen und sie wissen auch wieder, wie sie heißen und wo links und rechts ist, also sollten wir uns verziehen und Geras und Ludwig und all das Ungeziefer hier mal schön sich bräunen lassen!" Craylos besorgte Miene verrät, dass er dem Dolch nicht mal so Unrecht gibt.

Und Dorac würde die Flucht auch bevorzugen: "Rückzug klingt auch meiner Meinung nach vielversprechend. Ich möchte Herrn Ludwig eigentlich nicht im Stich lassen, aber wir können ja die Wache von Seestfor informieren und sie die Angelegenheit übernehmen lassen!"

"Lieber fall ich auf der Stelle tot um, als dass ich Geras entkommen lasse.", knurrt ausgerechnet Rio, der in Seestfor seine massive, alte Rüstung gegen ein leichteres Gewand und einen schützenden Spangenpanzer ausgetauscht hat. Statt dem Gladius führt er ein Malchus, hat es bereits gezogen und rennt blind vor Zorn nach draußen in die Nacht.

"Rio! Bleib hier!", schreit Selet, ihr Tonfall wird immer schneidender: "Rio, ich befehle dir, stehen zu bleiben!" Sie erntet Rios missgünstigsten Blick, den ich je erlebt habe, seine Augen sind weit aufgerissen und sehen aus wie zwei gelbe Monde in der Nachtschwärze seines dunklen Gesichts.

Er setzt sich wieder in Bewegung und läuft Geras' Fußsoldaten entgegen.

Capitulum XII: Turm von Sepromor - Zeit für den Abschied


 

I.
 

Ich bin selbst noch ganz verwirrt, als ich bereits den Turm betreten habe, dessen Außenwand eher an ein übergroßes Amphitheater erinnert, als an das Gefängnis, das es laut Sira und dem Irrlicht ein mal gewesen ist.

Rio hat sich wie ein Berserker durch alle Eisenmänner geschlagen, sie mit einfachen Hieben beiseite gefegt wie lästige Fliegen und ist mit einem Schrei auf den Lippen im Inneren von Sepromors Vollzugsanstalt verschwunden. Und wir sind, wie wir halt so sind, gleich hinterhergerannt, um ihn bereits im ersten Saal in der Form eines großen Achtecks aus den Augen zu verlieren. Alex und Craylo hängen etwas hinterher, weil sie sich erst überwinden mussten, mitzukommen.

Eigentlich verständlich, aber wenn Rio hier weiter so aufräumt, brauche ich mir keine Sorgen mehr um Geras' Schergen zu machen. Nur um den Verbannten selber.

"Geras galt lange Zeit als Prometheus' rechte Hand und soll weit über ein herkömmliches Sterblichenalter hinausgelebt haben, weil er sich stets von jungem Blut ernährt hat. Ganze Völker sollen alleine von ihm gerichtet und ausgesaugt worden sein, deswegen nennen wir ihn den Blutdieb." Es läuft mir kalt den Rücken herunter bei dieser Geschichte.

"Und Geras ist einfach so aus dem Nichts aufgetaucht?!", fragt Sira irritiert.

"Ja. Jemand muss ihn aus der Unterwelt befreit haben, ich glaube kaum, dass er selbst aus dem Exil entkommen ist.", erwidert das Irrlicht.

"Sira, hast du den selben Verdacht wie ich?" Ich nenne es Verdacht, dabei hat mir ein Geist namens Forsiano klipp und klar gesagt, dass Dyonix es gewesen ist. Aber wie lächerlich klingt das bitte, wenn ich jetzt erzähle, dass ich in meinen Träumen den Schwertkampf übe und erfahre, was mein Gegner tut?

Aber so habe ich das noch gar nicht gesehen: Forsiano verfügt über ein wahrhaftiges Allwissen. Er konnte problemlos all meine Opponenten erscheinen lassen letztes Mal, wusste immer sofort bescheid, wenn ich einen neuen Kampf bestritten hatte, und ist besser im Bilde über die Handlungen des Consultoris Maximi als wir.

Selbst für einen Geist ist das eigenartig.

"Schon längst!", prahlt Sira derweil, "Vermutlich wusste ich es noch vor dir!" Sie ballt ihre Hände zu winzigen Fäusten und macht ein erzürntes Gesicht dazu. "Das war vermutlich nur eine Fingerübung für später; wenn er versuchen wird, auch Prometheus in unsere Welt zu bringen!"

"Sepromor birgt viele Weissagungen aus alten Tagen, die von einer Rückkehr der Umgedrehten Männer sprechen.", wirft das Irrlicht urplötzlich ein, "Auch solche, die von einem heiligen Schwert sprechen. Es gibt sogar heute noch Räuber, die solche Schriften stehlen…"

"Das kann aber nicht zufällig eine rothaarige Harpyie, gewesen sein, o~der?", vermutet Selet gewitzten Grinsens. Das wär' ein Ding, wenn das tatsächlich Kora gewesen wäre!

Das Irrlicht ist genauso überrascht wie ich und merkt an: "Du musst eine der beeindruckendsten Hexen sein, die ich meinen Lebtag getroffen habe! Woher in Mors' ewigem Namen weißt du das?!" Selet lacht kindlich froh in sich hinein, weil sie richtig gelegen hat. Sie speist den Geist ab mit: "So ist das, wenn man viel herumkommt."

"Ähm, apropos Schwert…", durchbricht Sira das kurzweilige Gespräch. Anklagend starrt sie die Hexenprinzessin an. "Wo ist eigentlich das Schwert abgeblieben…?"

"Ich hab's nicht!", rufe ich sofort, "Ich hatte es schon in der Nacht der Entführung nicht dabei!"

"Keine Sorge, wir haben es extra mitgenommen und brav darauf aufgepasst!", hebt Selet uns eine enorme Last von den Schultern.

"Und we~r passt jetztdarauf auf?", fragt Sira mit steigender Ungeduld in ihrer hohen Stimme. Selets Miene erstarrt ertappt, Craylo blinzelt ein mal. Dann entsinnt er sich langsam: "Das hatte doch Rio als Letzter bei sich, oder?" Die Ruhe vor dem Sturm.

"… Schnappt euch sofort diesen lebensmüden Dunkelelf, bevor ichnoch zur Gefahr werde!"
 

Noch ist Rios Weg nachvollziehbar, all die Sandschichten verraten uns ungefragt, dass er schnurstracks dem geraden Gang zur Turmmitte gefolgt ist. Griselda und Craylo haben sich mit Fackeln bewaffnet und erleuchten uns den Weg.

Es hat ein paar nicht weiter erwähnenswerte Zusammenstöße mit den letzten Überbleibseln von Geras' Heer gegeben, aber keiner hat wirklich mehr als ein paar Schrammen zu beklagen. Das kann aber nicht allein Rios Werk gewesen sein, da muss auch ein ganz bestimmter Mors-Krieger seine Finger im Spiel gehabt haben!

Plötzlich entfernen sich die Wände voneinander, der Gang weitet sich zu einem gewaltigen Rundgang aus meterhohen Säulen mit schräg anliegenden Stützbalken, auf denen das schräge Deckenkonstrukt lastet. Ich kann ein paar verblasste Malereien über uns ausmachen, aber es ist zu dunkel und der Zahn der Zeit zu unnachgiebig gewesen, als dass ich Einzelheiten erkennen könnte.

"Sag mal, hört ihr eigentlich auch dieses Plätschern?", fragt Alex. Wir gehen noch ein paar Schritte und sehen, was er meint.

Das schwarze Wasser dünkt mich zu brennen, sobald es vom Fackelschein berührt worden ist. Ganze Wasserfälle aus ölig glänzendem Schwarz fließen in bogenförmigen Aussparungen der kreisrunden Mauern vor uns hinab und lassen nur die mit Blattgold bemalten Pforten frei.

"Und der Wurm ist auch schon wieder da. Und diesmal hat er sogar alle Anhängsel dabei!" Mit abfälliger Mimik tritt Typhon durch einen Wasserfall hindurch, ohne dass ein Tropfen an ihm haften bleibt. Ein wenig verkohlt sieht er ja aus. "Na, ist da oben im Schädel auch wieder alles in Butter?"

"Du schon wieder…", presse ich mit Beherrschung hervor, "Und ich hab gehofft, die kleine Feuerprobe vorhin hätte dir wenigstens deine Zunge verbrannt!"

"Fällt das eigentlich bloß mir auf, dass wir noch häufiger als sonst an Dämonen geraten, seitdem wir diesen Kindern ständig unter die Arme greifen?"

"Ein Exorzist lebt dafür, zu helfen und sich den Ungeheuern zu stellen! Maljus, bange nicht, wir werden dir beistehen!"

"Ich glaube nicht…", beginnt Typhon, "… dass er für diesen Kampf eure Hilfe möchte." Sein Auge verengt sich. "Nicht wahr, mein Ebenbild?" In mir kocht die Galle über, wenn ich ihn so überheblich reden höre, aber er trifft den Nagel auf den Kopf. Diese Kreatur der Dunkelheit trägt mein Gesicht mit größter Selbstverständlichkeit, versteckt sich hinter meiner Stimme und ahmt meine Haltungen nach.

Wie bei einem friedlichen Plausch lehnt er sich an einen dekorativen Pfeiler, scheint zu warten. Er reizt mich noch mehr, indem er lacht: "Na los, setz dich in Bewegung! Ich will dir diese Hellebarde aus der Hand reißen, sie zwischen meinen Zähnen zermalmen und deinen Kopf aufspießen!"

"Lass dich nicht von ihm provozieren, Maljus, hörst du?!", ruft Alex.

"Nun, ich sag ja nicht, dass es schnell gehen muss…" Typhon zuckt lässig mit den Achseln. "Aber ihr wollt ja vermutlich zu Geras. Und den Weg dahin versperre ich."

Behaglich schreite ich auf Typhon zu, wobei ich ihm fest ins Auge sehe. Das scheint an dem inhaltslosen Weiß allerdings abzuprallen. Dennoch frage ich eindringlich: "Gehörst du etwa auch zu Geras?"

"Ach, Geras! Geras ist nichts weiter als ein kleiner zusätzlicher Faktor hier. Ich komme ihm nicht in die Quere, er lässt mich meines Amtes walten." Er leckt sich mit seiner verfaulten Zunge über die Lippen. "Aber das auch nur, weil er noch nicht weiß, dass du die Nachfolge des Mannes angetreten hast, der Geras' Kameraden auf ewig verbannt hat."

Typhon schüttelt sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, ein wenig zu ruhig, sodass ich meine Chance wittere und blitzschnell in den Spurt übergehe, um ihm eine volle Breitseite mit der Hellebarde zu verpassen. Unsere Blicke begegnen sich. Seiner ist belustigt.

"Und ab zu dem anderen Spitzohr mit di~r!", singt er, legt plötzlich einen Hebel an dem Pfeiler um und stößt noch ein kurzes Lachen aus, das hallend erstirbt, weil ich wie aus dem Nichts ins Leere getreten bin und ins Ungewisse hinabstürze.

Nein, nicht schon wieder diese Masche! Nicht schon wieder ein Sturz, der meinen Tod bedeuten könnte!
 

II.
 

"Also bist du auch schon da?" Es sind apathisch ausgesprochene Floskeln wie diese, die ich wohl nicht im Geringsten an Rio vermisst habe. Mit genau dieser hat er mich begrüßt, nachdem ich meine Kletterpartie beendet und gerade wieder meinen Puls beruhigt habe.

Ich muss Tempus mal ein Opfer darbringen, nur um mich für die eingestürzte Innenwand, auf der ich sicher gelandet bin, zu bedanken. Sie befindet sich nicht weit unter dem Loch, durch das ich gefallen bin, und von ihr aus konnte ich dann ein paar Kapitelle und Stützstreben hinabklettern. Rio hat mir erklärt, dass er es ganz ähnlich gemacht hat.

"Diese Ratte von Dämon war nicht begeistert, als sie bemerkt hat, dass ich nicht du bin.", erzählt er auf dem Weg heraus aus der knochengefüllten Grube unterhalb des Falles.

"Warum bist du auch vorausgerannt?! Wir hätten zusammen vielleicht etwas gegen Typhon tun können."

"Das verstehst du nicht.", versucht Rio, mich abzufertigen. Das denkt der sich wohl! Drum halte ich entgegen: "Das versteh ich wirklich nicht; dass man sich allein einer Legion stellt. Also erklär's mir!"

"Was verstehen Leute wie du eigentlich nicht daran, wenn jemand nicht mit ihnen reden will?" Mir fällt kein guter Konter dazu ein. Urplötzlich ist die Unterredung beendet und ich fühle mich nicht nur wie der Verlierer dieses Schlagabtausches, sondern auch noch schuldig. Dreck.

Ach, soll er doch der Geheimniskrämer bleiben. Ich lass ihn nicht mehr so einfach aus den Augen!
 

Wir haben den Kerker der Feste erreicht. Wohin man auch sieht, bis die Sicht sich in schwarzen Schleiern verliert, säumen Gitterstäbe den Gang. Manche sind bös verbogen, alle von braunem Rost entstellt und falls noch irgendjemand in diesen Zellen haust, dann sind es Asseln, Skorpione und Gebeine. Und dieser Dämon, der mich heute einfach nicht in Ruhe lassen kann.

"Beide noch am Leben? Jetzt bin ich enttäuscht!"

"Ich hoffe für dich, du hast den anderen kein Haar gekrümmt!"

"Sie sind nicht in meine Falle getappt und interessieren mich nicht. Sind einfach weiterspaziert und erkunden den Turm ein wenig."

"Du lügst wie gedruckt!" Will er mir erzählen, sie haben sich nicht um mich geschert?

"Nun, sie denken wohl, dass dir der Sturz nicht bekommen sein kann. Aber besonders mitgenommen davon waren sie auch nicht, finde ich. Das enttäuscht dich, nicht wahr-"

"Spar dir dieses hässliche Grinsen, du Kopie!", schneide ich ihm das Wort ab.

"Versuch doch, es mir auszuprügeln. Und was ist mit dir, Rio~?" Der Dunkelelf bedenkt ihn mit nur einem direkten Blick und entgegnet: "Mit dir räudigem Abschaum kämpfen? Da beliebt wohl jemand zu scherzen."

"Ah, natürlich, du musst Geras' Bekannter sein, wenn mich nicht alles täuscht."

"Geht es dich was an, Abbild?" Das erste Mal, das ich dieses Wort so abfällig ausgesprochen höre. Typhon nimmt das zu meiner Überraschung aber mehr als gelassen und macht sogar einen Schritt zur Seite. Einladend sagt er: "Niemand will dich aufhalten."

"Moment mal, Rio, du willst mich doch nicht allein lassen, oder?!", frage ich ihn. Er reagiert nicht und spaziert stumm an Typhon vorbei. Als ich ihm hinterher will, um ihn zu packen und herumzureißen, versperrt Typhon mir gleich wieder den Weg. Nervös halte ich inne, probiere, an ihm vorbeizukommen, doch er verfolgt jeden meiner Ausfallschritte. Ich traue mich einfach nicht, ihn anzurempeln. "Geh mir aus dem Weg.", knurre ich hilflos.

"Bring mich dazu.", flüstert Typhon. In voller Alarmbereitschaft entferne ich mich rückwärts von ihm, da er den Arm hebt. "Oh, was denn? So viel Angst? Dabei hast du ja noch nicht mal gesehen, was ich für dich vorbereitet habe!" Er winkelt seinen Arm leicht an und lässt den Oberarm schnell kreisen. Er kann doch nicht etwa eine neue Waffe haben, oder?! Anfangs hatte er doch nur ein Schwert!

Rasselnd kreist eine lange Kette dort, wo mal seine Hand war, die Faust wird zu einem dunklen Klumpen, aus dem krumme Zacken wachsen. Das ist ein Flegel, eine Metallkugel mit Stacheln an einer Kette!

Na großartig, es wird immer besser! Ein letztes Mal brülle ich aus voller Kehle nach Rio. Er hört immer noch nicht und Typhon kommt näher, die Kugel kreisen lassend. Dann hilft wohl alles nichts! Ich greife die Hellebarde mit beiden Händen wie eine Lanze und stoße sie geradeaus in Typhons Richtung. Er weicht aus, entlässt die Kugel aus ihrer Kreisbahn direkt in meine Richtung. Mit einer Rolle links entkomme ich noch, versuche noch mal, mein Ebenbild aufzuspießen, dies mal vom Rücken.

Als er versucht, auszureißen, bleibt er an einer der vielen Spitzen hängen, ich reiße mit aller Kraft die Hellebarde herum und schmeiße Typhon zu Boden. Das hat gesessen!

Zu früh gefreut, schon kommt die bewehrte Kugel wieder auf mich zu. Ich glaube, entkommen zu sein, da merke ich, dass sich die Kette um den Schaft meiner Waffe gewickelt hat. Typhon packt die Kette mit seiner verbleibenden Hand und zieht an. Ich zerre dagegen.

Er zieht auf einmal ganz besonders heftig, ich fliege regelrecht durch die Luft. Während ich stolpere, unternehme ich einen verzweifelten Versuch, den Schwung auszunutzen und dies mal wirklich die Klinge der Hellebarde in Typhons narbenzerfressenen Körper zu treiben.

Ich hab sowieso nicht erwartet, dass das klappt, denke ich, sobald ich auf dem Boden liege. Ich höre schon die Kette rasseln und den Morgenstern rotieren, also quäle ich mich wieder auf die Beine und schwinge mit der Klinge ein mal horizontal in Typhons Torso. Vor Schmerz knickt er ein und die Kugel gräbt ihre Klauen in den Boden.

Soll er hier unten verrotten, ich halte mich nicht länger mit ihm auf!

"W… was denkst du… wohin du gehst?!", ächzt Typhon, nachdem er wohl nur noch meinen Umhang flattern sieht.

"Mich mit wichtigeren Dingen beschäftigen als mit dir!" Es musste einfach sein. Er wird mir folgen, falls er noch laufen kann, aber weit wird er nicht kommen. Ich kauf mir Rio! Soll Selet mal sehen, wieviel sie dann noch an ihm hat, wenn ich ihr auftische, dass er immer noch sein eigenes Ding durchziehen will. Das macht mich vielleicht rasend!

"Du gehst nirgends hin!" Weiß der Diabolus, wie, aber Typhon hat es schon wieder auf die Beine geschafft, sowie mich mit der Kugel im Rücken zu treffen. Ich schleife über die kalten Steinplatten, meine Knie sind aufgeschürft und ich hab das Gefühl, meine Zähne sitzen auch nur noch halb so fest wie vorher. Spüre ich meine Beine überhaupt noch?! Ich glaube fast nicht! Ah, jetzt, na endlich!

Typhon schreit durch den Gang: "Du wolltest wegrennen?! Dich mit was Wichtigerem beschäftigen? Was ist denn wichtiger, als um dein beschissenes Leben zu kämpfen?! Weißt du, wie ich es hasse, wenn Leute mich ignorieren, lieber… ihr eigenes Ding durchziehen?!" Ich habe es wohl ganz außer Acht gelassen, aber jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Typhon und ich… Spiegelbilder, natürlich. Er verspürt die gleiche Wut wie ich, sein Zorn gibt ihm die Kraft, wenn er mich packt und zum Handeln zwingt.

Ich drehe mich unter schweren Schmerzen herum, taste zittrig nach der Hellebarde. Aber da ist noch was, wenn ich in seine hasserfüllten Züge blicke und weiß, dass ich genauso schaue, wenn ich kämpfe.

Ich erhebe mich und lächle schwach. Ja… wenn ich da dieses Gebälk und ihn sehe… das könnte klappen.

"Schon voller Vorfreude, gleich abzutreten?", keift der Dämon. Er bleckt die Zähne und stürzt damit auf mich! Verflucht, damit hatte ich nicht gerechnet! Ich halte ihn mit einem Tritt au Abstand, schwinge mich hoch und richte die Hellebarde auf die Balken. Nun komm schon, Magie oder göttlicher Schutz, jetzt wird's knapp!

Flammen züngeln, drei der alten Holzbalken brennen lichterloh, direkt über Typhon, der gebannt dort hinsieht. Das hat er nun davon, die Wut hat ihn blind gemacht - und jetzt macht das ein Haufen Schutt, als die altersschwachen Stützen bereits aufgeben und die Deckenlast nicht mehr tragen können.

Ich springe zurück, während eine Staubwolke aufquillt. Von Typhon ist nichts mehr zu hören und zu sehen, gewaltige Trümmer haben den gesamten Gang verschüttet.

Ich lasse die Hellebarde los und mich auf die Knie fallen, sobald ich mir sicher bin, dass er das nicht überlebt haben kann.
 

III.
 

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Es könnte wieder ein ganzer Tag gewesen sein, oder auch nur Sekunden. Ich fühle mich so gut wie gar nicht erholt, aber jetzt ist keine Zeit, Müdigkeit vorzuschützen. Oh je, ich fange schon so an wie Sira… aber ich habe wirklich wieder mal Zeit verschwendet, jetzt hol ich Rio bestimmt nicht mehr ein!

Ich schöpfe etwas Hoffnung, weil der Gang immerhin keine Abzweigungen hat und mir die Entscheidung abnimmt, wohin Rio gegangen sein könnte.

Was machen Selet, Sira und die anderen wohl durch? Es macht mich krank vor Sorge, nicht zu wissen, ob sie sicher sind. Aber… ist das überhaupt gerecht, wenn ich so denke? Ich habe genauso eine Stiefschwester, die ich ohne Weiteres zurückgelassen habe, eine Pflegemutter, von der ich mich gelöst habe, als wäre ich nie dankbar für ihren Schutz und ihre Fürsorge gewesen. Vielleicht sind ja weitere Skelettmänner erschienen und haben Welsdorf angegriffen, vielleicht hat Dyonix wieder mal schnell genug gedacht und sogar herausgefunden, wer meine Familie ist.

Was bringt es überhaupt, das jetztzu bedenken?! Jetzt ist es zu spät! Die Milch ist bereits verschüttet, ich bin fortgelaufen, habe die Mission angetreten, um zu verhindern, dass dieser machtgierige Premier tun und lassen kann, was er will.

Ich werde Fortuna bitten, Alid und Sara zu beschützen, solange ich nicht da bin, ich muss einfach hoffen, dass sie in Sicherheit sind, und währenddessen selber nachhaltig dafür sorgen, dass ihnen keine Gefahr durch Prometheus oder Dyonix droht.

Sira hat doch ganz recht, wenn sie mich drängt. Ich vertu jetzt keine Zeit mehr! Sofort laufe ich doppelt so schnell.

"Du solltest nichts überstürzen, Maljus. Hier unten wimmelt's vor Fallen." Ich halte an und spüre die Sandalen kurz über den Boden rutschen. Dann schaue ich zwischen einige zerbrochene Gitterstäbe. Im Halbdunkel der karg eingerichteten Zelle hätte ich den braun gebrannten Mann in seinem wie stets schwarzen Gewand nie bemerkt.

Und Geras hätte das ebenso nicht, leuchtet mir ein. Deshalb sitzt der so gemütlich hier und grinst mich schief an. Verschmitzt lächle ich ebenfalls.

"Du änderst dich auch nie, oder, Ludwig?" Mir wird klar, wie wahr das sein mag. Immerhin ist er Mors-Krieger.

"Dafür hast du dich aber ganz schön in Schale geworfen. Sag mal, das sind aber nicht zufällig die Sachen aus der Truhe in meiner kleinen Tränkeküche?" Er deutet auf meinen Umhang und die Tunika.

"A- ach die? Oh, die waren nun mal so da und da dachte ich…"

"Ts, da nimmt er einfach das Zeug von Hilford, kann man das glauben? Aber keine Angst, er braucht sie wohl nicht mehr. Und mir passen die nun leider wirklich nicht mehr." Er lacht.

"Ist dieser Hilford wohl auch ein Mors-Krieger?"

"Gewesen, ja.", erwidert Ludwig ernster, "Ein etwas magerer Zwerg, aber ein guter Freund. Ich nehme an, du weißt jetzt, wer oder was wir sind?" In seinen Augen liegt etwas Trauriges, vermischt mit tiefer Reue. Ich halte es nicht für angemessen, etwas zu sagen, sondern nicke bloß.

Ludwig seufzt. "Tja, ich schätze, das muss ganz anders wirken, wenn du jetzt weißt, dass ich gut und gerne fast zweihundert Jahre auf dem Buckel habe. Selbst für Albae 'ne ganze Menge." Er räuspert sich, weil er merkt, dass er abdriftet. "Aber gut, du wirst grade ganz andere Sorgen haben - genauso wie ich. Warum bist du überhaupt hier?"

"Das ist eine längere Geschichte. Kann ich dir das nicht unterwegs erzählen?", bitte ich ungeduldig, "Ich weiß schon, wer hier momentan für Unruhe sorgt."

"Man, ist ja richtig zum Fürchten, wie du mich heute überraschst! Also gut, Maljus, dann geh'n wir mal, ist sowieso zu ungemütlich hier unten für eine Unterhaltung."
 

In seinem Inneren brannte es wie in einem Hochofen. Jedoch nicht wegen der vielen Schnitte, die ihm die Diener Geras' beigebracht hatten, und auch nicht, weil die Anstrengung seinen salzigen Schweiß in selbige trieb, sondern weil ihn nur noch eine Tür von seinem Ziel trennte: die riesige Stahlpforte, die fast lautlos aufschwang, als er sich dagegenstemmte. Sie befand sich direkt unter dem Dach des riesigen Turms, in Windeseile hatte er Stufe für Stufe erklommen und Stockwerk für Stockwerk erobert, um den Triumph auszukosten, der ihm gleich beschert würde.

Noch während er eintrat, wurde er schon begrüßt: "Viele Jahre sind vergangen, junger Spross von Dunkelheit und Licht. Oder waren es nicht mal Jahre, seit wir uns zuletzt gegenübergestanden haben?"

"Es waren viel zu viele Jahrzehnte, die ich dir gelassen habe, Geras. Du Bestie!" Geras' Lachen hatte seinen Ursprung irgendwo zwischen den vier silbernen, übergroßen Rüstungen, die ihre Arme auf den Knäufen ihrer steinernen Schwerter lasteten. Ihre Helme waren mit roten, abscheulichen Mustern bedeckt, die Augen - alle ungerade an der Zahl, aber nie gleich viele - hatte der Erbauer wahllos in die Metallschädel gestanzt. Vieles des humanen Erscheinungsbildes ging durch geschwungene Kanten und faltenartige Erhebungen im Metall verloren.

"Du redest so, als wärest du damals Sieger gewesen. In der Unterwelt hast du jedoch nie gewonnen, bis du verschwunden bist. Wie du das bloß geschafft hast… seit meiner Verbannung sollen über fünfhundertfünfzig Jahre vergangen sein." Als ob sie nie tot gewesen wären, entfernten sich die Metallgeschöpfe einen Schritt voneinander.

Rio rümpfte die Nase. Dass die Zeit auch für Geras offenbar stehen geblieben war, machte sein gar jugendliches Aussehen wunderbar deutlich. Wallend fielen silberne Haarsträhnen seine Schultern hinab auf die Schultern seines Lederumhanges und kantig an ihm waren nur seine aufragenden, angewinkelten Ohren. Er hatte sich ein wenig verändert, das sah Rio, hatte jedoch keinen Grund daran zu zweifeln, dass es wirklich Geras war, dessen Robe mit Diamanten gesprenkelt war.

"Ich würde nur Zeit verschwenden, wenn ich dir erklären würde, warum ich hier sein kann." In Rios Brustkorb machte sich ein unangenehmes Ziehen breit; er zeigte es nicht.

Geras stand nicht auf von seinem Thron, einem Baumstumpf der Dunkelheit zwischen seinen Leibwächtern. Er zeigte seine makellosen Zähne und begutachtete aus der Ferne den Anderthalbhänder in Rios Händen. Dabei sagte er: "Wenn du nicht länger sprechen willst, sollten wir wieder reden wie früher!"

"Das einzige mal in tausend Jahren, dass wir gleicher Meinung sind."
 

Ein Blitz zuckt vom Himmel herab. Kurz verwandelt sich alles in nichts weiter als ein Gebilde aus Schwarz und Weiß und obwohl es nicht mal eine Sekunde anhält, kann niemand anders, als innezuhalten und durch die riesigen Rundbögen zu starren, unter denen die Dünen wie ein im Sturm vereistes Meer ruhen. Verunsichert frage ich Ludwig mit nur einem Blick.

Da haucht er bereits "Heilige Magna Mater…", als der rabenschwarze Himmel einstürzt. Anders kann man die Fluten, die herabregnen, nicht beschreiben. Der Wind plärrt durch alle Öffnungen und schreit wütend unbekannte Wörter, sobald er die dickbäuchigen Wolken über den Horizont gestoßen hat. Wo grade noch Sterne waren, findet nun ein Wolkenbruch statt - ausgerechnet mitten in der Wüste!

Der erste Gedanke, den meine Angst mir einflüstert, ist zugleich der schlimmste: Der Weltuntergang. Nein, realisiere ich, nicht der Weltuntergang, sondern nur sein Vorbote. Die Entladung der Siegelkräfte, dies mal nicht mehr so harmlos wie endlos treibender Wein, sondern ein Sturm, wie es ihn noch nie gegeben hat!

Das mag vielleicht grade mal der hundertste Teil der Mächte sein, die den Umgedrehten König festhalten, also was stünde uns erst bevor, sollte er sich wirklich befreien? Ich will es gar nicht herausfinden!

Ich reiße mich los und signalisiere Ludwig, dass wir weiter gehen sollten. Alles, was uns momentan leitet, ist sein Lichtschwert, dessen Klinge sichtlich erzittert. Je höher wir gestiegen sind, desto heftiger schlug sie aus. Und ständig führt der Weg uns vorbei an erneut leblosen Rüstungen. Ich fürchte, dass uns weiter oben nicht nur Geras erwarten wird, sondern auch Rio. Wenn man den Leuten doch manchmal nur in den Kopf schauen könnte, dann wüsste ich, was das überhaupt soll. Er ist ausgerastet, sobald er den Namen Geras gehört hat. Kennen die beiden sich? Aber woher? Wie hängen ein Shikigami, der die ganze Zeit in einem Stück Papier gewartet hat, bis er beschwört wird, und ein Dämon, der vor fünfhundert Jahren verbannt worden ist, zusammen?

Vielleicht kann mir Ludwig ja helfen: "Was weißt du eigentlich über Geras?"

"Nicht viel mehr, als dass er ein treuer Untergebener des Umgedrehten Königs war, bis er hier verurteilt worden ist. Man hat ihn in die Unterwelt geworfen und seitdem sich keine Gedanken mehr um ihn gemacht. Normalerweise kehrt niemand aus Mors' Reich zurück, wir wussten bisher nicht mal, ob man dort sterben kann. Geras hat es auf jeden Fall geschafft."

Er sucht kurz nach den richtigen Worten. "Etwas anderes solltest du aber wissen. Wenn wir Geras gegenüberstehen… dann konzentriere dich nicht darauf, ihn zu bezwingen.", rät Ludwig mir eindrücklich. "Ich will nicht wissen, was er sich dabei gedacht hat, aber ich verwette meine Unsterblichkeit drauf, dass er ganz oben auf uns wartet, wo es vor Portalen nur so wimmelt. Wenn es uns gelingt, ihn in eines zu schubsen, haben wir schon gewonnen. Dann werden wir ihn erneut verbannt haben!"

"Aber was soll das denn bringen?", muss ich aufgebracht einwerfen, "Dann wird er wieder nur warten müssen, dass Dyonix ihn befreit!"

"Oh, mach dir darum mal keine Sorgen. Ich weiß genug über Verbannungen und Beschwörungen, so schnell wird Dyonix nicht wieder die Gelegenheit haben, ihn zurückzuholen. Und vorher machen wir ihm einen Strich durch die Rechnung!"

"Du willst uns begleiten?" Das kommt jetzt ein wenig plötzlich.

"Natürlich! So wie die Dinge jetzt stehen, gehört es zu meinem Aufgabenbereich, Dyonix das Handwerk zu legen. Wir Mors-Krieger bestrafen Dämonen und Umbramanten, wo wir nur können. Na ja, oder wir greifen anderen, die das auch machen, unter die Arme. In diesem Fall musst dumiraber unter die Arme greifen. Geras bin ich beileibe nicht gewachsen."

Ich spüre, wie es mir eiskalt den Rücken hinunterläuft. Ein Dämon, bei dem selbst Ludwig schwarz sieht. Hoffentlich bin ich dem wirklich gewachsen.
 

Einige Stockwerke weiter oben hören wir schließlich bereits seltsame Töne, die geisterhaft durch die Korridore geworfen werden. … Eigentlich sollte ich es nicht geisterhaft nennen, immerhin kenne ich mehr als genug echte Geister mittlerweile.

Ludwig und ich nähern uns langsam einer mächtigen Stahltüre, hinter der wir den Ursprung dieser Laute vermuten. Es kristallisiert sich heraus, dass es angestrengte Schreie eines Kampfes sind. Meine Füße werden wie von selbst schneller, ich drücke eine der Portalhälften gar beiseite und falle geradezu in den Saal, wo ein Mann mit langem, wallenden Haar und Rio miteinander kämpfen.

Wie aufgeschreckte Raubtiere halten sie in ihrer Bewegung inne und starren uns an.

"Maljus!"

"Der Mors-Krieger!"

"Na, das trifft sich doch gut!", meint Ludwig kurz angebunden, "Drei gegen einen!"

"Nein!", schreitet Rio ein, "Ihr verschwindet wieder! Vasgar ist ganz allein mein Gegner! Ich werde-" Er verstummt und weicht Vasgars Hieb mit einem Schwert aus angebrochenem Stein aus. Im Raum liegen drei weitere davon, teilweise entzweigebrochen und überall lose, krumme Metallstücke. "Niemand wird es mir nehmen, mich an ihm zu rächen!" Vasgar belächelt Rios Ausbruch und rückt seine Schultern unter seinem Umhang etwas zurecht.

"Wissen sie etwa gar nichts? Also bist du wieder ganz der alte, verschlossene Aussätzige."

"Ich teile mein Wissen nur mit Gleichgesinnten.", zischt Rio.

"Und worin unterscheiden unsere Ziele sich, Rio?!", donnere ich, "Nur darin, dass du irgendeine alte Rechnung begleichen willst?"

"… Ich wünschte, du wärest nicht so verdammt neugierig." Trotzdem macht er keine Anstalten, weiterzusprechen.

"Ihr wäret schlau, ihm nicht zu trauen." Vasgars Miene zeigt keine Belustigung mehr. Will er Zwietracht säen? "Niemandem aus der anderen Welt… also weder mir, noch ihm. Deswegen kämpfen wir doch." Rio ist aus der Unterwelt?!

"Relativ einfach gedacht, Vasgar.", erwidert Ludwig, ohne sein Schwert auch nur einen Millimeter zu senken, "Und warum hasst ihr beide euch dann so?"

"Genauso einfach.", offenbart Vasgar mit ausgebreiteten Armen, "Er gehorcht mir nicht. Seht nur, wie er sich aufbäumt und dieses vermaledeite Siegelschwert mitgebracht hat! Aber ich spüre, dass es nicht zu vergleichen ist mit der Klinge, die Prometheus hinfortgerissen hat."

"Rio, wie wär's dann, wenn du mir mein Schwert wieder zurückgäbest?!"

Geras mischt sich wieder ein: "Oh, hältst du dich etwa für einen besseren Führer dieser Klinge, die für mich stumpf wie Holz ist?"

"Verschwinde endlich, Maljus!", verlangt Rio.

"Wir bleiben!", entscheidet Ludwig vehement. Er sieht aus, als ob er Rio gleich am Kragen packen und in einer Bewegung über seine Schulter werfen würde. "Vasgar schüttet sich schon fast aus vor Lachen, wenn er sieht, wie wir übereinander herfallen."

"Da hast du mich wohl durchschaut, Mors-Krieger." Geras wartet nicht länger, sondern hechtet zu ihm. Während Ludwig blitzschnell kontert und Geras den Schwertklotz aus der Hand schlägt, schaue ich noch ein mal zu Rio. Er wendet seinen Blick genervt ab und murmelt so etwas wie: "Erwartet keine Hilfe von mir." Dann greift er Vasgars ungeschützte Seite an. Der Silberhaarige reagiert schnell genug, um beide Klingen mit seinen Fingerspitzen festzuhalten, ohne dass ihm die Schneiden ins Fleisch fahren. Anstatt das zu bewundern, sollte ich den beiden helfen! Mit vorgehaltener Hellebarde stürme ich auf ihn zu, ich starre in Geras' wachsame Augen.

Jäh halte ich an, denn irgendetwas stimmt nicht. Die Verzerrung rund um Geras, der ich mir gewahr geworden bin, wird stärker, binnen Sekunden krümmt sich meine Sicht. Spätestens als rund um Geras' gebogenen Körper auch noch schwarze Schlieren durch die strudelförmig verformte Umgebung wandern, machen Ludwig und ich einen gewaltigen Satz zurück. Rio schließlich auch. Sofort nimmt das Schauspiel ein Ende.

"So ist es recht, bleibt fern von mir!", ruft Geras mit Wonne, "Ihr seid ihr nicht gewachsen, der Natur einer anderen Welt!"

Zu spät merkt er allerdings, dass Rio sich gleich wieder auf ihn stürzt. Geras steckt eine ziemlich böse Wunde ein, während die schwarzen Schlieren sich an Rio heften. Er schüttelt sie halbherzig ab, kümmert sich gar nicht recht darum.

"Ich bin vertraut genug mit der Luft des Totenreichs!"

Ludwig nickt mir zu, dann hinüber zu einem der Becken, die in komplexen Mustern den Raum einrahmen. Noch mal rennen wir auf Geras zu, der sich die Wunde hält und sie langsam heilt. Einer der Edelsteine in seinem Gewand leuchtet. Verflucht, das sind dann bestimmt alles Seelensteine!

"Ist es nicht traurig? Du stürzt dich wie immer in Todesgefahr, aber mein Körper bleibt immer wieder makellos.", verspottet der Dämon Rio. Keine Sekunde später hält er meine Hellebarde umklammert. Ich werde unruhig, erste Flammen züngeln aus der Klinge.
 

Mit kochendem Schädel und müden Knochen wache ich da wieder auf dem Boden auf. Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist ein kurzer Flug durch die Luft. War ich… war ich schon wieder bewusstlos? Geras hat mich wohl über Kopf auf den Boden befördert…

Woanders kämpfen Ludwig und Rio derweil mit ihm. Mein Sichtfeld ist kleiner geworden, oder? Wieder mal ohne Vorstellung, wie lange ich weggetreten bin, schaue ich erst nur zu, wie er von leuchtenden Schwertsplittern gejagt wird. Rio schwingt mit Malchus und dem Siegelschwert gleichzeitig nach ihm und hat jetzt sogar einigermaßen Erfolg. Wenn man dem Umbramanten keine Zeit lässt, kann er sich auch nicht regenerieren.

Mit einem tiefen Luftzug stemme ich mich hoch. Die Hellebarde liegt direkt neben mir. Aber ich kann sie kaum heben… hat er mir mit diesem einen Konter so viel Schaden zugefügt? Noch nimmt er jedenfalls nicht Notiz von mir. Das sollte ich ausnutzen! Ich lege mich ins Zeug, nicht umzukippen, während ich laufe, habe das Ziel verschwommen vor Augen. Ich werde ihn mit der Hellebarde direkt in das Becken vor ihm stoßen! Sein Kopf zuckt herum, seine Augen werden weiter, er ist aber noch immer beschäftigt, Rio und Ludwig fernzuhalten. Ich sehe bereits wieder seine raumverzerrende Aura, aber das ist egal.

Rio springt vor Vasgar, schlägt mit beiden Schwertern zu. Metallisches Klingen, ich stoße auf Widerstand, falle rücklings hin, während Rio in seiner Rüstung gegen Vasgar prallt. Verflucht, den falschen erwischt! Beide stürzen, schwarze Wolken fallen über Rio her wie ein Bienenschwarm, er verliert das eine Schwert.

Geras dreht sich im Fall herum, landet mit dem Gesicht genau über dem schwarzen Wasser, vielleicht berührt er es sogar, und schreit martialisch auf. Das Siegelschwert landet am Rande des Portals, genau so, dass es leicht schaukelt, es taucht mit der Klinge in die Brühe ein, rutscht ab-

Ludwig schnappt es sich. Geras springt auf und fasst in sein Gesicht, Rio windet sich auf dem Boden und scheucht den Rauch von sich weg. Ludwig rennt zu mir, hilft mir auf und drückt mir ein Fläschchen in die Hand. Das Schwert legt er neben mir ab. Er flüstert: "Trink schnell, das ist ein kleiner Muntermacher!" In einem Schluck trinke ich das Fläschchen aus, schaue schnell wieder zu Geras. Er reißt seine Hände vom Gesicht, da geht wieder eine Veränderung mit ihm vor. Während irgendein flacher Gegenstand aus Holz oder Ton auf den Boden fällt, hat sich Geras' Haut komplett entfärbt, ist nur noch grau mit dunklen Flecken überall. Haare hat er keine mehr, wie sollte auch ein einziges Haar sprießen können, wenn sein Kopf über und über mit seltsamen Fleischwulsten und dicken, pulsierenden Adern bedeckt ist? Teile seines Gesichts wie Nasenrücken oder -flügel sind verschmolzen mit besonders dicken Metastasen, die kalten Augen sind fast blind vor herabhängenden Hautfalten und geschwollenen Adern. Und der Mund schließlich ist nichts weiter als eine gealterte, klaffende Wunde, hinter der die Zähne fest aufeinandergepresst sind.

Den Muntermacher hätte es gar nicht gebraucht, ich bin jetzt wieder hellwach! Sogar Rio sieht schockiert aus von Geras' ruiniertem Körper. Ein wehleidiges Lachen kommt hechelnd hinter den verschlossenen Zähnen hervor. Schmerzen müssen durch sein Gesicht zucken, als Geras hervorpresst: "Verfluchte Narren… jetzt musste ich meine Tarnung ablegen… diese wunderbare Maske."

"Eine übergestreifte Seele, die man an eine Maske gekettet hat…", murmelt Ludwig.

"Verflucht noch mal, richtig!", heult Geras, "Weil mich die Unterwelt so entstellt hat! Fünfhundert Jahre lang, fünf-hun-dert Jahre lang bin ich eingesperrt gewesen! Wegen Leuten wie euch, die mich verbannt haben! Oh, lieber stärbe ich, als noch ein mal zurückzukehren! Na, Rio, kommt das etwa dem lächerlichen Verlust deiner Freunde gleich, diesem Halbblutabschaum, den man damals nicht haben wollte?! Hätten die Cardighner damals doch gewusst, dass sie mir damit nur die Kraft gaben, diese Tortur zu durchstehen! Und mit jedem Tropfen Blut, den ich aus ihnen geschöpft habe, hab ich auch ihre Rachsucht in mich aufgenommen. Sie leben in mir weiter als Vernichter Cardighnas! Gemeinsam werden wir Prometheus zurückbringen und dieses Land blutrot färben!"

"Du hast gar keine Ahnung, was du da überhaupt sagst!", brüllt Rio im Aufstehen, "Du glaubst, du seist der Rächer von uns Halblingen?! Du hast es wirklich verdient, eingesperrt zu werden, aber nicht wir! Der einzige, der Rache üben wird, werde ich sein!" Er wirft sich gegen Geras und treibt ihm das Schwert so tief ins Fleisch, wie die Klinge lang ist. Dünne Blutfäden schießen zwischen Geras' Beißern hervor, seine verkrüppelten Hände, die zu viele Finger haben, greifen nach dem Dunkelelfen, verkrampfen sich aber, als die Klinge herumgedreht wird. "Cardighna wird nicht genug sein für meineRache! Mit mir haben sich auch noch ganz andere Scherze erlaubt! Weißt du noch, als ich verschwunden bin?! Das war, weil geisteskranke Zauberer des Nordens mich beschworen haben, um mich zu einem Dienergeist zu machen! Sie dachten, sie hätten die Macht über mich, aber ihre Bannsprüche waren erbärmlich! Grade mal genug, um mich zu bremsen, aber nicht aufzuhalten!" Er zieht das Schwert heraus, schlägt wieder zu. Ich beobachte alles wie aus tausenden Metern von Entfernung.

"Khhh, du kleiner Welpe…", grunzt Geras gurgelnd, "… willst ganz allein die Welt in Brand stecken…?!" Eine adernübersäte Faust trifft Rio mitten im Gesicht, inzwischen sieht es so aus, als trage er ein schwarzes Fell. Rio fängt sich ab, ist mit einem Sprung wieder kampfbereit und verheddert sich mit dem Dämonen in einem Knäuel aus ringenden Leibern.

"Was sollen wir tun…?", finde ich die Sprache endlich wieder. Ludwig braucht etwas, bis er sich von den Kämpfenden abwenden kann. Er seufzt ein mal, dann meint er: "Ich fürchte… wir müssen Nutzen aus der Situation ziehen - und beide in ein Portal stoßen."

"Sag mal, willst du mich verkohlen?!"

"Willst du es lieber selbst in die Hand nehmen, Rios Dasein zu beenden?" Diese Frage trifft mich noch schwerer als sein Vorschlag. Zuerst hab ich geglaubt, Ludwig sei das Ganze lästig, er wolle endlich fertig werden mit dieser ganzen Sache… aber offenbar liegt ihm sogar etwas daran, dass sie wirklich beendet wird.

"Geras wird sterben.", prophezeit er, "Entweder durch Rio oder weil ihn die Unterwelt endgültig zerfressen wird. In letzterem Falle wird Rio umgebracht… und kann endlich wiedergeboren werden. In ersterem… wird er im Imperium Mortis lange auf sein Ende warten müssen, aber sein Hass wird niemandem mehr schaden können." Er senkt seinen Blick etwas. "Ich darf und will ihn nicht töten, aber mein Auftrag ist es, zu verhindern, dass er Schaden anrichtet. Das ist die Verantwortung, die ich mir aufgeladen habe."

Geras und Rio kämpfen immer noch, für sie sind wir nicht mehr da. Und so könnte es nicht besser sein… hoffe ich. Ich bin an Rio verzweifelt, sein Dasein als Shikigami bindet ihn nicht wirklich an Selets Willen und Ludwig, jemand, der sich auskennt mit jahrhundertelangem Leben, denkt auch, dass wir ihn nicht mehr umstimmen könnten.

"Wenn das die einzige Möglichkeit ist…", gebe ich mich geschlagen. Ich hasse es schon jetzt, aber ich werde es tun. Ich werde Rio mitsamt Geras verbannen.

Stumm gebe ich dem Mors-Krieger ein Zeichen, dass ich bereit bin. Mit großen Schritten überwinden wir das letzte Hindernis, gleich ist es soweit. Ich darf nicht daran denken, wie ich den anderen später beibringen werde, was gleich passieren wird.

Geras unternimmt verzweifelte Versuche, sich zu heilen, Rio vereitelt jeden einzelnen. Er ruft: "Verrecke, elender Blutsauger!" Jetzt!

Geras und Rio schrecken auf, ein wildes Paar gelber Augen starrt mich brennend an. Ungewollt breche ich mein Vorhaben ab, doch Ludwig ist nicht darin zu beirren, den Blutdieb zu packen und ihn das Portal zu stoßen. Geras Hände greifen nach dem Ufer, doch das Wasser umklammert bereits seine Arme, schnappt nach seinem Gesicht und zieht ihn hinab, ohne dass er noch schreien kann.

Doch noch im letzten Moment, den er in dieser Welt verbringt, bekommt er mit einem Finger ganz kurz Rios Hand zu fassen. Der Halbelf zuckt zusammen, als auch ihn das schwarze Wasser anspringt. Er zieht sofort die Hand zurück und rutscht von dem Becken weg. Ohne Erfolg, ein ganzer Schwall erhebt sich aus dem gemauerten Kreis und schnappt nach ihm. Das Schlierenfell reagiert sofort darauf und verbindet sich mit der Wassermasse, die sich als fliegender Ball um Rio schließt. Ludwig zieht mich schnell weg, Rio indes taumelt durch die ganze Halle, hin und wieder ragt einer seiner Arme oder sein schreiender Kopf aus der Brühe, die nur dunkel unsere bleichen Mienen wiedergibt.

"Hättet ihr es nicht sein lassen können?!" Ich schrecke auf, als Rio im Inneren des Wassers wieder spricht. Die Kugel legt sich dichter um ihn, nimmt langsam seine Form an. "Hättet ihr euch nicht einfach raushalten können?! Ich habe es jetzt so oft gesagt… dass es meine Angelegenheit war! Ichhätte Geras getötet. Ihrhabt ihm schon wieder Zeit verschafft!" Er schnellt plötzlich vor, steht direkt vor mir. Das Schwarz fließt beiseite und lässt mich sein wutentstelltes Gesicht sehen. Er sieht plötzlich älter aus, seine Haare sind länger geworden, die gelben Pigmentierungen seiner Backen größer und seine Augen sind bis auf die winzigen Pupillen plötzlich vollkommen gelb.

"Was könnt ihr überhaupt richtig machen?!", brüllt er mich atemlos an, "Ihr schafft es einmal nicht, ihn zu besiegen, ihr schickt Unschuldige hinterher wie ein Festmahl und jetzt lasst ihr ihn schon wieder dem Tod entkommen!"

Wenn ich doch nur wüsste, was das plötzlich zu bedeuten hat! Anstatt Rio zu antworten, rufe ich nach Ludwig: "Ludwig! Sollte er nicht in die Unterwelt verbannt werden wie Geras?!"

"Ihr wolltet mich schon wieder mit ihm in diese Ödnis werfen?!"

"Wenn ich wüsste, was los ist, würde ich etwas dagegen unternehmen! Ich hab keine Ahnung!", schreit Ludwig zurück.

"Ich lasse mich nicht vom Sog des Imperium Mortis unterkriegen! Ich mache ihn mir untertan und lasse euch wissen, was ich von euch halte! Von euch Cardighnern! Und vom Rest dieser Welt!"

Ich kann ihn nicht länger ignorieren: "Wir sind nicht die Cardighner von vor fünfhundert Jahren und auch nicht die, welche dich verbannt haben, falls du's nicht gemerkt hast!"

"Ach nein?" Er sieht überrascht aus. Sein Körper ist passgenau von schwarz umhüllt. Dann werden auf ein mal alle Gelenke immer dünner. Was… was geht mit ihm vor?!

"Seid ihr nicht alle Reinkarnationen eurem Glauben nach? Ich könnte schwören, du warst in deinem vorherigen Leben das Schwein, das mich in die Hölle gestoßen hat… und dann später der Magier, der mich wieder in diese hier oben hinaufgezerrt hat!"

"Zur Seite, Maljus!", unterbricht Ludwig ihn da. Instinktiv werfe ich mich zur Seite und postwendend fliegen Ludwigs Schwertsplitter auf Rio zu. Er bewegt seinen Kopf leicht zur Seite, weicht den Klingen an seinem Hals aus - während von den Schultern abwärts all die schwarze Masse unverändert zurückbleibt!

"So viel dazu." Rio schüttelt seinen Kopf, wobei seine Verwandlung offenbar der Vollendung entgegenstrebt. Überall an seinen nun unverbundenen Körperteilen bilden sich Hörner und spitze, platte Auswüchse, das Schwarz versickert und gibt dunklen Haut- und Goldtönen Platz. Mit vier Armen und keinen Beinen fliegt Rios neue Form vor uns.

"Ironisch, nicht wahr? Ihr wolltet damals und jetzt, dass ich an der Unterwelt zugrunde gehe und jetzt verleiht sie mir völlig neue Kräfte."

"Du bist nichts weiter als ein Dämon jetzt.", erwidert Ludwig entschlossen. Seine Stiefel knirschen unter seinem langsamen Gang. "Ich hatte geplant, deinem Alptraum ein Ende zu setzen… aber jetzt kann ich nicht länger meinen persönlichen Wunsch, Maljus einen Gefallen zu tun, vor meine Pflicht schieben. Rio, hiermit exorziere ich dich!"

"Versuch's doch.", fordert Rio ihn weiter heraus, "Du Möchtegern, der nicht mal Geras töten konnte."

"Das konntest du einst genauso wenig, oder?", werfe ich ein. Rio ist noch eitler geworden, als er ohnehin schon war. Seit der Name Geras das erste Mal in seiner Nähe gefallen ist, hat er sich von uns distanziert und jetzt stehen wir uns sogar als Feinde gegenüber. "Du hättest sogar noch Geras folgen können und ihn im Imperium Mortis bezwingen können."

"Das wäre sinnlos. Meine Rache gilt nicht Geras allein… sondern vor allem euch, die ihn nicht aufgehalten haben! Na los, kommt schon her, mit euch beiden fange ich stellvertretend an!"

"Wie du willst!" Ludwig wartet nicht länger, lässt die Seiten seines Lichtschwert rotierend auf Rio zuschnellen und hält die nur noch stabförmige Klinge bereit, um noch von Hand einzugreifen. Für Rio kein Problem, alle Angriffe abzuwehren, seine Hände sind wie legierte Klauen. Noch während zwei seiner Arme Ludwig beschäftigen, fliegt der Rest seines Körpers in meine Richtung. Ich ducke mich unter dem ersten Hieb seiner Klauen hinweg, da rasen weitere Krallen von oben auf mich zu. Rollend entkomme ich ihm erneut, kriege jetzt auch mein Schwert zu fassen. Endlich!

Doch Rio lacht bloß. "Das hilft dir jetzt auch nichts mehr!" Er schlägt mit beiden Händen gleichzeitig zu, ich probiere trotz seines Spottes, sie beiseite zu schlagen. Es gelingt! Und wie, es zischt sogar und eine dampfende Wunde prangt unerwarteterweise in Rios Pranken. Seine Augen haben sich blitzschnell geweitet. "Was… was soll das?! Das ist doch nichts weiter als eins ganz normale Klinge! Mit nichts weiter als ein bisschen Öl bestrichen, soweit ich weiß!"

Ausnahmsweise grinse ich jetzt mal triumphierend, denn ich verstehe, was vor sich geht. Schwarzes Wasser tropft von der Klinge - die vorhin fast in ein Portal gefallen wäre und mindestens ein mal eingetaucht ist. Rio ist nicht eins mit dem schwarzen Wasser, ich kann ihm diese neue Gestalt also noch nehmen! Ich greife ihn an, dies mal an seinen Schultern, nur leider weicht er aus.

Ludwig kommt zu Hilfe und hetzt ihm gleich eine ganze Schar winziger Splitter auf den Hals… oder das Gesicht, wo er offenbar noch genauso verwundbar ist. Rio hat allerhand damit zu tun und ich verpasse ihm doch noch ein paar Wunden, die bis unter die Rüstung reichen. Aber ich freue mich zu früh, merke ich, als eine seiner Fäuste mich in den Bauch boxt und zu Boden wirft. Dasselbe klappt auch bei Ludwig, doch kein weiterer Angriff folgt. Stattdessen schnappt sich Rio sein Malchus wieder. So, also ist die Dämonenform wohl nicht gut genug, um sich bloß auf sie zu verlassen? Er ist sichtlich verärgert, vielleicht weiß er ja, dass er sich überschätzt hat.

Er schickt mir die Hand mit der Klinge entgegen, will mich wohl abgelenkt wissen, während er Ludwig mit den anderen zwei Armen attackiert. Moment, zwei? Wo ist der drit- Scheiße! Herumwirbelnd pariere ich das übergroße Messer noch ein mal, aber finde meine Befürchtung bestätigt: Er hat sich auch noch die Hellebarde geschnappt! Mir bleibt nichts anderes übrig, als nach hinten zu springen, als er zusticht. Ich komme unangenehm auf, ein Bein knickt weg, das andere trägt mich allein nicht und schon streicht es mich hin.

"Grüß mir Geras auf der anderen Seite!" Er hat sie schon wieder angesetzt, ich sehe sogar Funken von den Spitzen sprühen. Er kennt die Macht dieser Hellebarde vermutlich nicht mal, aber er ist drauf und dran sie zu benutzen! Eine Stichflamme rast auf mich zu, die Hitze noch schneller, die Widerhaken hinterher.

Da reißt mich etwas am Kragen von hinten in die Luft, alles andere als heiß oder gar warm, sondern eiskalt wie Metall. Über den Flammen baumle ich an den massiven Klauen, die an einer rasselnden Kette sitzt.

"Du bist es!", bringe ich bloß heraus, als mir klar wird, dass das Irrlicht mich gerettet hat.

"Selbstverständlich.", hallt es aus der Kapuze. "Und nicht bloß ich." Weitere Geister erscheinen durch die Wände, schleppen mit sich den roten Schein herbei, in dem sie bereits über diesen Titanen herfallen wollten. Rio wird unruhig. Er schreit: "Was?! Noch mehr von denen?!"

"Ein Dämon hat sich eingeschlichen!"

"Ein niederer!"

"Er soll nicht entkommen!"

"Mors gönne uns diesen Sieg!" Mit weiteren Rufen wie diesen fallen sie über Rios einzelne Körperteile her. Für fast alle finden sich zwei Geister, die sie festhalten. Das Irrlicht setzt mich derweil ab und sagt: "Und jetzt liegt es an dir!" Keine Frage! Ich zücke wieder mein Schwert und lasse meine gesamte Wut an Rios bereitgehaltenen Segmenten aus, bis ich zum Schluss das Siegelschwert in seinen ehemaligen Torso treibe.

Dann geschieht etwas Unerwartetes. Die Armstücke, Hände, die Schultern und Rios Bauch entweichen dem Griff der Metallhände, fliegen zueinander und fügen sich wieder zusammen. Noch ein mal wird Rios ganzer Körper schwarz eingehüllt, dann verdampft das schwarze Wasser und spuckt seine geschundene Elfengestalt wieder aus. Überall, wo ich ihn getroffen habe, sind Narben entstanden. Sein Spangenpanzer fällt scheppernd herab, er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Verkrampft hält er sich die Brust.

"Na… wie ist das für jemanden, der Geras… nicht besiegen konnte?"

"Ich… ich bin nicht tot. Und solange das gilt… bin ich auch nicht besiegt!" Er wirft mir das Malchus entgegen. Aus Reflex weiche ich zur Seite. Es ist nur eine Ablenkung gewesen, denn Rio ergreift die Flucht. Jedoch stolpert er und dreht sich mühselig auf den Rücken. An seinem Fußende stehen bereits Ludwig und ich. Er verharrt in seiner Pose und starrt fiebrig zu uns hinauf.

"Jetzt habt ihr es geschafft… meine… meine Zeit läuft ab. Kein Shikigami… könnte länger diese Form beibehalten haben. Ich hatte seit dem ersten Tag… Schmerzen, weil ich mich geweigert habe, diese Gestalt… aufzugeben. Ein mal habe ich dich fallen lassen, nicht wahr? Das war deswegen… doch dadurch sind die Bannzauber geschwächt worden…" Er redet wirr. "Oh, dieses vermaledeite Mädchen! Wäre es hier… wäre Griselda jetzthier… ich hätte meine Kräfte noch ein mal stärken können!"

"Du wirst sonst wieder zu diesem Papierstreifen?", rate ich düster.

"Ja… dann geht alles wieder von vorne los…"

Ludwig wirft da eine Frage ein: "Was passiert, wenn wir ihn zerstören?"

"Was weiß ich. Womöglich gar nichts… vielleicht werde ich auch ausgelöscht."

"Was ist dir lieber? Noch ein mal so in die Unterwelt zurückkehren-"

"Und Geras als Futter dienen?!", röchelt Rio erbost. Ludwig entgegnet: "Lass mich ausreden! Entweder in die Unterwelt zurückkehren und dort irgendwann sterben, was dich wohl endlich erlösen würde… oder wieder gebannt werden und hoffen, dass du befreit wirst, wenn wir das Papier verbrennen?"

Rios Miene ist nachdenklich. Sein Brustkorb hebt sich immer langsamer und der Schweiß auf seiner Stirn kühlt sein Gemüt. Schließlich antwortet er: "Dann schickt mich zurück… ich bringe wenigstens meine Sache mit Geras zu Ende. Fleht, dass ich siegreich sein werde." Noch im Sprechen hievt Ludwig ihn hoch, ich packe Rios Beine und helfe dabei, ihn zum nächsten Portal zu tragen. Aber nicht bereitwillig, sondern aus Respekt vor Rio… er ist wieder berechnend und weniger rasend. Fast wieder so wie der gebundene Shikigami, der sich leidenschaftslos, aber uneigennützig für uns ins Zeug gelegt hat.

"Ich wünschte, wir hätten all diese alten Geschichten vergessen können.", gebe ich zu, sobald wir angekommen sind und Rio langsam absenken.

"Das ist vergeblich gehofft.", erwidert Rio, "Solange ich lebe, werde ich… weder dir noch Basgorn… noch sonst jemanden verzeihen. Nun lass mich gehen, damit ich nicht länger mit euch reden muss… und wir uns nie wieder sehen müssen." Eine einzelne Träne läuft aus seinem Auge. Ich gebe auf.

"Utinam maiores res secundae in vita alia tibi obveniat…", betet Ludwig abschließend, ehe wir Rio loslassen. Ich schaue nicht hin, als er im Totenreich verschwindet. Das wäre nicht die letzte Erinnerung an ihn, die ich gerne hätte.
 

IV.
 

An der Spitze des Fünfergespanns, das sich wenig später blicken lässt, läuft Alex und schüttelt den Kopf. Er fragt: "Also echt mal, Kleiner: Dich müssen die Götter doch lieben, kann das mal?" Immerhin lächelt er erfreut, was auch mich glücklicher macht. Er blinzelt und ruft dann noch: "Oh, und da sehe ich noch ein bekanntes Gesicht!"

"Ihr seid es Ludwig!", freut sich Selet ebenso und Sira grinst: "War ja klar, dass ihr beide uns zuvorkommt. Ihr habt sogar das Siegelschwert wieder! Habt es Rio wohl abgenommen."

"Viel wichtiger ist, dass es euch allen gut geht.", meint Ludwig, "Sepromor ist endlich wieder ein sicherer Ort. Es war sicher nicht leichter für euch als für uns."

"Ach was, alles Teil der Arbeit als Exorzist!", sagt Alex stolz, aber Carod erinnert ihn: "Nur, dass eben wieder ein mal kein Geld für euch rausgesprungen ist!"

"Wo ist Rio eigentlich?", fragt Selet da, was mich sofort wegschauen lässt. Was sag ich ihr jetzt bloß? Es ist so viel, was ich erklären müsste. Und so wenig, was sie so einfach hinnehmen kann...

Ludwig springt für mich ein. Er erläutert: "Rio ist nicht mehr hier. Er ist zurückgekehrt, weil er ein Shikigami war und nicht hierher gehörte."

"Ich… kann nicht ganz folgen.", murmelt sie perplex. Ich kann sehen, wie ihr Atem schneller wird.

"Es tut mir leid, aber Rio ist fort. Lass es mich so erklären: Mors-Krieger arbeiten nach einem Prinzip des Ausgleichs und Kreislaufes. Wenn ich mein Schwert teile, muss ich es irgendwann wieder zusammenfügen. Wenn etwas lebt, muss es irgendwann sterben und erneuert werden. Wenn Magier die Regeln brechen und etwas aus dem Kreislauf entfernen, muss ich dafür sorgen, dass es wieder hinzugefügt wird. Rio selber war unglücklich, weil er eigentlich eine Seele ist, die einen echten Körper verdient hätte, kein Gefäß, das ihn übermäßig lange festhält." Er entfernt sich kurz von uns, um etwas aufzuheben. Als er es hochhält, fällt mir auf, dass es Geras' Maske sein muss. "Mit dem hier verhält es sich auch nicht anders. Auch in diesem Gegenstand ist eine Seele von jemandem eingesperrt worden, damit sie nicht ins Totenreich gehen kann. Und meine Aufgabe ist, dass ich herausfinde, wie man das beheben kann." Selet ist dennoch den Tränen nahe. Sie hat eine so starke Bindung zu Rio gebildet? … Ich bin ein Idiot, natürlich hat sie das, er hat sich bis heute für sie aufgeopfert. Und mir fallen keine Worte ein, ihren Schmerz zu lindern.

Alex klopft ihr auf die Schultern. "Nicht verzweifeln. Wenn der Kerl sagt, dass Rio endlich am rechten Platz ist, wird das schon so sein."

"Werden wir ihn womöglich wiedersehen?", will Selet von Ludwig wissen.

"Vielleicht nicht in diesem Leben. Vielleicht auch nicht im nächsten. Aber du hast hier deine Freunde und du wirst sie in jedem Leben haben, die dich die Zeit vergessen lassen, bis du ihn wieder triffst." Ihre großen, wässrigen Augen schauen vom Boden auf und begutachten jeden von uns. Dann wischt sie sich schluchzend die Tränen aus dem Gesicht und stimmt schniefend zu. "Das… das klingt vernünftig. Ich werde warten."

"Ich fühle mit dir.", tröstet Dorac sie, "Aber bitte wein nicht, das macht mich auch ganz traurig."

"Und wehe, du bringst diesen stumpfen Silberdolch auch noch zum Heulen! Sonst mach ich mit!" Carods alberne Reaktion entlockt Selet sogar ein Lächeln. Sie verspricht, sich nicht unterkriegen zu lassen.

"Dann lasst uns endlich verschwinden.", bittet Craylo, "Hier ist endlich wieder alles in Ordnung!"

"Was dagegen, wenn ich mitkomme?", fragt Ludwig. Gleich darauf schießt Sira herbei und redet wie ein Wasserfall: "Nicht im Geringsten! Ihr seid herzlich dazu eingeladen! Wir wären geehrt, wenn ihr uns helfen würdet, ehrenwerter Mors-Krieger! Oh, aber bitte beeilt Euch, wir haben nicht viel Zeit!" Ludwig lacht herzlich und kratzt sich geschmeichelt am Hinterkopf.

"Oh, keine Sorge, ich brauche nicht viel. Geht schon mal vor, ich komme bald nach. Hat es denn schon aufgehört, zu regnen?"

"Eine ganze Weile sogar, ja.", erwidert Alex. "Na gut, Leute, dann mal raus hier, ich brauch frische Luft!" Ohne Ludwig setzen wir uns in Bewegung, aber der Mors-Krieger hält mich an der Schulter fest. Grinsend hält er die Hellebarde in der anderen Hand und fragt: "Hast du die nicht vergessen?"

"Ich… ich soll sie behalten?"

"Hier verstaubt sie bloß, also keine falsche Bescheidenheit! Nur… pass ein wenig auf mit ihr, ja? Die Benutzung dieser magischen Waffe ist nicht ganz ungefährlich."

"Wieso, was ist damit?"

"Das ist ein Relikt, welches Magie nutzbar machen sollte für Nichtmagier. Die Flammen, die es beschwört… nun ja, zapfen direkt deine eigenen Reserven an." Oh, dann verstehe ich endlich, warum ich immer so ausgelaugt war, nachdem ich sie benutzt habe! "Sie wird dir sicher nützlich sein, aber genieß sie mit Vorsicht." Ein wenig unruhig zupft er sich dabei am Ohrläppchen.

"Ist noch was?", erkundige ich mich, weil er immer noch so aussieht, als habe er etwas auf dem Herzen. Ein wenig zögernd nickt er.

"J~a… vorhin, als du mit Rio gekämpft hast… warum hast du da plötzlich kurz in der Luft geschwebt?" Ich schnall gar nicht, was er eigentlich meint. Oder etwa… ich runzle meine Stirn.

"Etwa, als Rio mich hiermit angegriffen hat? Aber das war doch das Irrlicht, das mich gepackt ha-"

"Irrlicht? Wovon redest du?" Verwundert schüttle ich meinen Kopf. Es schwebt doch sogar hinter ihm! Sie alle schweben hinter ihm, in einer Reihe und gucken mich an. Ludwigs "Also Geister wären mir hier neu! Ich bin mutterseelenallein!" geht fast unter in der hallenden Stimme des Irrlichts: "Es ist zwecklos. Er kann uns nicht sehen."

"Brr, nicht auszudenken, was wäre, wenn mir jemand außer ein paar Skorpionen oder verirrten Fledermäusen Gesellschaft leisten würde, ohne dass ich es wüsste. Na ja, erklär's mir halt ein andern mal! Oder wir tun es als göttliches Wunder ab, das den Prophezeiten Maljus gerettet hat!" Er ist schon wieder überglücklich. Diese Frohnatur.

"Aber-" Die Geister schütteln ihre leeren Kapuzen. Ich seufze. Warum bloß kann er sie denn nicht sehen? Selet und die anderen konnten es doch auch.

Nun ja, lass ich es eben bleiben. Es wird vermutlich sowieso das letzte mal sein, dass ich diese Art von Gespenstern sehe. Ludwig klopft mir auf die Schultern und wir machen uns auf den Weg. Über die Schulter schaue ich zu den Geistern. Sie winken uns zum Abschied und verblassen im Nebel.

Capitulum XIII: Die Harpyienstadt - Verflucht und zugespitzt


 

I.
 

Nur selten stieg Dyonix selber in die Katakomben von Ardsted hinab. Aber es war nötig. Mit zwei Dämonen und einem Wiedergänger in seiner direkten Umgebung gab er lieber keinem Exorzisten die Chance, sie zu orten. Er verabscheute es, in dieser großen Halle zu stehen, es war kalt, der Stein staubig und unbequem und die Luft unbewegt. Und außerdem war er müde. Die Sonne war längst untergegangen, er hätte jetzt in seinem weichen, warmen Bett liegen müssen und viele Stunden Schlaf genießen sollen!

"Geras ist also wieder verbannt.", knirschte der Premierminister.

"Hab ich's doch gewusst. Schon als ich ihn gesehen hab, wusste ich, dass der's nicht mehr bringt.", lachte Cheeta mit kratziger Stimme. Dyonix' forscher Blick würgte das aber gleich ab.

"Ich hatte Euch gewarnt, Meister Dyonix.", meldete sich Ventosus aus dem Halbdunkel. Der Rachedämon hockte mit einem angezogenen Bein auf den theaterartigen Umrandungen der Hallenmitte und spielte mit einem kleinen Wurfmesser. "Ihr hättet den Jungen mir überlassen sollen. Ich hätte ihn getötet. Nicht seine Erinnerungen gefälscht und nach Seestfor abgeschoben."

"Du hast Onkel zu lange warten lassen!", schrie Aaron, doch Dyonix legte eine Hand auf seine Schulter, sah ihn zurechtweisend aus dem Augenwinkel an und schob ihn zurück. Er sprach: "Aaron, es wäre besser, du würdest dich zurückhalten! Und du…" Er sah Ventosus anklagend in die Augen. "… ja, du hast mich wahrlich warten lassen. Oh, und wie glücklich ich für dich bin, du kannst deine Rache an dem Jungen also doch noch haben!" Dyonix wurde ungehaltener, je länger er sprach.

"Ist denn überhaupt sicher, dass wieder dieser Junge dahintersteckt?", wollte Cheeta wissen.

"Ich lege meine Hand ins Feuer dafür.", erwiderte Ventosus ruhig, "Ich habe mich noch ein mal bei diesem saufenden Zwerg erkundigt, er ist weg. Und ich habe in Erfahrung bringen können, dass der Junge nach Meskardh gegangen ist."

"Soll ihn das Harpyiengesindel holen!", zischte jemand da. Mit unruhiger Zunge und verschränkten Armen lief die Schlangenprinzessin verloren im Saal umher. Echidna war in Verkleidung. Aarons Augen klebten an ihr.

"Man kann von Glück reden, dass nur das Prinzesschen dich wirklich umbringen könnte, was?", machte sich Cheeta über sie lustig.

"Sei still, elender Knochengeneral! Ein wenig härter und sie hätte mir doch noch den Schädel eingeschlagen!"

"Genug von schwachen Mädchen wie der echten Selet!", befahl Dyonix, "Sag lieber, wie es sich mit dieser Maid verhält, die du hierher gebracht hast!"

"Ihr meint Haruna?"

"Wenn das der Name ist, den sie dir genannt hat, ja…"

Nun schlich sich ein Grinsen auf Echidnas falsche Züge, das Gesicht der Prinzessin strahlte vor Zufriedenheit, als sie berichtete: "Ein voller Erfolg, Meister. Sie ist tatsächlich eine Aeris-Priesterin. Und keine Sorge, gemeinsam werden wir sie schon zu einer treuen Anhängerin unseres Ordens formen."

"Na dann… wenigstens etwas." Dyonix war dennoch weiterhin unzufrieden. Erneut sprach er zu Ventosus: "Wie du und vielleicht auch ein, zwei andere Herrschaften hier sehen…" Aaron und Cheeta starrten niedergeschlagen zu Boden ob der Schelte. "… war jemand hier doch von Nutzen. Und nun geh mir aus den Augen! Die nächste mögliche Aeris-Priesterin sollst du in Seestfor holen und diesem vermaledeiten Knaben auflauern! Ich werde keine weitere Verzögerung deinerseits dulden, du hast meine Geduld ohnehin schon auf eine harte Probe gestellt!"

"… Wie Ihr wünscht. In einer Stunde werde ich Seestfor erreicht haben…", murmelte Ventosus eingeschnappt, ehe nur noch ein Abbild von ihm in der Katakombe saß und kurz darauf zu Glassplittern zerbarst.
 

II.
 

Der Geräuschpegel veränderte sich minimal für Ventosus. Die Totenstille des unterirdischen Forums wich der nächtlichen Ruhe von Seestfors dunkleren Gassen, jenseits der festlich besuchten Schauspiele und mit lachenden Bürgern gefüllten Tavernen, wo Musik und helles Lachen die Ohren beanspruchten.

Ventosus entsann sich der letzten Male, als er selber Teil solcher Vergnügungen gewesen war, als Zuschauer im Freudenrausch oder Saufkumpan, vom Alkohol und Spiel mit den Damen erheitert. Das musste über elf Jahre her sein… wieso trauerte er dem überhaupt nach? Er war jetzt ein Dämon.

Er schaute zu dem fernen Ziffernblatt eines Uhrturms, sah, dass es bald Zeit für sein Treffen wäre. Offenbar hatte dieser Trunkenbold Verspätung. Ventosus lehnte sich mit verschränkten Armen gegen eine Wand und wartete. Unter seiner Maske aber schmunzelte er. Dyonix war gehörig verstimmt gewesen und der Dämon gönnte es ihm vollstens. Der Consultor hatte versucht, ihre Abmachung zu brechen, das hatte Ventosus aber nicht so einfach auf sich sitzen lassen! Und wie es aussah, würde bei seiner nächsten Begegnung mit Maljus und Alex - dieser verfluchten Brut - die Entscheidung fallen. Kein Aufschub mehr, da war Ventosus sich mit Dyonix einig.

Endlich tauchte der Zwerg auf. Nüchterner als Ventosus ihn erwartet hätte mühte Dirk sich damit ab, einen schweren Jutesack zu schleppen. Im Dunkel erkannte man nur mit genauem Hinsehen, dass darin jemand verzweifelt strampelte. Ventosus stieß sich von der Wand ab und lief dem Ringmeister entgegen.

"Da seid Ihr ja. Wie ich sehe, habt Ihr das Mädchen dabei."

Dirk schnaufte: "Wie… wie verabredet eben. Ein Geschäftsmann… hält sein Wort!"

"Das erklärt, warum der Junge Euch durch die Lappen gegangen ist mitsamt der Víla.", stichelte Ventosus. "Aber keine Sorge… mein Meister wird Euch verzeihen, Ihr sollt sogar belohnt werden. Denn ob der Junge lebt oder nicht, ob er gefangen oder frei ist, spielt keine Rolle, solange wir dieses Mädchen in unserem Besitz haben." Ventosus holte einen prall gefüllten Geldbeutel aus seiner Jacke, um ihn Dirk zu zeigen. Dirk griff nach dem Geld, aber Ventosus zog den Beutel wieder zurück. Mit der anderen Hand forderte er den Jutesack. Dirk verzog seine Miene und übergab die Gefangene. Eigentlich wollte er nicht ausgerechnet eine der Tänzerinnen hergeben, um sich freizukaufen, doch er hatte keine andere Wahl.

Ventosus ließ Dirk schließlich das Geld.

"Nicht so schnell, die Herren." Beide schauten ertappt auf, zwei weitere Gestalten betraten die enge Gasse. Sie waren kaum zu erkennen, trugen beide Gewandungen, doch hier und dort spiegelte sich das Mondlicht in ihren nietenbesetzten Rüstungen und an den Brillengläsern des einen Mannes. Ventosus wollte die Flucht ergreifen, da machte der andere eine schnelle Handbewegung. Plötzlich waren Ventosus' Füße von Eis umschlossen. Die Unbekannten liefen zu ihm, doch wenn sie geglaubt hatten, dass Ventosus sich nicht wehren konnte, hatten sie falsch gelegen! Er zog eines seiner Katare und stach nach den Männern, während er an seinen Füßen zog, um das Eis abzuschütteln. Indes bemächtigte sich der Eismagier, ein mageres Elflein mit langem, hellen Haar der anderen Klinge. Geübt, aber unsicher, fiel Ventosus auf, gleich darauf aber stieß er einen Fluch aus, weil der junge Mann den Sack durchschnitt und die darin befindliche Dame entwendete.

Ventosus schlug nach ihm, wenn auch nur halbherzig, um die gefesselte und geknebelte Blondine nicht zu verletzen - Dyonix hatte klipp und klar um eine unversehrte Aeris-Priesterin gebeten.
 

Diese Nacht war wie ein Alptraum. Zusammenhangslos und erdrosselnd. Tina bekam kaum noch Luft hinter dem dicken Knebel, den man ihr verpasst hatte. Sie wusste nicht mal, wieso man sie niedergeschlagen und so verpackt hatte und war sich nicht sicher, ob sie wirklich Dirks Stimme gehört hatte, ehe es passiert war.

Als der Sack aufgeschnitten wurde, sah sie ihn nirgends. Nur den Elfen, der sie in den Armen hielt und schnellen Schrittes von dem Vermummten wich, der mit kurzen Klingen einen weiteren angriff. Rettung!, dachte sie, Ich werde gerettet!

"Pheast, worauf wartest du?!", rief der Mensch mit der Brille, während er mit dem Maskierten kämpfte. Er schlug ihm von unten gegen das Kinn, kurz nachdem der sich von dem Eis befreit hatte.

"J- ja, ich… ich bin schon dabei, Franziskus!", stotterte der blasse Alba mit bekümmerter Miene. Tinas Hoffnung erstarb mit einem einzigen gezielten Schlag ins Genick, sie erschlaffte und merkte nicht mehr, wie sie weggebracht wurde.

Franziskus sah Pheast kurz hinterher, dann wandte er sich Ventosus zu. Er schmunzelte. "Dank sei Euch, Unbekannter, Ihr habt uns gehörig Arbeit abgenommen." Er richtete seinen Zeigefinger auf ihn. Das Dunkel der Gasse entflammte zu einem gelben Inferno aus leuchtenden Kugeln. "Und nun gehabt Euch wohl!"

Niemals würden die Custodes von Seestfor herausfinden, wer für die Explosion dieser vergessenen Gasse verantwortlich gewesen war.
 

III.
 

Wir sind bereits wieder einen ganzen Tag lang unterwegs gewesen. Während dieser ganzen Zeit innerhalb der kühlen Mauern von Sepromor hab ich ganz vergessen, wie sehr man unter der Wüstensonne schwitzt. Doch ausgerechnet der, der fast nur Schwarz trägt, hat am wenigsten mit der Hitze zu kämpfen. Ludwig reitet fröhlich pfeifend voraus, zieht hinter sich einen röchelnden, gemarterten Haufen von Abenteuern her. Sira hat es sich auf seiner Schulter bequem gemacht und schwatzt mit ihm.

"Sie hat sich ja gradezu an ihm festgesaugt.", bemerkt Selet.

"Blödsinn. Sie verlässt sich nur auf Ludwig… und das zu Recht, er ist mehr als bloß stark."

"Ist das alles, was jemand braucht, um in deinen Augen vertrauenswürdig zu erscheinen?"

"Also wirklich, Dorac! Hast du schon vergessen, dass er uns nun mehrmals das Leben gerettet hat?"

"Und wie.", merkt auch Alex an, "Ohne ihn würde ich zum Krüppel geschlagen in irgendeiner Zelle versauern."

"Ha, das verdankst du aber vielleicht auch bloß der Tatsache, dass dieser Irre sich ausgerechnet direkt zwischen Harpyienstämmen und der Titanenstadt des Ostens angesiedelt hat!"

"Oh, dass du aber auch nie die Klappe halten kannst!", schimpft Alex da plötzlich und zeigt nach oben. Eine Schar winziger Punkte kreist über uns am Himmel. Was soll das sein, ungeduldige Aasgeier? "Hey, Ludwig! Siehst du das da oben?"

"Oh, wunderbar, das hat uns gerade noch gefehlt!"

"Was denn?", rufe ich und verrenke mir den Hals.

"Das sind Wüstenharpyien! Zehn Stück, würde ich sagen! Gut aufgepasst: Reitet normal weiter, aber wenn ihr merkt, dass sie hinunterstürzen, gebt den Pferden ordentlich die Sporen! Nur so hängt man diese Biester ab!" Zum Glück sagt er nicht, dass wir uns nichts anmerken lassen sollen, denn so verspannt wie jetzt bin ich noch nie gewesen. Und ständig muss ich nach oben gucken, um sicherzugehen, dass ich den richtigen Moment nicht verpasse.

Da ist er! Alle greifen fest die Zügel und lassen die Pferde galoppieren. Die herabstürzenden Harpyien legen sich schräg in die Luft, lassen sich näher an uns herantragen. Zu unserer Überraschung breiten zwei von ihnen ein vermaledeites Fischernetz aus und werfen es runter!

"Nicht verunsichern lassen, das übernehme ich!", ruft Ludwig. "Solve!" Lichtblitze zerfetzen die Knüpfungen und festen Garne. Noch im selben Moment, da Ludwig die Schwertsplitter zurückruft, deutet Selet zum Himmel und warnt uns: "Vorsicht, da kommt noch etwas!"

Ich kann nicht mal erkennen, was da wild rotierend durch die Luft schneidet, dann plötzlich in Bodennähe wieder nach oben rauscht und direkt zu der Harpyie, die es geworfen hat, zurückfindet. Es sieht aus wie zwei Seiten eines Dreiecks. Weitere davon werden geworfen, eine der Waffen bleibt in einer Düne stecken, andere fegen knapp an uns vorbei.

"Ah!" Tja, und eine erwischt Alex an der Schulter. So hart, dass er aus dem Sattel fällt, wobei das Pferd aufgebracht wiehert und noch ein Stück weitertrabt, ehe es stehen bleibt. Ich lege blitzschnell den Kopf in den Nacken, die Harpyien sind noch sieben Meter über uns! Ich reiße die Zügel herum, das Pferd sträubt sich, aber macht dann doch kehrt und wir galoppieren zu Alex zurück.

"Nicht, Maljus! Das ist zu gefährlich!", ruft Ludwig mir zu. Kurz darauf beschwört er das Lichtschwert, wohl um mir den Rücken freizuhalten. Selet und ich erreichen Alex. Mein Pferd ist noch nicht mal stehen geblieben und ich springe aus dem Sattel, komme ungeschickt im Sand auf und stolpere zu Alex. Verbissen hält er sich seine Schulter.

Ich fordere ihn auf, aufzustehen, sich zu beeilen, gucke noch mal nach oben, vielleicht noch vier Meter, die die Harpyien über uns schweben. Das reicht doch nie im Leben! Doch sie erheben sich weiter nach oben, als noch mal ein Gleißen die Lüfte abgrenzt. Ich packe Alex Hand, ziehe ihn hoch. Er meint: "Verflucht, du hättest nicht noch mal zurückreiten brauchen! Ich hätt's auch alleine geschafft!"

"So sah das aber nicht aus!" Wir rennen zurück zu unseren Pferden, doch die Harpyien geben noch nicht auf. Eine stürzt sich tatsächlich wieder hinab, gibt ihr Bestes dabei, Ludwigs Projektil und inzwischen auch Craylos Dolche mit einer dünnen, kurzen Klinge abzuwehren. Sehen wir denn so vermögend aus?!

Die Harpyie schafft es zu landen. Ihre Klauen graben sich in den Sand, da erhebt sich eine Düne und verschluckt sie mit Haut und Feder! Ludwig hält eine Hand in unsere Richtung ausgestreckt und schwitzt nun auch.

"Man eignet sich so manchen Trick an, wenn man hier lebt.", lacht er atemlos und reißt seine Hand empor. Der Sand folgt der Bewegung und greift nach den anderen Diebinnen. Alex, Selet und ich schaffen es endlich zu den Pferden. Ich steige in den Sattel, zerre mich hinauf und helfe Selet noch hoch, während Alex in einem Sprung aufsitzt und wieder die Zügel fasst. Und jetzt nichts wie weg, noch ist der funkelnde Nebel imstande, die restlichen Wüstenvögel abzulenken.

Die glitzernden Schwertsplitter verstreuen sich, eine Windböe, beinahe so stark, dass sie mich aus dem Sattel reißt, wirbelt Sand in meine Augen.

"Hab ich dich!", gackert eine Frauenstimme, als sich Arme um mich schließen und Klauen in meinen Rücken drücken. Dann reißt die Harpyie mich aus dem Sattel und zu sich in die Lüfte. Ich kann in dem Tumult unter mir sehen, wie eine pfeilschnelle Harpyie Selet in Gewahrsam nimmt. Woanders in der Luft halten je zwei Harpyien das Exorzistenduo an den Armen in der Luft, die restlichen Aasgeier heften sich an Ludwig. Sie haben uns alle geschnappt! Wenn bloß nicht dieser blöde Wind gewesen wäre! Was wird jetzt nur mit uns passieren?! Werden sie uns ausrauben? Fressen? Einsperren?

"Da wird sich die Räuberprinzessin aber freuen!", schnattert eine Harpyie. Ihre Augen liegen auf mir. "Das dürfte der Junge sein, den sie gesucht hat!"

"Wieso würde die Räuberprinzessin mich suchen? Wer ist das überhaupt?!", rufe ich. Am liebsten würde ich mich ja gegen diesen Griff wehren, aber nach unten sind es satte zehn Meter. Den Fall bremst auch der Sand nicht.

"Du wirst genug Zeit haben, sie kennen zu lernen, Erdgebundener!" Mehr sagen die Diebinnen nicht, ehe sie mit uns und den Pferden als Beute von dannen ziehen.
 

IV.
 

"Großartig!", dröhnt Siras schrille Stimme in meinen Ohren, "Wir entkommen den Schrecken der Wüstenbastion und werden auch schon von verdammten Harpyien gefangen genommen!" In der runden Lehmzelle hallt ihre Anklage besonders gut. Jedoch ist selbst Sira nicht so störend wie die schwere Fußfessel, mit der ich an die Wand gekettet bin. Die Víla ist die einzige Gesellschaft, die ich seit über einer Stunde hatte - mal abgesehen von dem kläglichen Haufen Stroh, der zwar genauso kratzig, doch nicht so gesprächig ist wie sie.

"Aber wieso haben sie uns noch nicht getötet?", frage ich, "Machen Räuber das nicht eigentlich? Plündern und die rechtmäßigen Besitzer zurücklassen?"

"Das sind Harpyien, keine gewöhnlichen Räuber.", korrigiert Sira, "Entführungen sind für sie nichts Ungewöhnliches. Manchmal erpressen sie Familien außerhalb Meskardhs… oder sie halten sich Gefangene als Arbeiter, das weiß man noch nicht so ganz." In Siras Gesicht lese ich, dass da noch etwas anderes ist, das sie mir aber nicht sagen will.

"Rosige Aussichten, wirklich!", muss ich meinen Zynismus loswerden.

"Hättest du dich nicht in Klemensbürgen entführen lassen, wären wir nie hier gewesen, um gefangen genommen zu werden!"

"Hab ich mich denn nicht schon auf der Reise dafür entschuldigt?!", belle ich. Meine Güte, dass diese Víla aber auch so nachtragend sein muss! "Ich wollte ja nicht mal zum Herrenhaus, um mich gefangen nehmen zu lassen, sondern bloß frische Luft schnappen!"

Sira lässt aber nicht locker: "Du bist unvorsichtig gewesen! Dass Dyonix dich nicht einfach hat umbringen lassen… er muss gewusst haben, dass wir keine Bedrohung für ihn darstellen! Kein Wunder mit so einem tollkühnen Waldelfen!"

"Entschuldige, aber werhätte ihn denn aufhalten sollen, als Cheeta die Stätte überfallen hat?! Die kleine Víla vielleicht?!"

"Du hast doch keine Ahnung!", weint Sira plötzlich. Hab… hab ich sie so hart getroffen? Verflucht, so war das doch jetzt auch nicht gemeint! Leider hört man meine Wut noch immer, als ich sie versuche zu fragen: "Warum weinst du denn jetzt?"

"Lass mich in Ruhe!" Sie springt beleidigt von ihrem Sitzplatz, einem kaputten Tonkrug auf und fliegt zu den Luftschlitzen. Meine Augen weiten sich. Gleich platzt mir eine Ader! "Es ist hoffnungslos mit dir! Eines der Weihemittel haben wir grade mal! Ein einziges! Lieber suche ich jemanden, der was von so einer Reise versteht!" Unter dem Rasseln der Fußfessel erhebe ich mich und stemme die Hände in die Seiten.

"Nun stell dich nicht so an! Willst du mich hier allein lassen?! Und Selet, Alex, Ludwig, Craylo?! Was ist mit denen?!" Sie fliegt wortlos nach draußen. "Antworte mir gefälligst, wenn ich mit dir rede, verfluchtes Flattervieh!" Ach, was schrei ich mir denn die Lunge aus dem Hals… diese dickschädelige Frau hört ja eh nicht.

Unverrichteter Dinge hocke ich mich wieder hin und ziehe die Beine an.
 

Eine weitere Stunde quält sich dahin. Ich glaube, so gedankenlos bin ich noch nie gewesen. Das übersteigt jede Langeweile. Die Schuldgefühle wegen Sira habe ich tot geschlagen wie die Zeit. Soll sie hingehen, wo der Pfeffer wächst, da vermisse ich sie sicher nicht! Ständig schreit sie mich an, macht mich runter und ist so verflucht ungeduldig - dabei weiß ich genauso, dass die Zeit knapp ist!

Ich war gerade so schön dabei, das wieder hochzuholen, als sich die Holztür öffnet. Ich erkenne die Harpyie, die mich geschnappt hat, sofort an ihrem feuerroten Haaransatz wieder, sie ist fast kahl geschoren und wirkt sehr burschikos. Eine Hand ruht auf ihrer pluderhosenbedeckten Taille, als sie hereinkommt.

"Na, ist dir schon eingefallen, wer die Räuberprinzessin ist?"

"Ich gebe mich normalerweise nicht mit sowas wie euch ab." Meine Wange brennt von der saftigen Ohrfeige, die mir verpasst wird. Feste Handschellen schließen sich auf meinem Rücken um meine Gelenke, dann öffnet die Kahle das Schloss der Fußfessel und zehrt mich am Ohr nach oben. Ah, ich glaub fast, sie reißt es mir gleich aus oder macht ein Loch rein mit ihren spitzen Krallen!

Streng lässt sie mich wissen: "Männer antworten auf die Fragen, die man ihnen stellt. Ansonsten hat deinesgleichen die Klappe zu halten, klar?! Benimm dich gefälligst, wenn du vor der Räuberprinzessin stehst!" Mit etwas Nachdruck prüft sie mich: "Hast du mich verstanden?"

"… Ja.", keuche ich, weil sie mich unangenehm anfasst. Sie schubst mich aus der Zelle, nimmt ein Naginata von der Wand und geleitet mich an bunt beschmierten Wänden vorbei. Was soll das bloß für ein Wandschmuck sein? Es sieht aus, als hätte jemand gedankenlos seine Hände in Farbe getaucht und damit über den Lehm gewischt. Und nirgends gibt es Ecken. Alles ist abgerundet, aber nicht perfekt. Manchmal macht ein Gang sogar eine S-Kurve aus unersichtlichen Gründen. Komisch, wie diese Harpyien so bauen.

Durch ein paar Fenster - oder eher durch ein paar Aussparungen in den Wänden - fällt mein Blick auf einen Pulk von Lehmpusteln und Rundtürmen unterhalb dieses Hauptgebäudes der Harpyienstadt. Sie liegt ganz am Rande der Wüste, im Westen, wo die Berge die Sand- von der Eiswüste trennen. Kleinere Gebirgsketten und scharfkantige Felszüge bilden eine natürliche Stadtmauer. Die Luft ist erfüllt von Flattermännern und -frauen, am Stadtende dünnt die Besiedelung zu Zelten aus.

"Hier rein.", kommandiert die Rothaarige, bei einer größeren, kunstvolleren Tür angekommen. Die Fresken am Rahmen sehen neuer aus als die Schmierereien überall sonst. Die Harpyie öffnet mir und schiebt mich unsanft weiter nach vorne, durch einen kurzen Durchgang, der plötzlich gemauert ist. Ein nachträglicher Anbau?

Fast schon, als sei ich nun zu Gast, öffnet mir die Wächterin auch die nächste Doppeltür. Nur das Misstrauen in ihrer Miene passt nicht ins Bild. Um nicht wieder schikaniert zu werden, beeile ich mich, in das Gemach der Räuberprinzessin zu gehen. Genauso gut hätte ich Thronsaal sagen können. Umgeben von unschätzbar kostbaren Vasen, goldenen Bildnissen, meisterhaften Büsten und seidenen Kissen mit Satinrüschen schreite ich nämlich über einen roten Teppich mit goldenen Mustern, der eines echten Königs eher würdig gewesen wäre. Frische Luft strömt angenehm herein und bewegt die bläulich getönten, langen Vorhänge, die alles in einem gedämpften Licht erscheinen lassen.

Ich folge dem Stück Teppich, das unter allen Kostbarkeiten noch hervorguckt, zu ein paar niedrigen Stufen. Anstatt eines Thrones erwartet mich an deren Ende ein riesiges Himmelbett, dessen Baldachin mit funkelnden Diamanten und silber leuchtenden Fäden durchsetzt ist. Noch ist das falsche Seidenfirmament geschlossen, doch schon wird es wie von Geisterhand auseinandergezogen, um mir die Wüstenprinzessin zu präsentieren.

Ich glaub, mein Schwein pfeift! Ja, ja, grins du nur schön, mach dich über den Idioten lustig, der nicht gewusst hat, dass natürlich du verzogenes Gör es sein musstest!

"Kora…"

"Wie schön, mein Name fällt dir sogar noch ein!", lacht die Harpyie vom Mons Mortuorum, die sich ebenfalls eine der Riesenoliven geschnappt hat. Wie selbstverständlich versinkt ihr Hintern im weichen Polster des Bettes, sie trägt eine edle, weiße Robe mit loser Kapuze, auf deren Stirn ein Vogel dargestellt ist. Das Gewand schlägt unzählig viele Falten, dabei sind die Ärmel gar nicht mal so weit.

"Du guckst aber ganz schön finster. Dabei bist du doch selber hergekommen, um mich zu besuchen!" Wie könnte ich jetzt glücklich dreinschauen?

"Besuchen? Ach, du meinst, nachdem ihr uns so herzlich eingeladen habt!"

"Hüte deine Zunge!", ruft die andere Harpyie laut genug, um mich zusammenzucken zu lassen. Kora lächelt müde. Dann sagt sie: "Meine Schwester ist etwas harsch. Aber solange ich nichts sage, krümmt sie dir kein Haar."

Um nicht weiter meine Zeit zu verschwenden, will ich gleich darauf wissen: "Und wann sagst du was?"

"Wenn du mir nicht verrätst, wo das Wunder ist!"

"Welches?" Ich bin verdutzt, sie leicht erbost. So erwidert sie mit Nachdruck: "Stell nicht so blöde Fragen! Welches Wunder wohl?! Das hier in Meskardh!" Oh, sie meint wohl das Wunder von Ignis, der Feuergöttin! Sie wird mir zwar sicher nicht glauben, wenn ich ihr das sage, doch: "Ich hab keine Ahnung, wo es ist."

"… Oltieve?" Koras Schwester kommt näher, nimmt mich auf ein mal in den Schwitzkasten. "Sie ist kräftig, nicht wahr? Sie hat Männern schon mit einer kleinen Bewegung das Genick gebrochen, als sie nicht gesputet haben. Das kann sie mit dir auch machen. Du willst mich doch sicher nicht für dumm verkaufen, oder? Du reitest ausgerechnet in die Wüste und dann willst du wieder verschwinden, ohne überhaupt das Wunder geholt zu haben?!"

"Ich schwöre, ich habe das Wunder nicht! Wir waren nicht deswegen in Meskardh-" Oltieve drückt ohne Koras Zutun fester zu. Scheiße, noch ein bisschen mehr, dann knackt es ein mal und der Elf Maljus ist Geschichte!

"Versuchen wir es noch ein mal… weil ich eigentlich gut gelaunt bin. Habt ihr das Wunder eingesammelt und es bereits auf das Schwert aufgetragen?!" Was soll ich denn jetzt antworten? Wenn ich ihr nicht sage, dass wir das Wunder haben, tötet ihre Schwester mich. Und wenn ich sage, dass wir es haben, wird sie wissen wollen, wo oder was es ist. Und dann wird sie mich irgendwie trotzdem lynchen lassen!

Denk schon nach, du kennst sowas doch aus den Büchern! Wie ziehen Leute da ihren Kopf aus der Schlinge?!

Ah, ich hab's!

"Wir haben das Wunder nicht geholt.", röchle ich, nur bevor Koras Wimpernzucken mein Schicksal besiegelt, spreche ich weiter: "Es ist noch in Titapolis!"

"Ach? Erzähl weiter!" Oltieves Griff lockert sich, ich kann wieder freier atmen.

"Also… wir waren in Titapolis… aber wir konnten nicht an den Titanen vorbei. Wir mussten fliehen und wollten unser Glück lieber woanders versuchen!" Kora brütet ganz schön über meiner Lüge. Ich kann sehen, wie sich hinter ihrer zerfurchten Stirn mal wieder etwas in Bewegung setzt. Immer noch eine Frechheit, dass so etwas Held werden will!

Ich glaube aber, sie hat die Geschichte geschluckt: "So ist das also." Sie kichert knapp. "Nun ja, zwei mal legt man sich nicht erfolgreich mit Titanen an; erst recht nicht diesen hohlen Haudraufs, die wir hier abbekommen haben!"

"Siehst du. Wir haben das Wunder nicht!"

"Das würde ich dir ja zu gerne glauben… aber im Harpyienvolk kennt man sich gut aus mit Flunkern und ein paar anderen Tricks. Das könnte genauso gut eine plumpe Lüge sein, was du da sagst."

"Du wirst schlecht prüfen können, ob ich die Wahrheit sage, oder nicht.", wage ich, wieder etwas schlagfertiger zu werden. Kora schenkt mir ein unbeeindrucktes Lächeln und legt den Kopf zur Seite. Sie entgegnet: "Mein Gutster, du hast ja keine Ahnung."
 

V.
 

Was hat sie bloß in petto? Das bereitet mir jetzt lange genug Kopfzerbrechen! Kora hat sich bloß noch mein Schwert geschnappt, das zwischen all dem anderen Raubgut lag und mit ihrer Schwester und mir in der Mitte das Gemach verlassen, um einer Vielzahl krummer Korridore tiefer ins Erdreich zu folgen. Immer öfters sehe ich grimmig aussehende Frauen mit Naginatas Wache schieben. Hier unten muss etwas ungeheuer Wichtiges sein. Irgendetwas, womit Kora mein Märchen prüfen will. Aber was?! Etwa ein Orakel? Haben diese Harpyien hier so etwas?

Ich kann buchstäblich riechen, dass ich es gleich erfahren werde. Nur der Gestank, der mir jenseits der dreifach verschlossenen Pforte entgegenschlägt, gehört bestimmt nicht zu den brennenden Kräutern einer Seherin.

Oltieve löst eine Fackel von der Wand. Der Raum ist annähernd rund, die Wände sind grob in den Stein gehauen und ungewöhnlich dunkel für den Sandstein, den man sonst so hier sieht. Bah, aber was stinkt denn hier so erbärmlich?! Ich würde mir so gerne die Nase zuhalten! Diese verdammten Fesseln!

Da sehe ich den voll gerüsteten Leichnam, der geknickt an der Wand lehnt. Hier verrottet einer, igitt!

"Was wollen wir hier…?!"

"Wart's ab, Möchtegernheld.", hält Kora mich hin.

Ich unterdrücke meinen aufschreienden Brechreiz und lenke mich ein wenig ab, indem ich auf den zugedeckten Krug vor dem Toten starre. Er ist rostig und aus mattem Metall mit einem Henkel und einem krummen Hals.

"Oltieve, wenn du so freundlich wärst." Die ältere Harpyie wirkt missmutig, aber lässt ihre Schwester nicht warten und beugt sich, um mit einer Hand an der Außenseite des Gefäßes entlangzureiben. Warum ist sie wohl nicht die Räuberprinzessin und muss das machen?

Ungeduldig warte ich ab, was dieser Aufwand bezwecken soll. Irgendwie ist mir kalt, wieso das denn auf einmal? Trotzdem spüre ich die eisige Gänsehaut und wie mir die Haare zu Berge stehen. Da hat sich was bewegt! Es kann bloß der Finger gewesen sein, aber der Tote hat sich gerührt! Ein Wiedergänger!

Der Verblichene steht unter Schmatzen seiner faulen Fleischreste auf und streckt sich gemütlich. Hat er etwa geschlafen? So hört es sich an, als er gähnend feststellt: "Ihr habt jemand weiteren hierhergebracht. Wo ich mich gerade schon wieder einsam fühlte."

Ich bin irritiert: "Ihr beherbergt einen Untoten?!"

"Ich weiß, diese Höhle ist nicht jedermanns Geschmack, wenn ich so aussehe… aber man lernt, es sich hier gemütlich zu machen." Es sich gemütlich machen?! Ich bin froh genug, wenn mir nicht schlecht wird! Kora nimmt das alles viel gelassener hin als ich. Sie fragt: "Willst du dich nicht lieber vorstellen?"

"… das hätte ich ja ganz vergessen! Meine Manieren sind in der Zeit wohl etwas abgestumpft. Hadrian, ehemaliger Kommandant… jetzt bloß noch… na ja." Er lässt seinen verschrumpelten Kopf hängen.

"Warum erzählst du ihm nicht ein wenig von deinen Erlebnissen?", empfiehlt Kora, dann spricht sie zu mir: "Denn du musst wissen, Spitzohr, Hadrian ist schon viel herumgekommen. Und er kennt auch ein paar Dinge in Bezug auf das heilige Schwert."

"Ach, deswegen bringt ihr diesen Gefangenen also zu mir? Tja… ein wenig zu reden würde mir ganz gut tun. Aber ich bin nicht so wichtig - was wollt ihr wissen, Wüstenprinzessin?" Wie aufs Stichwort löst Kora mein Schwert aus dem Gurt und gibt es dem Kommandanten. Er legt die Scheide ab und besieht sich fachmännisch die Klinge. Dazu brummt er aus seiner in Fetzen hängenden Kehle. "Tja… darum geht es also… ein gutes Schwert, hat ein gutes Gewicht, es ist fein ausgeglichen… und nachbehandelt worden. Aber nicht zufällig mit etwas geweihtem Öl, oder?"

"Ich wusste, Ihr würdet es erkennen." Kora lacht zufrieden, verschränkt dennoch die Arme. "Das hier ist eine von zwei Klingen, die geweiht werden sollen. Sagt mir, welche Wunder aufgetragen worden sind, dann könnt ihr Euch so viel mit Maljus unterhalten, wie Ihr wollt. Er wird die Stadt sowieso nicht mehr verlassen."

"Du hinterhältiges Biest!", verfluche ich sie. Ein Duell des Starrens beginnt. Ihr siegessicherer Hohn gegen meine tiefsitzende Verachtung. Aus dem Augwinkel sehe ich Oltieve ihren Kopf schütteln.

"Nun…", sagt Hadrian schließlich, während er mit der im durchlöcherten Handschuh eingeschlossenen Hand sein Knochenkinn reibt, "… das Öl habe ich sofort wahr genommen. Der Geruch ist so stark, das kann nur eine oder anderthalb Wochen her sein… aber sonst… Wunder sind da nicht weiter dran. Etwas anderes noch, aber keine der Reliquien, die Ihr sucht." Koras Zufriedenheit wird gebührend eingegrenzt davon, ein wenig verstimmt spitzt sie die Lippen und fragt noch mal nach: "Wirklich nichts? Bloß das Öl? Und was soll das andere sein?" Der Untote zuckt mit seinen Achseln, wobei sein rostiges Rüstzeug klappert. Kora fletscht erbost die Zähne, aber läuft wortlos zur Tür. Sie ruft nach Oltieve.

Nein, ich lass mich nicht so einfach einsperren! Ich laufe hinter ihr her. Die ältere er beiden Harpyien kriegt Wind davon und rempelt mich zu Boden. Bevor ich ohne meine Arme wieder auf komme, fällt die Tür bereits ins Schloss. Oh man, ich glaub das einfach nicht! Jetzt lassen sie mich mit diesem wandelnden Gammel allein! Nur die Fackel haben sie dagelass- moment, er hat noch mein Schwert!

Ihr Dummköpfe werdet es bitter bereuen, so schnell gegangen zu sein! Ich gucke Hadrian an, der ein paar geschickte Schläge mit meinem Schwert probt. Unter dem schweren Helm auf seinem Kopf zeichnet sich so etwas wie ein Grinsen ab.

"Hach, das erinnert mich an alte Zeiten… bessere Zeiten.", schwärmt er. Räuspernd mache ich auf mich aufmerksam. "Tja… da sitzen wir wohl gemeinsam hier drin, oder? Lass uns das Beste draus machen! Wie heißt du?"

"Maljus…", erwidere ich nach Luft ringend. Bitter belacht der Kommandant das: "Ich sehe nicht appetitlich aus, oder? Tut mir leid… ich würde auch lieber friedlich im Erdreich schlummern. Aber ich hab es mir ja nicht aussuchen können."

"W… wer hat Euch das denn angetan? Haben die Harpyien Euch wiederbelebt?"

"Ach so, du denkst, ich sei bloß ein Untoter?" Bloß?! "Wenn das alles wäre… nein, Junge, mich hat man verflucht." Er hebt das Schwert, um auf den Krug zu zeigen. "Jemand hat mich in diese Lampe gesperrt. Lange her das Ganze… wie lang überhaupt." Gedankenverloren kratzt er sich an der Wange. Er vergisst wohl ziemlich schnell Leute um sich herum. Dies mal warte ich, bis er sich von selbst an mich erinnert. "Oh, Verzeihung… ich bin Gespräche nicht mehr so gewohnt."

Ich würde ja am liebsten sagen, dass ich auch nicht lange reden will und er mir lieber mein Eigentum zurückgeben sollte, aber das wäre selbst einem Verfluchten gegenüber unhöflich.

"Darf ich fragen, wieso Ihr Euch offenbar mit den Wundern auskennt?"

"Na, ich hab sie ja alle selber gesehen! Ich war an jedem Ort, wo ich göttliche Kräfte vermutet habe." Das ist so schnell gesagt, dass es meinem Staunen nicht gerecht wird. Richtig neugierig frage ich: "Habt Ihr etwa auch ein Schwert weihen wollen?! Oder Moment, seid Ihr sogar der ursprüngliche Führer der heiligen Klinge?! Habt IhrPrometheus verbannt?!" Boah, wenn das der alte Held wäre! Und ausgerechnet ihn hält Kora gefangen! Das wäre ein starkes Stück!

"Ich muss dich enttäuschen, aber ich bin nicht im Geringsten heroisch." Wäre ja auch zu schön gewesen. Meine Vorstellung von einer bewusstlosen Sira, die diese Entdeckung nicht hätte fassen können, zerbricht. "Aber wenn du willst, erzähle ich dir, was mir widerfahren ist. … So langsam löst sich meine Zunge. Auch wenn sie etwas trocken ist."

Hoffentlich ist die Geschichte es wenigstens nicht…
 

"Nun denn… so will ich dir meine Herkunft offenbaren. Ich war Kommandant einer kleinen Einheit und gehörte einem Bund aus einem Land weit weg von hier an. Für ihn war ich mit meinen Männern in Cardighna unterwegs, durchstreifte das ganze Königreich. Der Winter war längst da an jenem Tag. Er war unerbitterlich, ein Schneesturm lähmte uns, aber die heiße Spur, die wir dachten, zu haben, ließ uns aufs Ganze gehen. Unser Großmeister schien uns näher, als jemals zu vor."

Ja, ja, was auch immer der Großmeister ist, ich frag lieber erst gar nicht.

"Wir durchquerten an diesem Tag die großen Wälder, da meinte einer meiner treusten Männer, es sei besser, ein Lager aufzuschlagen und Schutz vor dem Sturm zu suchen. Allerdings hatte ein anderer etwas dagegen einzuwenden. Das war 'Der weise August', wie er nur noch hieß, seitdem er in unserer Heimat zum Ritter geschlagen worden war. Eigentlich hieß er Zetimephatis Augustus." Den Vornamen habe ich nie gehört, der Nachname lässt mich etwas stutzen. Klingt erstaunlich Cardighnisch.

"Er sagte so etwas wie 'Schweiget still, Darco, wir sind Krieger, wir lassen uns doch nicht von dem Wetter aufhalten! Habe ich Recht, Kommandant Hadrian?' Aus reinem Stolz und Respekt antwortete ich, dass er das natürlich hatte. Mit erhobener Faust spornte ich meine Mannen weiter an, selbst wenn es den Tod fordern würde, unser letzter Tropfen Blut sollte dem Willen des Großmeisters gehören." Klingt so, als seien sie ganz schöne Fanatiker gewesen. Großmeister… soll das ein Gott sein?

Meine fragende Miene sieht er wohl gar nicht, wie ein Wasserfall erzählt Hadrian weiter: "Es vergingen mehrere Stunden Fußmarsch, eine Menge Schnee fiel, sodass von oben ständig Berge von den Wipfeln fielen. Aber schließlich erreichten wir eine alte Stätte, so fernab aller Wege, die auf unseren Karten verzeichnet waren. Eigentlich war es Zufall, dass wir sie gefunden haben. Im Grunde genommen waren es nichts weiter als ein paar Säulen, alte Steinfließen und ein niedriger Tempelzugang. Ich war zufrieden genug mit dem Fund, dass ich anordnete, dort ein Lager zu errichten. Wieder war es Darco, der etwas einzuwenden hatte: 'Ich weiß nicht, ich glaube nicht, dass dieser Platz gut zum Verschnaufen ist!' Nur hörte niemand ihn so wirklich an. Als wir August befragten, sah er keinen Grund, jetzt noch weiterzuziehen. Und so griffen wir zu unserem Proviant und schlugen die Zelte auf."
 

VI.
 

Er hat sich noch in einigen Details verloren, bis er endlich wieder zu einem etwas spannenderen Teil seiner Erzählung gelangt. Inzwischen sitze ich sogar im Schneidersitz auf dem inzwischen von Raureif beschlagenen Boden und lausche dösend.

"Danach beschloss ich, mir den Tempel näher anzusehen!", hebt Hadrian an, "Zusammen mit meinen Männern durchsuchte ich die zerfallene Bogenhalle, einen ganzen Saal, in dessen Wände jemand alte Texte geschlagen hatte. Sie waren so verwuchert, dass wir erst die Ranken runterrupfen mussten, um Zetimephatis um eine Übersetzung zu bitten. Während er in seinem schlauen Buch nachschlug, fand Darco etwas anderes, einen versteckten Keller. Über dem Eingang hing irgendwas, das ich nicht mal genau gesehen habe." Warum erwähnst du es dann…?

"Unten jedenfalls fanden wir bloß… dieses Teufelsteil." Er zeigt auf die Lampe, die für mich immer noch eher aussieht wie ein zu klein geratener Kessel und nicht wie ein 'Teufelsteil'. Nun, aber wer ist hier verflucht worden, er oder ich?

Hadrian berichtet: "Es stand direkt vor einer markanten Statue aus blutgetränktem Gestein. August erklärte, worum es sich dabei handelte, denn sie war sehr plump gefertigt und ihr Gesicht erkannte man nicht mehr. Es sei eine Statue unserer Todfeindin, wir befänden uns vor einem Opferaltar der Götze, die den Großmeister gebannt hatte." Hadrian springt auf und brüllt: "Oh, wenn sie das gewesen wäre! Dann hätten wir zu Recht all unsere Wut an diesem vermaledeiten Stein ausgelassen!" Plötzlich rennt er zur Lampe und tritt heftig dagegen, scheppernd fegt es den Kessel durch die Höhle, ich zucke bei den Geräuschen erschrocken zusammen. Just in dem Moment erschlafft der Kommandant und keucht vor Anstrengung. Auf die Knie gefallen schaut er den Boden, aber nicht mich an.

"Zwei haben es besser gewusst als wir. Wir sind hingegen blindlings auf diese Statue losgegangen, haben unsere Schwerter an ihr zerbrochen, ihr mit den Händen die Arme und Beine abgebrochen, sogar unsere Zähne abgestumpft an ihr, weil wir dachten, das sei der Moment, auf den wir gewartet hatten!"

"Und was… was ist dann passiert?"

"August hat nur gelacht… und Darco, der hat uns mitleidig angesehen. Er hat versucht, uns aufzuhalten, aber dafür waren wir blind gewesen. Augustus sah uns triumphierend an und offenbarte, was für Toren wir waren: 'Das ist nicht die Statue von Anima! Dieser Tempel ist für die Cardighner verfluchtes Land, hier ist unser Großmeister gestorben! Und ihr habt seine letzte Hinterlassenschaft, sein Denkmal vernichtet.' Er hatte uns reingelegt. Ein Fluch sollte über uns kommen, weil wir den Großmeister verärgert hatten."

"Warum hat dieser August das denn getan?!"

"Er wollte allein die Gunst des Großmeisters erwerben. Der Gegenstand über der Tür war etwas, womit er ihn wiederbeleben konnte, sagte er noch zu uns. Als Augustus dieses Ding dann mit nahm und floh, verschloss sich augenblicklich der Raum, in dem wir schutzlos dem Zorn unseres Herren ausgeliefert waren. Darco hatte einen letzten Versuch unternommen, ihn aufzuhalten. August selbst hat jedoch gesagt: 'Dich kann ich mit meinem Dolch schon niederstrecken.' Und bei meiner Seele, das tat er auch. Vor unser aller Augen, denn wir waren starr gefroren."

Ich fühle nun mit Hadrian mit. So ist das also passiert. Ich schäme mich auch dafür, ihm anfangs so wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Darum will ich mich jetzt bessern: "Und wie seid Ihr dann hier gelandet?"

Er lehnt sich seufzend an die Wand und spricht: "Das fragst du besser die Harpyien. Ohne sie wäre die Lampe nie hierher gekommen. Und an sie bin ich gebunden. In sie hat der Großmeister uns gesperrt. Wäre diese Höhle größer… würde mein Körper mit einem Schritt zu viel zu Staub zerfallen." Stille entsteht. "Du suchst genauso wie die Prinzessin die Wunder, hab ich das richtig verstanden?"

"So ist es. Kora hat meine Freunde und mich gefangen genommen, weil sie schneller sein will.", offenbare ich.

"Ich würde ihr da gerne einen Strich durch die Rechnung machen. Du bist der Erste, der mich hat wählen lassen, wovon ich berichte. Diese Kora… die will immer bloß bestimmte Geschichten hören, alles rund um die Wunder. Ich kenne dieses Blitzen in ihren Augen… genauso dämlich müssen wir geguckt haben, als wir die Statue zerstört haben." Er richtet sich schwerfällig auf und geht zu meiner Rückseite. "Ich verrate dir jetzt etwas, das ich dieser Harpyie nicht gönne. Der Tempel, in dem wir unser Ende fanden, beherbergt das Wunder des Windes. Am Ende der Kammer, in der wir eingesperrt wurden, gibt es eine Felsspalte, aus der ein besonderes Gas strömt. Es ist gelblich, warm… und wenn man es berührt, wird es plötzlich mitten in der Luft fest! Ich bin mir sicher, dass es das Wunder ist." Er schneidet meine Fesseln durch, danach reicht er mir mein Schwert.

"Ich weiß gar nicht, wie ich Euch genug danken soll!"

"Indem du nie so eine Dummheit begehst wie ich und die restlichen drei Wunder sammelst. Tja… dann nehme ich an, dass ich früher jetzt so etwas wie 'Lebe wohl' gesagt hätte." Er klopft mir auf die Schulter. Es ist gut gemeint, dennoch kriege ich davon eine Gänsehaut. Nervös lächle ich.

"Ich habe da einen guten Freund, der Euch vielleicht helfen könnte. Den befreie ich und gebe ihm bescheid!", fällt mir noch etwas ein, um mich doch erkenntlich zu zeigen. Hadrian glaubt mir zwar nicht so recht, aber wir werden ja sehen!
 

VII.
 

Felszikaden sangen zum Großen Hirsch, der im Westen des sternenklaren Nachthimmels leuchtete. Das vielstimmige Lied, welches der Wind hauchdünn unterstrich, wog die Harpyien in der Sicherheit, alles sei wie immer. Männer hatten gesputet, Reichtümer sich in den Schatzkammern gehäuft, Ignis' Lohe war für heute erloschen.

Sie dachten immer in großen Maßstäben, die Harpyien von Meskardh. Eine Frau, die nur einen Mann hatte, war verklemmt und sparte am falschen Ende. Jede Räuberin, die kein Vermögen nach Hause bringen konnte, war entweder unfähig oder zu feige, größere Risiken einzugehen. Wer jetzt, wenn sie Feierabend hatte, nicht den Tag mit einer festlichen Orgie zu Ende brachte, wusste nicht, wie man zu leben hatte, bevor man alt und unnütz würde.

Vielleicht war gerade das der Grund, dass die kleinen Dinge den Harpyien in dieser Nacht entgingen. Da war der kleine Fehler, eine Waffe bei einem Gefangenen gelassen zu haben und die Türschlösser nicht genau zu prüfen, dieses kleine bisschen Überheblichkeit, zu denken, ein beruflicher Dämonenjäger werde vom Spiel mit zwei seiner Wächterinnen müde genug, um sich problemlos wieder in seine Zelle bringen zu lassen, und die Unachtsamkeit gegenüber einer kleinen grünen Dame, die einen wichtigen Schlüsselbund entwenden konnte.

Siras und Alex' Glück war deswegen besonders groß und das der anderen Gefangenen auch.

Während die Víla mühelos Selet, Craylo und Ludwig befreien konnte, irrte Alex allerdings alleine umher. Sein feines Gehör brachte ihn rechtzeitig zum Stillstand, sobald er aus irgendeiner Richtung andere Schritte hörte. Jetzt waren es allerdings Stimmen, die er hörte.

Die eine Frau, ganz bestimmt so alt wie er selbst, erklärte einer anderen: "Und deswegen wurde beschlossen, dass du dich zu entscheiden hast. Wenn du lieber außerhalb unserer Stadt alten Schätzen nachstehlen willst, hast du den Thron an mich abzutreten, weil ich deine nächste Verwandte bin."

"Ja, ich glaub, es hackt!", regte sich die jüngere Harpyie auf, "Dir meinen Thron anvertrauen?! Nur weil wir denselben Vater haben?!"

Die ältere entgegnete außerordentlich ruhig: "Auch wenn er nur ein Mann ist, sein Blut fließt in uns beiden. Also habe ich im Zweifelsfall meinen Anspruch, Schwesterherz." Sie erwartete eine Reaktion, doch nach langem Schweigen sagte sie mit etwas Nachdruck: "Deswegen reißt du dich entweder mal am Riemen oder verduftest! Warum müssen wir die Gefangenen überhaupt am Leben lassen?! Wir hätten die Frau abmurksen und die Kerle an die alten Weiber verkaufen können, die mit ihnen noch mal ihre beste Zeit gehabt hätten!" Unwillentlich bekam Alex eine Gänsehaut und zischte ganz leise vor Ekel. Er drückte sich stärker an die poröse Wandformation und erwog, einen kurzen Blick in den anderen Gang zu werfen.

"Woher plötzlich dieser überlegene Ton, Oltieve? Noch bin ichRäuberprinzessin!"

"Wir brauchen aber eine Königin."

"Zu der werde ich noch früh genug."

"Nicht, wenn du dich nicht endlich bindest und dir einen Harem aussuchst!", schimpfte Oltieve, "Wegen deiner Ausflüge krakeelen mir die Mütter der Kandidaten täglich die Ohren zu! An deiner Stelle hätte ich schon längst meine Wahl getroffen."

"Und deswegen willst du mich jetzt stürzen?!", fauchte die Prinzessin, "Sogar eine Garde hast du auf deine Seite gebracht… gut gemacht, Oltieve, hätte ich dir nie zugetraut."

"Ach, halt den Schnabel, Kora!", rastete die ältere der beiden Schwestern da aus, "Hier gibt es momentan keinen mehr, der noch auf deiner Seite ist! Ich überlass es dir, ob du freiwillig gehst, oder wir dich zwingen müssen. Nur, weil wir denselben Nichtsnutz von Vater hatten." Alex hörte heraus, dass auch die baldige Herrscherin der Harpyienstadt mit dieser Situation nicht glücklich war. Er hätte längst zurückgehen und einen anderen Weg suchen sollen. Wenn diese Kora jetzt nicht spurte, gäbe es ganz schnell viel mehr Wächterinnen auf den Gängen als die, die der Blonde bereits ausgeschaltet hatte.

Er machte auf dem Absatz kehrt, sobald Kora Worte fand: "Du hättest diese Schlampen nicht dabei, wenn du mich gehen lassen wolltest. Da gibt's doch noch etwas, was du witterst!" Noch rannte er nicht.

"Geld und Macht, mehr nicht, Wüstenprinzessin. Und für das nötige Kleingeld verkaufe ich dich gerne.", legte Oltieve dar, als sei es das Normalste der Welt. "Du lernst den Käufer schon noch kennen."

"Er lernt michkennen, meinst du!" Länger wartete Alex nicht, um wegzulaufen, gleich würde hier die Hölle los sein. Aus dem Gang erklangen weitere Harpyienstimmen, viele davon mit martialischen Schreien. Eine rief aber: "Da, einer der Gefangenen!"

"Worauf wartest du dann?! Schnapp ihn di-!" Oltieve wurde von irgendetwas unterbrochen. Währenddessen rammte Alex einer entgegenkommenden Wächterin das Heft seines Schwertes in den Bauch, und stieß sie beiseite. Er war froh, die Waffe in der erstbesten Schatzkammer wiedergefunden zu haben, denn nichts würde ihn mehr aufregen, als dieses Erbstück seines Vaters zu verlieren.

Seine Verfolger waren viel schneller als er, er musste stehen bleiben und mit ihnen kämpfen. Eine Harpyie mit blauem Gefieder stieß ihre Krallen durch eine winzige Lücke seiner Lederrüstung in seinen Bauch. Alex schmeckte sein Blut. Während sein Hemd durchnässte, rammte er die Parierstange gegen den Unterkiefer der Angreiferin und versetzte ihr noch einen Stoß mit dem Knie, um sie ihren Kumpanen entgegenzuwerfen.

Sein Vorsprung war gering, bis die Jägerinnen über die Besiegte sprangen, aber auf einmal wurden seine Verfolger von hinten aufgemischt. Irgendwo sah er eine große Rothaarige, der das Gesicht zerkratzt worden war, eine kleinere rannte vor ihr weg und scheute sich nicht, den Wächterinnen Rücken und Arme aufzuschürfen. Das war dann wohl diese Räuberprinzessin.

Alex musste langsamer machen, er spürte schon jetzt, wie seine Verletzungen weiter aufrissen und er bereits die ersten Schwindelanfälle verspürte. Er taumelte vorwärts, stützte sich an der Wand ab, wobei er sich fühlte, als würde die Wüstensonne über ihm stehen. Für ein paar kleine Stiche waren das verdammt schlimme Schmerzen!

Eine Hand griff nach seinem Mantel, mit trüben Augen guckte er über seine Schulter. Fast knickte er ein. Die Räuberprinzessin hatte ihn gepackt und starrte ihn düster an. Alex holte aus, um sie wegzuschlagen.

"Nein, nicht, du Trottel!", zischte sie und schob ihn vor sich her. "Dafür ist jetzt nicht die Zeit! Wir sind momentan beide gleich gearscht, wenn sie uns erwischen!"

"Eine Zweckgemeinschaft?"

"Bis wir heil hier heraus sind!"

"Ich hätte keinen besseren Zeitpunkt wählen können!" Er riss sich wieder zusammen und beeilte sich. Kora hatte keinerlei Problem mit seinem Tempo, sie wäre leichtfüßig schneller gelaufen, wenn sie ohne ihn als Verbündeten hätte entkommen können.
 

Sie setzten ihre Flucht erbittert fort, innerhalb kürzester Zeit war der ganze Palast in Aufruhr, nicht zuletzt, weil andere Gefangene auch ausgebrochen waren. An einer Weggabelung, wo Alex und Kora meinten, nicht länger fortlaufen zu können, trafen sie die anderen. Magische Projektile flogen umher, der Gang hinter ihnen löste sich in herabfallenden Schutt auf und die Wächterinnen standen in einer Staubwolke.

Ludwig gab sich als Erster zu erkennen: "Eigentlich hätte ich Euch allein erwartet, Alex."

"Was macht Kora denn hier?!", platzte es aus Selet hervor. Verstimmt wich die Harpyie ihrem fragenden Blick aus. Sehr kühl erklärte Alex: "Das ist die ehemalige Räuberprinzessin… ihre Schwester reißt grad die Macht an sich und will uns alle einfangen!"

"Oh nein, was wenn sie Maljus dann schon wieder geschnappt haben?", befürchtete Dorac.

"Das hättest du wohl gerne!"
 

Na endlich find ich die mal! Ich hab hier den halben Kerker abgesucht, nachdem ich durch seelenverlassene Kellergänge gelaufen bin, und jetzt sehe ich, dass die alle bereits frei und munter sind. Aber dieser eine Rotschopf hier passt so gar nicht ins Bild!

Ehe mir die anderen noch um den Hals fallen oder mich begrüßen können, gehe ich auf Kora zu. Sie weicht meiner Faust grade so noch aus. "Was machst bitte du hier?!", donnere ich fragend.

"Sie flieht, genauso wie wir. Und was ist überhaupt mit dir los, Kleiner?"

"Dieses Luder hat uns doch erst gefangen nehmen lassen! Sie wollte mich mit einem Untoten verrotten lassen und mir am Ende wohl noch das heilige Schwert abnehmen!"

"Scheiße, das hab ich nicht mitgenommen?!", wird Kora ihr Fehler schlagartig bewusst. Düster nicke ich.

Alex baut sich zwischen ihr und mir auf. Er sagt: "Das können wir auch regeln, wenn wir die andern Elstern los sind!" Kora schnappt nach Luft vor Empörung. Ich freunde mich in dieser Lage schneller damit an, das Kriegsbeil zu begraben: "Also schön. Kora, spuck's aus, wo habt ihr die Pferde hingeschafft?"

"He, mal schön langsam!" War das grade Siras Stimme? Tatsächlich, sie ist es! Ich hab sie gar nicht gesehen! Jetzt aber steht sie leicht vornüber gebeut vor meiner Nase. "Wir zwei haben auch noch eine Rechnung offen!"

"Maljus, Sira war es, die uns befreit hat!"

"Wirklich…?" Was Selet da sagt, überrascht mich jetzt doch. Sira ganz allein…?

"Jetzt überzeugt, dass ich zu etwas nütze bin?" Sie wirkt jetzt zwar schon etwas großkotzig… aber ich muss ihr wohl Recht geben. Kleinlaut erwidere ich: "Ja… ja, schon."

"Wenn das dann auch geklärt wäre…!", hetzt Alex uns wieder. Kora überwindet sich dann auch, uns zu den Stallungen zu bringen, in denen die Räuberinnen unsere Pferde untergebracht haben müssten: "Also schön. Dann mir nach, ihr tumbes Mannvolk!"

"Als Dolch muss ich mich mal nicht angesprochen fühlen, denke ich. Geht ihr mal hübsch ohne mi-"

"Klappe!", rufen alle einstimmig.
 

VIII.
 

Nach Stunden des Herumschleichens und Versteckspiels in den zahllosen Schatz- und Kornkammern des Palastes hat sich allmählich die Stimmung beruhigt. Bloß an Rast ist immer noch nicht zu denken.

"Nur damit wir uns verstehen…", verklickere ich Kora mit dem typischen Ton meines Stiefvaters, wenn er gestrenger war, "… aber ich würde schon gerne wissen, wie das weitergehen soll mit uns beiden."

"Du klingst so, als wären wir ein Pärchen.", neckt Kora mich. Ich fletsche meine Zähne.

"Du weißt schon, wie ich das gemeint habe!", hallt mein gebändigter Ruf von den niedrigen Wandbögen wieder.

"Warum wirst du denn dann so rot?", lacht sie. Die hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ludwig grinst, dabei hat er das Harpyienmädchen vorhin noch so in die Mangel genommen, um alles herauszufinden, was sie über das Schwert und die Weihe weiß. Nicht mehr als wir, wie sich gezeigt hat.

"So ein Schürzenjäger… reicht dir dein Hexchen nicht?"

Sobald ich mich geräuspert habe, sage ich: "Es geht darum, ob du uns weiter so Knüppel zwischen die Beine wirfst wie bisher!"

"Ihr steckt auch ohne mein Zutun oft genug in Schwierigkeiten, glaube ich." Kora zuckt mit den Schultern. Wie kann man in so einer Lage nur so süffisant feixen?! Man merkt mir meine Gedankengänge an, Kora erklärt nämlich: "Meinen Thron hole ich mir ganz einfach zurück, wenn ich die Retterin Cardighnas sein werde! Das bringt mir genug Sympathie unter dem Fußvolk." Ich sehe mich hilfesuchend nach Selet um. Ob sie weiß, dass ich mich frage, ob es normal ist, das so zu handhaben? Ihre Miene gibt mir darüber keinen Aufschluss.

Der Tunnel höhlt sich aus zu einer stillen Lehmhalbkugel, es gibt keine wirkliche Tür zum Stall. Heu knistert unter unseren Sohlen, Schnauben taucht zu den Seiten immer wieder mal auf. Den charakteristischen Tiergeruch haben wir schon von Metern Entfernung wahr genommen. Es ist stockfinster.

"Irgendjemand was zum Lichtmachen da…?", frage ich.

Keine vertraute Stimme antwortet: "Wie wäre es hiermit?" Etwas blitzt auf, so grell, dass ich nun viel zu viele Lichter sehe und mir erschrocken die Augen abdecke. Für den Augenblick eines Herzschlages waren da Umrisse, eine Harpyie war mindestens darunter.

"Die Rothaarige ist das Mädchen, das ihr haben wolltet." War das nicht die Stimme von Koras Schwester? Noch sehe ich lauter bunte Flecken, bis sich der Farbnebel etwas lichtet. Vor das zufriedene Lächeln eines braunhaarigen Herren mit Brille und blauer Gewandung schieben sich angriffslustige Harpyiensoldatinnen, die hinter den Pferden und Wüstenschweinen hervorkommen.

"Oltieve, du gerissenes Stück…" Jetzt erkenne ich sie im selben Moment wie Kora. Da lag ich wohl nicht falsch, dass sie gerne selbst Herrscherin dieser Stadt wäre - drauf gespuckt, dass ich's geahnt habe! Jetzt ist es sowieso zu spät!

"Hm…" Die sanfte Stimme des Mannes neben Oltieve löst die Spannung in der Luft etwas. Auf seiner Fingerspitze tanzen schimmernde Funken. Dieselben, die mich geblendet haben. "Überlasst ihr mir die Hexe auch?", will er wissen. "Ich zahle auch mehr." Wie? Was will der von Griselda? Da gibt es ganz üble Geschichten, die ich gehört habe und die jetzt aus den hintersten Kammern meines Verstandes ausbrechen, um mein Gesicht kreideweiß zu streichen.

"Zu barer Münze sagt keine Harpyie-"

"Nein!", schreie ich, "Untersteht euch!" Oltieve schaut von dem eigenartigen Mann verstimmt in meine Richtung. Dann sagt sie zu all den Harpyien: "Na los, worauf wartet ihr noch?! Hier geht's um Schotter!"

"Geht aber vorsichtig um mit den jungen Damen.", bittet der Mensch mit Brille, "Ich brauche sie lebend und wohlauf."

"Du kannst froh sein, wenn du selbst lebend und wohlauf sein wirst." Das klingt jetzt so, als könnte ich das gesagt haben. Oder als wäre es Alex gewesen, zu dem so ein Spruch auch gepasst hätte. Die Wahrheit ist aber, dass das niemand von uns war. Selbst nicht Kora, welche diesen Kerl versucht, mit allein ihren Augen zu töten.

Etwas klappert. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass es Ludwigs Lichtschwert ist, das in der Schwertscheide rebelliert. Er zögert nicht, es zu ziehen. Ein paar der Harpyien weichen bei dem grellen Licht erschrocken zurück. Ein Dämon. Direkt hier, darauf könnte ich wetten! Und diese leere, hauchende Stimme… Ja, ich glaube zu wissen, wer das grade war.

Der Mann ebenso, das sehe ich, obwohl das gleißende Licht sich an seinen Brillengläsern spiegelt und seine Augen für uns unsichtbar sind. Er murmelt so etwas wie: "Überraschend, Ihr seid noch am Leben?"

"Natürlich bin ich das!", spricht Ventosus, während seine Konturen sich aus den Schatten schälen. Sein Mantel hängt in verbrannten Fetzen und sein Helm ist mehrfach angeknackst oder zerbrochen. Er selbst sieht aber alles andere als mitgenommen aus, nickt Alex und mir nur knapp zu und sagt: "Noch mehr Leute, mit denen ich eine Rechnung offen habe… Und das ist dann wohl Ludwig, der letzte Mors-Krieger."

"Elende Dämonenbrut…", knurrt Ludwig. "Solve!" Der erste Zug in diesem Kampf! Ventosus macht eine Rolle durch den Raum, lenkt die Splitter ab und lässt mehrere Federn lassende Harpyien von seinen Kartaren geschnitten werden. Andere nehmen vor den noch ungebremsten Schwertstücken Reißaus, wir sind nicht mehr umzingelt.

"Der Weg nach draußen ist frei!", teilt Ludwig uns plötzlich mit. Dashatte er also wirklich vor?! Alex und Craylo nehmen als erste die Beine in die Hand. Bevor ich Selets Handgelenk packe und sie in Sicherheit bringe, sehe ich Ventosus mit Oltieve und dem Fremden kämpfen. Er gehört also nicht zu Dyonix. Bloß-

"Beweg deinen Arsch, Blondie!" Kora schubst mich wortwörtlich aus meinen Gedanken. Ja doch, ich gehe ja schon!

Mich noch vergewissernd, dass Selet auch dabei ist, renne ich durch die sich schließende Schneise und das geöffnete Stalltor, vor dem Alex und Craylo bereits mit unseren Pferden stehen.

"Wo ist Ludwig?!"

"Noch da drin!"

"Hat irgendwer eine Ahnung, woher dieser Ventosus jetzt überhaupt so plötzlich kam?"

"Was weiß ich.", entgegnet Alex barsch und sitzt bereits auf, "Der ist anders beschäftigt!" Es tut einen Knall in den Stallungen. Selets Arm verkrampft sich, ein stechender Geruch breitet sich in der Luft aus. Alles das Werk dieses Mannes?!

"Soll dieser Alte ihm von mir wenigstens schöne Grüße bestellen!", flucht Kora indes und scharrt mit ihren Krallen auf dem Sand. "Sein Gesicht merk ich mir! Damit ich's ihm eintreten kann!"

"Bitte. Nur zu. Wenn du ihn fangen kannst, gehört er dir. Diese Ratte hat sich nämlich schon wieder aus dem Staub gemacht." Ich höre Ventosus viel zu deutlich, aber als dann noch seine Klinge an meinem Hals sitzt, weiß ich definitiv, dass er direkt hinter mir steht. Selet gibt einen erstickten Laut von sich, ihr Arm erschlafft in meiner Hand und zieht mich nach unten. Ventosus hält mich oben.

"Ich glaube, es wird Zeit, dass wir unseren Kampf zu Ende bringen, ihr beiden…"

"Was wollt Ihr von der armen Griselda?! Los Craylo, sag ihm, er soll sie in Frieden lassen!"

"Werde ich, wenn ihr meinen Forderungen Folge leistet.", verspricht Ventosus.

"Red nicht lang! Was willst du von uns?!", rastet Alex aus.

"In spätestens vier Tagen treffen wir uns in Seestfor wieder, nachts, wo niemand uns stören kann - und zwar nur wir drei, die anderen bleiben gefälligst weg. Dann werden wir zum letzten Mal kämpfen. Ich brauche wohl nicht zu sagen, was dem Verlierer blüht."

"Du lässt das Mädchen frei!", fordert Alex, ohne auf Ventosus einzugehen.

"Wenn ihr gewinnt, mache ich das. Nicht, wenn ihr unterliegt. Und dieses Mal… nun ja, das habe ich ja schon beim letzten Mal klar gestellt." Als sei damit alles gesagt, lässt er mich los, stößt mich zu Boden und schultert die bewusstlose Selet. Ich hab mich grade mal umgedreht, da verschwindet er schon wieder. "In vier Tagen, vergesst das nicht!"

Das darf es doch alles nicht geben! Er hat Selet einfach so mitgenommen! Ohne, dass ich das Geringste unternommen habe! Meine Hände beben - von wegen, ich zittere am ganzen Körper!

"Ich schwör's dir Ventosus! Ich schwör's dir, verdammt noch mal, dass ich dich erledige! Du elendiger Feigling mit deiner Maske! Komm zurück und lass uns hier und jetzt kämpfen! Worauf wartest du eigentlich, hast du etwa Angst?! Hast du deswegen Selet entführt, weil du dich hinter ihr verstecken kannst, du Schwein?!", brülle ich unter Tränen verzweifelt in den Nachthimmel hinaus. Doch niemand antwortet.

Capitulum XIV: Zurück in Rosetum-Rubicundum - Und nun schlaft


 

I.
 

Es ist erstaunlich, wie ausgestorben Seestfor nachts sein kann. Nicht mal weit weg von den ausdünnend besuchten Tavernen und Vorführungen sind Alex und ich, schon ist es totenstill. Luna hat sich bereits hinter den Wolken erhoben, sie ist die einzige Zeugin.

"Und ihr seid auch wirklich alleine?" Ventosus hält eine Begrüßung gar nicht für angebracht. Er ist aufgetaucht, als sei er aus den dunklen Pflastersteinen gewachsen. Ich würde es ihm ohne Weiteres zutrauen.

"Du hättest nicht mal was sagen müssen.", erwidert Alex, "Das ist unsere Sache, deswegen regeln wir das alleine."

"Sehr richtig, sehr richtig." Ventosus hört sich zufrieden an. Das bin ich hingegen nicht: "Wo ist Selet?!"

"Vorher eine Frage… ist es klug, ihren echten Namen so leichtfertig zu benutzen? Habt ihr zuvor nicht viel daran gesetzt, dass sie inkognito bleibt?"

"Alex weiß inzwischen bescheid.", sage ich.

"Ich bewahre Geheimnisse. Außerdem hab ich mir da schon so was gedacht.", ergänzt Alex noch. Nachdem wir Ludwig aus dem Gerangel in den Stallungen der Harpyien befreit haben und abgehaut sind, habe ich ihm und Alex tatsächlich anvertraut, dass Griselda in Wirklichkeit die Prinzessin ist. Ludwig war verwunderter als Alex.

"Wo ist sie, Ventosus?!", frage ich mit Nachdruck. Wortlos zeigt Ventosus zu einem der Dächer hinauf. Ein langer Metallstab ragt nach oben, ein ungenutzter Fahnenmast mit einer gezwirbelten Spitze. Dort ist Selet festgebunden. Geknebelt und ohnmächtig. Dieser Schweinshund Ventosus!

"Du sollst deinen Sonnenschein haben. Wenn ihr euch dann bequemen würdet. Ich bin bereit." Ich ignoriere den ersten Kommentar. Eigentlich hätte ich schon längst angegriffen, nur Alex hat mich vorher noch zahllose Male darauf hingewiesen, dass wir nicht vorschnell handeln dürfen.

Mir geht auf, warum, denn Alex will noch etwas los werden: "Anstatt uns lange hinzuhalten, könntest du auch gleich deine falsche Form aufgeben, Dämon. Zierst du dich so? Sollen wir glauben, dass du bloß mit Kataren kämpfst? Und wenn du schon dabei bist, nimm doch auch diese lächerliche Maske ab!"

Heiser antwortet Ventosus mit einem Lachen. Orangene Risse verästeln sich durch die Luft. Die Straße ist vielleicht vier oder fünf Meter breit und die Sprünge in der Welt breiten sich auf diese gesamte Länge aus. Dann zersplittert das falsche Bild, der echte Ventosus gibt sich zu erkennen. Er sieht fast genauso aus, wie seine Verkleidung. Nur diese beiden, halb eingeklappten, ledernen Schwingen auf seinem Rücken, von sehnigen Muskeln gespannt, und die überdimensionierten Pranken anstatt von Händen sind neu. Er braucht keine Katare mehr, seine monströsen Krallen übernehmen das problemlos. So sieht also ein Rachedämon aus!

"Die Maske werdet ihr mir selbst abnehmen müssen. Ihr seid ja so ahnungslos…"

"Mit dem größten Vergnügen!", lassen Alex und ich einstimmig verlauten, als wir zur Tat schreiten. Für den Dämon ist es ein Leichtes, über uns hinwegzuspringen. Seine Flügel breiten sich aus, mit einem einzigen Schlag entfesselt er eine gewaltige Windböe, die uns ins Stolpern bringt. Leicht wie eine Feder kommt er hinter uns auf, von wo aus er angreift. Alex stoppt die mächtigen Krallen, sodass ich Ventosus' Deckung umgehen kann. Just bevor die Klingenspitze Ventosus berührt, drängt er Alex zurück. Ich mache einen Satz nach hinten, ganz knapp an meiner Nasenspitze saust eine Klaue vorbei.

Als ich aufkomme, knicke ich mit einem Fuß um, lande auf dem Boden. Wie eine Raubkatze springt Ventosus auf mich zu. Mit einer Rolle zur Seite kann ich wieder knapp entkommen, bis er vorausdenkt und seine Krallen sich neben mir in den Boden bohren, wo ich hinrollen wollte.

Alex rennt los, aber er wird nicht schnell genug sein, da Ventosus bereits ausholt. Ich ramme ihm meinen Fuß in den Bauch und schwinge das Schwert in seine Schulter. Die Wunde ist oberflächlich, er bricht dennoch seinen Angriff ab. Er springt auf, um Alex abzufangen und ihn zur anderen Seite zu werfen. Da hält Alex seinen Arm fest und reißt ihn mit sich. Kaum wieder auf den Beinen eile ich, um diesen winzigen Moment auszunutzen. Ventosus hält die Klinge fest, zerrt plötzlich an ihr und verpasst mir eine Kopfnuss, sobald ich in Reichweite komme.

Ich ignoriere den dröhnenden Schmerz, um mich mit einem Faustschlag in sein Gesicht zu bedanken. Ventosus stöhnt auf, aber ich bin noch lange nicht fertig! Während er schon versucht, mich wieder los zu werden, bekomme ich seine Maske zu fassen und zerre an dem Stoff. Ich höre, wie er reißt.

Bis all meine Aufmerksamkeit auf der Kralle liegt, die meinen Bauch aufspießen will. Ich reiße mich los, springe zurück und bin endlich Alex aus dem Weg, der die ganze Zeit auf seine Chance gewartet hat, einzugreifen.

Ventosus schlägt mit seinen Flügeln und drückt ihn weg, nachdem er ihm fast eine Hand abgeschlagen hätte. Mir wird ein wenig blümerant, mit einer Hand halte ich mein Schwert fest umklammert, die andere zerdrückt den schwarzen Stoff von Ventosus' Maske. Der Dämon hält den Kopf gesenkt.

Dann spricht er, ausnahmsweise ohne zu flüstern oder zu röcheln in einer Stimme, welche so tief wie mein Entsetzen ist: "Ihr habt euch wacker geschlagen, Jungspunde. Besonders du Maljus. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass du je dahinter kommen würdest." Schleppend zeigt er sein Gesicht. Verflucht, das kann doch nur ein Alptraum sein! Es ist wirklich Forsiano!
 

II.
 

"Lass das doch endlich mal!", schrie Craylo Kora an, nachdem sie zum wohl fünfundachzigsten Mal versucht hatte, ihm irgendwas abzuluchsen. Während sie gelangweilter Miene zurückscheute und ihre roten Finger von Craylos Dolchen wegzog, klang es dumpf von jenseits der Wand, an der Craylos Rücken lehnte: "Verdammt noch mal, Ruhe, ich will hier schlafen!" Craylo überlegte, was er dem verärgerten Mann sagen sollte - kam dann zum Schluss, es wäre besser, überhaupt nichts zu erwidern.

Er seufzte, während er auf einem weichen Bett in einer Ecke des Zimmers saß und verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. Kora saß auf einem weiteren Bett, dazwischen erhob sich ein mächtiger Kleiderschrank aus dunklem Holz. Es war ein sehr hübsch eingerichtetes Zimmer in einem von Seestfors größten Gasthäusern. Während Alex und Maljus sich ihrem Erzfeind stellten, hatte der Rest der Gruppe sich dort auf Anweisung des älteren Blonden verkrochen.

Ludwig stand die ganze Zeit am Fenster und starrte nach draußen. Seine nachdenkliche Miene spiegelte sich im Glas.

"Siehst du, Craylo, wir sind wertvoll genug für das Diebesgesindel! Überleg doch mal: die einzigen zwei sprechenden Dolche der Welt! Wir sind quasi unbezahlbar! … Hm, wie wär's, wenn wir Dorac los werden? Dann hast du für den Rest deines Lebens ausgesorgt, dann bin ich unbezahlbar!"

"Ich verbitte mir solche Gedanken, Carod! Außerdem bin ich hier wohl der einzige, für den man tatsächlich Geld bezahlen will! Wer will schon einen Miesmacher wie dich?"

"Ich glaub, ich möchte am liebsten gar keine der beiden Quasselstrippen…", knurrte Kora miesepetrig. Unruhig legte sie sich aufs Bett, drehte sich dann wieder auf die andere Seite, ein paar mal von Rücken zu Bauch, bis sie zu strampeln begann und schimpfte: "Gah, ist das vielleicht la~ngweili~g!"

"Ich weiß, wir hatten das Thema schon mal, aber darf ich noch mal fragen, warum wir diese quengelige Diebes-aristokratin mitgenommen haben? Doch nicht etwa, weil sie so lange gemosert hat, bis sie ihren Willen bekommen hat?", fragte Carod, der ausnahmsweise selbst genervt klang.

"Bis Seefort musste ich sowieso.", erklärte Kora erneut, "Und außerdem hab ich doch gesagt, dass ich euch nicht so einfach gehen lasse! Sonst plaudert ihr noch irgendwas aus über den Dreck, den Oltieve abgezogen hat! Das wäre grauenvoll, binnen Wochen würde man unser Volk überrennen!"

"Ich mache mir grade viel mehr Gedanken über Griselda, Maljus und Alex.", offenbarte Craylo beunruhigt. "Aber sie haben ja drauf bestanden, alleine zu gehen…" Er wippte gerade etwas vor und zurück auf der Matratze, als Ludwigs plötzlicher Einwurf ihn fast zum Umfallen brachte vor Überraschung: "Wir werden aber nicht tatenlos bleiben. Wenn das noch länger dauert, gehen wir hinterher."

"Aber die beiden haben doch klipp und klar gesagt, das sollen wir nicht!", protestierte Craylo, "Und was ist mit Griselda? Dieser Ventosus tut ihr bestimmt etwas, wenn wir uns einmischen!"

"Du lässt Alex und Maljus also einfach im Stich?", fragte Ludwig so todernst und bitter wie noch nie in der Gruppe. "Sie könnten sterben! Sowas hab ich schon mal erlebt. Und das will ich nie wieder… dass jemand stirbt, bloß weil ich nicht da war, um zu helfen."

"Ja, aber was ist mit Griselda?", wiederholte Sira Craylos Bedenken skeptisch, obwohl sie verstand, was Ludwig befürchtete und welche Vorwürfe er sich bereits gemacht haben musste. Sie hatte den kleinen Nachttisch neben Craylos Bett als ihren Sitz auserkoren.

"Ventosus hat sie sicher nicht unter dem Arm, während er kämpft. Sie ist nicht in Gefahr, solange Ventosus beschäftigt ist, bis wir ihn umzingelt haben.", erklärte Ludwig seinen Plan, "Also, wer ist dabei? Oder muss ich alleine los?"

"Ichlass hier keinen ohne meine Aufsicht gehen!", sagte Kora.

"Craylo, ich finde er hat Recht!", bemühte Dorac seine Überredungskünste an, weil Craylo immer noch kritisch über diesen Plan nachdachte. "Ich meine, Alex und du seid beste Freunde."

"Und beste Freunde sind dazu da, Bitten und Wünsche zu ignorieren."

"Freunde sind dazu da, jemanden von Dummheiten abzuhalten! Er würde dir so etwas niemals übel nehmen!"

Craylo gab sich geschlagen und stand bereits auf. Er sagte: "Habt ja Recht. Aber wir konzentrieren uns darauf, dass Griselda in Sicherheit ist, bevor wir einschreiten, ja?"

"Wenn ich das nur mache, um Leben zu retten, dann mach ich das auch, weil ich nicht will, dass Griselda etwas passiert, mein Freund.", versicherte Ludwig mit den Anflügen eines Grinsens, das Sira viel passender fand als seine versteinerte, trübe Miene vorher. "Dann also los."

"Au ja, ich komm hier sonst um vor Langeweile!", rief Kora, euphorisch die Arme ausstreckend.

"Ich hab doch gesagt, ich will hier pennen, ihr Rabauken! Haltet endlich die Klappe und macht, dass ihr da drüben fertig werdet!"
 

III.
 

Die Zeit muss stehen geblieben sein. Warum bewegt sich nichts mehr? Wieso sagt Forsiano nichts? Oder Alex, wieso ist er so still?! Sagt doch was! Irgendjemand, erklärt mir doch, was auf ein mal los ist!

Mein Herz klopft wie verrückt, mein Magen scheint in Flammen aufzugehen, ich sehe all die feinen, hellen Härchen auf meiner Haut sich aufstellen. Ventosus ist Forsiano, hinter der Maske des Rachedämons verbirgt sich der Lehrmeister aus meinen Träumen!

"Und dabei war es so klar…" Ich fasse mir verzweifelt an die Stirn, starre halb in meine Handfläche, halb auf den Boden, während mir alles wie Schuppen von den Augen fällt. "Ich hätte es wissen müssen! Natürlich bist du Forsiano…", wimmere ich luftlos. "Ist dir denn nichts heilig?! Du arbeitest mit einem Mann zusammen, der den Weltuntergang herbeiführen will! Du vergehst dich an meinen Freunden wie selbstverständlich und setzt mich unter Druck! Und du besitzt sogar die Frechheit, mein Vertrauen zu missbrauchen und mir vorzugaukeln, du seist mein Freund?! Aber wozu? Wozu dieses Schauspiel?!" Ich verstehe nichts mehr. Er will doch Rache an mir, oder? Deswegen ist er zum Dämon geworden. Aber er hat mich öfters beschützt. Und jetzt versucht er aber wieder mich umzubringen!

"Alex…" Forsiano schaut den Exorzisten wehleidig an. "Willst du denn nichts sagen?"

"Maljus, reiß dich zusammen.", zischt er, "Du kennst den Mann irgendwoher. Ich aber nicht. Für mich ist er ohne Maske immer noch ein Unbekannter!" Zittrig bringe ich mich wieder in Position. Nein, das geht alles viel zu schnell!

"Dann bringen wir es hinter uns. Jetzt hat es sowieso keinen Sinn mehr.", beschließt Forsiano einfach. Warte, nein, noch nicht! Erst muss ich noch etwas los werden. Ich schlucke meine Tränen herunter, um ihm ernstzunehmend ins Gesicht schauen zu können. Wissen will ich: "Hast du mich als Schüler unter deine Fittiche genommen… damit nur du die Gelegenheit kriegst, mich zu töten?"

"Er hat dich geschult?!"

"Was sollen diese Fragen noch?! Los, ich will endlich meine Rache an euch!"

"Du hast mich sogar vor Geras gewarnt! Du hast mit mir geübt, damit ich nicht von Aaron oder Echidna getötet werden konnte, richtig?! Warum?! Wieso, Forsiano?!" Alex macht ein überraschtes Gesicht. Seine Augen sind so weit aufgerissen und er guckt mal zu mir, dann zu Forsiano.

"Du heißt Forsiano…? Dieser Name… ich kenne ihn." Zum ersten Mal höre ich Alex ein wenig verängstigt werden. Weswegen? Was weiß er dank dieses Namen? Was verschweigen mir alle?!

Forsiano spuckt ertappt auf den Boden, meint: "Natürlich kennst du den Namen. Dein Vater hat ihn bestimmt oft genug in den Mund genommen. Und irgendwann wirst du gehört haben, dass so ein Mann gestorben ist. Und das ist alles die Schuld deines verdammten Vaters!" Forsiano reißt sein eigenes Hemd entzwei, um wieder das geschwollene Auge zu präsentieren, das seinen Status als Rachedämon kenntlich macht. "Hier! Hier hat er mich durchbohrt mit demselben Schwert, das du Hund jetzt führst! Und ich bin zugrundegegangen, er hat mich regelrecht zerstückelt, damit ich auch ja krepiere! Und dann bin ich irgendwann wieder auferstanden. Da war die Zeit endlich reif. Jahrelang verflucht habe ich Hellar Maresa, meinen Mörder!"

"Mein Vater war kein Mörder!" Alex geht auf Forsiano los. "Erzähl keinen solchen Scheiß!"

"Mich hat er umgebracht! Kaltblütig! So war er! Aber Hellar ist lange tot, also habe ich andere verflucht. Seine Familie, sein Blut, das fortlebt, nämlich in seinen Söhnen!" Als Alex innehält, wischt Forsiano ihn mit der Rückseite seiner Rechten zu Boden.

"Was habe ich damit zu tun?!", rufe ich aufgewühlt, "Ich kenne keinen Hellar! Ich weiß nicht mal, was ich dir im Entfernte-"

"Du Narr! Ich habe es doch schon so klar gesagt! Holzkopf, hörst du denn nicht zu?!" Anstatt eines Gesichtes hat Forsiano bloß noch eine wutentstellte, ungesund bleiche Fratze, die sich mir entgegenschiebt. Er schreit, dass ein Donnergrollen dagegen harmlos wirkt: "Ihr seid Brüder! Du bist Hellars jüngerer Sohn, das Kind von Hellar Maresa und Voitlena zu Dragmor! Und als dues endlich geschafft hast, dich von deiner falschen Familie in Welsdorf loszureißen… da bin ich in dieser Welt aufgetaucht, meine neuen Kräfte benutzt, um dich zu verfolgen und deine Träume heimzusuchen. Und habe dafür gesorgt, dass ihr beide euch begegnet und ich euch zwei auf einen Streich töten kann!"

"Du hast überhaupt nichts dergleichen getan!", protestiere ich und weiche zurück. "Lügner!", schreien ich und mein Verstand im Chor.

"Weswegen warst du dann jemals im Fass ohne Boden?! Etwa wegen deiner Víla? Oder wegen des Mädchen, das dir auch abgeraten hat, dort hinzugehen?" Abgeraten ist gut, die beiden haben schier getobt. Dann war es also wirklich Forsiano, den ich das Fass ohne Bodenbetreten gesehen habe! Und er hat gewusst, dass er mich so zu Alex locken kann! Er… hat wirklich mit uns gespielt.

"Durchtriebener Bastard… du wolltest uns ernsthaft umbringen, ohne dass wir überhaupt wissen, wieso?" Mit einer Platzwunde am Kopf rafft Alex sich auf. Forsiano schenkt ihm einen leeren Blick.

"Manchmal wartet man, dass die Leute es einem aus der Nase ziehen… seltsam, nicht wahr? Obwohl ich es euch nicht gegönnt habe, hab ich jetzt doch selbst alles ausgeplaudert. Ich ertrage nicht länger, dass ihr so… so unschuldig durchs Leben geht!"

"Hätte nie gedacht, dass mein Bruder noch am Leben sein könnte. Ich hab schon fast vergessen, wie er hieß, bis ich den Kleinen getroffen habe. Ich würde dir ja fast danken, Forsiano." Auf einmal lässt er sich zu einem Lächeln herab und wischt ein wenig das Blut weg, das ihm ins Auge läuft. "Wie war das denn damals? Hast du meinem Vater vielleicht meine verloren geglaubte Tante vorgestellt, bevor er dich umgelegt hat?" Hätte er sich das jetzt nicht sparen können?! Forsianos Mimik kann kaum noch bösartiger werden! All den aufgestauten Hass lässt er raus mit einem Schrei, einhergehend damit fällt er in Raser über meinen Bruder her.

So nicht! Rechtzeitig greife ich ein, um für Alex zu parieren. Dann rast das Diamantschwert auf Forsianos Arm zu, da schlägt er mit den Flügeln und setzt uns dem Wind aus. Nicht lange genug, ich versuch es gleich noch ein mal, ihn anzugreifen! Da spüre ich erst ein Ziehen, dann ein Reißen, vielleicht höre ich sogar, wie mein Bauch scheinbar entzweigeht. Ohne Weiteres verliere ich mein Gleichgewicht, während in mir endgültig ein Inferno ausbricht. Von meiner aufgeplatzten Wunde gelähmt prelle ich mir den Arm an einer Hauswand, falle ächzend aufs Pflaster und sehe über mir hinter einem Schleier meiner brennenden Augen noch Forsiano.

"Und da war es einer weniger!", verkündet er.

Schneller als ich schauen kann, wirft Alex sich in den Weg und schneidet Forsiano fast mehrere Finger ab. Der Dämon schluckt seine Pein herunter, ich beobachte schnaufend das ganze Geschehen. Forsiano kommentiert: "Ich muss zugeben, du bist ein mutiger Recke."

"Wenn du mir schon sagst, dass er mein Bruder ist, dann lass ich ihn nicht einfach verrecken!" Alex ist sichtlich wütend, seine Bewegungen werden mit jedem Angriff schneller, die Schwerthiebe zusehend stärker, doch der Dämon kann immer noch mithalten.

"Ihr seid alle gleich in eurer Familie, hm? Ihr geratet alle so leicht in Rage, wenn es eng wird.", meint Forsiano mit einem siegessicheren Lächeln, das erstirbt aber ganz schnell, als Alex ihm einen Fußfeger an die Seite verpasst. "Was weißt du schon von unserer Familie?!" Forsiano taumelt nicht mal lang genug, um dem folgenden Angriff zu entgehen... mitten auf die Brust!

Ich löse mich träge aus meiner Starre. Die Krämpfe flauen allmählich ab und ich kann mich immerhin wieder auf die Knie zwingen. Vor lauter Schwindelgefühl höre ich Forsianos Schrei kaum, aber ich kann daraus schließen, dass das wieder ein starker Treffer gewesen sein muss. Wütendes Fluchen dringt an mein Ohr. Als ich meinen Kopf hebe, muss ich bestürzt sehen, wie Forsiano mit beiden Klauen Alex' Handgelenk gepackt hat, und mit jedem Stück, dass Forsiano die Hand bewegt, beißt Alex mehr die Zähne zusammen. Er lässt sein Schwert los.

"Dieses verfluchte Schwert…!", schimpft der Rachedämon erbost und fährt fort, Alex' Hand nach hinten zu biegen. Nein! Mir ist, als würde die Welt sich um mich herum drehen, als ich reflexartig aufstehe und möglichst versuche, keinen Blick auf meine Wunden zu werfen. Ich mache schleppend erst einen Schritt auf Forsiano zu, dann noch einen und noch einen. Die Zeit zieht sich, bis mich das Schwindelgefühl verlässt und mein Körper ein wenig wieder zu Kräften kommt. Alex wehrt sich gegen Forsianos festen Griff, aber langsam kann er es nicht mehr aushalten. Mein Gang wird schneller, ich muss helfen! Sonst ist alles aus! In seiner blinden Wut bemerkt der Dämon mich erst ganz spät. Als uns nur noch ein Meter trennt, unterbricht er plötzlich die Tortur und sein Kopf fährt herum. "Du Sturkopf.", bringt er nur gequält hervor, der neue Schnitt ging nur knapp an dem großen Auge vorbei, dessen starrer Blick auf mich gerichtet ist. Ich starre ausdruckslos zurück. Langsam hebe ich mein Schwert, Alex seltsamerweise tut nichts.

"Du... du hättest dir zwei mal überlegen sollen... ob du dich... mit uns anlegst...", keuche ich angespannt. Wir haben noch immer eine Chance, das hängt nun alles an mir! Es ist wie auf dem Friedhof im Regen. Alle sind wir geschafft, durchnässt von Schweiß, auch wenn keiner das so recht wahrnimmt.

Ich habe das Schwert auf Augenhöhe dieses widerwärtigen Dings an Forsianos Leib gerichtet, ein einziger Stich könnte reichen, um es zu durchbohren. Aber bevor ich überhaupt richtig Schwung holen kann, umfasst eine der beiden Pranken die Klinge.

"Man soll den Tag... nicht vor dem Abend loben. Akzeptiere es...", meint Forsiano mitleidig, "Sonst endest du genauso..." Erst denke ich, er meine damit Alex, den er immer noch mit einer Klaue festhält, doch ein Schimmer Reue dringt hervor und er haucht: "Genauso wie ich..."

Ganz schwerfällig setzen die großen Flügel sich in Bewegung. Er will mich einfach wegwehen!, realisiere ich. Plötzlich geht alles ganz schnell: Eine Faust rast in das Gesicht Forsianos, schlägt gegen seinen Kiefer, doch er hält die Klinge umklammert. Innerhalb weniger Sekunden rasen tausende Gedanken durch meinen Kopf, bis ich eine Entscheidung treffe und blitzschnell loslasse. Ich presche ein Stück zurück, hebe die edle Klinge vom Boden auf und merke erst jetzt, wie schwer das Ding eigentlich ist. Dennoch gebe ich nicht auf, mit all meiner Kraft reiße ich es hoch, Vaters Schwert, Alex schlägt wild nach Forsianos Nase, und dann ramme ich es mitten in das dicke Auge, dessen Pupille noch vor Schreck kleiner wird, bis das Schwert mitten ins Schwarze sticht.

Forsiano erstarrt unter Krämpfen. Alex wird losgelassen und landet kraftlos auf der Straße. Ich lasse mich einfach fallen. Das Monster zittert, als es das Heft befühlt, dann bricht es zusammen und würgt schwarzen Schleim auf den Boden, irgendwas davon ist wohl Blut. Forsiano krümmt sich vor Schmerzen und japst nach Luft. Kurz klingt er wieder wie der röchelnde und flüsternde Ventosus.

"Gut gemacht… wirklich… hervorragend, Maljus." Was hat er da gerade gesagt? Hat er mich gelobt?! "Ich habe… bis zum Ende nicht wirklich geglaubt, dass du mich besiegen könntest. Wie gut, dass ich mich geirrt habe."

"Forsiano…"

"Ich habe dich geschult. Damit du stärker wirst. Damit du Dyonix entkommst… und vor Allem, damit du mir entkommst. So langsam sehe ich wieder klar. Ich habe… viele Dummheiten begangen. Ich hab dir wohl nie erklären können, was ich mir einst geschworen habe…?"

"Nein.", erwidere ich verwirrt.

"Kämpfe nur, um zu beschützen…", hustet Forsiano einen alten Schwur, "So wollte ich einst sein, lange bevor wir uns kannten. Dann bin ich in schweren Zeiten schwach geworden."

Wie aus einer anderen Welt mischt Alex sich schwach in diese seltsame Unterhaltung ein: "Und Hellar hat dich dafür zur Sau gemacht, richtig?"

"Wie-"

"Er hat wirklich oft von dir gesprochen. Deswegen kannte ich deinen Namen. Ihr wart mal Freunde, stimmt's?"

"… wirklich erstaunlich. Lange Zeit ja. Dann verwarf ich mein Ideal für ein anderes… und Hellar hat mich dafür bekämpft. Ich starb deswegen."

"Was für ein Blödsinn!", schreit Alex ihn an, "Du warst längst tot! Du hast weggeworfen, was dich ausgemacht hat! Sieh's doch ein…! Du bist kein Dämon, sondern bloß ein Untoter. Rachedämonen… das sind in Wirklichkeit alles Leichen, die's nicht akzeptieren konnten. Lieber heulen sie… den Lebenden die Ohren voll… und ändern trotzdem nichts." Da fangen beide an, gequält zu lachen, besonders Forsiano, vielleicht weinen sie auch. Der Dämon schüttelt kraftlos seinen Kopf und erzählt: "Und da haben sie mich manchmal… 'den Philosophen' genannt."

"Der Mann… der mir das beigebracht hat, hätte mir für solche Spitznamen… den Arm ausgekugelt.", sagt Alex.

"Ich verste-" Forsianos Hand krallt sich in seine Brust, wieder verkrampft er sich. Auf dem Rücken liegend muss er den Hals ganz tief in den Nacken legen, um mich eindringlich anzusehen. Er sieht wirklich aus wie ein Toter, so aschfahl und seine Augen sind dunkel und blutunterlaufen. Seine zusammengebissenen Zähne sind gelb verfärbt, das Zahnfleisch ist quasi nicht mehr vorhanden.

"Maljus… fin… finde Roy Tremsfield. F- finde ihn! Das ist wichtig, h… hörst du?! Roy Tremsfield!"

"Ich hab's verstanden! Aber wieso, wer ist da-"

"Er muss irgendwo da drau… ßen sein." Er redet und guckt wie im Fieber. "Er weiß es! Frag ihn nach He- gahh!" Er schreit im Todeskampf auf. Zum letzten Mal. Seine Haut fällt ein, die Knochen zeigen sich an seinem emporgehaltenen Arm, bevor sein ganzer Körper in einem Lidschlag zu schneeweißem Staub zerfällt. Nur die blutigen, zerrupften Klamotten und das schmutzige Diamantschwert bleiben hier, als der Wind Forsianos letzte Überreste zusammenklaubt und in alle Himmelsrichtungen fortreißt.

"Damit ist Forsiano, der Dämonenphilosoph schließlich endgültig ins Totenreich übergegangen…", murmle ich abschließend. Meine Augen sind noch immer auf die schmutzigen Kleider gerichtet.

Roy Tremsfield… wer das wohl sein mag? Was weiß er? Wonach soll ich ihn fragen? Wo soll ich ihn suchen? Und wozu? Wenn Forsiano sich doch nur einmal deutlicher ausdrücken würde! Ich breche mein sinnloses Ratespiel, was das alles zu bedeuten hat, ab, als Ludwig und Craylo auftauchen.

Kurz darauf landen Koras kräftige Vogelbeine vor mir. Schnaufend trägt sie Selet in ihren Armen und fragt: "Irgend… jemand, der mir… das Mädel abnehmen… will?" Sie grinst mich schräg an und hält sie mir schon fast hin. Sehe ich so aus, als könnte ich sie allen Ernstes auch nur festhalten? Ich lächle trotzdem. Craylo kümmert sich um die Prinzessin, während Ludwig sich Alex' und meine Verletzungen besieht.

"Ich frage gleich.", eröffnet er, "Was ist euch lieber? Jetzt zum Heiler, oder morgen früh mit Wundbrand aufwachen?"

"Gegenfrage…!", ächzt Alex mit einem angestrengten Schmunzeln, "Könnt ihr mich denn tragen?"
 

IV.
 

Na, das nenne ich aber eine tolle Ruhe, die mir der Heiler verordnet hat. Seit einem Tag liege ich im Bett und darf lauschen, wie Kora und Alex sich in Grund und Boden diskutieren. Ich bewundere meinen Bruder dafür, so eine eiserne Kondition zu haben. Er läuft bereits wieder munter auf und ab, streitet mit Kora über Dinge, die ich nicht mal mitverfolgen will, weil sie mir so auf den Geist gehen. Einzig und allein meine Bücher lassen mich ein wenig ausspannen.

Ich habe in ruhigeren Minuten mit den anderen über alles gesprochen, was Forsiano offenbart hat. Ludwig, Selet und Sira haben mehr als große Augen gemacht, Craylo hat jubeliert. Das sei ein Grund zum Feiern, fand er. Er hat jedoch nur Ludwig und Alex dazu überreden können, abends in eine Schanke zu gehen.

Währenddessen habe ich mit Sira und Selet allein über alles Weitere geredet. Kora war auch weg, vielleicht irgendwo was stibitzen, mich würde es nicht wundern.

"Roy Tremsfield… Roy Tremsfield", wiederholte Selet mehrere Male den Namen immer leiser werdend. "Irgendwas sagt mir dieser Name… nur mein Gedächtnis will nicht herausrücken, was es ist. Der Name klingt nach einem Mann aus Ahreddan."

"Die Inselpräfektur?"

"Nein, da gehen wir jetzt ganz sicher nicht hin, um ihn zu suchen!", verkündete Sira gleich zickig, "Ihr wisst ja gar nicht, wie weit ab von unserem Kurs das wäre!" Ich kann es mir denken. Und auch Ahreddan ist groß genug, dort würden wir sowieso nichts herauskriegen. Und jetzt zerbreche ich mir immer noch den Kopf, warum ich darüber überhaupt nachdenke.

Irgendwann abends, als die anderen immer noch weg sind, reicht es mir schließlich. Ich steige aus dem Bett, werfe mir meine restlichen Sachen über und gehe. Zwar ruft Sira: "Warte doch, was hast du vor?!", aber zu mehr als einem "Wenn Alex so einfach losgehen kann, dann ich wohl genauso!" kann ich mich nicht aufraffen.

"Soll nicht einer von uns mitgehen?"

"Nein, Selet, geht schon." Ein wenig schroff war ich dann vielleicht doch. Nur bin ich schon durch die Tür und schleppe mich aus dem Gasthaus. Da gibt es noch jemanden in Seestfor, mit dem ich ein Hühnchen zu rupfen habe! Diese alte Saufbirne Dirk…
 

Anderswo stieß man währenddessen fröhlich an. Nur, weil man schon drei mal geprüft hatte, wer am meisten Bier in einem Schluck runterbekam, hieß das ja noch lange nicht, dass man das ganze gute Seestforter Bräu warten lassen musste! Selbst der Mors-Krieger war schon etwas beschwipst, das hätte er aber genauso wenig zugegeben wie die anderen beiden Exorzisten.

"Is' schon unglaublich, wie dieses rothaarige Rotzgör tönt! Von wegen wir sei'n ihr ja wohl schuldig, Stillschweigen zu bewahren!", lallte Alex. "Ich verklicker euch ma' was: die kann mir ma' sowas von'n Buckel runnerrutsch'n! 'Ne Geißel will se!"

"Sag bloß! Und was willse machen, wenn se keine kriegt?"

"Pff, was weiß ich! Hab kaum zug'hört!", gluckste der Blonde da, "Aber's wird schon schief geh'n. Ichgeh einfach mit ihr mit!" Dafür waren selbst die betäubtesten Sinne noch empfänglich. Craylo und Ludwig schauten Alex an, als wolle er aus dem Fenster des dritten Stocks springen.

"Und… wie kommt man auf sowas?", wollte Ludwig weiter hören. Alex lehnte sich zurück, kippelte leicht mit seinem Stuhl und grinste. Für ihn war das glasklar: "Dann seid ihr se los… und ich kann mich voll und ganz auf diese Suche konzentrier'n!"

"Nach diesem Roy… Roy Schlagmichtot?"

"Wie auch immer er hieß!", grölte Alex, "Ja, den mein ich. Hab so ne Ahnung, wo ich was rausbekomm'."

"Gut, mein trunkener Freund.", mischte Carod sich da ausnahmsweise mal mahnend ein, "Aber-"

"Nix trunken!", schnitt Alex ihm mit hochrotem Kopf das Wort ab, "Ich könnt locker noch'n Schopp'n vertrag'n!" Carod versuchte es noch mal: "Ja, ja, nur flenn morgen bloß nicht, Meister Langohr. Also, was machst du dann mit deinem kleinen Anhängsel von Craylo hier? Den willst du wohl nicht mitnehmen? Na ja, nicht so, als ob ich's nicht verstün-"

"Klappe, Carod!", rief Craylo, "So 'ne Schnapsidee hätt'ste sicher nich', was, Alex?!"

"Der Quasseldolch hat aber Recht." Alex glitt gefährlich weit zurück, fing sich gerade noch so und schaukelte wieder nach vorn, um in einer flüssigen Bewegungen seine Oberarme auf den Tisch zu wuchten. Er zeigte auf den Magier. "Du gehs' mal hübsch mit dem Klein' mit, kapisch? Ges'ern das war ne Ausnahme, sonst brauch ich eure Hilfe nich', ihr zwei."

Ludwig, der noch am klarsten von den dreien war, durchschaute Alex: "Ach, das habt Ihr mitbekommen?"

"Bin ich blind?! Natürlich! Man, 'n leuchtendes Schwert un' zwei Dolche, die durch'e Luft fliegen. Ohne die hätt' der Kleine Forsiano nie umgenietet!"

"Ich hielt's für besser, einzugreifen.", gab Ludwig zu, wobei seine Miene wieder etwas düsterer wurde. Alex zuckte schwach mit den Schultern und sagte: "Soll mir ausnahmsweise recht sein. Aber langsam retteste mir 'n bisschen zu oft den Arsch, weißte? Wie soll'n ich mich dafür noch angemess'n bedank'n?" Alle drei lachten ausgelassen und stießen wieder an, bis sie eine Stunde später schlurfend und kreisend den Weg zum Gasthaus suchen würden.
 

V.
 

Auf und davon sind sie, kein einziger Artist von Dirks Truppe ist noch in Seestfor. Der Platz außerhalb der Stadt ist leer, von den Wächtern erinnert sich keiner an Dirk und seine Leute - na gut, bis auf einen, der ganz begeistert war, weil er mich auch noch erkannt hat. "Du bist doch dieser Schalmeyspieler, hab ich recht?"

"Äh, Ihr müsst mich mit jemanden verwechseln.", hab ich zwar behauptet, aber er hat es mir nicht abgekauft, sogar drauf beharrt, dass ich es sein müsse, bis mir aufgefallen ist, dass ich tatsächlich noch das Instrument besitze.

"Tja, meine Augen täuscht nichts!", hat der Custos gelacht, mir war ganz anders zumute. So hab ich mich ein wenig geknickt zurückgezogen, auf einen stillen Hügel innerhalb der Stadtmauern, um für mich zu sein. Hin und wieder zischt ein Feuerwerk zum Himmel und bunte Farben beleuchten die Mengen von Besuchern.

Spaßeshalber setze ich noch mal die Schalmey an die Lippen, vielleicht wird's ja jetzt noch was. Mitnichten und Neffen, es erklingen ein paar schiefe Töne, dann krieg ich schon keine Luft mehr.

Ich hätte das Instrument gerne zurückgegeben - zusammen mit einer kräftigen Ohrfeige für Dirk. Er hat wohl schnell das Weite gesucht, sobald ich mich aus dem Staub gemacht hab.

"Ohjemine, das klingt aber gar nicht gut." Zu meiner Überraschung gesellt sich jemand zu mir, ratet wer: es ist Selet. Sie hat ihr silber gefärbtes Haar ausnahmsweise nicht hochgesteckt, sondern lässt die rebellischen Strähnen frei im Abendwind tanzen wie funkelnde Nebelstreifen. Oh man, was denk ich denn da?!

Selet nickt zu der Schalmey. "Wusste gar nicht, dass du so eine besitzt."

"Die… hab ich bloß von meiner kurzen Zeit als Gaukler." Irgendwie ist mir das peinlich. "Ich kann auch nicht wirklich darauf spielen." Kichernd setzt sich Selet neben mich ins Gras und zieht ihre Beine an ihren Oberkörper.

"Ich habe bereits Spielleute am Hofe gesehen, die schlechter gespielt haben als du."

"Die waren bestimmt nur aufgeregt! Dir gegenüber stehen zu dürfen, meine ich…"

"Vielleicht…" Selets Gesicht bekommt einen sentimentalen Ausdruck, sie stützt ihr Kinn auf ihre Kniee. "Sie sehen eben nur die Prinzessin Cardighnas. Irgendwann mal werd ich sogar Königin sein. Aber was mach ich dann, wenn ein Schuft wie Dyonix mein Berater ist? Hab ich dir schon mal erzählt, dass alles, was mir übers Regieren beigebracht worden ist, fast ausschließlich von ihm kommt?"

"Er hat dich unterrichtet?", frage ich verblüfft.

"Seit ich klein war. Mein Vater hielt große Stücke auf ihn - hält. Er hält große Stücke auf ihn; weil er nicht weiß, was dieser Mann im Schilde führt." Jetzt guckt sie noch besorgter und schaut nicht mehr dem Feuerwerk zu, sondern starrt auf ihre Handrücken, die auf ihren Knien ruhen. Ich probiere, sie etwas aufzumuntern, indem ich sage: "Du wirst bestimmt nie so einen Schuft an deiner Seite haben! Du wirst schon sehen! Wenn wir das hier hinter uns gebracht haben werden, wirst du bestimmt zu einer guten Königin!"

"Lieb von dir, dass du das sagst." Da, sie schmunzelt doch wieder ein wenig! Und ich kann nicht anders, als es ihr nachzumachen. Dann fragt sie aber: "Was ist mit dir? Was willst du machen, wenn wir hiermit fertig sind? Wirst du zurückgehen? In den Wald?" Das trifft mich jetzt wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Da hab ich ja noch gar nicht wirklich drüber nachgedacht! Und das entgegne ich auch. Selet reagiert mit einem leicht irritierten, aber auch interessierten Blick.

"Eigentlich müsste ich zurück.", füge ich noch an, zögernd wohlgemerkt.

"Zu deiner Familie?"

"Ja. Sie müssen sich in Grund und Boden sorgen um mich, weil ich so einfach abgehauen bin." Da sind sie wieder, die Schuldgefühle gegenüber Alid und Sara.

"Aber du konntest doch nicht wissen, in was du verstrickt würdest, als du losgegangen bist, oder?"

"… Ja. Aber was soll ich denn sagen, wenn ich zurückgehe? Sira wird mir den Hals umdrehen, wenn ich das mit dem Schwert ausplaudere. Verdammt noch mal, warum denke ich nie vorher über sowas nach?!" Wortwörtlich fasse ich mir an den Kopf. Zwickmühle! Entweder Sira oder Alid… eine von beiden wird mir die Hölle heiß machen. Doch was bleibt mir denn anderes übrig, ich kann doch nicht einfach wegbleiben!

"Vielleicht solltest du mit ihnen über Alex reden. Das ist schließlich dein Bruder. Haben sie dir das nie erzählt?"

"Nein. Meine Mutter - also eigentlich meine Stiefmutter - hat mir nie was verraten wollen. Bloß, dass ich aus einem anderen Dorf komme und meine Eltern wohl verstorben sind, weswegen ich von ihr großgezogen wurde." Ich stutze. Macht das überhaupt Sinn? Kann Alex dann überhaupt mein Bruder sein? Was ist mit ihm passiert, dass wir uns jetzt erst wieder sehen? "Roy Tremsfield kann meinetwegen alt und grau werden, es gibt ganz andere Sachen, um die ich mich kümmern muss!" Während ich so fluche, hab ich gar nicht gemerkt, dass Selet aufgestanden ist. Auch neben mir ist sie nicht mir, sondern sie legt plötzlich von hinten ihre Hände auf meine Schultern und versetzt sie in kreisförmige Bewegungen. Mein Blut schießt in meinen Kopf.

Mit sanfter Stimme rät sie mir: "Beruhige dich erstmal, Maljus. Du bist noch nicht mal wirklich ausgeruht. Red morgen noch mal in Ruhe mit Alex. Und vielleicht ist Roy Tremsfield genau der, der dir ein paar deiner Fragen beantworten kann."

Ich kann mich gar nicht richtig beruhigen, jetzt, wo sie mir diese Perspektive aufzeigt: "Du meinst, er weiß etwas über meine Familie? Über Alex' und meine Vergangenheit?!"

"N- nun, nimm mich lieber nicht beim Wort, das ist bloß etwas weibliche Intuition.", lacht Selet nervös, massiert aber weiter meine Schultern. Erschlaffend sehe ich zu, wie weitere Blumen aus hellem, buntem Feuer den Nachthimmel schmücken. Ihr Ratschlag klingt vernünftig, mit Alex wollte ich sowieso noch mal sprechen.

Mir fällt etwas ganz anderes ein: "Selet, wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, dich als 'Griselda' auszugeben, wenn man fragen darf?"

"Ach das? Oh, das ist einfach. Meine Mutter hieß so!"

"Hieß?"

"Sie ist vor ein paar Jahren verstorben. Viel zu früh, aber jeder der Ärzte sagte, Mors Hand habe sie sanft zu sich geholt."

"Das tut mir leid.", entschuldige ich mich, nachgefragt zu haben. Selet nimmt es gelassen. Sie ist wieder an der Reihe, Fragen zu stellen: "Verrat du mir mal was: gibt es da eigentlich noch jemanden, der in deinem Heimatdorf auf mich wartet?"

"Hm? Redest du von meinen Freunden?" Ich muss an Gart denken. Sicher wird er vermissen, mir nicht mehr nett gemeinte Kuppelratschläge zu geben. Moment, meint Selet etwa-

"Na, was haben wir denn da! Ein Pärchen im Mondschein!" Ich presse meine Lippen fest aufeinander, als ich das helle Lachen einer kleinen Stimme höre. Na klasse, Sira ist auch schon da… "Da hab ich wohl zwei erwischt! Störe ich bei irgendetwas?"

"So ein Blödsinn, wir haben nur ein wenig geredet.", erwidere ich patzig. Na, die hat mir ja grade noch gefehlt. Sie hakt ein: "Na, dann werdet ihr wohl auch nicht böse sein, wenn ich euch empfehle, schleunigst auf eure Zimmer zu gehen! Da du dich ja wieder wunderbar an der frischen Luft austoben kannst, wirst du auch wenig dagegen haben, dass wir morgen in alter Frische weiterziehen!"

"Ach weißt du, eigentlich tut mir grad ziemlich der Rücken weh und mein Knie… ahh, das zieht schon wieder!", scherze ich.

"Ja, ja. Auf, auf, ihr zwei Turteltäubchen, es ist schon spät!" Kopfschüttelnd richte ich mich auf. Beiläufig erwähne ich noch: "Turteltäubchen heißen wir schon mal nicht, klar?"

Während wir dann den Hügel verlassen und wieder eintauchen in das immer noch rege Gedränge, frage ich Selet noch: "Ach ja, was wolltest du jetzt eigentlich noch fragen?"

"Och, nichts. Ist nicht so wichtig." Na, wenn sie das sagt. Obwohl ihr ja auf der Stirn geschrieben steht, dass ihr etwas auf dem Herzen liegt… nun, ein andern mal vielleicht.
 

VI.
 

Einen tollen Bruder habt ihr mir da zugewiesen, ihr Götter! Vor ein paar Tagen bin ich aufgewacht, ein wenig später als geplant, da fällt Craylo gleich mit der Botschaft in die Tür, dass Alex sich einfach mit Kora aus dem Staub gemacht habe. Und auch noch, dass er sich selber um die Suche nach diesem Roy kümmere. Na super!, hab ich mir da gedacht, grade erst hab ich mich darauf gefreut, diesen Kerl zu löchern, jetzt werd ich alles bloß aus zweiter Hand erfahren.

Soll Kora ihm den letzten Nerv rauben, er ist ja nicht mal da geblieben, damit ich mit ihm wenigstens noch mal über unseren Vater und darüber, wie wir getrennt worden sind, sprechen kann. Alex und die Harpyie werden inzwischen über alle Berge sein. Derweil haben wir die große Via Paranthea erreicht, eine monströse Pflasterschneise im Flachland voll von verschnörkelten Kiesmustern, die von einer Stadt namens Melsdar bis zum Aqua-Nymphäum inmitten des Gersait-Sees führt. Es ist unangenehm kühl heute und neblig auch noch. Obwohl wir laut Ludwig und Sira schon fast da sind, sehe ich noch immer nichts von dem See, geschweigedenn den Tempel.

Neben uns fällt das Land plötzlich unheimlich steil ab, aus der Straße wird ein Viadukt, dessen weiße Elfenbeingeländer irgendwo in den Dunstwolken verschwimmen.

"Mal sehen, ob wir dies mal leichter Einlass finden werden als letztes Mal."

"Ich hatte ja weniger Probleme als ihr.", erklärt Ludwig locker.

"Warnt uns das Lichtschwert denn schon wieder vor irgendwelchen Dämonen?", frage ich. Ludwig schüttelt fröhlich den Kopf und entgegnet: "Nein, kein bisschen! Wir scheinen Glück zu haben."

"Dein Wort in Mors' Ohr.", sagt Sira dazu, worauf Ludwig sich nervös am Ohrläppchen zupft. Er will etwas sagen, da scheut sein Pferd plötzlich. Craylos und meins, auf dem Selet auch mal wieder sitzt, bleiben ebenfalls abrupt stehen und würden am liebsten sofort umdrehen. Nur mäßig können wir sehen, wieso. Die Brücke endet einfach im Nichts. Wir stehen direkt vor einem riesigen Riss im Stein. Das sind gut und gerne fünf Meter bis zur anderen Seite!

"Oh bitte sagt, dass das nicht wahr ist!", fleht Sira im Anbahnen ihrer Wut. Ludwig behält einen etwas kühleren Kopf und schlägt vor: "Lasst uns zurückreiten und ans Seeufer gehen. Vielleicht finden wir da irgendeine Erklärung für das! Oder einen anderen Weg in den Tempel…"
 

Wenige Minuten später tummeln wir uns am Fuße der erdigen Klippen, von denen die Straße auf mächtigen Säulen durch die Luft führt. Man kommt sich fast vor wie an einem Strand. Selet sagt, man könne sogar bei blendendem Sonnenschein nur knapp das andere Ufer des Sees erblicken. Nun wandeln wir aber durch diese Suppe hier, sehen ständig irgendwelche dubiosen Umrisse im Nebel und hören das leise Plätschern.

Ich weiß nicht mal, wie, aber irgendwie stoßen wir auf ein pittoreskes Häuschen mit schiefem Schindeldach, versteckt auf einem großen Felsvorsprung. Zögerlich klopfen wir an. Ein kleiner Schlitz in der Tür öffnet sich, es ist stockfinster in dem Haus. Ein winziges, stechendes Augenpaar erscheint hinter der Öffnung und mustert uns kritisch.

"Wer seid Ihr und was wollt Ihr?", will ein alter Mann mit schroffer Fistelstimme wissen.

"Wir sind ein paar Reisende. Wir wollten eigentlich zum Tempel der Aqua, aber die Brücke-" Ich kann gar nicht zum Ende kommen, der Alte fällt mir ins Wort: "Ja, die ist kaputt. Seit fast einer Woche. Ihr seid umsonst hierher gereist."

"Verzeiht, falls wir Euch stören-"

"Unwesentlich.", erwidert der Bewohner des krummen Häuschens, aus dessen Dach seltsamerweise ein schräges Metallrohr ragt.

"Ähm…" Selet versucht noch mal, mit dem unfreundlichen Greis zu reden: "Wisst Ihr vielleicht, wie das passiert ist?"

"Na, sagt bloß, Ihr habt nichts von diesem Sturm mitbekommen! Ein schreckliches Unwetter, so schlimm, dass ich Angst hatte, mein Haus würde weggespült werden. Und die Brücke ist dabei auch kaputt gegangen. Und keine Stunde später war der Sturm weg."

"Ihr werdet's kaum glauben." Ludwig schiebt sich zwischen Selet und mir nach vorne. "Nur in dem Sturm haben wir auch gestanden, er ist sogar durch Meskardh gerast."

"Wa- was?!" Der Alte reißt auf ein mal die Tür auf. Ein Zwergengreis mit einer Menge Denkfalten und einem dichten, weißen Bart ist es, der sich noch schnell einen Zwicker aufsetzt. Ein Blick genügt, um zu sehen, dass er offenbar so etwas wie ein Gelehrter ist. Und selbst in der Dunkelheit erkenne ich, dass er es mit Ordnung nicht so zu haben scheint. Chaos würde sich hier bestimmt heimisch fühlen

Ganz aus dem Häuschen fragt er: "Ist das wirklich wahr? Das Unwetter ist sogar nach Meskardh weitergezogen? Oh bitte, erzählt mir doch ein wenig darüber! Kommt herein, kommt herein." Ganz stolz zwinkert Ludwig uns zu und geht voraus. Als der Alte endlich die Fensterläden öffnet, kann man etwas mehr vom Inneren seiner Stube erkennen. Was für ein Tohuwabohu, ich sehe die Wände schon gar nicht mehr, weil alles mit Tischen vollgestellt ist, auf denen Apparaturen, dickbäuchige Gefäße und Berge an beschriebenem Papier sich aufeinandergedrängt haben. Aquarien und Terrarien sind in einem Regal an der Wand aufgestapelt und in einem winzigen Nebenraum finden grade mal zwei dürftige, an die Wand geschraubte Liegen Platz neben dem riesigen Ofen, aus dem ein unheimliches, wenn auch leises Fauchen tönt.

"Ich sehe, ihr habt hier ein sehr gut ausgestattetes Laboratorium, mein Herr. Oh, und sogar ein Fernrohr zur Sternenbeobachtung, nicht wahr?", komplimentiert Ludwig die seltsamen Gerätschaften und zeigt auf das riesige Guckrohr. Das ragt also aus dem Dach.

Der Zwerg nickt wichtigtuerisch und erklärt: "Ja, deswegen war es gerade noch so dunkel. Meine Camera Obscura ist sehr praktisch."

"Ich hoffe, wir haben Euch nicht gestört."

"Ach was. Es ist gerade ohnehin zu neblig, um den Himmel zu beobachten. Oh, aber bitte, reden wir doch über dieses interessante Wetterphänomen!"

"Nur zu gerne.", meint Ludwig, "Herr…?"

"Oh. Nennt mich einfach Horatius, ich bin Universalgelehrter." Ohne Witz, aus seinem Mund klingt das so, als sei für ihn schon der ganze Kosmos ein offenes Buch. "Und äh, Eure Namen wären?"

"Oh, mein Name ist Ludwig, ich bin bloß ein einfacher Exorzist. Genauso wie mein Kollege Herr Craylo hier.", beginnt Ludwig mit der Vorstellung. Horatius hebt seine dichten Augenbrauen und beäugt Selet und mich.

"Und die beiden da?"

"Ah, das sind unsere Schüler. Er hier heißt Maljus und die kleine Magierin ist Griselda." Während Selet einen gekonnten Knicks hinlegt, bemühe ich mich, eine ordnungsgemäße Verbeugung zu vollführen. Der alte Horatius fährt sich nachdenklich durch seinen Bart, ehe er beschließt, dass wir wohl nicht interessant genug für seine Studien sind: "Ah, ja, verstehe. Nun, Kinder, fasst bloß nichts an, während ich mich mit Euren Lehrmeistern unterhalte, ja?"

"Darf man sich denn umsehen?", rutscht mir da aus Neugier heraus.

"Ja, ja, natürlich. Sieh mal, was du davon verstehst." Ich erwidere die höhnische Herausforderung in seinen Worten mit einem ernsten Blick. Etwas verloren begutachte ich die ganzen Kolben und Bottiche, in denen Flüssigkeiten aller Art stehen oder langsam blubbern. Irgendwo tropft ein schwarzer Klumpen an einem festen Tau ab, woanders köchelt ein grasgrünes Süppchen.

Die Glaskästen mit kleineren Tieren sind da schon interessanter, aber lange kann ich mir auch nicht den tumb starrenden Fisch besehen oder zuschauen, wie irgendeine Echse ihre platte Schnauze gegen das Glas presst.

Ludwig, Craylo und der alte Mann verlieren sich in Getratsche, Sira flüstert ab und zu, wie sie hofft, dass sie auch ja nicht die wichtigen Dinge vergessen, und ich schaue weiter durch das Laboratorium. Und da erblicke ich eine große Käseglocke, in die mein Kopf reinpassen könnte. Statt meinem Kopf oder dem eines Schweines - das würde ich hier auch ohne Weiteres erwarten - vegetiert eine Pflanze unter dem leicht durchlöcherten Glas. Sie ist pechschwarz, ihr Stengel spiralförmig gewunden, spitze Dornen ragen bis zu einem halben Zentimeter heraus - und ganz oben sitzt ein schwarzer Blütenkelch, leicht geöffnet mit welligen, sanft erscheinenden Rosenblättern.

"Halt, bloß nicht näher!" Horatius springt von einem mechanisch verstellbaren Stuhl auf und läuft flugs zu mir. "Meine Güte, fast hättest du den Alarm ausgelöst, Junge!" Wie er gleich austickt!

"Was ist das denn für eine Blume?" Er hat mich mehr als neugierig gemacht.

"Das, so unscheinbar sie auch scheinen mag, ist die einzige Blume der Art Rosa Pulleiacea! Eine komplett schwarze Rose, die ich seit Jahren hoffnungslos studiere…"

"Klingt nicht gerade nach dem grünen Daumen.", bemerke ich.

"Spotte nicht, Bursche! Ich musste meinem Assistenten schon oft genug einbläuen, dass man auch über so etwas zugegebenermaßen Unspektakuläres keine Witze macht! Ich habe dieses Gewächs nicht so gut gesichert, weil es so schön anzusehen ist."

Wir alle fahren erschrocken herum, als es ganz laut und vielstimmig klirrt. Während ein ächzender und überraschter Ludwig inmitten von einem Haufen Glasscherben liegt, betritt ein Unbekannter mit schmierigem Grinsen das Laboratorium und ergänzt Horatius' Hinweise: "Sondern, weil dieses Blümchen einen unbezahlbaren Wert für Toxikologen und Giftmischer hat, habe ich nicht Recht?" Ein platinblonder, kurzhaariger Kerl, der an die 1,90 groß ist, steht im Eingang. Kaum versucht Ludwig, sich aufzuraffen, tritt der Kerl ihn mit seinen hohen Stiefeln wieder zu Boden.

Viel besorgter bin ich aber über diese Rüstung, die der Kerl trägt. Nieten, all die braunen Metallstücke, egal ob an Schultern, Brust, Armen oder Waffenrock sind über und über mit Noppen übersät. Diese Rüstungen habe ich schon mal gesehen, an zwei - nein, sogar drei Personen! Es sind dieselben, die diese zwielichtigen Gestalten in Klemensbürgen getragen haben, die orangehaarige Dame und der Titan. Und auch dieser Mann mit Brille in der Harpyienstadt hat unter seiner Kluft eine Rüstung dieser Machart gehabt. Ist das jetzt etwa eine Modeerscheinung? Ich wünschte, das wäre nur eine Modeerscheinung, aber das ist eher unwahrscheinlich..

"Man möge mir verzeihen, so ungebeten hereinzukommen, nur die Tür war gerade offen, da ließ ich mich ein."

"Ihr schon wieder!", keift Horatius mit geballten Fäusten, "Gebt Ihr denn nie auf?! Die Rose steht nicht zum Verkauf!"

"Das habt Ihr mir zu verstehen gegeben.", erwidert der Mann süffisant. Sein makelloses Gesicht, geschmückt von einem Henriquatre, ist bläulich verfärbt. Ist er ein Nymph? Ich kann keine Kiemen an seinem Hals sehen, er trägt nämlich einen blauen Schal. "Heute komme ich ja auch nicht mehr in friedlicher Absicht. Ich hol' mir dieses Unikat so oder so!"

"W- worauf wartet ihr noch, ihr Exorzisten?!", brüllt Horatius, "Haltet diesen Spitzbuben doch auf, setzt ihn fest, macht irgendwas!" Der Unbekannte macht ein paar Schritte auf uns zu, bis er blitzschnell innehält und seinen Kopf zur Seite reißt. Ganz knapp verfehlt ein silberner Dolch sein Ohr, an dem ich einen silbernen, seltsam geformten Ring hängen sehe. Craylo, so todernst wie noch nie, rät: "Verschwinde bloß! Es ist Schluss mit lustig!"

"Oho~!", tut der Kerl so, als sei er beeindruckt, "Da will mich jemand aufhalten?" Er zieht einen Degen. "Dir werd ich Beine machen!" Craylo pariert den ersten Streich mit Carod, anschließend holt er Dorac zu sich zurück, doch der Einbrecher kann wieder ausweichen. Er wirft Craylo beiseite, ich habe bereits gezogen, um ihn im Empfang zu nehmen!

"Auch noch ein Kind? Wirklich, ihr verspottet mich!" Er benutzt nicht mal den Degen, sondern schlägt mir in den Bauch, zieht mir mit einem Fuß die Beine weg und rempelt auch Selet und den alten Horatius um. Wieder splittert Glas, eine helle Klingel geht automatisch los und verkündet das Offensichtliche. Behutsam nimmt der Dieb die schwarze Rose aus der Glocke, Horatius hängt sich verbissen an das Bein des Nymphen und wird wieder abgeschüttelt.

Sobald Craylo aufgestanden ist, wirft er sich auf den Einbrecher, welcher nun nicht entkommen kann. Auf dem Boden ringen sie als ein Knäuel von unnachgiebigen Kontrahenten, sie schenken sich wirklich nichts.

Grade will ich eingreifen oder nach Ludwig sehen, der immer noch in den Scherben liegt, da dringt schon wieder jemand ein! Wieder so einer in diesem komischen Rüstzeug, dies mal in Grau. Und sein Gesicht kann man noch nicht mal sehen, weil er es unter der blauen Kapuze seines wallenden Umhangs versteckt hält.

"Leonard, was dauert das so lange? Ich dachte, du würdest dich beeilen.", will der zweite Unbekannte mit der Kälte eines Gletschers in seiner tiefen, strengen Stimme wissen. Sein ausgeglichener Schein ist bestimmt nur die Ruhe vor dem Sturm.

Craylo guckt sich kurz nach dem anderen Mann um, Leonard schafft es prompt, freizukommen und schüttelt den Magier von sich ab - jedoch nicht die zwei Dolche, die sich erheben und rotierend Leonard nachstellen. Der Gesichtslose schnellt vor, flink, wie ich es von niemanden in so einer dicken Rüstung erwartet hätte und schnappt die beiden Messer mit einer einzigen Hand perfekt aus der Luft. Die metallenen Fingerglieder seines gepanzerten Armstulpen halten die Klingen fest umklammert. Einen Moment lang scheint alles still zu stehen.

"General, Ihr hättet das nicht tun brauchen. Ich wäre auch alleine zurechtgekommen!", sagt Leonard, in seinem Stolz gekränkt. Der General zuckt mit seinen Schultern, die dank seiner Rüstung und des Umhangs noch breiter wirken, als sie ohnehin schon sind. Er pfeffert Dorac und Carod in eine Ecke und dreht sich um. Dann sagt er irgendetwas in einer Sprache, die sich anhört, wie ein arg abwegiger Dialekt der Cardighnischen Zunge.

Egal, sie wollen abhauen! Gleichzeitig raffen Craylo und ich uns auf, um das zu verhindern. Leonard und der General gehen langsam wie bei einem Spaziergang. Sag mal, wollen die uns eigentlich auf den Arm nehmen?! Wir stürmen zur Tür heraus, hasten den Felsen hinab, den beiden Männern hinterher. Beide gucken uns über die Schulter hinweg an. Im Profil sehe ich die Habichtsnase des Generals. Leonard grinst. Sie laufen weiter. Na wartet, ihr Schufte, nicht mir uns!

"Maljus, ich-" Craylo stolpert, stützt sich auf meine Schulter, sein ganzes Gewicht lastet plötzlich auf mir und zieht mich zu Boden. Ich hatte keine Ahnung, dass der so schwer ist!, denke ich, als ich auf dem Boden lande und mich kaum rühren kann.

"Craylo, was ist denn?", rufe ich, "He, Craylo!" Ich schüttle den Magier, der ganz schlaff geworden ist. Seine Augen sind geschlossen, er atmet nur noch ganz ruhig, als… als schlafe er?! Ich renke mir fast den Hals aus, Leonard und der General tauchen gerade in den Nebel ein. Nein, verdammte Scheiße! Ich muss sie doch aufhalten! Der Nymph hat irgendwas von Giftmischen gesagt, er darf die Rose nicht haben! Aber was mach ich mit Craylo?! "Jetzt wach doch auf, du verdammter Hexer! Wie kannst du jetzt bloß wegratzen?!" Zu spät, die beiden Einbrecher sind kaum noch zu sehen!

"Was ist denn mit ihm?" Sira traut sich aus meinem Umhang und umfliegt Craylo besorgt.

"Keine Ahnung, plötzlich hat es ihn einfach umgehauen!", berichte ich. Ich kann mir die Arme taub rütteln, der ist nicht mehr ansprechbar!

"Beim Impristinum, sag, dass meine Augen mir einen Streich spielen!" Horatius kommt gerade aus seinem Haus gelaufen. Wütend bis aufs Blut. "Ihr habt sie entkommen lassen?! Warte- eine… eine Víla?!" Nein, jetzt hat dieser Alte auch noch Sira entdeckt! Seine winzigen Zwergenbeine werden noch schneller, so kann sie sich nicht mal mehr verstecken, bevor er da ist.

"Das ist doch jetzt unwichtig!", rufe ich hilflos, "Was ist mit Craylo?!"

"Meine Güte, so viel auf ein mal, das verträgt mein Herz doch kaum!", lamentiert der Forscher lieber, anstatt mir endlich mal zu helfen. Sira platzt der Kragen: "Genug Geschwätz, ja, ich bin eine Víla, oh~ meine Terra, was für eine Sensation, jetzt helft uns doch, oder muss Mors erst einen Blitz in Euch fahren lassen?!"

"Woher soll ich denn wissen, was der junge Mann-" Er hält in seiner Tirade inne und reißt seine Augen weit auf, nimmt mich in sein Blickfeld. "Halt, er ist doch nicht ganz unerwartet in einen tiefen Schlaf gefallen, oder?!"

"Genau das!", bestätige ich gehetzt. Oh, scheiße, was hat Craylo denn?!

"Schnell, dreh ihn um, irgendwo muss er bluten, vielleicht nur aus einem Kratzer. Hurtig, hurtig!", weist Horatius mich da an. Sofort wende ich all meine Kraft darauf auf, Craylo von mir auf seinen Rücken zu wuchten, suche verzweifelt irgendwelche blutenden Stellen. Da, da! Ein Stich am Unterarm!

Horatius rastet schier aus: "Meine Befürchtung bewahrheitet sich! Junge, wenn du wüsstest, was er hat!"

"Spannt mich nicht auf die Folter!", bitte ich - um das mal höflich auszudrücken.

"Euer Meister ist eindeutig vergiftet worden! Mit dem Gift der Rosa Pulleiacea!"
 

VII.
 

"Oh man, und ich hab grade meinen Kater bei unserem Aufbruch in Seestfor vergessen…", stöhnt Ludwig mit einer Hand an seiner einbandagierten Stirn. Er ist fast vollkommen weggetreten gewesen, nachdem dieser Leonard ihn in eines von Horatius' Experimenten geworfen hat. Es ist schön zu sehen, dass er noch so gut Witze machen kann. Mir ist bloß nicht nach Lachen zumute. Eigentlich niemanden.

Gemeinsam haben wir Craylo auf eine der Liegen gebettet und uns um ihn versammelt, um zu besprechen.

"Ich wollte es vorhin ja erwähnt haben, ehe dieser Rüpel uns überfallen hat…", beginnt Horatius, "… denn die Rosa Pulleiacea ist eine sehr gefährliche Pflanze. Und vielleicht hätte ich sie auch verkauft, wenn sie harmlos gewesen wäre, nur ist sie das eben nicht. Die Schwarze Rose verfügt über ein ungeheuer starkes Toxin, eines der schnellstwirkenden Gifte, die mir je untergekommen sind. Minuten müssen bloß vergehen, damit es seine Wirkung entfaltet."

"'Tschuldigung, aber mein Kopf kommt grade nicht ganz mit… was genau heißt das?", fragt Ludwig für uns alle nach und beschwört ein Seufzen des Gelehrten herauf. Wenigstens wird er jetzt ausführlicher: "Nun, es bedeutet, dass dieser Mann, als er mit Herrn Craylo gekämpft hat, ihn wohl irgendwie mit der Rose erwischt hat; beabsichtigt oder zufällig, ich weiß es nicht. Die Dornen der schwarzen Rose sind spitz und lang genug, dass man sie wirklich nur mit dicken Handschuhen und langen, nicht losen Ärmeln anfassen sollte." Da freuen wir uns für diesen Leonard, der hat diese Voraussetzungen nämlich wunderbar erfüllt.

Horatius erklärt weiter: "So ist Herr Craylo also vergiftet worden. Minuten später, als er und der Junge hier versucht haben, die Schurken noch zu fassen, hat das Gift seine Wirkung entfaltet. Aus eigener Kraft…" Horatius schlägt seine Augen mitleidig nieder. "… wird er nicht mehr aufwachen können. Ich habe das Gift an ein paar Tieren ausprobiert. Die Folge war, dass sie schlafend ausgetrocknet sind."

"Mors sei geduldig!", haucht Selet voller Furcht. Wie aus Reflex schlucke ich bei der Vorstellung. "Was können wir tun, um das zu verhindern?"

"Nichts, was in eurer Macht stünde."

"Wieso nicht?!", regt Sira sich wieder auf, "Weil wir keine studierten Giftmischer und Universalgelehrten sind?!" Ich schreite ein, bevor sie noch ausfallender wird: "Sira, lass ihn. Er kann nichts dafür." Er mag ein Unsympath sein, wenn er von seiner Arbeit spricht, dennoch sind wir auf seine Hilfe angewiesen.

"Horatius, Ihr habt doch diese Blume erforscht-", beginnt Ludwig.

"Jahrelang habe ich das!", versichert der Zwerg stolz.

"Gibt es denn kein Gegenmittel für das Gift?" Der alte Zwerg grübelt, knetet nachdenklich seine Unterlippe. Ab und zu öffnet er den Mund, sagt dann aber doch nichts. Schließlich erläutert er: "Jemand hat sich an der Herstellung eines solchen Mittels versucht…"

"Aber?"

"Er hat es irgendwann aufgegeben und gesagt, dass die Anwendung viel zu selten geschehe, um die Sache wert zu sein. Allerdings ist das-"

"Gibt es denn keine Hoffnung für Craylo? Wo ist dieser Mann, der das Gegenmittel herstellen wollte?!", fragt Sira.

"I- irgendwo im Nymphenreich, wenn mich nicht alles täuscht! Er heißt Hildrian, sein Bruder war einst bei mir in der Lehre. Es ist aber unmöglich, dass ihr rechtzeitig das Nymphenreich erreicht, das dauert knapp vier Tage, meine Dame. Genug, damit Herr Craylo-"

"Sagt so etwas nicht, bevor sie es nicht versucht haben!", erhebt Ludwig seine Stimme und zückt ein paar Phiolen. "Ich habe hier bestimmt etwas, womit wir Craylos Flüssigkeitshaushalt etwas länger stabil halten können." Horatius ist ganz vom Hocker, Ludwig voller Tatendrang. Eindringlich guckt er zu Selet und mir. Ich kann erraten, was ihm vorschwebt, also verspreche ich: "Wir werden diesen Hildrian finden! Und ihn dazu bringen, das Gegenmittel fertigzustellen!"

"Bravo, Maljus! Ich halte solange hier die Stellung. Vielleicht können Meister Horatius und ich ja selber eine Lösung finden. Nicht wahr?"

"Ich… ich werde mein Bestes versuchen!", verspricht der alte Zwerg drucksend. "Nur… dürfte ich eine Gegenleistung verlangen?" Siras kleine Stirn zeigt Runzeln. "Ich würde gerne die Víla untersuchen."

"Das fordert ihr für Craylos Leben?", hinterfragt Sira schnippisch. Energisch breitet sie ihre Arme aus. "Nur zu, seziert mich doch auch noch, wenn Ihr schon dabei seid! Aber ich schwöre Euch bei Sols brennendem Haarschopf, wenn ihr Craylo auch nur die Schwelle von Mors' Haustür betreten lasst, dass Ihr nicht ungeschoren davon kommt!" Haua, jetzt ist er aber klein geworden, noch winziger als er ohnehin schon ist! Sira trägt ihre Nase sehr hoch, als sie nach draußen fliegt. Horatius sackt auf seinem Stuhl zusammen.

"Nichts für ungut. So ist sie manchmal.", sage ich zu Horatius und "Wir werden uns beeilen." noch zum Abschied, dann sind auch Selet und ich durch die Tür. Der Nebel lichtet sich langsam. Perfekt für einen Aufbruch zum Nymphenreich. So verlieren wir keine Zeit, steigen auf den Rappen und machen uns auf, treten diesen Wettlauf um Craylos Leben an.

Und im See treibt ein winziges Boot zwischen den Brückentrümmern.



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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von:  Azahra
2012-07-03T14:42:11+00:00 03.07.2012 16:42
Hey :),

Heute bekommst du wieder einen Kommi ^^
Ich hab noch ein paar Kapitel auf meinem Reader, aber ich da ich gerade mit diesem hier fertig geworden schreib ich man Fazit dazu :3

Ich bin wirklich total überrascht wie Maljus nur sein Gedächtnis verlieren konnte!!!
Und wie plötzlich diese anderen, fremde Erinnerungen in seinen Kopf gelangt sind O.o Diese Tina ist mir auch völlig suspekt! Sie verbirgt doch irgendetwas.....
Es ist einfach traurig das er seine ganzen Gefährten nicht mehr kennt :(
Ich fand die Szene am besten mit Sira wie sie plötzlich aufgetaucht ist und vor allem der Spruch: "Das hatten wir schon mal!" XD
Ich musste da so lachen!!!!
Ich hoffe das dieser Heiler ihm helfen kann :(

Bis bald!

cucu
Azahra
Von:  Azahra
2012-05-17T14:37:20+00:00 17.05.2012 16:37
So .. ich bin fertig! :D
*Siegerfähnchen schwing*

Griselda ist eine Prinzessin ... DIE Prinzessin Selet O.o
Ich bin baff, aber wirklich!
Ich hätte das wirklich nicht von ihr erwartet.....
Dieser Ludwig ist mir noch nicht so ganz geheuer ....
Muss mich mit ihm noch anfreunden.
Die Idee mit dem Spiegeldämon ist dir wirklich gut gelungen!
Hat toll reingepasst ^^
Ich musste lachen als ich mir vorstellte wie Rio sich auf Kora stürzt XD
Hoffentlich finden die beiden Exorzisten ihre Freunde wieder.
Zea scheint ihnen nicht gerade wirklich als Führerin dienen zu wollen :)
Wie lange hast du eigentlich für dieses Kapitel gebraucht?

so ...
Bis bald :)

cucu
Azahra
Von:  Azahra
2012-05-01T07:45:02+00:00 01.05.2012 09:45
Ohje ... Maljus ist abgestürzt!! ><
Hoffentlich ist ihm nichts passiert!

*Hehehe* Die beiden Exorzisten sind lustig hihi
Und die arme Zea fällt auch noch auf sie rein *kopf schüttel*

Bis bald!

Azahra
Von:  Azahra
2012-04-22T20:47:45+00:00 22.04.2012 22:47
Der Name des Dunkelelfen .... ich musste so lachen XDD
Sorry ... aber ... einfach nur genial!!! XD
Der Kampf mit den Untoten war wirklich sehr gut gemacht.
Dieser Venetous (ich weiß nicht mehr wie man ihn schreibt ><) ist echt unheinmlich O.o
Ich hoffe sie finden die Bücher mit den Schriften >< Diese Wächter sind ja nicht gerade von ihrem Besuch begeistert.

cucu
Azahra
Von:  Azahra
2012-04-13T08:22:25+00:00 13.04.2012 10:22
Morgen :),

Ardsted ist eine Stadt zu der das Motto aus Uhi, innen Pfui passt ;)
Ich bin schon ganz gespannt auf die Weihe des Schwertes! >< Kann es kaum erwarten!!!
Maljus hat sich nicht schlecht gegen Aaron geschlagen, immerhin war es einer seiner ersten richtigen Kämpfe :)

Ich finde es lustig das die beiden Exorzisten wieder dabei sind :D Diese beide Stimme ... es sind sprechende Dolche oder? Die Idee ist genial XD
Musst mehr als einmal Schmunzelnd bei ihren Bemerkungen :)

Forsianos ist ein ... Geist? O.o Da wäre ich auch umgefallen XD
Mal sehen wie Maljus erwachen wird, hihi

cucu
Azahra
Von:  Azahra
2012-04-11T17:11:54+00:00 11.04.2012 19:11
Ich mag Griselda :)
Ihre freche Art ... einfach toll!
Ich war ganz überrascht wie Maljus (ich hoffe der Name stimmt ><), auf den Untoten losgegangen ist! Gott sei dank hat er aber Hilfe von den beiden Exorzisten bekommen.
Du hast den >Traum< echt genial beschrieben!
Ich vermute ja mal dass das in Wirklichkeit ja auch kein Traum wahr ;)

Werde bald weiterlesen!

cucu
Azahra
Von:  Azahra
2012-04-09T16:01:35+00:00 09.04.2012 18:01
Hi :)

So ... ich beginne nun damit dein Werk nach und nach zu lesen :D
Also ....
Das 1.Kapitel ist wirklich toll!
Vor allem der Anfang. Erst ganz unschuldig und dann taucht auf einmal ein Untoter auf! Toll gemacht ^^
Sira ist lustig :)
Kaum draußen, kommandiert sie den armen Maljus herum ;)
Werde bald weiterlesen!

cucu
Azahra


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