Weihe des Siegelschwerts von Ubeka ================================================================================ Capitulum XIII: Die Harpyienstadt - Verflucht und zugespitzt ------------------------------------------------------------ I. Nur selten stieg Dyonix selber in die Katakomben von Ardsted hinab. Aber es war nötig. Mit zwei Dämonen und einem Wiedergänger in seiner direkten Umgebung gab er lieber keinem Exorzisten die Chance, sie zu orten. Er verabscheute es, in dieser großen Halle zu stehen, es war kalt, der Stein staubig und unbequem und die Luft unbewegt. Und außerdem war er müde. Die Sonne war längst untergegangen, er hätte jetzt in seinem weichen, warmen Bett liegen müssen und viele Stunden Schlaf genießen sollen! "Geras ist also wieder verbannt.", knirschte der Premierminister. "Hab ich's doch gewusst. Schon als ich ihn gesehen hab, wusste ich, dass der's nicht mehr bringt.", lachte Cheeta mit kratziger Stimme. Dyonix' forscher Blick würgte das aber gleich ab. "Ich hatte Euch gewarnt, Meister Dyonix.", meldete sich Ventosus aus dem Halbdunkel. Der Rachedämon hockte mit einem angezogenen Bein auf den theaterartigen Umrandungen der Hallenmitte und spielte mit einem kleinen Wurfmesser. "Ihr hättet den Jungen mir überlassen sollen. Ich hätte ihn getötet. Nicht seine Erinnerungen gefälscht und nach Seestfor abgeschoben." "Du hast Onkel zu lange warten lassen!", schrie Aaron, doch Dyonix legte eine Hand auf seine Schulter, sah ihn zurechtweisend aus dem Augenwinkel an und schob ihn zurück. Er sprach: "Aaron, es wäre besser, du würdest dich zurückhalten! Und du…" Er sah Ventosus anklagend in die Augen. "… ja, du hast mich wahrlich warten lassen. Oh, und wie glücklich ich für dich bin, du kannst deine Rache an dem Jungen also doch noch haben!" Dyonix wurde ungehaltener, je länger er sprach. "Ist denn überhaupt sicher, dass wieder dieser Junge dahintersteckt?", wollte Cheeta wissen. "Ich lege meine Hand ins Feuer dafür.", erwiderte Ventosus ruhig, "Ich habe mich noch ein mal bei diesem saufenden Zwerg erkundigt, er ist weg. Und ich habe in Erfahrung bringen können, dass der Junge nach Meskardh gegangen ist." "Soll ihn das Harpyiengesindel holen!", zischte jemand da. Mit unruhiger Zunge und verschränkten Armen lief die Schlangenprinzessin verloren im Saal umher. Echidna war in Verkleidung. Aarons Augen klebten an ihr. "Man kann von Glück reden, dass nur das Prinzesschen dich wirklich umbringen könnte, was?", machte sich Cheeta über sie lustig. "Sei still, elender Knochengeneral! Ein wenig härter und sie hätte mir doch noch den Schädel eingeschlagen!" "Genug von schwachen Mädchen wie der echten Selet!", befahl Dyonix, "Sag lieber, wie es sich mit dieser Maid verhält, die du hierher gebracht hast!" "Ihr meint Haruna?" "Wenn das der Name ist, den sie dir genannt hat, ja…" Nun schlich sich ein Grinsen auf Echidnas falsche Züge, das Gesicht der Prinzessin strahlte vor Zufriedenheit, als sie berichtete: "Ein voller Erfolg, Meister. Sie ist tatsächlich eine Aeris-Priesterin. Und keine Sorge, gemeinsam werden wir sie schon zu einer treuen Anhängerin unseres Ordens formen." "Na dann… wenigstens etwas." Dyonix war dennoch weiterhin unzufrieden. Erneut sprach er zu Ventosus: "Wie du und vielleicht auch ein, zwei andere Herrschaften hier sehen…" Aaron und Cheeta starrten niedergeschlagen zu Boden ob der Schelte. "… war jemand hier doch von Nutzen. Und nun geh mir aus den Augen! Die nächste mögliche Aeris-Priesterin sollst du in Seestfor holen und diesem vermaledeiten Knaben auflauern! Ich werde keine weitere Verzögerung deinerseits dulden, du hast meine Geduld ohnehin schon auf eine harte Probe gestellt!" "… Wie Ihr wünscht. In einer Stunde werde ich Seestfor erreicht haben…", murmelte Ventosus eingeschnappt, ehe nur noch ein Abbild von ihm in der Katakombe saß und kurz darauf zu Glassplittern zerbarst. II. Der Geräuschpegel veränderte sich minimal für Ventosus. Die Totenstille des unterirdischen Forums wich der nächtlichen Ruhe von Seestfors dunkleren Gassen, jenseits der festlich besuchten Schauspiele und mit lachenden Bürgern gefüllten Tavernen, wo Musik und helles Lachen die Ohren beanspruchten. Ventosus entsann sich der letzten Male, als er selber Teil solcher Vergnügungen gewesen war, als Zuschauer im Freudenrausch oder Saufkumpan, vom Alkohol und Spiel mit den Damen erheitert. Das musste über elf Jahre her sein… wieso trauerte er dem überhaupt nach? Er war jetzt ein Dämon. Er schaute zu dem fernen Ziffernblatt eines Uhrturms, sah, dass es bald Zeit für sein Treffen wäre. Offenbar hatte dieser Trunkenbold Verspätung. Ventosus lehnte sich mit verschränkten Armen gegen eine Wand und wartete. Unter seiner Maske aber schmunzelte er. Dyonix war gehörig verstimmt gewesen und der Dämon gönnte es ihm vollstens. Der Consultor hatte versucht, ihre Abmachung zu brechen, das hatte Ventosus aber nicht so einfach auf sich sitzen lassen! Und wie es aussah, würde bei seiner nächsten Begegnung mit Maljus und Alex - dieser verfluchten Brut - die Entscheidung fallen. Kein Aufschub mehr, da war Ventosus sich mit Dyonix einig. Endlich tauchte der Zwerg auf. Nüchterner als Ventosus ihn erwartet hätte mühte Dirk sich damit ab, einen schweren Jutesack zu schleppen. Im Dunkel erkannte man nur mit genauem Hinsehen, dass darin jemand verzweifelt strampelte. Ventosus stieß sich von der Wand ab und lief dem Ringmeister entgegen. "Da seid Ihr ja. Wie ich sehe, habt Ihr das Mädchen dabei." Dirk schnaufte: "Wie… wie verabredet eben. Ein Geschäftsmann… hält sein Wort!" "Das erklärt, warum der Junge Euch durch die Lappen gegangen ist mitsamt der Víla.", stichelte Ventosus. "Aber keine Sorge… mein Meister wird Euch verzeihen, Ihr sollt sogar belohnt werden. Denn ob der Junge lebt oder nicht, ob er gefangen oder frei ist, spielt keine Rolle, solange wir dieses Mädchen in unserem Besitz haben." Ventosus holte einen prall gefüllten Geldbeutel aus seiner Jacke, um ihn Dirk zu zeigen. Dirk griff nach dem Geld, aber Ventosus zog den Beutel wieder zurück. Mit der anderen Hand forderte er den Jutesack. Dirk verzog seine Miene und übergab die Gefangene. Eigentlich wollte er nicht ausgerechnet eine der Tänzerinnen hergeben, um sich freizukaufen, doch er hatte keine andere Wahl. Ventosus ließ Dirk schließlich das Geld. "Nicht so schnell, die Herren." Beide schauten ertappt auf, zwei weitere Gestalten betraten die enge Gasse. Sie waren kaum zu erkennen, trugen beide Gewandungen, doch hier und dort spiegelte sich das Mondlicht in ihren nietenbesetzten Rüstungen und an den Brillengläsern des einen Mannes. Ventosus wollte die Flucht ergreifen, da machte der andere eine schnelle Handbewegung. Plötzlich waren Ventosus' Füße von Eis umschlossen. Die Unbekannten liefen zu ihm, doch wenn sie geglaubt hatten, dass Ventosus sich nicht wehren konnte, hatten sie falsch gelegen! Er zog eines seiner Katare und stach nach den Männern, während er an seinen Füßen zog, um das Eis abzuschütteln. Indes bemächtigte sich der Eismagier, ein mageres Elflein mit langem, hellen Haar der anderen Klinge. Geübt, aber unsicher, fiel Ventosus auf, gleich darauf aber stieß er einen Fluch aus, weil der junge Mann den Sack durchschnitt und die darin befindliche Dame entwendete. Ventosus schlug nach ihm, wenn auch nur halbherzig, um die gefesselte und geknebelte Blondine nicht zu verletzen - Dyonix hatte klipp und klar um eine unversehrte Aeris-Priesterin gebeten. Diese Nacht war wie ein Alptraum. Zusammenhangslos und erdrosselnd. Tina bekam kaum noch Luft hinter dem dicken Knebel, den man ihr verpasst hatte. Sie wusste nicht mal, wieso man sie niedergeschlagen und so verpackt hatte und war sich nicht sicher, ob sie wirklich Dirks Stimme gehört hatte, ehe es passiert war. Als der Sack aufgeschnitten wurde, sah sie ihn nirgends. Nur den Elfen, der sie in den Armen hielt und schnellen Schrittes von dem Vermummten wich, der mit kurzen Klingen einen weiteren angriff. Rettung!, dachte sie, Ich werde gerettet! "Pheast, worauf wartest du?!", rief der Mensch mit der Brille, während er mit dem Maskierten kämpfte. Er schlug ihm von unten gegen das Kinn, kurz nachdem der sich von dem Eis befreit hatte. "J- ja, ich… ich bin schon dabei, Franziskus!", stotterte der blasse Alba mit bekümmerter Miene. Tinas Hoffnung erstarb mit einem einzigen gezielten Schlag ins Genick, sie erschlaffte und merkte nicht mehr, wie sie weggebracht wurde. Franziskus sah Pheast kurz hinterher, dann wandte er sich Ventosus zu. Er schmunzelte. "Dank sei Euch, Unbekannter, Ihr habt uns gehörig Arbeit abgenommen." Er richtete seinen Zeigefinger auf ihn. Das Dunkel der Gasse entflammte zu einem gelben Inferno aus leuchtenden Kugeln. "Und nun gehabt Euch wohl!" Niemals würden die Custodes von Seestfor herausfinden, wer für die Explosion dieser vergessenen Gasse verantwortlich gewesen war. III. Wir sind bereits wieder einen ganzen Tag lang unterwegs gewesen. Während dieser ganzen Zeit innerhalb der kühlen Mauern von Sepromor hab ich ganz vergessen, wie sehr man unter der Wüstensonne schwitzt. Doch ausgerechnet der, der fast nur Schwarz trägt, hat am wenigsten mit der Hitze zu kämpfen. Ludwig reitet fröhlich pfeifend voraus, zieht hinter sich einen röchelnden, gemarterten Haufen von Abenteuern her. Sira hat es sich auf seiner Schulter bequem gemacht und schwatzt mit ihm. "Sie hat sich ja gradezu an ihm festgesaugt.", bemerkt Selet. "Blödsinn. Sie verlässt sich nur auf Ludwig… und das zu Recht, er ist mehr als bloß stark." "Ist das alles, was jemand braucht, um in deinen Augen vertrauenswürdig zu erscheinen?" "Also wirklich, Dorac! Hast du schon vergessen, dass er uns nun mehrmals das Leben gerettet hat?" "Und wie.", merkt auch Alex an, "Ohne ihn würde ich zum Krüppel geschlagen in irgendeiner Zelle versauern." "Ha, das verdankst du aber vielleicht auch bloß der Tatsache, dass dieser Irre sich ausgerechnet direkt zwischen Harpyienstämmen und der Titanenstadt des Ostens angesiedelt hat!" "Oh, dass du aber auch nie die Klappe halten kannst!", schimpft Alex da plötzlich und zeigt nach oben. Eine Schar winziger Punkte kreist über uns am Himmel. Was soll das sein, ungeduldige Aasgeier? "Hey, Ludwig! Siehst du das da oben?" "Oh, wunderbar, das hat uns gerade noch gefehlt!" "Was denn?", rufe ich und verrenke mir den Hals. "Das sind Wüstenharpyien! Zehn Stück, würde ich sagen! Gut aufgepasst: Reitet normal weiter, aber wenn ihr merkt, dass sie hinunterstürzen, gebt den Pferden ordentlich die Sporen! Nur so hängt man diese Biester ab!" Zum Glück sagt er nicht, dass wir uns nichts anmerken lassen sollen, denn so verspannt wie jetzt bin ich noch nie gewesen. Und ständig muss ich nach oben gucken, um sicherzugehen, dass ich den richtigen Moment nicht verpasse. Da ist er! Alle greifen fest die Zügel und lassen die Pferde galoppieren. Die herabstürzenden Harpyien legen sich schräg in die Luft, lassen sich näher an uns herantragen. Zu unserer Überraschung breiten zwei von ihnen ein vermaledeites Fischernetz aus und werfen es runter! "Nicht verunsichern lassen, das übernehme ich!", ruft Ludwig. "Solve!" Lichtblitze zerfetzen die Knüpfungen und festen Garne. Noch im selben Moment, da Ludwig die Schwertsplitter zurückruft, deutet Selet zum Himmel und warnt uns: "Vorsicht, da kommt noch etwas!" Ich kann nicht mal erkennen, was da wild rotierend durch die Luft schneidet, dann plötzlich in Bodennähe wieder nach oben rauscht und direkt zu der Harpyie, die es geworfen hat, zurückfindet. Es sieht aus wie zwei Seiten eines Dreiecks. Weitere davon werden geworfen, eine der Waffen bleibt in einer Düne stecken, andere fegen knapp an uns vorbei. "Ah!" Tja, und eine erwischt Alex an der Schulter. So hart, dass er aus dem Sattel fällt, wobei das Pferd aufgebracht wiehert und noch ein Stück weitertrabt, ehe es stehen bleibt. Ich lege blitzschnell den Kopf in den Nacken, die Harpyien sind noch sieben Meter über uns! Ich reiße die Zügel herum, das Pferd sträubt sich, aber macht dann doch kehrt und wir galoppieren zu Alex zurück. "Nicht, Maljus! Das ist zu gefährlich!", ruft Ludwig mir zu. Kurz darauf beschwört er das Lichtschwert, wohl um mir den Rücken freizuhalten. Selet und ich erreichen Alex. Mein Pferd ist noch nicht mal stehen geblieben und ich springe aus dem Sattel, komme ungeschickt im Sand auf und stolpere zu Alex. Verbissen hält er sich seine Schulter. Ich fordere ihn auf, aufzustehen, sich zu beeilen, gucke noch mal nach oben, vielleicht noch vier Meter, die die Harpyien über uns schweben. Das reicht doch nie im Leben! Doch sie erheben sich weiter nach oben, als noch mal ein Gleißen die Lüfte abgrenzt. Ich packe Alex Hand, ziehe ihn hoch. Er meint: "Verflucht, du hättest nicht noch mal zurückreiten brauchen! Ich hätt's auch alleine geschafft!" "So sah das aber nicht aus!" Wir rennen zurück zu unseren Pferden, doch die Harpyien geben noch nicht auf. Eine stürzt sich tatsächlich wieder hinab, gibt ihr Bestes dabei, Ludwigs Projektil und inzwischen auch Craylos Dolche mit einer dünnen, kurzen Klinge abzuwehren. Sehen wir denn so vermögend aus?! Die Harpyie schafft es zu landen. Ihre Klauen graben sich in den Sand, da erhebt sich eine Düne und verschluckt sie mit Haut und Feder! Ludwig hält eine Hand in unsere Richtung ausgestreckt und schwitzt nun auch. "Man eignet sich so manchen Trick an, wenn man hier lebt.", lacht er atemlos und reißt seine Hand empor. Der Sand folgt der Bewegung und greift nach den anderen Diebinnen. Alex, Selet und ich schaffen es endlich zu den Pferden. Ich steige in den Sattel, zerre mich hinauf und helfe Selet noch hoch, während Alex in einem Sprung aufsitzt und wieder die Zügel fasst. Und jetzt nichts wie weg, noch ist der funkelnde Nebel imstande, die restlichen Wüstenvögel abzulenken. Die glitzernden Schwertsplitter verstreuen sich, eine Windböe, beinahe so stark, dass sie mich aus dem Sattel reißt, wirbelt Sand in meine Augen. "Hab ich dich!", gackert eine Frauenstimme, als sich Arme um mich schließen und Klauen in meinen Rücken drücken. Dann reißt die Harpyie mich aus dem Sattel und zu sich in die Lüfte. Ich kann in dem Tumult unter mir sehen, wie eine pfeilschnelle Harpyie Selet in Gewahrsam nimmt. Woanders in der Luft halten je zwei Harpyien das Exorzistenduo an den Armen in der Luft, die restlichen Aasgeier heften sich an Ludwig. Sie haben uns alle geschnappt! Wenn bloß nicht dieser blöde Wind gewesen wäre! Was wird jetzt nur mit uns passieren?! Werden sie uns ausrauben? Fressen? Einsperren? "Da wird sich die Räuberprinzessin aber freuen!", schnattert eine Harpyie. Ihre Augen liegen auf mir. "Das dürfte der Junge sein, den sie gesucht hat!" "Wieso würde die Räuberprinzessin mich suchen? Wer ist das überhaupt?!", rufe ich. Am liebsten würde ich mich ja gegen diesen Griff wehren, aber nach unten sind es satte zehn Meter. Den Fall bremst auch der Sand nicht. "Du wirst genug Zeit haben, sie kennen zu lernen, Erdgebundener!" Mehr sagen die Diebinnen nicht, ehe sie mit uns und den Pferden als Beute von dannen ziehen. IV. "Großartig!", dröhnt Siras schrille Stimme in meinen Ohren, "Wir entkommen den Schrecken der Wüstenbastion und werden auch schon von verdammten Harpyien gefangen genommen!" In der runden Lehmzelle hallt ihre Anklage besonders gut. Jedoch ist selbst Sira nicht so störend wie die schwere Fußfessel, mit der ich an die Wand gekettet bin. Die Víla ist die einzige Gesellschaft, die ich seit über einer Stunde hatte - mal abgesehen von dem kläglichen Haufen Stroh, der zwar genauso kratzig, doch nicht so gesprächig ist wie sie. "Aber wieso haben sie uns noch nicht getötet?", frage ich, "Machen Räuber das nicht eigentlich? Plündern und die rechtmäßigen Besitzer zurücklassen?" "Das sind Harpyien, keine gewöhnlichen Räuber.", korrigiert Sira, "Entführungen sind für sie nichts Ungewöhnliches. Manchmal erpressen sie Familien außerhalb Meskardhs… oder sie halten sich Gefangene als Arbeiter, das weiß man noch nicht so ganz." In Siras Gesicht lese ich, dass da noch etwas anderes ist, das sie mir aber nicht sagen will. "Rosige Aussichten, wirklich!", muss ich meinen Zynismus loswerden. "Hättest du dich nicht in Klemensbürgen entführen lassen, wären wir nie hier gewesen, um gefangen genommen zu werden!" "Hab ich mich denn nicht schon auf der Reise dafür entschuldigt?!", belle ich. Meine Güte, dass diese Víla aber auch so nachtragend sein muss! "Ich wollte ja nicht mal zum Herrenhaus, um mich gefangen nehmen zu lassen, sondern bloß frische Luft schnappen!" Sira lässt aber nicht locker: "Du bist unvorsichtig gewesen! Dass Dyonix dich nicht einfach hat umbringen lassen… er muss gewusst haben, dass wir keine Bedrohung für ihn darstellen! Kein Wunder mit so einem tollkühnen Waldelfen!" "Entschuldige, aber werhätte ihn denn aufhalten sollen, als Cheeta die Stätte überfallen hat?! Die kleine Víla vielleicht?!" "Du hast doch keine Ahnung!", weint Sira plötzlich. Hab… hab ich sie so hart getroffen? Verflucht, so war das doch jetzt auch nicht gemeint! Leider hört man meine Wut noch immer, als ich sie versuche zu fragen: "Warum weinst du denn jetzt?" "Lass mich in Ruhe!" Sie springt beleidigt von ihrem Sitzplatz, einem kaputten Tonkrug auf und fliegt zu den Luftschlitzen. Meine Augen weiten sich. Gleich platzt mir eine Ader! "Es ist hoffnungslos mit dir! Eines der Weihemittel haben wir grade mal! Ein einziges! Lieber suche ich jemanden, der was von so einer Reise versteht!" Unter dem Rasseln der Fußfessel erhebe ich mich und stemme die Hände in die Seiten. "Nun stell dich nicht so an! Willst du mich hier allein lassen?! Und Selet, Alex, Ludwig, Craylo?! Was ist mit denen?!" Sie fliegt wortlos nach draußen. "Antworte mir gefälligst, wenn ich mit dir rede, verfluchtes Flattervieh!" Ach, was schrei ich mir denn die Lunge aus dem Hals… diese dickschädelige Frau hört ja eh nicht. Unverrichteter Dinge hocke ich mich wieder hin und ziehe die Beine an. Eine weitere Stunde quält sich dahin. Ich glaube, so gedankenlos bin ich noch nie gewesen. Das übersteigt jede Langeweile. Die Schuldgefühle wegen Sira habe ich tot geschlagen wie die Zeit. Soll sie hingehen, wo der Pfeffer wächst, da vermisse ich sie sicher nicht! Ständig schreit sie mich an, macht mich runter und ist so verflucht ungeduldig - dabei weiß ich genauso, dass die Zeit knapp ist! Ich war gerade so schön dabei, das wieder hochzuholen, als sich die Holztür öffnet. Ich erkenne die Harpyie, die mich geschnappt hat, sofort an ihrem feuerroten Haaransatz wieder, sie ist fast kahl geschoren und wirkt sehr burschikos. Eine Hand ruht auf ihrer pluderhosenbedeckten Taille, als sie hereinkommt. "Na, ist dir schon eingefallen, wer die Räuberprinzessin ist?" "Ich gebe mich normalerweise nicht mit sowas wie euch ab." Meine Wange brennt von der saftigen Ohrfeige, die mir verpasst wird. Feste Handschellen schließen sich auf meinem Rücken um meine Gelenke, dann öffnet die Kahle das Schloss der Fußfessel und zehrt mich am Ohr nach oben. Ah, ich glaub fast, sie reißt es mir gleich aus oder macht ein Loch rein mit ihren spitzen Krallen! Streng lässt sie mich wissen: "Männer antworten auf die Fragen, die man ihnen stellt. Ansonsten hat deinesgleichen die Klappe zu halten, klar?! Benimm dich gefälligst, wenn du vor der Räuberprinzessin stehst!" Mit etwas Nachdruck prüft sie mich: "Hast du mich verstanden?" "… Ja.", keuche ich, weil sie mich unangenehm anfasst. Sie schubst mich aus der Zelle, nimmt ein Naginata von der Wand und geleitet mich an bunt beschmierten Wänden vorbei. Was soll das bloß für ein Wandschmuck sein? Es sieht aus, als hätte jemand gedankenlos seine Hände in Farbe getaucht und damit über den Lehm gewischt. Und nirgends gibt es Ecken. Alles ist abgerundet, aber nicht perfekt. Manchmal macht ein Gang sogar eine S-Kurve aus unersichtlichen Gründen. Komisch, wie diese Harpyien so bauen. Durch ein paar Fenster - oder eher durch ein paar Aussparungen in den Wänden - fällt mein Blick auf einen Pulk von Lehmpusteln und Rundtürmen unterhalb dieses Hauptgebäudes der Harpyienstadt. Sie liegt ganz am Rande der Wüste, im Westen, wo die Berge die Sand- von der Eiswüste trennen. Kleinere Gebirgsketten und scharfkantige Felszüge bilden eine natürliche Stadtmauer. Die Luft ist erfüllt von Flattermännern und -frauen, am Stadtende dünnt die Besiedelung zu Zelten aus. "Hier rein.", kommandiert die Rothaarige, bei einer größeren, kunstvolleren Tür angekommen. Die Fresken am Rahmen sehen neuer aus als die Schmierereien überall sonst. Die Harpyie öffnet mir und schiebt mich unsanft weiter nach vorne, durch einen kurzen Durchgang, der plötzlich gemauert ist. Ein nachträglicher Anbau? Fast schon, als sei ich nun zu Gast, öffnet mir die Wächterin auch die nächste Doppeltür. Nur das Misstrauen in ihrer Miene passt nicht ins Bild. Um nicht wieder schikaniert zu werden, beeile ich mich, in das Gemach der Räuberprinzessin zu gehen. Genauso gut hätte ich Thronsaal sagen können. Umgeben von unschätzbar kostbaren Vasen, goldenen Bildnissen, meisterhaften Büsten und seidenen Kissen mit Satinrüschen schreite ich nämlich über einen roten Teppich mit goldenen Mustern, der eines echten Königs eher würdig gewesen wäre. Frische Luft strömt angenehm herein und bewegt die bläulich getönten, langen Vorhänge, die alles in einem gedämpften Licht erscheinen lassen. Ich folge dem Stück Teppich, das unter allen Kostbarkeiten noch hervorguckt, zu ein paar niedrigen Stufen. Anstatt eines Thrones erwartet mich an deren Ende ein riesiges Himmelbett, dessen Baldachin mit funkelnden Diamanten und silber leuchtenden Fäden durchsetzt ist. Noch ist das falsche Seidenfirmament geschlossen, doch schon wird es wie von Geisterhand auseinandergezogen, um mir die Wüstenprinzessin zu präsentieren. Ich glaub, mein Schwein pfeift! Ja, ja, grins du nur schön, mach dich über den Idioten lustig, der nicht gewusst hat, dass natürlich du verzogenes Gör es sein musstest! "Kora…" "Wie schön, mein Name fällt dir sogar noch ein!", lacht die Harpyie vom Mons Mortuorum, die sich ebenfalls eine der Riesenoliven geschnappt hat. Wie selbstverständlich versinkt ihr Hintern im weichen Polster des Bettes, sie trägt eine edle, weiße Robe mit loser Kapuze, auf deren Stirn ein Vogel dargestellt ist. Das Gewand schlägt unzählig viele Falten, dabei sind die Ärmel gar nicht mal so weit. "Du guckst aber ganz schön finster. Dabei bist du doch selber hergekommen, um mich zu besuchen!" Wie könnte ich jetzt glücklich dreinschauen? "Besuchen? Ach, du meinst, nachdem ihr uns so herzlich eingeladen habt!" "Hüte deine Zunge!", ruft die andere Harpyie laut genug, um mich zusammenzucken zu lassen. Kora lächelt müde. Dann sagt sie: "Meine Schwester ist etwas harsch. Aber solange ich nichts sage, krümmt sie dir kein Haar." Um nicht weiter meine Zeit zu verschwenden, will ich gleich darauf wissen: "Und wann sagst du was?" "Wenn du mir nicht verrätst, wo das Wunder ist!" "Welches?" Ich bin verdutzt, sie leicht erbost. So erwidert sie mit Nachdruck: "Stell nicht so blöde Fragen! Welches Wunder wohl?! Das hier in Meskardh!" Oh, sie meint wohl das Wunder von Ignis, der Feuergöttin! Sie wird mir zwar sicher nicht glauben, wenn ich ihr das sage, doch: "Ich hab keine Ahnung, wo es ist." "… Oltieve?" Koras Schwester kommt näher, nimmt mich auf ein mal in den Schwitzkasten. "Sie ist kräftig, nicht wahr? Sie hat Männern schon mit einer kleinen Bewegung das Genick gebrochen, als sie nicht gesputet haben. Das kann sie mit dir auch machen. Du willst mich doch sicher nicht für dumm verkaufen, oder? Du reitest ausgerechnet in die Wüste und dann willst du wieder verschwinden, ohne überhaupt das Wunder geholt zu haben?!" "Ich schwöre, ich habe das Wunder nicht! Wir waren nicht deswegen in Meskardh-" Oltieve drückt ohne Koras Zutun fester zu. Scheiße, noch ein bisschen mehr, dann knackt es ein mal und der Elf Maljus ist Geschichte! "Versuchen wir es noch ein mal… weil ich eigentlich gut gelaunt bin. Habt ihr das Wunder eingesammelt und es bereits auf das Schwert aufgetragen?!" Was soll ich denn jetzt antworten? Wenn ich ihr nicht sage, dass wir das Wunder haben, tötet ihre Schwester mich. Und wenn ich sage, dass wir es haben, wird sie wissen wollen, wo oder was es ist. Und dann wird sie mich irgendwie trotzdem lynchen lassen! Denk schon nach, du kennst sowas doch aus den Büchern! Wie ziehen Leute da ihren Kopf aus der Schlinge?! Ah, ich hab's! "Wir haben das Wunder nicht geholt.", röchle ich, nur bevor Koras Wimpernzucken mein Schicksal besiegelt, spreche ich weiter: "Es ist noch in Titapolis!" "Ach? Erzähl weiter!" Oltieves Griff lockert sich, ich kann wieder freier atmen. "Also… wir waren in Titapolis… aber wir konnten nicht an den Titanen vorbei. Wir mussten fliehen und wollten unser Glück lieber woanders versuchen!" Kora brütet ganz schön über meiner Lüge. Ich kann sehen, wie sich hinter ihrer zerfurchten Stirn mal wieder etwas in Bewegung setzt. Immer noch eine Frechheit, dass so etwas Held werden will! Ich glaube aber, sie hat die Geschichte geschluckt: "So ist das also." Sie kichert knapp. "Nun ja, zwei mal legt man sich nicht erfolgreich mit Titanen an; erst recht nicht diesen hohlen Haudraufs, die wir hier abbekommen haben!" "Siehst du. Wir haben das Wunder nicht!" "Das würde ich dir ja zu gerne glauben… aber im Harpyienvolk kennt man sich gut aus mit Flunkern und ein paar anderen Tricks. Das könnte genauso gut eine plumpe Lüge sein, was du da sagst." "Du wirst schlecht prüfen können, ob ich die Wahrheit sage, oder nicht.", wage ich, wieder etwas schlagfertiger zu werden. Kora schenkt mir ein unbeeindrucktes Lächeln und legt den Kopf zur Seite. Sie entgegnet: "Mein Gutster, du hast ja keine Ahnung." V. Was hat sie bloß in petto? Das bereitet mir jetzt lange genug Kopfzerbrechen! Kora hat sich bloß noch mein Schwert geschnappt, das zwischen all dem anderen Raubgut lag und mit ihrer Schwester und mir in der Mitte das Gemach verlassen, um einer Vielzahl krummer Korridore tiefer ins Erdreich zu folgen. Immer öfters sehe ich grimmig aussehende Frauen mit Naginatas Wache schieben. Hier unten muss etwas ungeheuer Wichtiges sein. Irgendetwas, womit Kora mein Märchen prüfen will. Aber was?! Etwa ein Orakel? Haben diese Harpyien hier so etwas? Ich kann buchstäblich riechen, dass ich es gleich erfahren werde. Nur der Gestank, der mir jenseits der dreifach verschlossenen Pforte entgegenschlägt, gehört bestimmt nicht zu den brennenden Kräutern einer Seherin. Oltieve löst eine Fackel von der Wand. Der Raum ist annähernd rund, die Wände sind grob in den Stein gehauen und ungewöhnlich dunkel für den Sandstein, den man sonst so hier sieht. Bah, aber was stinkt denn hier so erbärmlich?! Ich würde mir so gerne die Nase zuhalten! Diese verdammten Fesseln! Da sehe ich den voll gerüsteten Leichnam, der geknickt an der Wand lehnt. Hier verrottet einer, igitt! "Was wollen wir hier…?!" "Wart's ab, Möchtegernheld.", hält Kora mich hin. Ich unterdrücke meinen aufschreienden Brechreiz und lenke mich ein wenig ab, indem ich auf den zugedeckten Krug vor dem Toten starre. Er ist rostig und aus mattem Metall mit einem Henkel und einem krummen Hals. "Oltieve, wenn du so freundlich wärst." Die ältere Harpyie wirkt missmutig, aber lässt ihre Schwester nicht warten und beugt sich, um mit einer Hand an der Außenseite des Gefäßes entlangzureiben. Warum ist sie wohl nicht die Räuberprinzessin und muss das machen? Ungeduldig warte ich ab, was dieser Aufwand bezwecken soll. Irgendwie ist mir kalt, wieso das denn auf einmal? Trotzdem spüre ich die eisige Gänsehaut und wie mir die Haare zu Berge stehen. Da hat sich was bewegt! Es kann bloß der Finger gewesen sein, aber der Tote hat sich gerührt! Ein Wiedergänger! Der Verblichene steht unter Schmatzen seiner faulen Fleischreste auf und streckt sich gemütlich. Hat er etwa geschlafen? So hört es sich an, als er gähnend feststellt: "Ihr habt jemand weiteren hierhergebracht. Wo ich mich gerade schon wieder einsam fühlte." Ich bin irritiert: "Ihr beherbergt einen Untoten?!" "Ich weiß, diese Höhle ist nicht jedermanns Geschmack, wenn ich so aussehe… aber man lernt, es sich hier gemütlich zu machen." Es sich gemütlich machen?! Ich bin froh genug, wenn mir nicht schlecht wird! Kora nimmt das alles viel gelassener hin als ich. Sie fragt: "Willst du dich nicht lieber vorstellen?" "… das hätte ich ja ganz vergessen! Meine Manieren sind in der Zeit wohl etwas abgestumpft. Hadrian, ehemaliger Kommandant… jetzt bloß noch… na ja." Er lässt seinen verschrumpelten Kopf hängen. "Warum erzählst du ihm nicht ein wenig von deinen Erlebnissen?", empfiehlt Kora, dann spricht sie zu mir: "Denn du musst wissen, Spitzohr, Hadrian ist schon viel herumgekommen. Und er kennt auch ein paar Dinge in Bezug auf das heilige Schwert." "Ach, deswegen bringt ihr diesen Gefangenen also zu mir? Tja… ein wenig zu reden würde mir ganz gut tun. Aber ich bin nicht so wichtig - was wollt ihr wissen, Wüstenprinzessin?" Wie aufs Stichwort löst Kora mein Schwert aus dem Gurt und gibt es dem Kommandanten. Er legt die Scheide ab und besieht sich fachmännisch die Klinge. Dazu brummt er aus seiner in Fetzen hängenden Kehle. "Tja… darum geht es also… ein gutes Schwert, hat ein gutes Gewicht, es ist fein ausgeglichen… und nachbehandelt worden. Aber nicht zufällig mit etwas geweihtem Öl, oder?" "Ich wusste, Ihr würdet es erkennen." Kora lacht zufrieden, verschränkt dennoch die Arme. "Das hier ist eine von zwei Klingen, die geweiht werden sollen. Sagt mir, welche Wunder aufgetragen worden sind, dann könnt ihr Euch so viel mit Maljus unterhalten, wie Ihr wollt. Er wird die Stadt sowieso nicht mehr verlassen." "Du hinterhältiges Biest!", verfluche ich sie. Ein Duell des Starrens beginnt. Ihr siegessicherer Hohn gegen meine tiefsitzende Verachtung. Aus dem Augwinkel sehe ich Oltieve ihren Kopf schütteln. "Nun…", sagt Hadrian schließlich, während er mit der im durchlöcherten Handschuh eingeschlossenen Hand sein Knochenkinn reibt, "… das Öl habe ich sofort wahr genommen. Der Geruch ist so stark, das kann nur eine oder anderthalb Wochen her sein… aber sonst… Wunder sind da nicht weiter dran. Etwas anderes noch, aber keine der Reliquien, die Ihr sucht." Koras Zufriedenheit wird gebührend eingegrenzt davon, ein wenig verstimmt spitzt sie die Lippen und fragt noch mal nach: "Wirklich nichts? Bloß das Öl? Und was soll das andere sein?" Der Untote zuckt mit seinen Achseln, wobei sein rostiges Rüstzeug klappert. Kora fletscht erbost die Zähne, aber läuft wortlos zur Tür. Sie ruft nach Oltieve. Nein, ich lass mich nicht so einfach einsperren! Ich laufe hinter ihr her. Die ältere er beiden Harpyien kriegt Wind davon und rempelt mich zu Boden. Bevor ich ohne meine Arme wieder auf komme, fällt die Tür bereits ins Schloss. Oh man, ich glaub das einfach nicht! Jetzt lassen sie mich mit diesem wandelnden Gammel allein! Nur die Fackel haben sie dagelass- moment, er hat noch mein Schwert! Ihr Dummköpfe werdet es bitter bereuen, so schnell gegangen zu sein! Ich gucke Hadrian an, der ein paar geschickte Schläge mit meinem Schwert probt. Unter dem schweren Helm auf seinem Kopf zeichnet sich so etwas wie ein Grinsen ab. "Hach, das erinnert mich an alte Zeiten… bessere Zeiten.", schwärmt er. Räuspernd mache ich auf mich aufmerksam. "Tja… da sitzen wir wohl gemeinsam hier drin, oder? Lass uns das Beste draus machen! Wie heißt du?" "Maljus…", erwidere ich nach Luft ringend. Bitter belacht der Kommandant das: "Ich sehe nicht appetitlich aus, oder? Tut mir leid… ich würde auch lieber friedlich im Erdreich schlummern. Aber ich hab es mir ja nicht aussuchen können." "W… wer hat Euch das denn angetan? Haben die Harpyien Euch wiederbelebt?" "Ach so, du denkst, ich sei bloß ein Untoter?" Bloß?! "Wenn das alles wäre… nein, Junge, mich hat man verflucht." Er hebt das Schwert, um auf den Krug zu zeigen. "Jemand hat mich in diese Lampe gesperrt. Lange her das Ganze… wie lang überhaupt." Gedankenverloren kratzt er sich an der Wange. Er vergisst wohl ziemlich schnell Leute um sich herum. Dies mal warte ich, bis er sich von selbst an mich erinnert. "Oh, Verzeihung… ich bin Gespräche nicht mehr so gewohnt." Ich würde ja am liebsten sagen, dass ich auch nicht lange reden will und er mir lieber mein Eigentum zurückgeben sollte, aber das wäre selbst einem Verfluchten gegenüber unhöflich. "Darf ich fragen, wieso Ihr Euch offenbar mit den Wundern auskennt?" "Na, ich hab sie ja alle selber gesehen! Ich war an jedem Ort, wo ich göttliche Kräfte vermutet habe." Das ist so schnell gesagt, dass es meinem Staunen nicht gerecht wird. Richtig neugierig frage ich: "Habt Ihr etwa auch ein Schwert weihen wollen?! Oder Moment, seid Ihr sogar der ursprüngliche Führer der heiligen Klinge?! Habt IhrPrometheus verbannt?!" Boah, wenn das der alte Held wäre! Und ausgerechnet ihn hält Kora gefangen! Das wäre ein starkes Stück! "Ich muss dich enttäuschen, aber ich bin nicht im Geringsten heroisch." Wäre ja auch zu schön gewesen. Meine Vorstellung von einer bewusstlosen Sira, die diese Entdeckung nicht hätte fassen können, zerbricht. "Aber wenn du willst, erzähle ich dir, was mir widerfahren ist. … So langsam löst sich meine Zunge. Auch wenn sie etwas trocken ist." Hoffentlich ist die Geschichte es wenigstens nicht… "Nun denn… so will ich dir meine Herkunft offenbaren. Ich war Kommandant einer kleinen Einheit und gehörte einem Bund aus einem Land weit weg von hier an. Für ihn war ich mit meinen Männern in Cardighna unterwegs, durchstreifte das ganze Königreich. Der Winter war längst da an jenem Tag. Er war unerbitterlich, ein Schneesturm lähmte uns, aber die heiße Spur, die wir dachten, zu haben, ließ uns aufs Ganze gehen. Unser Großmeister schien uns näher, als jemals zu vor." Ja, ja, was auch immer der Großmeister ist, ich frag lieber erst gar nicht. "Wir durchquerten an diesem Tag die großen Wälder, da meinte einer meiner treusten Männer, es sei besser, ein Lager aufzuschlagen und Schutz vor dem Sturm zu suchen. Allerdings hatte ein anderer etwas dagegen einzuwenden. Das war 'Der weise August', wie er nur noch hieß, seitdem er in unserer Heimat zum Ritter geschlagen worden war. Eigentlich hieß er Zetimephatis Augustus." Den Vornamen habe ich nie gehört, der Nachname lässt mich etwas stutzen. Klingt erstaunlich Cardighnisch. "Er sagte so etwas wie 'Schweiget still, Darco, wir sind Krieger, wir lassen uns doch nicht von dem Wetter aufhalten! Habe ich Recht, Kommandant Hadrian?' Aus reinem Stolz und Respekt antwortete ich, dass er das natürlich hatte. Mit erhobener Faust spornte ich meine Mannen weiter an, selbst wenn es den Tod fordern würde, unser letzter Tropfen Blut sollte dem Willen des Großmeisters gehören." Klingt so, als seien sie ganz schöne Fanatiker gewesen. Großmeister… soll das ein Gott sein? Meine fragende Miene sieht er wohl gar nicht, wie ein Wasserfall erzählt Hadrian weiter: "Es vergingen mehrere Stunden Fußmarsch, eine Menge Schnee fiel, sodass von oben ständig Berge von den Wipfeln fielen. Aber schließlich erreichten wir eine alte Stätte, so fernab aller Wege, die auf unseren Karten verzeichnet waren. Eigentlich war es Zufall, dass wir sie gefunden haben. Im Grunde genommen waren es nichts weiter als ein paar Säulen, alte Steinfließen und ein niedriger Tempelzugang. Ich war zufrieden genug mit dem Fund, dass ich anordnete, dort ein Lager zu errichten. Wieder war es Darco, der etwas einzuwenden hatte: 'Ich weiß nicht, ich glaube nicht, dass dieser Platz gut zum Verschnaufen ist!' Nur hörte niemand ihn so wirklich an. Als wir August befragten, sah er keinen Grund, jetzt noch weiterzuziehen. Und so griffen wir zu unserem Proviant und schlugen die Zelte auf." VI. Er hat sich noch in einigen Details verloren, bis er endlich wieder zu einem etwas spannenderen Teil seiner Erzählung gelangt. Inzwischen sitze ich sogar im Schneidersitz auf dem inzwischen von Raureif beschlagenen Boden und lausche dösend. "Danach beschloss ich, mir den Tempel näher anzusehen!", hebt Hadrian an, "Zusammen mit meinen Männern durchsuchte ich die zerfallene Bogenhalle, einen ganzen Saal, in dessen Wände jemand alte Texte geschlagen hatte. Sie waren so verwuchert, dass wir erst die Ranken runterrupfen mussten, um Zetimephatis um eine Übersetzung zu bitten. Während er in seinem schlauen Buch nachschlug, fand Darco etwas anderes, einen versteckten Keller. Über dem Eingang hing irgendwas, das ich nicht mal genau gesehen habe." Warum erwähnst du es dann…? "Unten jedenfalls fanden wir bloß… dieses Teufelsteil." Er zeigt auf die Lampe, die für mich immer noch eher aussieht wie ein zu klein geratener Kessel und nicht wie ein 'Teufelsteil'. Nun, aber wer ist hier verflucht worden, er oder ich? Hadrian berichtet: "Es stand direkt vor einer markanten Statue aus blutgetränktem Gestein. August erklärte, worum es sich dabei handelte, denn sie war sehr plump gefertigt und ihr Gesicht erkannte man nicht mehr. Es sei eine Statue unserer Todfeindin, wir befänden uns vor einem Opferaltar der Götze, die den Großmeister gebannt hatte." Hadrian springt auf und brüllt: "Oh, wenn sie das gewesen wäre! Dann hätten wir zu Recht all unsere Wut an diesem vermaledeiten Stein ausgelassen!" Plötzlich rennt er zur Lampe und tritt heftig dagegen, scheppernd fegt es den Kessel durch die Höhle, ich zucke bei den Geräuschen erschrocken zusammen. Just in dem Moment erschlafft der Kommandant und keucht vor Anstrengung. Auf die Knie gefallen schaut er den Boden, aber nicht mich an. "Zwei haben es besser gewusst als wir. Wir sind hingegen blindlings auf diese Statue losgegangen, haben unsere Schwerter an ihr zerbrochen, ihr mit den Händen die Arme und Beine abgebrochen, sogar unsere Zähne abgestumpft an ihr, weil wir dachten, das sei der Moment, auf den wir gewartet hatten!" "Und was… was ist dann passiert?" "August hat nur gelacht… und Darco, der hat uns mitleidig angesehen. Er hat versucht, uns aufzuhalten, aber dafür waren wir blind gewesen. Augustus sah uns triumphierend an und offenbarte, was für Toren wir waren: 'Das ist nicht die Statue von Anima! Dieser Tempel ist für die Cardighner verfluchtes Land, hier ist unser Großmeister gestorben! Und ihr habt seine letzte Hinterlassenschaft, sein Denkmal vernichtet.' Er hatte uns reingelegt. Ein Fluch sollte über uns kommen, weil wir den Großmeister verärgert hatten." "Warum hat dieser August das denn getan?!" "Er wollte allein die Gunst des Großmeisters erwerben. Der Gegenstand über der Tür war etwas, womit er ihn wiederbeleben konnte, sagte er noch zu uns. Als Augustus dieses Ding dann mit nahm und floh, verschloss sich augenblicklich der Raum, in dem wir schutzlos dem Zorn unseres Herren ausgeliefert waren. Darco hatte einen letzten Versuch unternommen, ihn aufzuhalten. August selbst hat jedoch gesagt: 'Dich kann ich mit meinem Dolch schon niederstrecken.' Und bei meiner Seele, das tat er auch. Vor unser aller Augen, denn wir waren starr gefroren." Ich fühle nun mit Hadrian mit. So ist das also passiert. Ich schäme mich auch dafür, ihm anfangs so wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Darum will ich mich jetzt bessern: "Und wie seid Ihr dann hier gelandet?" Er lehnt sich seufzend an die Wand und spricht: "Das fragst du besser die Harpyien. Ohne sie wäre die Lampe nie hierher gekommen. Und an sie bin ich gebunden. In sie hat der Großmeister uns gesperrt. Wäre diese Höhle größer… würde mein Körper mit einem Schritt zu viel zu Staub zerfallen." Stille entsteht. "Du suchst genauso wie die Prinzessin die Wunder, hab ich das richtig verstanden?" "So ist es. Kora hat meine Freunde und mich gefangen genommen, weil sie schneller sein will.", offenbare ich. "Ich würde ihr da gerne einen Strich durch die Rechnung machen. Du bist der Erste, der mich hat wählen lassen, wovon ich berichte. Diese Kora… die will immer bloß bestimmte Geschichten hören, alles rund um die Wunder. Ich kenne dieses Blitzen in ihren Augen… genauso dämlich müssen wir geguckt haben, als wir die Statue zerstört haben." Er richtet sich schwerfällig auf und geht zu meiner Rückseite. "Ich verrate dir jetzt etwas, das ich dieser Harpyie nicht gönne. Der Tempel, in dem wir unser Ende fanden, beherbergt das Wunder des Windes. Am Ende der Kammer, in der wir eingesperrt wurden, gibt es eine Felsspalte, aus der ein besonderes Gas strömt. Es ist gelblich, warm… und wenn man es berührt, wird es plötzlich mitten in der Luft fest! Ich bin mir sicher, dass es das Wunder ist." Er schneidet meine Fesseln durch, danach reicht er mir mein Schwert. "Ich weiß gar nicht, wie ich Euch genug danken soll!" "Indem du nie so eine Dummheit begehst wie ich und die restlichen drei Wunder sammelst. Tja… dann nehme ich an, dass ich früher jetzt so etwas wie 'Lebe wohl' gesagt hätte." Er klopft mir auf die Schulter. Es ist gut gemeint, dennoch kriege ich davon eine Gänsehaut. Nervös lächle ich. "Ich habe da einen guten Freund, der Euch vielleicht helfen könnte. Den befreie ich und gebe ihm bescheid!", fällt mir noch etwas ein, um mich doch erkenntlich zu zeigen. Hadrian glaubt mir zwar nicht so recht, aber wir werden ja sehen! VII. Felszikaden sangen zum Großen Hirsch, der im Westen des sternenklaren Nachthimmels leuchtete. Das vielstimmige Lied, welches der Wind hauchdünn unterstrich, wog die Harpyien in der Sicherheit, alles sei wie immer. Männer hatten gesputet, Reichtümer sich in den Schatzkammern gehäuft, Ignis' Lohe war für heute erloschen. Sie dachten immer in großen Maßstäben, die Harpyien von Meskardh. Eine Frau, die nur einen Mann hatte, war verklemmt und sparte am falschen Ende. Jede Räuberin, die kein Vermögen nach Hause bringen konnte, war entweder unfähig oder zu feige, größere Risiken einzugehen. Wer jetzt, wenn sie Feierabend hatte, nicht den Tag mit einer festlichen Orgie zu Ende brachte, wusste nicht, wie man zu leben hatte, bevor man alt und unnütz würde. Vielleicht war gerade das der Grund, dass die kleinen Dinge den Harpyien in dieser Nacht entgingen. Da war der kleine Fehler, eine Waffe bei einem Gefangenen gelassen zu haben und die Türschlösser nicht genau zu prüfen, dieses kleine bisschen Überheblichkeit, zu denken, ein beruflicher Dämonenjäger werde vom Spiel mit zwei seiner Wächterinnen müde genug, um sich problemlos wieder in seine Zelle bringen zu lassen, und die Unachtsamkeit gegenüber einer kleinen grünen Dame, die einen wichtigen Schlüsselbund entwenden konnte. Siras und Alex' Glück war deswegen besonders groß und das der anderen Gefangenen auch. Während die Víla mühelos Selet, Craylo und Ludwig befreien konnte, irrte Alex allerdings alleine umher. Sein feines Gehör brachte ihn rechtzeitig zum Stillstand, sobald er aus irgendeiner Richtung andere Schritte hörte. Jetzt waren es allerdings Stimmen, die er hörte. Die eine Frau, ganz bestimmt so alt wie er selbst, erklärte einer anderen: "Und deswegen wurde beschlossen, dass du dich zu entscheiden hast. Wenn du lieber außerhalb unserer Stadt alten Schätzen nachstehlen willst, hast du den Thron an mich abzutreten, weil ich deine nächste Verwandte bin." "Ja, ich glaub, es hackt!", regte sich die jüngere Harpyie auf, "Dir meinen Thron anvertrauen?! Nur weil wir denselben Vater haben?!" Die ältere entgegnete außerordentlich ruhig: "Auch wenn er nur ein Mann ist, sein Blut fließt in uns beiden. Also habe ich im Zweifelsfall meinen Anspruch, Schwesterherz." Sie erwartete eine Reaktion, doch nach langem Schweigen sagte sie mit etwas Nachdruck: "Deswegen reißt du dich entweder mal am Riemen oder verduftest! Warum müssen wir die Gefangenen überhaupt am Leben lassen?! Wir hätten die Frau abmurksen und die Kerle an die alten Weiber verkaufen können, die mit ihnen noch mal ihre beste Zeit gehabt hätten!" Unwillentlich bekam Alex eine Gänsehaut und zischte ganz leise vor Ekel. Er drückte sich stärker an die poröse Wandformation und erwog, einen kurzen Blick in den anderen Gang zu werfen. "Woher plötzlich dieser überlegene Ton, Oltieve? Noch bin ichRäuberprinzessin!" "Wir brauchen aber eine Königin." "Zu der werde ich noch früh genug." "Nicht, wenn du dich nicht endlich bindest und dir einen Harem aussuchst!", schimpfte Oltieve, "Wegen deiner Ausflüge krakeelen mir die Mütter der Kandidaten täglich die Ohren zu! An deiner Stelle hätte ich schon längst meine Wahl getroffen." "Und deswegen willst du mich jetzt stürzen?!", fauchte die Prinzessin, "Sogar eine Garde hast du auf deine Seite gebracht… gut gemacht, Oltieve, hätte ich dir nie zugetraut." "Ach, halt den Schnabel, Kora!", rastete die ältere der beiden Schwestern da aus, "Hier gibt es momentan keinen mehr, der noch auf deiner Seite ist! Ich überlass es dir, ob du freiwillig gehst, oder wir dich zwingen müssen. Nur, weil wir denselben Nichtsnutz von Vater hatten." Alex hörte heraus, dass auch die baldige Herrscherin der Harpyienstadt mit dieser Situation nicht glücklich war. Er hätte längst zurückgehen und einen anderen Weg suchen sollen. Wenn diese Kora jetzt nicht spurte, gäbe es ganz schnell viel mehr Wächterinnen auf den Gängen als die, die der Blonde bereits ausgeschaltet hatte. Er machte auf dem Absatz kehrt, sobald Kora Worte fand: "Du hättest diese Schlampen nicht dabei, wenn du mich gehen lassen wolltest. Da gibt's doch noch etwas, was du witterst!" Noch rannte er nicht. "Geld und Macht, mehr nicht, Wüstenprinzessin. Und für das nötige Kleingeld verkaufe ich dich gerne.", legte Oltieve dar, als sei es das Normalste der Welt. "Du lernst den Käufer schon noch kennen." "Er lernt michkennen, meinst du!" Länger wartete Alex nicht, um wegzulaufen, gleich würde hier die Hölle los sein. Aus dem Gang erklangen weitere Harpyienstimmen, viele davon mit martialischen Schreien. Eine rief aber: "Da, einer der Gefangenen!" "Worauf wartest du dann?! Schnapp ihn di-!" Oltieve wurde von irgendetwas unterbrochen. Währenddessen rammte Alex einer entgegenkommenden Wächterin das Heft seines Schwertes in den Bauch, und stieß sie beiseite. Er war froh, die Waffe in der erstbesten Schatzkammer wiedergefunden zu haben, denn nichts würde ihn mehr aufregen, als dieses Erbstück seines Vaters zu verlieren. Seine Verfolger waren viel schneller als er, er musste stehen bleiben und mit ihnen kämpfen. Eine Harpyie mit blauem Gefieder stieß ihre Krallen durch eine winzige Lücke seiner Lederrüstung in seinen Bauch. Alex schmeckte sein Blut. Während sein Hemd durchnässte, rammte er die Parierstange gegen den Unterkiefer der Angreiferin und versetzte ihr noch einen Stoß mit dem Knie, um sie ihren Kumpanen entgegenzuwerfen. Sein Vorsprung war gering, bis die Jägerinnen über die Besiegte sprangen, aber auf einmal wurden seine Verfolger von hinten aufgemischt. Irgendwo sah er eine große Rothaarige, der das Gesicht zerkratzt worden war, eine kleinere rannte vor ihr weg und scheute sich nicht, den Wächterinnen Rücken und Arme aufzuschürfen. Das war dann wohl diese Räuberprinzessin. Alex musste langsamer machen, er spürte schon jetzt, wie seine Verletzungen weiter aufrissen und er bereits die ersten Schwindelanfälle verspürte. Er taumelte vorwärts, stützte sich an der Wand ab, wobei er sich fühlte, als würde die Wüstensonne über ihm stehen. Für ein paar kleine Stiche waren das verdammt schlimme Schmerzen! Eine Hand griff nach seinem Mantel, mit trüben Augen guckte er über seine Schulter. Fast knickte er ein. Die Räuberprinzessin hatte ihn gepackt und starrte ihn düster an. Alex holte aus, um sie wegzuschlagen. "Nein, nicht, du Trottel!", zischte sie und schob ihn vor sich her. "Dafür ist jetzt nicht die Zeit! Wir sind momentan beide gleich gearscht, wenn sie uns erwischen!" "Eine Zweckgemeinschaft?" "Bis wir heil hier heraus sind!" "Ich hätte keinen besseren Zeitpunkt wählen können!" Er riss sich wieder zusammen und beeilte sich. Kora hatte keinerlei Problem mit seinem Tempo, sie wäre leichtfüßig schneller gelaufen, wenn sie ohne ihn als Verbündeten hätte entkommen können. Sie setzten ihre Flucht erbittert fort, innerhalb kürzester Zeit war der ganze Palast in Aufruhr, nicht zuletzt, weil andere Gefangene auch ausgebrochen waren. An einer Weggabelung, wo Alex und Kora meinten, nicht länger fortlaufen zu können, trafen sie die anderen. Magische Projektile flogen umher, der Gang hinter ihnen löste sich in herabfallenden Schutt auf und die Wächterinnen standen in einer Staubwolke. Ludwig gab sich als Erster zu erkennen: "Eigentlich hätte ich Euch allein erwartet, Alex." "Was macht Kora denn hier?!", platzte es aus Selet hervor. Verstimmt wich die Harpyie ihrem fragenden Blick aus. Sehr kühl erklärte Alex: "Das ist die ehemalige Räuberprinzessin… ihre Schwester reißt grad die Macht an sich und will uns alle einfangen!" "Oh nein, was wenn sie Maljus dann schon wieder geschnappt haben?", befürchtete Dorac. "Das hättest du wohl gerne!" Na endlich find ich die mal! Ich hab hier den halben Kerker abgesucht, nachdem ich durch seelenverlassene Kellergänge gelaufen bin, und jetzt sehe ich, dass die alle bereits frei und munter sind. Aber dieser eine Rotschopf hier passt so gar nicht ins Bild! Ehe mir die anderen noch um den Hals fallen oder mich begrüßen können, gehe ich auf Kora zu. Sie weicht meiner Faust grade so noch aus. "Was machst bitte du hier?!", donnere ich fragend. "Sie flieht, genauso wie wir. Und was ist überhaupt mit dir los, Kleiner?" "Dieses Luder hat uns doch erst gefangen nehmen lassen! Sie wollte mich mit einem Untoten verrotten lassen und mir am Ende wohl noch das heilige Schwert abnehmen!" "Scheiße, das hab ich nicht mitgenommen?!", wird Kora ihr Fehler schlagartig bewusst. Düster nicke ich. Alex baut sich zwischen ihr und mir auf. Er sagt: "Das können wir auch regeln, wenn wir die andern Elstern los sind!" Kora schnappt nach Luft vor Empörung. Ich freunde mich in dieser Lage schneller damit an, das Kriegsbeil zu begraben: "Also schön. Kora, spuck's aus, wo habt ihr die Pferde hingeschafft?" "He, mal schön langsam!" War das grade Siras Stimme? Tatsächlich, sie ist es! Ich hab sie gar nicht gesehen! Jetzt aber steht sie leicht vornüber gebeut vor meiner Nase. "Wir zwei haben auch noch eine Rechnung offen!" "Maljus, Sira war es, die uns befreit hat!" "Wirklich…?" Was Selet da sagt, überrascht mich jetzt doch. Sira ganz allein…? "Jetzt überzeugt, dass ich zu etwas nütze bin?" Sie wirkt jetzt zwar schon etwas großkotzig… aber ich muss ihr wohl Recht geben. Kleinlaut erwidere ich: "Ja… ja, schon." "Wenn das dann auch geklärt wäre…!", hetzt Alex uns wieder. Kora überwindet sich dann auch, uns zu den Stallungen zu bringen, in denen die Räuberinnen unsere Pferde untergebracht haben müssten: "Also schön. Dann mir nach, ihr tumbes Mannvolk!" "Als Dolch muss ich mich mal nicht angesprochen fühlen, denke ich. Geht ihr mal hübsch ohne mi-" "Klappe!", rufen alle einstimmig. VIII. Nach Stunden des Herumschleichens und Versteckspiels in den zahllosen Schatz- und Kornkammern des Palastes hat sich allmählich die Stimmung beruhigt. Bloß an Rast ist immer noch nicht zu denken. "Nur damit wir uns verstehen…", verklickere ich Kora mit dem typischen Ton meines Stiefvaters, wenn er gestrenger war, "… aber ich würde schon gerne wissen, wie das weitergehen soll mit uns beiden." "Du klingst so, als wären wir ein Pärchen.", neckt Kora mich. Ich fletsche meine Zähne. "Du weißt schon, wie ich das gemeint habe!", hallt mein gebändigter Ruf von den niedrigen Wandbögen wieder. "Warum wirst du denn dann so rot?", lacht sie. Die hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ludwig grinst, dabei hat er das Harpyienmädchen vorhin noch so in die Mangel genommen, um alles herauszufinden, was sie über das Schwert und die Weihe weiß. Nicht mehr als wir, wie sich gezeigt hat. "So ein Schürzenjäger… reicht dir dein Hexchen nicht?" Sobald ich mich geräuspert habe, sage ich: "Es geht darum, ob du uns weiter so Knüppel zwischen die Beine wirfst wie bisher!" "Ihr steckt auch ohne mein Zutun oft genug in Schwierigkeiten, glaube ich." Kora zuckt mit den Schultern. Wie kann man in so einer Lage nur so süffisant feixen?! Man merkt mir meine Gedankengänge an, Kora erklärt nämlich: "Meinen Thron hole ich mir ganz einfach zurück, wenn ich die Retterin Cardighnas sein werde! Das bringt mir genug Sympathie unter dem Fußvolk." Ich sehe mich hilfesuchend nach Selet um. Ob sie weiß, dass ich mich frage, ob es normal ist, das so zu handhaben? Ihre Miene gibt mir darüber keinen Aufschluss. Der Tunnel höhlt sich aus zu einer stillen Lehmhalbkugel, es gibt keine wirkliche Tür zum Stall. Heu knistert unter unseren Sohlen, Schnauben taucht zu den Seiten immer wieder mal auf. Den charakteristischen Tiergeruch haben wir schon von Metern Entfernung wahr genommen. Es ist stockfinster. "Irgendjemand was zum Lichtmachen da…?", frage ich. Keine vertraute Stimme antwortet: "Wie wäre es hiermit?" Etwas blitzt auf, so grell, dass ich nun viel zu viele Lichter sehe und mir erschrocken die Augen abdecke. Für den Augenblick eines Herzschlages waren da Umrisse, eine Harpyie war mindestens darunter. "Die Rothaarige ist das Mädchen, das ihr haben wolltet." War das nicht die Stimme von Koras Schwester? Noch sehe ich lauter bunte Flecken, bis sich der Farbnebel etwas lichtet. Vor das zufriedene Lächeln eines braunhaarigen Herren mit Brille und blauer Gewandung schieben sich angriffslustige Harpyiensoldatinnen, die hinter den Pferden und Wüstenschweinen hervorkommen. "Oltieve, du gerissenes Stück…" Jetzt erkenne ich sie im selben Moment wie Kora. Da lag ich wohl nicht falsch, dass sie gerne selbst Herrscherin dieser Stadt wäre - drauf gespuckt, dass ich's geahnt habe! Jetzt ist es sowieso zu spät! "Hm…" Die sanfte Stimme des Mannes neben Oltieve löst die Spannung in der Luft etwas. Auf seiner Fingerspitze tanzen schimmernde Funken. Dieselben, die mich geblendet haben. "Überlasst ihr mir die Hexe auch?", will er wissen. "Ich zahle auch mehr." Wie? Was will der von Griselda? Da gibt es ganz üble Geschichten, die ich gehört habe und die jetzt aus den hintersten Kammern meines Verstandes ausbrechen, um mein Gesicht kreideweiß zu streichen. "Zu barer Münze sagt keine Harpyie-" "Nein!", schreie ich, "Untersteht euch!" Oltieve schaut von dem eigenartigen Mann verstimmt in meine Richtung. Dann sagt sie zu all den Harpyien: "Na los, worauf wartet ihr noch?! Hier geht's um Schotter!" "Geht aber vorsichtig um mit den jungen Damen.", bittet der Mensch mit Brille, "Ich brauche sie lebend und wohlauf." "Du kannst froh sein, wenn du selbst lebend und wohlauf sein wirst." Das klingt jetzt so, als könnte ich das gesagt haben. Oder als wäre es Alex gewesen, zu dem so ein Spruch auch gepasst hätte. Die Wahrheit ist aber, dass das niemand von uns war. Selbst nicht Kora, welche diesen Kerl versucht, mit allein ihren Augen zu töten. Etwas klappert. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass es Ludwigs Lichtschwert ist, das in der Schwertscheide rebelliert. Er zögert nicht, es zu ziehen. Ein paar der Harpyien weichen bei dem grellen Licht erschrocken zurück. Ein Dämon. Direkt hier, darauf könnte ich wetten! Und diese leere, hauchende Stimme… Ja, ich glaube zu wissen, wer das grade war. Der Mann ebenso, das sehe ich, obwohl das gleißende Licht sich an seinen Brillengläsern spiegelt und seine Augen für uns unsichtbar sind. Er murmelt so etwas wie: "Überraschend, Ihr seid noch am Leben?" "Natürlich bin ich das!", spricht Ventosus, während seine Konturen sich aus den Schatten schälen. Sein Mantel hängt in verbrannten Fetzen und sein Helm ist mehrfach angeknackst oder zerbrochen. Er selbst sieht aber alles andere als mitgenommen aus, nickt Alex und mir nur knapp zu und sagt: "Noch mehr Leute, mit denen ich eine Rechnung offen habe… Und das ist dann wohl Ludwig, der letzte Mors-Krieger." "Elende Dämonenbrut…", knurrt Ludwig. "Solve!" Der erste Zug in diesem Kampf! Ventosus macht eine Rolle durch den Raum, lenkt die Splitter ab und lässt mehrere Federn lassende Harpyien von seinen Kartaren geschnitten werden. Andere nehmen vor den noch ungebremsten Schwertstücken Reißaus, wir sind nicht mehr umzingelt. "Der Weg nach draußen ist frei!", teilt Ludwig uns plötzlich mit. Dashatte er also wirklich vor?! Alex und Craylo nehmen als erste die Beine in die Hand. Bevor ich Selets Handgelenk packe und sie in Sicherheit bringe, sehe ich Ventosus mit Oltieve und dem Fremden kämpfen. Er gehört also nicht zu Dyonix. Bloß- "Beweg deinen Arsch, Blondie!" Kora schubst mich wortwörtlich aus meinen Gedanken. Ja doch, ich gehe ja schon! Mich noch vergewissernd, dass Selet auch dabei ist, renne ich durch die sich schließende Schneise und das geöffnete Stalltor, vor dem Alex und Craylo bereits mit unseren Pferden stehen. "Wo ist Ludwig?!" "Noch da drin!" "Hat irgendwer eine Ahnung, woher dieser Ventosus jetzt überhaupt so plötzlich kam?" "Was weiß ich.", entgegnet Alex barsch und sitzt bereits auf, "Der ist anders beschäftigt!" Es tut einen Knall in den Stallungen. Selets Arm verkrampft sich, ein stechender Geruch breitet sich in der Luft aus. Alles das Werk dieses Mannes?! "Soll dieser Alte ihm von mir wenigstens schöne Grüße bestellen!", flucht Kora indes und scharrt mit ihren Krallen auf dem Sand. "Sein Gesicht merk ich mir! Damit ich's ihm eintreten kann!" "Bitte. Nur zu. Wenn du ihn fangen kannst, gehört er dir. Diese Ratte hat sich nämlich schon wieder aus dem Staub gemacht." Ich höre Ventosus viel zu deutlich, aber als dann noch seine Klinge an meinem Hals sitzt, weiß ich definitiv, dass er direkt hinter mir steht. Selet gibt einen erstickten Laut von sich, ihr Arm erschlafft in meiner Hand und zieht mich nach unten. Ventosus hält mich oben. "Ich glaube, es wird Zeit, dass wir unseren Kampf zu Ende bringen, ihr beiden…" "Was wollt Ihr von der armen Griselda?! Los Craylo, sag ihm, er soll sie in Frieden lassen!" "Werde ich, wenn ihr meinen Forderungen Folge leistet.", verspricht Ventosus. "Red nicht lang! Was willst du von uns?!", rastet Alex aus. "In spätestens vier Tagen treffen wir uns in Seestfor wieder, nachts, wo niemand uns stören kann - und zwar nur wir drei, die anderen bleiben gefälligst weg. Dann werden wir zum letzten Mal kämpfen. Ich brauche wohl nicht zu sagen, was dem Verlierer blüht." "Du lässt das Mädchen frei!", fordert Alex, ohne auf Ventosus einzugehen. "Wenn ihr gewinnt, mache ich das. Nicht, wenn ihr unterliegt. Und dieses Mal… nun ja, das habe ich ja schon beim letzten Mal klar gestellt." Als sei damit alles gesagt, lässt er mich los, stößt mich zu Boden und schultert die bewusstlose Selet. Ich hab mich grade mal umgedreht, da verschwindet er schon wieder. "In vier Tagen, vergesst das nicht!" Das darf es doch alles nicht geben! Er hat Selet einfach so mitgenommen! Ohne, dass ich das Geringste unternommen habe! Meine Hände beben - von wegen, ich zittere am ganzen Körper! "Ich schwör's dir Ventosus! Ich schwör's dir, verdammt noch mal, dass ich dich erledige! Du elendiger Feigling mit deiner Maske! Komm zurück und lass uns hier und jetzt kämpfen! Worauf wartest du eigentlich, hast du etwa Angst?! Hast du deswegen Selet entführt, weil du dich hinter ihr verstecken kannst, du Schwein?!", brülle ich unter Tränen verzweifelt in den Nachthimmel hinaus. Doch niemand antwortet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)