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Weihe des Siegelschwerts

von

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Capitulum VI: Das alte Heiligtum - Die Tiefen


 

I.
 

Eilig hastete derweil das grüne Licht, das da Siras war, hinunter, in den tiefen Schlund voll Dunkelheit. Ganz zum Trotz jeglichen Gebotes, sich jemanden wie Rio nicht so einfach zu zeigen, hatte sie wenige Sekunden über dem Loch verweilt und war dann blitzschnell hinabgeschossen.

Ihre Miene war ängstlich und von Sorge ergriffen. War Maljus wirklich in den sicheren Tod gestürzt? Sie hatte keinen Aufprall gehört, alles war totenstill, nachdem Maljus' Schrei gar hundertfach widerhallt war und sie nach einiger Zeit auch das Prasseln des Regens nicht mehr hören konnte.

"Maljus! Maljus!!", rief sie nach dem Alba, doch ihr antwortete nur das Echo, niemand sonst.

Über und unter ihr verlor sich alles in Finsternis, alles Licht, das ihre Umgebung erleuchtete, kam von ihr selbst, der schwache Magieschein von oberhalb erreichte sie längst nicht mehr. Ihre eigene Lumineszenz half ihr aber genauso wenig. Der Raum, in dem sie war, war viel zu weitläufig, vielleicht war es nicht mal ein Raum, sondern nur eine riesige Kaverne, in der sie nun nach unten strebte, orientierungs- und vielleicht sogar ziellos.

Zeit verging, in der sie erneut Rufe ausstieß und keine Antwort erhielt, ein mal hatte sie nur irgendein undeutbares Geräusch gehört, das alles sein mochte… vom Rufen bis zum knackenden Brechen des Rückgrats eines jungen Mannes, dessen Schicksal durch den Sturz besiegelt worden war.

Sie verwarf den Gedanken daran schnell. Du darfst nicht tot sein, Maljus!, flehte Sira, die ihre Tränen nur mit der winzigen Hoffnung zurückhalten konnte, es möge ein Wunder geschehen sein, dass er noch lebte - ein Wunder, wie treffend., dachte sie verbittert, wegen eines Wunders waren sie doch überhaupt erst hergekommen! Und jetzt bedurften sie selber eines weiteren.

Sie hätte ihn nicht mitnehmen dürfen, es war von Anfang an zu gefährlich für ihn gewesen! Sie hatte es doch geahnt, doch nein, sie hatte seinen Wünschen nachgegeben und den Dickschädel mitkommen lassen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dem kleinen, schwachen Naturgeist zu helfen.

Und jetzt spürte sie diese Ohnmacht wieder - wie sie unfähig gewesen war, das Schwert zu beschützen, war sie auch unfähig gewesen, den Jungen zu beschützen! Wüsste Dyonix, dass es nicht mal einer seiner Handlanger oder irgendeine andere Ausgeburt des Schlechten war, die das Leben des Alba beendet hatte, was hätte er sich daran ergötzt!

Winzig kleine Tropfen aus salzigem Wasser rannen die winzigen Wangen hinunter und tropften ins Leere. Welchen Sinn hatte das alles jetzt noch? Warum sollte sie noch weitergehen, fragte sie sich? Sie sah doch, dass dieses Reich der Dunkelheit endlos zu sein schien… egal, wann er aufkäme, er könnte doch unmöglich noch wohlauf sein!

Ohne es in ihrer tiefen Trauer zu bemerken, sank sie weiter hinunter, und hätte sie ihrem Verlangen, das Gesicht vor all dem Nichts um sie herum in den Handflächen zu verbergen, nachgegeben, wäre ihr nie der plötzliche Lichtschein aufgefallen, der ihr von unten entgegenkam. Hellgrüner, dämmriger Schimmer, ein glänzendes Spiegelbild, das verzerrt im Dunkeln tanzte, wabernd und schwimmend wie… wie Wasser?

Sie erkannte, dass sie nicht weit über einem Teich - oder einem See, wenn sie die angenommenen Größenverhältnisse der Umgebung bedachte - flog, der unter ihr wie ein sanft bewegter Spiegel war. Leicht hin und her schwankend stand unter ihr das Gewässer… winzige, gar kreisrund ausgehende Wellen erschütterten das ansonsten wohl so ruhige, hier tiefschwarz und unendlich tief erscheinende Wasser.

Siras Herz machte einen gewaltigen Hüpfer. Wäre das Wasser tief genug… dann lebte Maljus womöglich noch! Sie war vollkommen überzeugt davon, egal, wie irrsinnig es sein mochte, das für wahr zu halten. Sie interessierte nicht, dass der Sturz gut und gerne zwanzig bis dreißig Meter umfasst haben konnte, dass auch das Aufkommen auf dem Wasser dem Albaleib genug Schaden zugefügt haben könnte, um ihn sofort umzubringen, dass er mindestens das Bewusstsein verloren hätte unter diesen extremen Umständen, für Sira war offensichtlich, dass er nicht tot war, dass er nicht stärbe und bestimmt gleich auftauchte!

Aber wieder zog sich die Zeit dahin… oder kam es ihr nur so vor? Sie konnte es nicht wissen, hier unten war nichts gewiss, alles war dunkel, eigenschaftslos, es war wie die Zeit, bevor selbst die Urgötter Terra, Frigus, Chaos und Lux existiert hatten, die Zeit vor dem Krieg des Lichts und der Unordnung, an deren Ende die heutige Welt entstünde, in der Zweibeiner, Tiere und Pflanzen die von Naturmächten beherrschte Erde bewohnen würden.

Und Sira wartete; wartete, dass ein anderes Lebewesen oder einfach nur irgendetwas außer dem Wasser unter ihren frierenden, grünen Füßen ihr bewiesen, dass sie noch immer in dieser Welt weilte. Schließlich aber tränten ihre Augen wieder, es war zu viel Zeit vergangen, als dass es noch Hoffnung gab.

"… Das war's dann wohl…", schluchzte die Víla und blickte schwach nach oben, ehe sie wieder zu fliegen begann. Warum sah sie überhaupt dort hoch, sie befand sich zu tief, um das winzige Loch auszumachen, an dem die Hexe und ihr Shikigami hockten.

Etwas schoss aus dem See, schleuderte Wasser auf die geflügelte Frau, deren Flügel schwer von den Tropfen wurden und sie in die Wellen rissen, wo sie etwas strauchelnd sich über Wasser hielt. Im selben Moment hörte sie ein übermäßiges lautes Japsen, hastig und gierig atmete jemand, konnte kaum genug Luft holen, ehe er wieder ausatmen musste.

Ein junger Mann, Anfang zwanzig, mit langem, kantigen Kinn, das fein geschoren war, und dem seine braunen, kurzen Haare triefend ins Gesicht hingen, war aus dem Wasser geschnellt. Seine schwarze, mehrfach geflickte Tunika klebte an seinem schmalen athletischen Körper und rasend hebte und senkte sich sein Brustkorb in unregelmäßigem Takt zu seinem Keuchen, während er in seinen Armen keinen geringeren als Maljus hielt. Des Mannes mandelförmige Augen waren offen, Maljus' waren geschlossen und sein Atem ging nur flach. Zuerst starrte der Fremde nur den Jungen an, bis er sich wohl des grünen Scheins gewiss wurde, der ihn anstrahlte.

"Ürhimikmag, jäwilsche antrüchem Albre, derf antüichem Samovíla!", rief der Mann sichtlich überrascht.

Sira blinzelte ebenso perplex ob der alten Zunge, die der Fremde benutzte. Es war eine Sprache aus dem Nordosten, den sogenannten Nördlichen Gefilden, ein Dialekt des Menschenvolkes der Ketlörkü, der so aber schon Ewigkeiten nicht mehr gesprochen wurde, vermutlich fast so lange nicht mehr, wie Sira im Amt war. Doch genau so viel, wie sie über diese verstorbene Sprache wusste und darüber, dass die Ketlörkü nun zum Cardighnischen Großreich gehörten, verstand sie von den Worten.

"Wie… wie bitte?"

"Oh… hoppla, da war ich wohl so überrascht…", keuchte der Mann plötzlich in fast perfektem Hochcardighnisch, ohne wie zuvor das 'R' so auffällig zu rollen, "… dass ich glatt… in meiner Muttersprache gesprochen hab! Kein Wunder, wenn mir erst… fast ein Elf auf den Kopf fällt… und ich gleich… nachdem ich den aus dem Wasser gezogen hab… einer Víla begegne…" Er machte keine weiteren Anstalten, viel zu reden, sondern schwamm weiter, nachdem er Maljus auf seinem Rücken positioniert hatte.

Sira, völlig baff, rief: "H- hey, wohin geht Ihr denn?!"

"Na… irgendwo ans Ufer, wo ich… ihm das ganze Wasser, dass er geschluckt haben wird… rauszudrücken kann!"

"Wartet, ich gehöre zu dem Jungen!"

"Dann folg mir einfach!", erwiderte der Mann grinsend, "Und sag ruhig 'du' zu mir, hier unten braucht's keine Formalitäten!"

Sira seufzte, sowohl erleichtert, als auch mit den Nerven am Ende. Sie flog schnell zu ihm, hockte sich auf Maljus' Hinterkopf und ließ sich von dem kraulenden Mann in irgendeine schier wahllose Richtung bringen.

Schon wieder jemand, der von den Víly wusste und für den sie offenbar nichts besonderes waren - ob das doch bloß in Welsdorf der Fall war, dass man von ihrer Gattung keine Ahnung hatte?
 

II.
 

Sira kam der Weg bis zum Ufer, einem glitschigen schwarzen Felsengebilde mit kuhlenförmigen Einbuchtungen, viel kürzer vor als der, bis sie von dem alten Tempel zu dem unterirdischen See gelangt war. Unterwegs sprach der schwarz gekleidete Mann kein Wort, erst, als er auf dem 'Trockenen' war, ließ er sich ein wenig entkräftet nieder und beklagte: "Hier ist es schon so nicht besonders warm, aber in diesem Wasser erfriert man ja halb, brr~!"

"Ich mache mir mehr Sorgen um Maljus!", warf Sira ein wenig ungehalten wegen ihrer noch bestehenden Sorge ein, "Er hat sich immerhin nicht mit ein paar Schwimmzügen warm halten können!"

"Immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe, das kriegen wir schon hin!", beruhigte der Mann sie und legte den Jugendlichen flach auf den Rücken und drehte seinen Kopf zur Seite, ehe er ihm mehrmals kräftig auf den Bauch drückte. Als Antwort spuckte Maljus würgend fast einen halben Liter eiskaltes Wasser aus, hustete und schien noch immer nicht erwachen zu wollen. Der Mann kramte sogleich ein wenig in den vielen Taschen an seinem Gürtel, der mit einem Riemen quer über seine Brust verbunden war und eine schimmernde Schwertscheide festhielt, und schaute ein paar Fläschchen und Phiolen mit zusammengekniffenen Augen an. Ein wenig verstimmt verzog er sein Gesicht. "Mist, es ist einfach zu dunkel… und meine Lampe ist aus, seitdem ich den Burschen von unten hoch geholt habe."

"Mehr Licht kann ich nun mal nicht machen!", fühlte Sira sich gleich angegriffen, doch erneut behielt der Unbekannte die Ruhe. Er sprach: "Nur nicht die Beherrschung verlieren, ich hab' auch dafür eine Lösung! Kleinen Augenblick." Sie glaubte eher, er sei plötzlich wahnsinnig geworden, als er prompt zu dem golden legierten Heft seiner Klinge griff und das Schwert zog. Sie wollte ihn schon anbrüllen, was er denn jetzt vorhatte zu tun, da sah sie, wie der ungewöhnlich helle, ins Weißlich gehende Stahl der Klinge auf einmal hell zu leuchten begann. Einen ordentlicher Ruck später steckte das Schwert im Stein neben dem Mann und leuchtete alles im Umkreis von vier Metern aus, als scheine Tageslicht herein. Er suchte ein bestimmtes Gefäß heraus, hob Maljus' Kopf leicht an und flößte ihm die Mixtur ein, sofort erklärend, was das eigentlich für ein Gebräu war: "Keine Sorge, das ist kein Gift oder dergleichen. Bloß ein kräftiges Stärkungsmittel, das praktischerweise auch ein wenig von innen wärmt. Gut zur Anwendung an Bewusstlosen… denn das Zeug schmeckt grauenhaft. Damit dürfte er bald wieder fit sein!"

Es lag in der Natur der Víla, das erst zu glauben, wenn sie es sah, jetzt, wo sie sich langsam beruhigt hatte. Im hellen Licht des eigenartigen Leuchtschwertes konnte sie den Fremden nun noch etwas genauer unter die Lupe nehmen. Die grauen, eng anliegenden Stoffhosen, die er unter der Tunika trug, verschwanden in seinen mit Eisenringen gefestigten Stiefeln, sie waren fast so braun wie seine wettergegerbte Haut. Tiefblaue Augen wachten über Maljus. Und dann konnte Sira auch noch etwas an dem Riemen erkennen: ein goldenes Cyclobol!

"Ihr… äh, ich meine, du bist also Exorzist?"

"Klar, oder seh' ich aus wie ein Mönch?", lachte er, "Dafür sind meine Hosen viel zu eng! Wenn ich mich vorstellen darf, ich heiß' Ludwig!"

"Ich bin Sira… sehr erfreut."

"Ah, und dieser junge Hüpfer, wie heißt der?"

"Das ist Maljus. Aber… was machst du hier unten überhaupt?"

"Na ja, wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich erst mal wissen wollen, was ihrüberhaupt hier treibt. Ich mach hier ganz einfach meine Arbeit, ich bin ans Kloster gekommen, um nach dem Rechten zu sehen." Er hockte sich im Schneidersitz hin, verschränkte die Arme und meinte künstlich bockig: "Ach, und jetzt hab ich nicht mal die Prinzessin gesehen, wo sie schon da war! Denn, wenn die noch hier wäre, hätten die Pfarrer euch ja nie im Leben reingelassen!"

Sira war so endlos glücklich darüber, dass Ludwig selbst Schlüsse zog, denn momentan hätte sie sich vermutlich wirklich verplappert und durchblicken lassen, dass Maljus und sie widerrechtlich hier waren - ganz zu schweigen von Alex, Craylo, dessen beiden Dolchen, Rio und Griselda.
 

Ich öffne langsam wieder meine Augen. Ich huste und würge, ehe ich mich schleppend erhebe, mir fest auf die Brust klopfend, und sehe mich nach einem halb-erstickten tiefen Luftzug ganz still und verdutzt um.

Mir ist schwindlig wie sonst-was, ich muss meinen Kopf festhalten, um nicht umzukippen.

Ich erkenne nach einiger Zeit Sira und erblicke dann auch noch einen gebräunten Kerl in dunkler Kleidung, der fröhlich feststellt: "Ah, siehst du, Sira, schon ist er wieder putzmunter!"

Sofort umkreist die Víla mich, wobei sie in einen erfreuten, sing-sang-artigen Redefluss verfällt: "Magna Mater sei Dank, Maljus, du bist tatsächlich wieder am Leben! Hast du dir was getan, ist alles in Ordnung, ist auch nichts gebrochen, ist dir schlecht, fehlt dir irgendwas?"

"… Ich… ich muss wohl weggetreten sein. Ich hab bloß gemerkt, wie ich auf irgendwas geprallt bin, mir ganz kalt wurde und dann… war alles schwarz.", stöhne ich. So ist das also, wenn man ohnmächtig wird…

Ich fühl mich schlimmer, als wenn Gart mich dazu überredet, mit ihm ein wenig von dem scheußlich brennenden Schnaps zu trinken, der in Welsdorf so beliebt ist und den Gart hin und wieder ergattert. Aber im Gegensatz zu dem Kater verfliegt dieser Kopfschmerz und das schwummrige Gefühl wesentlich schneller, bis es auf ein kaum spürbares Pochen reduziert ist. "Wo bin ich hier überhaupt… und… wer ist dieser Typ?"

"Ludwig ist dieser Typ, der dich vorhin mal kurz vor dem Ertrinken gerettet hat!", antwortet der Braunhaarige, nicht im Geringsten beleidigt, sondern viel mehr scherzhaft. "Du bist hier in einer schön weiten Höhle, direkt unter dem alten Tempel, junger Hüpfer! Kannst du von Glück reden, dass ich zufällig da war, als du von da oben runtergesegelt bist!"

"Ludwig ist ein Exorzist.", ergänzt Sira noch.

"Moment… das heißt… hier gibt's wirklich Dämonen?", will ich wissen. Schon wird mir doch wieder etwas flau in der Magenegend.

Ludwig zeigt auf das leuchtende Schwert neben sich und meint: "Ich will mal den Diabolus nicht an die Wand malen, aber ich fürchte, so ist es. Siehst du das Schwert? Es ist mein sogenanntes Lichtschwert, eine magische Klinge, die leuchtet - besonders gern tut sie das aber vor Allem, wenn sie irgendwo Dämonenauren aufnimmt. Noch leuchtet das Schwert nicht so stark, aber wenn du mal deine Hand dran legst…" Er packt, ohne zu fragen, meine Rechte und legt sie auf den Griff, in dessen Parierstange ein hellblauer, runder Edelstein eingearbeitet ist.

Überrascht bemerke ich: "Das… das Heft vibriert ja! Ganz schwach zwar, aber ich bin mir sicher, dass es geradezu bebt!" Ludwig nickt wissend.

"Ja, das ist ein weiteres Kennzeichen dieser Waffe. Sie wird angezogen von Dämonen und Umbramanten. Wenn sie ihnen ganz nah ist, schlägt sie fast eigenständig um sich."

Nachdem er aufgestanden ist, schlägt Ludwig vor: "Daher wäre es wohl besser, dass wir zusammenbleiben, wenn wir einen Weg nach draußen suchen."

"Aber Griselda und Rio sind noch hier!", rufe ich, kaum dass ich aufgesprungen bin. Der Braunhaarige legt den Kopf schief und fragt: "Freunde von dir? Sind die etwa auch heruntergestürzt?"

"Nein, nein, sie sind irgendwo oben, sie haben versucht mich festzuhalten, als der Boden unter mir nachgegeben hat!", beginne ich zu erzählen, "Wir haben eine Diebin verfolgt, die Griselda irgendein Kettchen geklaut hat! Eine rotgefiederte Harpyie!" Ich schaue zu Sira und frage erwartungsvoll: "Den anderen geht es doch gut, oder?"

"Ich denke schon! Aber ich bin sofort dir hinterher, nachdem du gestürzt bist!"

Ludwig, der sich mit einer Hand am Kinn entlang fährt, mischt sich wieder in das Gespräch ein: "Habt Ihr zufällig irgendwas dabei, was Euren Freunden gehörte?" Ich schüttele stirnrunzelnd den Kopf und stelle eine Gegenfrage: "Nein, wieso sollte ich?"

Ich bemerke ein unangenehmes Kratzen und Jucken an meinem Rücken. Ich kratze mich, stelle aber fest, dass da etwas ist und ziehe es schnell heraus. Ein wenig verdattert starre ich die rote Feder an. Die muss mir vorhin unter dieser muffigen Decke irgendwie reingefallen sein…

Kurz bevor ich das nervige Ding wegwerfe, schreitet Ludwig wie vom Skorpion gestochen ein: "Moment, behalt die mal lieber!"

"Wozu das denn? Ist doch bloß eine stinknormale Feder-"

"Du sagtest doch, die Harpyie sei rotgefiedert; also dacht' ich, das hier wird wohl ein bisschen vom Gewand dieser Elster sein. Stimmt's, oder habe ich Recht?" Ich kann mir immer noch nicht ganz vorstellen, worauf dieser etwas eigenartige Exorzist Ludwig damit hinauswill. Noch immer sehr argwöhnisch schaue ich den Menschenmann an.

"… Und weiter?"

Sofort kramt Ludwig in seinen Taschen, um ein kleines rundes Metallstück hervorzubringen. Es sieht wirklich edel aus mit seiner goldenen Legierung und dem blitzblank polierten Glas an der Oberseite. Es erinnert an einen Kompass, tatsächlich sitzt eine hauchdünne Nadel im Inneren. Die Außenseite ist mit verschnörkelten und wohl nur dekorativ wirkenden Linien verziert, während unter dem Glass in der Metallplatte auch eine Vielzahl runder Löcher zu sehen sind. Unter allen sind messingfarbene Rädchen, allesamt mit einem geraden Strich eingekerbt.

Ludwig öffnet eine kleine Klappe an der Unterseite des seltsamen Geräts, die einen winzigen, unscheinbaren Hohlraum preisgibt.

"Das hier, meine Freunde, ist ein sogenannter Reperens!", erklärt er voll Begeisterung und schnappt sich die Feder, um sie in die kleine Kammer zu pressen und die Klappe wieder zu schließen.

"Reperens?", wiederholt Sira, "Was soll das sein…? Ich hab das Gefühl, es schon mal gehört zu haben, aber mir sagt der Name nichts mehr."

"Und mir gleich drei mal nicht.", pflichte ich, der sich neugierig über das Kleinod beugt, bei.

Ludwigs Grinsen ist nicht zu verbergen. Er drückt voller Stolz einen winzigen Knopf, von dem all die Linien ausgehen und sofort ertönt ein eigenartiges Ticken und Klacken im Inneren des Geräts.

Er erläutert weiter: "Dieses winzige Ding ist wohl das größte mechanische Meisterwerk, das ihr je gesehen habt. Eigentlich ist es nicht bloß mechanisch, sondern teils auch magisch. Ich geb's zu, ich selber versteh auch nicht, wie genau das funktioniert, aber ihr werdet sehen, wie nützlich es ist."

Der Reperens rattert weiter, während sich unter den Löchern in der Metallplatte plötzlich die Messingteile rasant drehen, bis eins nach dem anderen stehen bleibt. Die meisten bleiben wieder bei der nichtssagenden Kerbe stehen, doch vier der Rädchen zeigen auf einmal kleine Buchstaben.

K O R A

"So heißt sie also, die Diebin…", sagt Ludwig, doch ich höre ihm kaum zu, denn auch die Nadel zeigt Aktivität. Vorher hat sie sich nie wirklich ausgerichtet, hat sich durch Schwerkraft und Bewegung in ihrer Lage bestimmen lassen, jetzt scheint sie stramm in eine Richtung zu zeigen und von dieser niemals lassen zu wollen. "'Kombass' nennt man den Reperens hin und wieder auch, er funktioniert ja ganz ähnlich wie ein Kompass, der immer den Weg nach Norden zeigt. Tja, dieses kleine Teil aber zeigt uns die Luftlinie zu einer bestimmten Person."

"Ah, ich glaube, ich erinnere mich!", fällt Sira ein, "An der Feder sind Aurenreste der Harpyie und somit kann der Reperens uns zur Hauptquelle führen!" Ludwig nickt wie ein alter Weiser, dessen Schüler endlich ihre Lehre zum krönenden Abschluss gebracht haben.

"Vollkommen korrekt. Jedes Wesen hat eine Aura und die lässt es gerne mal wo zurück… es ist quasi ein ganz spezieller Geruch, den man aber nicht so wirklich wahrnehmen kann - zumindest als Normalsterblicher, außer es sind ganz charakteristische, die sich einem wirklich aufdrängen… wie die gewisser Magier." Das ist zu schön, um wahr zu sein, finde ich. Da muss ich noch ein mal versichert werden: "Und dieses kleine Ding kann uns wirklich weiterhelfen?"

"Na ja, es gibt keinen echten Weg hier heraus an, sondern nur die Richtung, in der sich diese diebische Dame befindet… und wenn sie zu weit weg sein wird, oder die letzten Aurenreste sich von der Feder gelöst haben werden, wird der Reperens sofort aufhören, irgendetwas anzuzeigen. Und ihr wollt das Kettchen des Mädchens ja sicher zurück, also könnt ihr's ja wenigstens mal versuchen, oder?" Das überzeugt mich dann doch ein wenig. Dennoch spreche ich meine nach wie vor bestehenden Zweifel aus: "Hoffentlich finden wir aber auch genauso die anderen…"

Ganz leise flüstert Sira, nur für mich hörbar: "Das hoffe ich auch…"
 

III.
 

Noch düsterere Stimmung herrschte weit über ihnen.

"Sie sind beide nicht zurück…" Griseldas Stimme war nichts weiter mehr als ein kraftloses, unterdrücktes Schluchzen, als sie wie versteinert noch immer an dem Loch saß und schweren Herzens hinunter starrte. Die Feststellung war genauso aufmunternd wie zerschmetternd. Sie hatte es wieder geschafft, wenigstens die Fassung zu gewinnen, um etwas zu sagen, aber gleichzeitig war sie sich sicher, dass sie wohl gleich zwei ihrer Gefährten auf ein mal verloren hatte - nämlich die, an die sie sich gehalten hatte, von denen sie geglaubt hatte, dass sie so viel besser Bescheid wussten über die alte Legende und die Reise bereits genauestens geplant hatten.

Was sollte sie denn ohne sie tun?

"Meisterin Griselda, macht Ihr Euch Vorwürfe?", forschte Rio ohne das Anzeichen irgendwelcher Anteilnahme nach. "Falls die Antwort 'Ja' lautet, muss ich Euch sagen, dass es allein die meinige Schuld war. Mich verließ jäh meine Kraft…"

Über die Schulter hinweg sah sie ihn nur verschwommen. Ihre Lippen zuckten, die Zähne dahinter waren fest aufeinandergepresst und sie kontinuierlich am Zittern. "Das hätte ich nicht passieren lassen dürfen."

Er zwinkerte kein einziges Mal in der langen Pause, die entstand. Er schaute sie direkt an. Oberflächlich betrachtet hätte er wohl genauso kalt und stoisch gewirkt wie sonst immer, aber je länger sie ihn betrachtete, desto mehr konnte sie ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass er auch nicht unberührt geblieben war. Er versteckte es nur so gut, sagte sie sich.

"Was… was soll ich nur tun?", fragte sie ihn wimmernd.

"Was können wir denn tun?", erwiderte Rio, als stellte er sie auf die Probe.

"… Ich… ich weiß es doch nicht!", schrie sie ratlos, sich einem Heulkrampf hingebend. Ständig brachen einzelne Wortfetzen oder Satzteile aus ihren Schluchzern hervor, aber bis sie sich nicht wieder etwas im Griff hatte, konnte Rio nichts Genaues verstehen. "Ohne sie ist alles verloren! Ich weiß doch nicht, wo wir hin müssen…!"

"Weswegen wart Ihr unterwegs mit ihnen?"

"Das Schwert… das… das Schwert aus der Stätte… das heilige Schwert, wir wollten… wir wollten es ersetzen!" Sie weinte wieder, aber Rio bohrte nicht nach, auch nicht, was das grün leuchtende Wesen überhaupt gewesen war, dem Griselda genauso nachweinte wie Maljus; sondern er wartete geduldig ab.

War es geduldig? Oder doch nur eine versteckte Ungeduld, bis Griselda von selbst herausrückte, was sie meinte? Der Hexe war es egal, es war ihr auch egal, dass sie wohl ihren Schwur brach, als sie ihn einweihte: "Wir wollten die vier Wunder der Elementgöttinnen finden! Damit das Schwert, das den Umgedrehten König versiegelt hält, ersetzt werden kann! Damit Dyonix seine Pläne nicht umsetzen und sonst was mit Cardighna anstellen kann! Und jetzt… jetzt sind die beiden, die überhaupt etwas wussten… sie sind…"

"Meisterin Griselda, Ihr nehmt die Dinge zu schnell hin.", fuhr Rio ihr ruhig dazwischen, woraufhin sie ihn erschüttert anstarrte. "Bis Ihr sie nicht gesucht habt, werdet Ihr nicht aufgeben können… sie leben und sie sind tot - momentan stimmt das für uns beides, denn wir wissen nicht, was wirklich ist. Erlaubt Ihr mir, einen Vorschlag zu machen?"

"… Ich war Anweisungen nie abgeneigt…", entgegnete sie mit hauchdünner Stimme, "Sprich."

"Wir dringen weiter vor… wir suchen Eure… Freunde… und auch die Diebin, die Euch etwas ungeheuer Wichtiges gestohlen hat.", bot er an, ehe er mit aller Sänfte ihre zarte Hand griff und ihr hochhalf.

Noch immer waren ihre Augen feucht, aber langsam gab er ihr durch seine unerschütterliche Ruhe neuen Mut. Zaghaft nickte sie, hatte jedoch noch eine Frage: "Du… willst nicht erst wissen, was die Kette ist?"

"Ich bin nur ein Dienergeist - ich habe kein Recht, Euch auszufragen, Meisterin.", sagte er plötzlich, ganz konträr zu seinem Verhalten vorher.

Vom dominanten Berater zum unterwürfigen Diener - so schnell konnte er sich verändern, der Shikigami Rio de Dschahnero. Es entlockte der Hexe ein kaum erkennbares Schmunzeln. Irgendetwas gefiel ihr daran.

Sie ging mit ihm bis zu der alten, aber immer noch fest sitzenden Türe aus dickem Hydraholz, dem wohl langlebigsten und kostspieligsten, das in Cardighna zu finden war. Die eingeschnitzten, winzigen Mythen in Bildern sahen aus, als seien sie erst am vorherigen Tag gemacht worden.

Und Rio trat dagegen wie gegen einen lästigen Köter, der ihm nicht von der Pelle rücken wollte. Mehrmals drückte er seinen Fuß mit aller Kraft gegen die Pforte, die aber starrsinnig blieb und nicht im Geringsten nachgab.

"Warte, Rio…", sagte Griselda, nun vollends aus ihrer Apathie zurückgekehrt, "So wird das nichts, diese Tür ist zu stark. Entweder wir suchen einen anderen Weg, oder: wir benutzen unser Köpfchen!" Erläuternd tippte sie sich kurz an die Stirn und trat vor die Tür.

Ihre magische Kugel flackerte etwas und wieder merkte sie, wie ihre Kräfte eigentlich aufgebraucht waren, aber sie hielt sie aufrecht, um den dünnen Schlitz der Türe zu finden, hinter dem sich die Angeln verbargen. "Manche sagen, Hydraholz ist stärker als Stahl… nun, diese Angeln da hingegen sind sicher nicht mehr so neu. Vielleicht kannst du sie rausschlagen mit deiner Klinge."

"Das ist ein Befehl, oder?"

"Es ist ein Wunsch!", korrigierte sie, diesen Terminus immer noch nicht besonders mögend. Scheinbar war Rio auch damit zufrieden, denn er brachte sich in Position, nahm seinen Gladius und stieß ihn mehrere Male mit Ruck in den Zwischenraum. Erst schlug ein mal etwas Schweres auf dem Holzboden auf, dann noch ein zweites Mal und die Tür fiel sofort in das nächste Zimmer hinein, wobei sie eine dichte Staubwolke vom Boden fegte und in der Luft tanzen ließ.

Rio ging ohne Weiteres hindurch, ehe er auf mittlerem Wege stehen blieb und auf einmal Griseldas Hand ergriff mit der Erklärung: "Wenn die Böden in den anliegenden Räumen ebenso brüchig sind wie hier, ist Vorsicht geboten. Lasst mich Euch geleiten."

Mit eben jener Vorsicht führte er sie langsam weiter, immer probend, wo der Boden noch sicher zu sein schien, ehe er sie hinter sich her zog.

Besser orientieren konnten sie sich, als sie die äußeren Räume erreichten, in denen es keine leeren Fackelhalterungen gab, sondern Fenster, durch die schwaches Licht fallen konnte, bis hin und wieder ein Blitz alles in Helligkeit hüllte.
 

Sie kamen wieder ins Erdgeschoss und suchten von dort aus einen Weg zu dem Raum, in den Maljus gestürzt sein musste.

Rio hielt jedoch inne, als er neben dem ständigen Prasseln das Regens ein ähnliches Geräusch hörte. Als würden winzige, dünne Kettenglieder bewegt, Münzen wie Sand durch Hände rieseln…

Sofort zeigte Rio Griselda, dass sie keinen Mucks von sich geben solle, während er eine halb geöffnete Tür in Augenschein nahm. Auf Zehenspitzen wandelnd, schlich der Schwarzhaarige darauf zu. Wie dankbar er doch dafür war, dass hier der Boden aus festem Stein war, dessen letzte Tat es wäre, Holzdielen gleich zu knirschen und ihn vorzeitig zu verraten. Mit seinem Schwert in der Hand schaffte er es in das Zimmer, in dem es wieder unangenehm düster war. Dennoch konnte er deutlich die Umrisse der geflügelten Diebin erkennen, wie sie mit ihm zugewandten Rücken dabei war, einen Jutesack mit allerhand blitzenden Gegenständen aus einer alten Kiste zu füllen.

Rios Interesse für das Gold und die Geschmeide, die hier geraubt wurden, hielt sich in Grenzen, sie waren doch selber schuld, diese Geistlichen! Ließen alles stehen und liegen wegen ein bisschen Aberglaube!.

Der Groll, den Rio hegte, war ganz anderer Natur. Dieses freche, rotbehaarte Weib hatte seine Meisterin bestohlen und musste zur Rechenschaft gezogen werden! Und zwar unverzüglich!

Er machte einen Satz, als sie im Begriff war, aufzustehen und mit der Beute zu verschwinden, hielt ihr sofort die Klinge an den Hals und drückte sie ihr ins Fleisch. Er wollte sie nach hinten zerren, doch die Harpyie war geistesgegenwärtig genug, ihm den Ellbogen ans Kinn zu stoßen und seinem Griff kurzzeitig zu entfliehen, wobei er seinen Gladius fallen ließ. Er verbrachte keine Zeit damit, den leichten Schock zu verdauen oder seine Waffe aufzuheben, sondern stürzte sich ad hoc auf sie, riss sie nieder und rang mit ihr am Boden.

Griselda kam hinzu, beobachtete, wie die Harpyie mit den Klauen nach ihm schlug, ihm ein paar Kratzer im Gesicht beibrachte, während er sie schlug, immer knapp ihre Nase verfehlend.

Schließlich drehte er sie auf den Rücken, ihr die Arme auf selbigen und blieb auf ihr knien, während ihre Flügel aufgeregt schlugen. Nichts weiter als Schau, wie Rio wusste, weswegen er sich gar nicht erst davon ablenken ließ.

"Loslassen! Lass' mich los, du verfluchtes Langohr!", kreischte die Harpyie wie am Spieß.

"Nicht… nichts da, feiger Langfinger!", knurrte Rio. "Meisterin Griselda, ich habe das unerzogene Küken gestellt! Ihr könnt sie nun nach Eurer Habe durchsuchen!"

"Nur über meine Leiche!", schrie die Harpyie und versuchte mit ihren Beinen ihm in den Rücken zu treten, oder sich auf die Seite zu drehen, "Nimm deine widerlichen Hände von mir und geh von mir runter, du…!"

Mit einem weiteren Ruck schaffte sie es dann, schmiss Rio von sich und sprang auf, ehe sie selbst das Kettchen aus ihrer Hose zerrte und es Griselda gegen die Schläfe warf. Diese duckte sich mit einem kleinen Aufschrei und hob die Hände schützend. "Da habt ihr das verflixte Ding, ihr Kletten!"

Sie wollte sich erneut aus dem Staub machen, hatte bereits den Sack gegriffen, als sie das 'Ratsch' von einem Schwert hörte, das durch den Stoff gezogen wurde; postwendend das Prasseln und Rasseln des erbeuteten Schmucks und Goldes, das sich auf dem Boden verteilte. Rio rappelte sich nach vollendeter Tat auf, das Schwert auf sie richtend.

"So schnell kommst du mir nicht davon, Gesetzlose!"

"… Den Männern hier fehlen wirklich die nötigen Peitschenhiebe, damit sie endlich mal wissen, wann Schluss ist.", keifte die Harpyie, mehr zu sich selbst sprechend. "Muss ich dir erst die Augen auskratzen, damit du, die Hexe und der andere Kerl mich in Ruhe lasst?!"

"Welcher andere Kerl?"

"Verkauf mich nicht für dumm! Der andere Elf, der Blonde, der vorhin bei euch war!" Die starre Wut in ihrer Mimik löste sich etwas, kaum dass sie das Fehlen des Blonden bemerkt hatte. "… War der das etwa vorhin, der so geschrieen hat?"

"Das werde ich dir auch erzählen können, wenn ich dich in Ketten gelegt haben werde!", blaffte Rio sie an.

"Ich weiß gar nicht, was du willst, Mann! Tickst du echt so aus nur wegen dieses Kettchens? … Du bist doch selber genauso hier eingebrochen wie ich, oder wieso haste dich in der Abstellkammer rumgetrieben und versteckt?!" Ein süffisantes, schadenfrohes Grinsen trat in ihre Züge, während sie den lauten Gedankengang weiterspann. "Bist wohl auch ein Dieb, was? … Oder vielleicht auch nur hinter dem Wunder her?"
 

IV.
 

Mein Vertrauen in den Kombass ist bereits wieder erheblich gesunken, als wir endlich durch einen brachial in den Stein geschlagenen Stollen stapfen, der an die Kaverne mit dem See anschließt.

Natürlich hat uns die genaue Weisung in Richtung der Diebin sogleich zu einer soliden Wand gebracht, an der wir so lange entlang zu gehen hatten, bis wir auf einen Ausgang gestoßen sind - keine Sache von wenigen Minuten, sondern eher mehreren gefühlten Stunden.

Ist mir vorhin noch erstaunlich warm gewesen, hat mich mittlerweile die Kälte der Höhlen gepackt.

Dafür gibt Ludwigs Schwert nicht den Geist auf, sondern leuchtet stets hell und beinahe blendend wie die Sonne selbst, sodass wir wenigstens nicht im Dunkeln umherirren. Schwert und Fackel in einem, wirklich praktisch.

"Was seid ihr eigentlich so für Leute, dass ihr dieses alte Kloster aufsucht? Und dann auch noch den verlassenen Tempel, ich dachte, da wäre Zutritt untersagt?", löchert Ludwig uns währenddessen mit Fragen.

"Wir machen eine bloße Entdeckungsreise, mal ein wenig fremde Luft schnuppern, wie man so schön sagt.", lüge ich.

Ludwig nickt, den Blick stets nach vorne gerichtet, und fragt weiter: "Aha, und woher kommt Ihr? Hab schon ziemlich lange keine Víla mehr gesehen, aber Hochelfen sieht man ja alle Tage!"

"Ich bin aus Welsdorf und Sira-"

"Ich komme auch aus Welsdorf! Das ist ein ganz abgeschiedenes Dorf in den Wäldern, nicht weit weg vom Okeans!"

"Das muss toll sein, so nah am Meer zu wohnen.", meint Ludwig ein wenig schwärmerisch.

"Nun ja, ich war noch nie wirklich am Meer… deswegen mach ich diese ganze Reise ja auch, wie gesagt, andere Luft schnappen und sowas.", erkläre ich etwas kleinlaut, während Ludwig lacht: "Kann ich mir vorstellen, dass es in so einer Gegend irgendwann zu langweilig wird! Aber du siehst mir ein bisschen jung aus für so eine Reise, Maljus. Du scheinst ja noch nicht mal den berühmten zweiten Wachstumsschub der Elfen erreicht zu haben, nicht wahr? Was haben denn deine Eltern gesagt?"

Mir wird mulmig zumute, dieser Mann ist nicht so dumm und kauft uns diese Geschichte so einfach ab nach dem Motto 'Ach, wie schön', sondern harkt genauer nach - oder er ist bloß eine Plaudertasche und mag es, tief unter der Erde mit dahergelaufenen Beinahe-Verunglückten wie uns zu palavern.

Ich seufze, lasse mir etwas Zeit mit der Antwort. "Nun… meine Eltern sind tot."

"… Oh, 'tschuldige, das war etwas indiskret, fürchte ich."

"Nein, schon gut, so nahe geht mir das nicht. Ich kann mich nicht mal an sie erinnern." Ich plane, mich geschickter herauszumogeln: "Aber sag mal, Ludwig, was ist mit dir? Wo bist du her?"

"Wo ich herkomme?" Er kratzt sich am Kopf. "Puh, das ist so lang' her… wie hieß der Ort denn noch gleich…? Ah, Hotwürüsch, lag jenseits der Wüste."

"… Lag?" Wie gibt der denn bitte seine Antworten?

Der Braunhaarige erwidert bloß: "Na ja, ich war so lang' nicht mehr dort, wer weiß, ob's das Dorf überhaupt noch gibt!"

"Na, so lange kann das aber auch nicht her sein!", hakt Sira da altklug ein, "Mit allem Verlaub, aber du bist doch auch noch lange keine dreißig Jahre alt!" Ludwig hat darauf nichts weiter zu entgegnen als ein heiteres Lachen und ein gleichzeitiges Achselzucken.

Etwas leiser und wohl nur seine Gedanken aussprechend meint Ludwig: "Hach ja, schon verrückt, wen man so alles trifft auf Reisen."

Wieder lauter will er nun explizit von Sira ein paar Sachen wissen: "Aber nun muss ich doch auch mal meine jahrelange Neugier befriedigen: Ich hab so selten eine Víla gesehen und noch seltener eine, die sich überhaupt auf ein Gespräch mit mir eingelassen hat. Darf ich dich ein wenig ausquetschen, wie ihr denn so lebt?"

"Meinetwegen…?" Sira wirkt ein wenig überrumpelt, geschmeichelt genauso, wie sie bekundet: "Es ist ja nicht jeden Tag so, als ob man einen so interessierten jungen Mann trifft!"

Ich verdrehe bei diesem Spruch die Augen, wirft sie mir da indirekt etwas vor? Wer dich mal wirklich erlebt hat, wird sich hüten, dich nach deiner Kindheit oder dergleichen zu fragen, denke ich, wobei ich heilfroh bin, dass Sira keine Telepathikerin ist. Sonst hätte sie gleich wieder gezetert, nicht zuckersüß erzählt: "Wir Víly sind eigentlich schon immer etwas abgeschiedener gewesen von anderen Völkern… ein bisschen wie die Titanen früher. Wobei… ich habe Geschichten gehört, die sagen, wir seien vor vielen Jahrhunderten noch eng befreundet mit den Elfen gewesen und hätten zur Zeit der Imperatores Albae ihnen stets mit Ratschlägen zur Seite gestanden."

"Stimmt es, dass ihr aber nie wirklich das Stadtleben, das die Elfen mittlerweile angenommen haben, gemocht habt?"

"Meine Familie hat immer gesagt, dass man den eigenen Lebensraum bedroht sah, damals als die Hochkulturen entstanden und sich die Zweibeiner die Wälder untertan machten."

Sira wird sehr nachdenklich, als sie das sagt, und muss ihre Gedanken erst ordnen. "… es stimmt, dass die Zahl der Víly im Lauf der Jahrhunderte immer weiter gesunken ist, aber ich will niemanden dafür verantwortlich machen - ich selbst habe mich ja daran gewöhnt, nicht im Wald zu leben."

"Hm, das ist komisch, grad eben sagtest du doch noch, du wärst aus Welsdorf, diesem abgelegenen Dorf in den Wäldern."

Ertappt!

Sira und mir entgleiten gleichzeitig die Züge, als wir erkennen, wie geschickt Ludwig uns da überprüft und auffliegen lassen hat. Nur ganz dezent triumphierend ist das Grinsen, mit denen er zu uns sieht, seine Schritte etwas verlangsamend. "Mich legt man halt nicht so einfach rein - ich seh' das den Leuten an der Nasenspitze an, wenn sie mich für dumm verkaufen wollen."

Was, wenn er uns nun kaltherzig in Ketten legen, oder mit den magischen Fesslungspapieren, die manch ein Dämonenjäger verwendet, umwickeln und uns schnurstracks bei den Wächtern abgeben wird?!

Ich bin stehen geblieben, so kalt ist ihm mit einem Mal wieder geworden, doch mein Gesicht fühlt sich kochend heiß an.

Ludwig hält ebenfalls inne und dreht sich nun vollständig zu uns beiden um. Er lässt das Lichtschwert uns direkt anleuchten. An seiner freundlichen Miene hat sich nichts geändert. "Was ist, hat euch das so umgehauen?"

"… Willst du denn jetzt nicht die Wahrheit wissen?", frage ich verdattert. Sira wirft mir einen wütenden Blick zu.

"Kommt drauf an - kann man mir das denn anvertrauen?" Er zwinkert geheimnisvoll. "Wenn Ihr's mir nicht erzählen wollt, muss da ja mehr dahinterstecken… und je nachdem, was es ist, werd' ich euch einsperren oder ein Geheimnis bewahren müssen. Also, überlegt's euch - hier rausführen muss ich euch ja so oder so!" Leise lachend geht er wieder weiter, wobei Sira und ich uns verwundert anstarren. Nimmt der das Ganze überhaupt ernst, oder hüllt er sich selber in irgendwelche Geheimnisse, die wir nicht mal im Traum erahnen können? Achselzuckend beschließe ich, auf der Hut zu bleiben und dem Mann nur noch in einigem Abstand hinterherzulaufen.
 

V.
 

Anderswo schienen genauso Geheimnisse langsam offengelegt zu werden. Denn erbleicht ob ihres Schockes musste Griselda wissen, ob sie sich nur verhört hatte, ob die Harpyie wirklich um das Wunder wusste.

Diese deutete mit Hohn ihre Miene, als sie anmerkte: "Du brauchst mir gar keine Antwort mehr zu geben, kleines Hexchen. Ich hab mitten ins Schwarze getroffen."

"Woher… woher weißt du davon?!", schrie Griselda. Sie wäre beinahe zusammengesackt, als sie zurückgetreten war und um Haaresbreite auf einem großem Kiesel eingeknickt wäre.

Für sie war Rio nicht mehr da und der Regen war verstummt, inmitten des Dunkel des Raumes waren bloß sie und diese suspekte Harpyie, vor der ihr jetzt fröstelte, als flößen ihr Mut und ihr Selbstvertrauen aus ihrer Haut und richteten dabei alle Härchen auf. "Du… du gehörst zu Dyonix, nicht wahr?!"

"Zu wem?", fragten Rio und die Harpyie wie aus einem Munde. Es folgte ein verdutzter Blickwechsel zwischen den Beiden und niemand wusste so recht, was zu sagen war. Jeder wartete, dass jemand anderes den ersten Schritt machen würde, doch das tat niemand.

In Griseldas Ohren hallte nach einiger Zeit der Regen wider, nervös schaute ihr Augenpaar mal zu Rio, dann wieder zu dem Rotschopf, die beide ähnlich unsicher den anderen Blicke zuwarfen.

Letztlich aber beschloss Rio, dem ganzen ein Ende zu setzen: "Du wirst uns wohl Rede und Antwort stehen müssen, kleine Diebin!"

"Ach, und wieso das, Spitzohr?"

"Sonst wird es Zeit, dass du büßt! Du Unholdin hast meiner Meisterin genug Unglück beschert!"

"Büßen?", erwiderte die Rothaarige keck eine Frage, "Wieso? Etwa, weil das hier ein Kloster ist? Oh, so viel Buße tun diese Mönche sicherlich auch nicht, wie du es dir denkst! Alles, was sie tun, ist einen uralten Schatz zu bewachen, der bald nach Meskardh wandern wird!"

Nachdem Griselda wieder zu etwas Selbstsicherheit gefunden hatte, folgerte sie: "In die östliche Wüste?"

"Gibt es ein anderes Meskardh?", meinte die Harpyie schnippisch.

"Das Meer der gesetzlosen Vögel…", murmelte Rio derweil, seine Augen weiter verengend, "Du bist also ein Abkömmling irgendeines Räuberstammes von Meskardh. Muss ja ein wirklich wertvoller Schatz sein, wenn du bis hierher gekommen bist!" Kampfbereit spie er seine Worte nur so aus.

"Wenn sich schon kein Pfaffe an den Wundern gesundstoßen will, muss es eben eine Harpyie wie ich tun!", lachte die Wüstendiebin.

Sie stellte sich etwas breitbeiniger hin und straffte ihre Haltung. Im selben Moment packte Rio sein Schwert wieder fester und starrte sie streng an.

"Ach, und du denkst wir lassen dich das so einfach machen?"

"Man hat's ja mal versuchen können!", gab sie ihm weiterhin Kontra, wobei sie ihn agrwöhnisch anfunkelte und bereits ihre Klauen bereit hielt.

Griselda meldete sich geballter Fäuste und lauter Stimme zu Wort: "Du gehst nirgendwo hin, ehe du uns nicht verrätst, woher du von den Wundern weißt und wieso du hinter ihnen her bist! Ich bleibe dabei, dass du eine Spionin Dyonix' bist, also stell dich nicht dümmer, als du bist!"

Auch dieser unterschwelligen Drohung konnte die Diebin nur mit einem müden Grinsen begegnen.

"Ich bleibe dabei, dass ich keinen Dyonix kenne, Ignis drei mal verdammt! Aber wenn's dich so glücklich macht, Kleines, dann verrat' ich dir eben, dass Meskardhs Sanddünen mehr Legenden und Prophezeiungen hergeben als jede eurer schönen Bibliotheken außerhalb des Dünenlands!"

"Ach, und was sagen diese Legenden, dass so eine kleine Gaunerin wie du angekrochen kommt?!" Noch ein mal stutzte das Harpyienmädchen, ihre Augenbrauen zogen sich verwundert zusammen. Vorgeschobener Unterlippe bemerkte sie: "Wüsst' ich's nicht besser, würd' ich vermuten, du hast keine Ahnung von den Wundern. Noch nie von dem sagenhaften Metallum Impristinii gehört?" Rio und Griselda blinzelten, der Dunkelelf warf seiner Meisterin einen fragenden Blick zu und postwendend kramte die Hexe in ihrem Gedächtnis. Impristinium… was war das doch gleich?, fragte sie sich selbst fieberhaft und drückte gedankenverloren mit ihrem angewinkelten Zeigefinger gegen ihre Unterlippe.

Da! Nun fiel es ihr wieder ein. Das Impristinium, die Kurzform des Begriffes Imperium Lucis pristinum - dem Reich der Götter, welches einst der Lichtgott Lux beherrscht hatte. Jenseits der kargen Finsternis, dem Totenreich, das Mors sich vor Äonen beugte, sollte es dem dritten Buch der Libris Confessionis nach liegen, eine weiß-scheinende Aue rund um einen klaren, perfekt kreisförmigen See, an dessen Ufer die Götter verweilten und über die Sterblichen wachten.

Doch die Sterblichen gab es noch gar nicht, als Lux noch dieses Paradies, wo die Früchte der Bäume groß wie Titanen werden mochten und das Ambrosia geerntet wurde, beherrschte. Den Tod gab es nicht, es gab keine Gestirne, sondern nur die fruchtbare Erde, Terra, den Gebieter der Urkälte Frigus, den Herrn des Lichten und Warmen Lux, und letztlich die Fürstin alles Unordentlichen und Verworrenen, Chaos.

Griselda bemerkte gar nicht, wie sie im Geiste die Zeilen des Schöpfungsmythos' rezitierte.
 

Und siehe, es tobte gar immer ein Kampf, denn eine gönnte dem anderen nicht das Zepter. Die Chaos war ein garstiges Biest und mit dem Lux trug sie unzählige Schlachten aus. Keiner von beiden mochte ruhen, ehe nicht der Streit beigelegt sei und Erd und Frost verblieben stumm, belasteten sich nicht mit Dingen außerhalb ihrer Sphären.

Jedoch, wer nicht rastet, verkümmert. Und siehe, es unterlag der Lux nach so vielen Ewigkeiten und als er stürzt' zu Boden, sein Leib zersprang in Tausend und Abertausende von Lichtern, Sol, Luna und die Sides, die kein Mann zählen mag, egal wie viel Zeit Tempus ihm gewähren wird, bevor der Mors ihn holen wird.

Chaos hatte gesiegt und feierte. Und da sie feierte, nahm sie sich den Frigus zum Mann und gebar ihm Kinder, die alle ihren Eltern glichen. Wirr und kalt waren sie, die Frigiden, die da heißen Aqua, Anima und Nox. Und-
 

Griselda brach ab, jetzt war doch nicht die Zeit, sich irgendwelcher Predigten und Gottesdienste zu entsinnen! Sie festigte den Blick erneut und wollte von der Harpyie wissen: "Das Metall des Paradieses?"

"Schnell erkannt!", lobte die Rothaarige zynisch, "Vielleicht helfe ich deinem Verstand ja etwas auf die Sprünge, wenn ich dir sage, das dieser wertvollste Stoff auch einen anderen Namen trägt: Oreichalkos."

Der Groschen war gefallen, doch Rio schnaubte nur belustigt: "Du glaubst dieses Ammenmärchen vom Oreichalkos? Diebe glauben wohl jeden Stuss, wenn es um Geld geht."

"Das sagt mir der Wachhund einer kleinen Hexe, die genauso hinter den Wundern her ist, wie ich? Willst du mich verarschen, kleiner Schattenelf?"

Die gelben Augen des Alba Occulta weiteten sich und wutentbrannt machte er einen gewaltigen Schritt auf sie zu. Blitzschnell sprang sie zurück, breitete ihre Schwingen aus und blieb flügelschlagend vor den beiden in der Luft stehen.

"Oh~, stimmt ja, das nennt man ja heute nur noch 'Dunkelelf'. Hab' wohl einen Nerv getroffen."

"Warte nur, bis ich dich aus der Luft hole!"

"Nein!", schritt Griselda sofort ein, "Erst habe ich noch ein paar Fragen! Wenn du so viel über die Wunder und das Oreichalkos weißt, werden die Legenden doch sicher auch noch von einem ganz anderen Nutzen gesprochen haben, oder?"

"… Was? Oh~, jetzt verstehe ich… ihr redet von dieser Prophezeiung über diesen komischen Typen aus dem Süden. … Und dann werft ihr mir vor, auf den Kopf gefallen zu sein."

"Es ist wahr!", schrie Griselda.

"Nun, gut zu wissen dann.", lachte die Harpyie, "Dann staub ich nicht bloß ein wenig Reichtum ab, wenn ich mir die Wunder unter den Nagel reiß!"

"Du denkst, wir lassen dich so einfach gehen?!" Rio stellte sich in den Eingang.

Die Diebin sah sich um und registrierte, dass die Fenster mit schweren Gittern bestückt waren. Ein leiser Fluch auf Meskardhisch verließ ihre Lippen, aber davon ließ sie sich nicht aus dem Konzept bringen. Großspurig verkündete sie: "Seid mir lieber dankbar! Nichts für ungut, Schwester, aber deine zwei Spitzohrliebhaber sind für so eine Mission nicht geschaffen, dafür nehme ich mich der heiligen Aufgabe an, das Unheil abzuwenden! Ab sofort bin ich die Prophezeite Kora!"

Sie schoss im Sturzflug auf Rio, der, sich der Situation sofort gewahr, schnell mit dem Schwert zustieß. Kora vollführte eine windschnelle Drehung, umging den Angriff und rempelte Rio beiseite. Sie entkam!

"Halt, bleib hier!"

"Keine Zeit, ich muss die Welt retten!" Gackernd machte Kora sich aus dem Staub.
 

VI.
 

Mit dem Aufstoßen der großen Flügeltüre aus Metall erschließt sich uns ein achteckiger, großer Raum im hinteren Flügel des Sakralbaus. Er ist mit prächtigem Marmor ausgelegt und umfasst einen ganzen Turm. Die Wände erstrecken sich weit nach oben und viele Fensterreihen, in die buntes Glas eingesetzt worden ist, lassen großzügig Licht einfallen - genauso wie die Löcher im Gemäuer hier und da, die gut und gerne auch mal ein ganzes Fenster umfassen.

Anhand der verstaubten Holzbänke samt Ablagestellen für Gesangsbücher und Glaubensschriffen, die neben dem alten, grünen Teppich stehen, auf dem wir entlanglaufen, deute ich, dass dies das ehemalige Predigtzimmer sein muss. Direkt gegenüber der Türe führt eine teppichbelegte Treppe zu der untersten von drei Emporenreihen. Die oberste ist kaum noch zu erkennen, viele Stellen sind von herausgebrochenen Mauersteinen mitgerissen worden und aus ihren Verankerungen gerissen, überall liegen Holzsplitter und verbogene Geländer verteilt.

Ich schlucke nervös, als ich merke, wie sich mir der Hals zuzieht. Das erinnert mich nur zu gut an meinenSturz.

"Nicht mal den Altar haben sie in Sicherheit gebracht…", murmelt Ludwig und deutet mit der Spitze seines Schwertes zu dem intarsiengeschmückten Triptychon, in das jemand in tagelanger Kleinstarbeit dünn hervorstehende Lobpreisungen der Gottesmutter eingeschnitzt hat. Es ist ein Jammer, dass das Kunstwerk auch vom Zahn der Zeit angegriffen worden ist. Hier und da sind Ecken abgebrochen, herabfallender Schutt hat die Figuren des dargestellten Bildes zerkratzt, Holzwürmer haben ihren Weg in die Vertäfelungen gefunden und die Staubschicht auf dem Holz ist mehrere Zentimeter dick.

"… Und die Leute, die erst kürzlich hier waren, machen sich wohl auch wenig aus solchen Dingen.", merkt er dann noch an. Auf unsere fragenden Blicke hin zeigt er nun auf den Teppich der Empore. So schmutzig das Grün auch geworden ist, der Dreck ist so wunderbar dick, dass er fast passgenau die Spuren diverser Schuhe abzeichnet.

"Ich würde vermuten, dass Ihr damit mich meint, mein Herr.", entgegnet da plötzlich eine Stimme.

Ich wirble herum, diese Stimme kenne ich doch! Überglücklich bin ich, bis ich das Mädchen sehe, das von der mittleren Empore zu uns kommt. Es trägt ausgesprochen edle Kleider, bestehend aus einem eng-sitzenden schulterfreien roten Oberteil, welches mit Rüschen und einer weißen Kunstrose in der Mitte der Brust geschmückt ist, und einem schwarzen, weitläufigen Rock. Die weit auslaufenden Ärmel sind oben aufgebauscht und mit hübschen Schleifen festgesurrt. Letztlich trägt die junge Dame noch einen roten Hut, mit Seide und Perlen bestückt, sowie herabhängenden Kettchen, an denen umgedrehte Herzen von der geschwungenen Krempe baumeln.

Das zerbrechlich schöne Mädchen macht einen gelungenen Knicks vor uns.

"Guten Tag, meine Herren, ich bin Selet von Ardsted."

Träum' ich, oder wach ich? Ich bin immer noch baff, dass das Gesicht der Dame dem einer ganz bestimmten Hexe ähnelt.

Aber Selets Blick ist anders und ihr Haar, diese ungebändigte braune Haartracht, die ihr bis zu den Hüften reicht, ist auch völlig anders als die glatten, zusammengebundenen Silbersträhnen Griseldas.

Ludwig derweil verbeugt sich vornehm und schnell tu ich es ihm nach. Fast hätte ich vergessen, dass ich nicht irgendwen vor mir habe - und egal, was Gart je gesagt hat, ich halte mich lieber an Alids Weisheit, dass es unanständig ist, eine Frau so indiskret anzustarren... obgleich sie sehr gut aussieht.

Sira ist hinter mich gewichen, sobald sie die Prinzessin gesehen hat, und klettert nun langsam zurück in ihr übliches Versteck.

Ludwig wirft mir einen seltsamen Blick zu, ehe er zur Prinzessin sagt: "Dies ist aber kein Ort für Euresgleichen, wisst Ihr das? Hier soll nicht nur allerhand Ungeziefer hausen, sondern auch der ein oder andere Dämon."

"J… ja doch, Herr Exorzist." Zum Dahinschmelzen… argh, was denk ich denn da, zum Bewundern ist jetzt keine Zeit!

"Oh, Verzeihung, ich habe mich gar nicht vorgestellt! Ludwig heiße ich, zu Euren Diensten!" Er legt noch eine Verbeugung hinterher, in die ich sogleich einstimmte, nachdem ich mit einem Räuspern gesagt habe: "Und ich heiße Maljus. Ich, äh… bin sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, Eure Hoheit, und bitte untertänigst um Verzeihung!"

"Jetzt übertreib's aber nicht, du Schleimer…", zischt Sira mir ins Ohr.

"Seid Ihr ebenfalls ein Exorzist? Ich sehe gar kein Abzeichen, doch eine Waffe tragt Ihr in so jungem Alter schon."

Ich stelle mich gerade vor ihr hin und versuche, so stattlich vor ihr zu stehen, wie ich es aus dem Stegreif beherrsche. Meine Arme hinter dem Rücken verschränkt und die Brust rausstreckend erwidere ich: "Nein, ich bin kein Exorzist, lediglich ein… ein Reisender!"

"Ein ganz schön neugieriger…", ergänzt Ludwig und wirft mir wieder diesen missgünstigen Blick zu, "Hoheit, diesen Burschen fand ich in den Tiefen dieses Gemäuers und anfangs dachte ich noch, er sei ein Klosterbesucher. Doch wenn Ihr noch immer hier seid, muss auch das Tor für Unbefugte noch immer verschlossen sein."

Er packt mich auf ein mal am Kragen. "Und das bedeutet für dich wohl ein paar Tage Arrest, du kleiner Einbrecher!"

"Oh, bitte, führt ihn nicht sogleich ab, Ludwig!", bittet Selet da auf ein mal.

Der Exorzist ist 'ein wenig' platt. "Ihr beiden Herren seid die einzigen hier außer mir! Ich verirrte mich, als ich in tumber Wissbegierde diese Hallen betrat, und nun traue ich mich kaum zurückzugehen! Würdet Ihr mich nach draußen begleiten?"

"Natürlich!", willige ich sofort ein, aber Ludwig sieht ihre Bitte kritisch: "Vertraut Ihr darauf, dass der Junge keine Dummheiten anstellen wird, wenn ich ihn wieder loslasse?"

"Nun hör mal, ich hab auch nichts getan, als ich dir ganz normal gefolgt bin!", wehre ich mich, ohne auf die Antwort der Prinzessin zu warten, welche den Streit mit schüchterner Miene beobachtet.

Bloß weil ich zugegebenermaßen wiederrechtlich eingedrungen bin, heißt das noch nicht, dass ich ein notorischer Spitzbube bin!

Ludwig erwidert nichts mehr und sieht zu Selet. Sie nickt still, also setzt er mich wieder ab, woraufhin ich erleichtert aufatme - und gleich von der Víla einen Denkzettel verpasst bekomme: "Sag mal, was wird denn das?! Wir wollten doch Rio und Griselda suchen!"

Ich kann nichts entgegnen, denn Ludwig widmet sich der nächsten Frage: "Gut, wisst Ihr denn noch ungefähr, woher Ihr gekommen seid, Hoheit?"

"Oh, selbstverständlich! Bitte folgt mir, Ludwig und Maljus." Ich hätte mich am liebsten weiter hinten gehalten, um mit Sira in Ruhe reden zu können, doch Ludwigs aufmerksame Augen schieben mich geradezu in die Mitte des Dreiergespanns.

Ich stecke wirklich in der Zwickmühle… einerseits ist Ludwigs Kombass das Einzige, was mich möglicherweise zu den anderen führen kann, andererseits ist Ludwig ja jetzt genauso damit beschäftigt, Selet zu eskortieren, und scheint mir jetzt wesentlich weniger freundlich gesinnt als vorher. Wie seltsam, dass er erst jetzt echtes Misstrauen gegen mich hegt, er hat doch schon herausgefunden, dass wir ihn bereits einmal anzuflunkern versucht haben.

Aber ich hege auch Hoffnungen: Wenn dies die Prinzessin ist und ich es schaffen kann, mich mit ihr gut zu stellen, werden wir ein gewaltiges Ass im Ärmel haben! Bestimmt kann ich Selet von Dyonix' Plänen erzählen! Sie muss ihn kennen und über sie hätten wir leichtes Spiel, den Consultor Maximus unschädlich zu machen! Sie wird uns bestimmt dabei helfen, wenn sie erst einmal von den Machenschaften des Beraters erfährt!

Selet führt uns hinauf zur mittleren Empore und dort an der Balustrade entlang in Richtung einer weiteren Metalltüre. Sie ist verschlossen und als das Mädchen sich dagegenstemmt, rührt sie sich keinen Millimeter. Sie braucht gar nicht erst: "Ach, würdet Ihr mir bitte zur Hand gehen und die Türe öffnen?" sagen, ich bin sofort bereit, ihr zu helfen!

Ich will mich gerade an der anderen Türe des Doppelportals versuchen, als ein helles Gleißen direkt vor meinem Gesicht auftaucht. Erschrocken schreie ich auf, werde geblendet und spüre einen feinen Schnitt in meiner Wange, der so plötzlich kommt, dass er mich zurücktaumeln lässt.

Ich pralle rücklings gegen die Prinzessin, die gerade noch einen spitzen Schrei ausstößt, als sie das weiße Leuchten im Rücken trifft und vor die Tür stößt.

Als hätte ich nicht schon genug Leuchten gesehen, erfüllt augenblicklich ein hell-gelblicher Schein den Turm, während sich aus dem Dreck des Bodens mehrere lange Tücher, beschriftet voll kryptischer Zeichen, und hell wie das Tageslicht erheben und blitzschnell die Prinzessin an Ort und Stelle fesseln. Sie schnüren sich eng um ihren Körper und nehmen ihr jede Bewegungsfreiheit. Mir stockt der Atem vor Schreck.

"… et coniuge…", murmelt da jemand. Das durch den Raum flitzende Stück Licht wird langsamer und schwebt direkt zu Ludwig.

Ich bin ganz von den Socken, Dutzende von Lücken sind auf ein mal in dem leuchtenden Schwert und langsam erkenne ich, dass das seltsame Projektil, das mich geschnitten und Selet in eine Falle gestoßen hat, offensichtlich die fehlenden Stücke sind, die sich nun perfekt wieder in die Aussparungen einordnen!

Dieser Mistkerl!

Ich habe noch nie so schnell gezogen wie in diesem Moment, da ich aufgeregt brülle: "Was hast du getan?! Bist du übergeschnappt?!" Abwechselnd schaue ich zu der zappelnden Selet und dem sich nähernden Ludwig, der hastig einwendet: "Halt, lass mich das erklären, sie-"

"Erklären?! Du willst mir erklären, wieso du sie gerade in eine Falle gestoßen und mir fast die Nase abgeschnitten hättest?! Du-"

"Solve!"

Ich stocke in meinem Zorn, als sich wieder kalter Stahl gegen meine Haut presst, wie schnell ist Ludwigs Lichtschwert denn?!

Er schüttelt ächzend den Kopf. "Wenn du endlich ruhig bliebest, könnte ich vielleicht erklären, was hier abgeht."

"Einen feuchten Dreck werd' ich tun!", zische ich den Mann unverwandt an.

"Dir ist klar, dass ich dir einfach so mit einem Wimpernzucken die Kehle durchschneiden könnte, oder? Wenn du ruhig bleibst, ruf' ich das Fragment zurück!"

Schöner Mist, ich bin schutzlos ausgeliefert. Zähneknirschend gebe ich mich geschlagen und schiebe mein Schwert langsam zurück. Genauso langsam entfernt sich das schwebende Stück Klinge wieder und fliegt zurück zu seinem Meister. Ludwigs Züge werden etwas weicher und er läuft nun zu mir, während ich überlege, wie ich die Situation doch noch zu meinen Gunsten wenden kann.

"Na also, geht doch. Weißt du, was das da ist, worauf diese 'Prinzessin' gerade getreten ist? Die nennen sich Fesslungspapiere, lange, geweihte Streifen, die sich um Unwissende schlingen, wenn sie auf sie treten. Viele und fast nur Exorzisten benutzen die Dinger…"

Kurz schweigt er und fährt umso ernster fort: "Aber ich nicht."

"Und was soll das heißen?! Dass du Selet zufälligin diese Falle dirigiert hast?!"

"Geht schnell weg von ihm, Maljus!", ruft Selet derweil verzweifelt aus dem Hintergrund.

Ludwig ignoriert sie und bleibt locker: "Na, besser als wenn derjenige jetzt in dieser Falle säße, für den sie ursprünglich gedacht war."

Ich vergesse meine Wut kurz, starre wieder die mitleidig dreinguckende Prinzessin an und kann spüren, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Nein… er will mir doch nicht sagen, was ich denke, dass er es meint?! "Ich seh' dir richtig an, dass du verstanden hast. Ich träume zwar auch schon, seit ich ein kleiner Junge war, davon, mal eine Prinzessin aus irgendeinem Gemäuer zu retten, aber das hier wirkte doch etwas zu märchenhaft. Das Mädchen hier wollte uns auf eine etwas andere Art fesseln!"

"Glaubt ihm kein Wort, Maljus, der Mann ist dem Wahnsinn verfallen!" Tränen treten in Selets tiefbraunen Augen. Herzzerreißend schluchzt sie: "Haltet Ihr mich etwa auch für eine falsche Schlange, Maljus?!" Tiefe Verzweiflung und Todesangst schwingen in ihrer bebenden Stimme mit, ich bekomme zunehmend Gänsehaut.

"Sag etwas, Maljus… bitte…", jammert das Mädchen.

"Ob ich dich für eine falsche Schlange halte…? … Nun-" Ich bin so aufgewühlt… nein, das kann doch nicht sein! Warum sollte sie das denn tun?! Was hätte sie davon?!

"Lass dich nicht einlullen, Maljus!", ruft Ludwig und nähert sich dem Mädchen.

"Und zwar von ihm!", verlangt Selet.

Oh, hört endlich auf, auf mich so einzureden, ich begreife nichts mehr!

"Wenn du mich fragst, ist sie ein D-" Ludwig kommt nicht dazu, zu Ende zu sprechen, denn zu seinem Schrecken sieht er, wie das Leuchten der Fesslungspapiere aufhört. "Verflucht, das ist nicht gut!"

Er rennt zu Selet, hat sie fast erreicht, da zerreißen die grau gewordenen Papierstreifen. Die Prinzessin springt in die Höhe und befördert Ludwig mit einem einzigen Tritt gegen die nächste Wand, wo dieser bewusstlos zusammensackt. Das lässt mich nun doch mein Schwert ziehen, wenn auch nur zögernd. Wie… wie kann ein Mensch denn solche Kräfte besitzen?! Sie ist also doch die Übeltäterin?!

"Du… du bist ein Monster!"

Sie lacht mich nur aus: "Ein Monster? Wegen dieses Angriffs? Oh, das war doch gar nichts!" Sie verzieht die Lippen zu einem unheimlich breiten und bösen Grinsen, das nicht mehr normal ist. Ein ominöses Zischen verhallt neben dem leisen, abnehmenden Prasseln des Regens.

Ich kann sie kaum ansehen!

"… Du bist niemals im Leben Prinzessin Selet!"

"Nur weil ich dich gerade gefangen nehmen wollte, kann ich also unmöglich Selet sein?" Seufzend zuckt sie mit den Achseln. "Und dabei dachte ich, du hättest etwas mehr Grips vorzuweisen." Es zischt noch ein mal, als sie sich beugt, um ihren herabgefallenen Hut aufzuheben, und den gröbsten Dreck aus ihrem Rock klopft. "Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich Selet von Ardsted bin, Maljus!"

Sie macht eine kurze Pause, um ihren siegessicheren Moment voll auszukosten, wobei ihre Hand auf ihrem Schlüsselbein ruht. Schelmisch grinsend fragt sie: "Oder kann hier jemand das Gegenteil beweisen?"

In mir kocht die Wut und kaum habe ich noch mal zu dem blutenden Ludwig geschaut, scheine ich wirklich von innerem Feuer zerfressen zu werden. Ich bin nicht bloß schon wieder in einen Hinterhalt geraten, sondern kann mir auch abschminken, dass dieses Mädchen mir helfen würde, Dyonix aufzuhalten - selbst wenn sie Selet sein sollte! Und Ludwig habe ich misstraut, aber nicht dieser feinen Dame!

Ich will es nicht glauben! Das kann nicht sein, sie kann keine solche hinterhältige Furie sein! Doch nicht die Prinzessin Cardighnas! Sie wird Cardighna eines Tages regieren, wie hätte man ihr so ein widerwärtiges Verhalten je verzeihen, sie als ein solch dämonisches Mädchen aufwachsen lassen können?!

"Ich glaube dir kein einziges Wort! Als ob die Prinzessin Cardighnas so ein abscheuliches-"

Da stößt sie lautes Gebrüll aus: "Mach dich nicht lächerlich du Gutelf!" und macht langsam ein paar Schritt auf mich zu. Sie deutet abfällig mit ihrem Zeigefinger auf mich. "Ich weiß über dich bescheid, Langohr. Irgendein einfältiger Tölpel vom Lande bist du, ein verdammter Naivling, der sich einbildet, Dinge zu verstehen, die Männern und Frauen höheren Standes vorbehalten sind! Und ich weiß auch, dass du impertinenter Niemand hier bist, um eine neue Schwertweihe durchzuführen. Sag' deiner kleinen Víla, sie soll aus ihrem Versteck kommen! Von ihr weiß ich genauso!"

"Dann gehörst du dem Anschein nach auch zu Dyonix' Gefolge.", stellt Sira trocken fest.

"Nur nicht so bescheiden.", beginnt Selet, "Dyonix ist nicht mein Meister - er ist mein Partner! Dachtet ihr etwa, er könne sich so ohne weiteres im Amt halten, besonders wenn man bedenkt, was er vor hat? Oh, mitnichten, das ist mein Verdienst! Ich halte ihm am Hof den Rücken frei und werde dafür gerecht entlohnt werden, wenn unser Ziel erreicht sein wird!"

Ich kann es nicht fassen, was die Prinzessin da sagt. Sie ist nicht nur so abgebrüht, uns hier eine Falle zu stellen oder Dyonix zu unterstützen, sondern auch noch ohne Weiteres bereit, ihren eigenen Vater, den König, zu hintergehen und womöglich sogar aus dem Weg räumen zu lassen?! … Vorausgesetzt, sie ist wirklich Selet von Ardsted. Ich habe noch immer starke Zweifel, doch was heißt das schon? Ich hab auch Zweifel gehabt, dass ich so sehr in Schwierigkeiten geraten könnte.

"Eine schöne Geschichte, die du dir da ausgedacht hast, Mädchen. Und deine Verkleidung ist mit Sicherheit auch alles andere als schlecht.", erhebt da Sira plötzlich ihre Stimme und gönnt sich, triumphierend dreinzuschauen, ihre Arme verschränkt haltend. "Vermutlich hast du auch sehr gut die Leute am Hof hereingelegt und deine Rolle gut gespielt, aber leider bin ich vollkommen sicher, dass du nichts weiter als eine Lügnerin bi-"

Selet wartet gar nicht, dass sie zu Ende redet, sondern ruft gleich: "Ach ja?! Wo sind deine Beweise, du Schmetterlingsfrau?! Den Schlauen spielen kann jeder."

"Nimm den Mund lieber nicht so voll.", weist Sira sie zurecht.

Wie seltsam das ist, wenn ausgerechnet Sira einem Feind so begegnet - sie hat doch den Untoten beim Stättenüberfall schon nichts entgegenzusetzen gehabt! Aber nichtsdestotrotz… es ist gut zu wissen, dass ich nicht allein bin mit meiner Meinung.

"Denn die Prinzessin kann schlecht an zwei Orten gleichzeitig sein. Wie wäre es, wenn ausnahmsweise du uns einen Beweis lieferst? Adelige sind die Minderheit, aber teure Kleider tragen dennoch viele in diesem Land. Tragen Mitglieder hochrangiger Familien nicht eindeutige Erkennungssymbole bei sich, damit auch ja kein Möchtegern sich als ihresgleichen ausgeben kann?"

Selets Augen weiten sich nur ein kleines bisschen, aber merklich. Ja, jetzt hast du sie, Sira! "Kannst du uns einen Gegenstand zeigen, einen Gegenstand wie… einen Siegelring?"

Selets Mundwinkel rutschen nach unten…

"Meine Achtung, kleine Víla!"

Wir drehen uns zu Ludwig um, der ächzend aufsteht und sich das Blut von der Schläfe wischt. Er grinst schief, aber ist soweit wohlauf, was mich wenigstens etwas erleichterte. "Ich weiß nicht, wieviel länger ich noch still hätte warten können, bis ihr diesem Biest auch auf die Schliche kommen würdet!" Er wusste es auch so sicher? Aber warum? Bin ich der einzige hier, der irgendwas nicht weiß?

Ich hefte meinen Blick wieder an die falsche Selet, deren Stirnrunzeln deutlich sichtbar sind. Sie hat den Kopf eingezogen und ihre geballten Fäuste zittern gefährlich.

"Khh… was soll's, ich hatte nie geplant, dass ihr hier lebend wieder raus kommt.", zischt sie. Da schiebt sich aus ihrem Mund plötzlich eine dünne, gespaltene Zunge. Die beiden Spitzen zappeln wild, während das Zischen wieder ertönt. Eine Schlangenzunge! Ich muss an die gefährlichen Silvanattern aus den südlichen Wäldern denken; die Geschöpfe, die meinen Stiefvater auf dem Gewissen haben!

Gerade entsinne ich mich ihrer schneeweißen, langen und gewundenen Leiber, die sich durch das Laub schlängeln und jeden unachtsamen Wanderer anfallen, der ihnen vor ihre Giftzähne kommt, da zieht das Mädchen einen seiner dunklen Handschuhe aus und führt ihre langen, blutroten Fingernägel an ihrer Kehle entlang, bis ein deutlich sichtbarer Riss in ihrer Haut entsteht.

Ich glaub, mir wird speiübel…! Langsam schiebt sie ihre Finger unter ihre eigene Haut und reißt sich plötzlich ihr eigenes Gesicht samt Haarschopf vom Leibe. Sie rupfte die Haut ihrer Schultern ab, wirft die mattdurchsichtige Schicht zu Boden und gibt ihr wahres Äußeres Preis. Leichenfarbene Haut, blass und gespenstisch hell, deren Schatten sanft ins Lilane abdriften, nackenlanges gewelltes Haar in sattem Violett, an den Spitzen in ein weinähnliches Rot übergehend, und ungewöhnlich breite Lippen, die auch schon wieder zu einem schlangenhaften Lächeln verzogen worden sind, sind dem Mädchen zu Eigen, das langsam seine grotesken Augen öffnet. Pupillenlose Augen mit weißer Iris starren mich an, die Lederhaut ist grellorange und feurig.

"Ta-da~!", trällert sie spöttisch.

"Eine Spiegeldämonin bist du also, widerliches Scheusal. Und dein Name lautet?"

"Echidna - und danke für deine herzlichen Worte, Exorzist. Ganz recht, ich bin eine Spiegeldämonin. … Oh, aber ich sehe, dass das einer ganz bestimmten Person nichts sagt."

Sie meint damit ohne Zweifel mich. Doch ich kann einwandfrei sagen, dass sie sich gewaltig von dem Rachedämonen Ventosus unterscheidet.

Ludwig sagt: "Wir verschieben die Erklärungen besser auf später!"

"Für euch wird es kein 'später' mehr geben!", droht Echidna.

Obwohl sie über ungeheuere Kraft verfügt, kann ich mir nicht vorstellen, wie sie sich noch so ihres Sieges sicher sein kann, allein im Angesicht von Ludwigs Waffe. Auf gut Glück frage ich sie: "Bist du eine Magierin? Normale Waffen sehe ich nicht an dir!"

"Ein Dummkopf wie du weiß aber auch gar nichts über Dämonen, oder?", ist die kecke Entgegnung der falschen Prinzessin, die langsam ihren linken Arm ausstreckt. "Du wirst es besser verstehen, wenn ich dir zeige, womit wir Spiegeldämonen kämpfen."

"Nicht, wenn ich da noch ein Wörtchen mitzureden habe! Solve!", ruft Ludwig und hetzt Splitter seines Lichtschwertes auf sie, aber Echidna schlägt sie mit der bloßen Hand so schnell zur Seite, dass sie sich in Boden und Wände rammen. Auf Ludwigs hastiges "… et coniuge!" ruckeln die Splitter etwas, aber lösen sich nicht.

Gebannt schaue ich währenddessen der am Handgelenk verkrampft zappelnden Hand zu, ehe sich Echidnas leichenblasse und spindeldürre Finger zusammenschieben. Unter einem in meinen Ohren ekelerregenden Knacken und Krachen, das aus Echidnas Arm kommt, wächst das Handgelenk plötzlich zu einem langen, stabförmigen Auswuchs an. Sie verzieht nicht mal eine Miene.

Ludwig rast nach vorne, schlägt noch im letzten Moment der Verwandlung nach der Dämonin, da packt Echidna den nach unten ragenden Teil der starren Stange und schwingt ihren defomierten Arm mit Schwung nach ihm.

Zwei Klingen prallen aneinander, eine sehr obskur nach unten sich verjüngende in gleißendem Licht, geführt von Ludwigs gebräunter Hand, die andere schimmernd rot und das, was aus Echidnas zusammengewachsenen Fingernägeln geworden ist: ein riesiges, geschwungenes Sensenblatt!

"Verflucht, warum muss ausgerechnet immer uns so etwas passieren?!", flucht Sira. Dann stupst sie mich an der Backe an. "Nun schau nicht so beängstigt! Hilf lieber Ludwig, er hat dir das Leben gerettet!"

"Das… das brauchst du mir nicht zwei mal sagen!" Ich habe dennoch einen kleinen Schubs benötigt, um aus dem Staunen herauszukommen. Was können diese Dämonen denn nicht? Sie haben Augen an den unerfindlichsten Stellen, können sich spurlos in Luft auflösen, sich als andere Personen ausgeben und nun sogar ihre Gliedmaßen in Waffen verwandeln!

Ich nehme all meinen Mut zusammen und beiße die Zähne fest aufeinander, als ich zu Ludwig und Echidna renne mit dem Ziel, die ungeschützte Seite der Schlangendämonin anzugreifen. Doch sie riecht den Braten, lässt den Exorzisten aus der Parade und springt, leicht wie eine Feder, in sichere Entfernung hinfort. Ludwigs Schwertsplitter kommen endlich aus dem Stein der Empore frei und fliegen zurück, um das Schwert zu komplettieren.

Er sagt: "Du musst verdammt auf der Hut sein, Maljus. So eine Spiegeldämonin wie sie macht keine halben Sachen."

"Schön, dass du es erkannt hast!", schallt es da plötzlich neben uns, nachdem Echidna mit einem gewaltigen Sprung den Zwischenraum der Emporen überbrückt hat. Sie ist noch nicht mal gelandet, da schwingt sie ihre Sense bereits nach Ludwig, dem nichts übrig bleibt, außer mit einer Seitwärtsrolle auszuweichen. Ich ducke mich blitzschnell.

"Was, bist du darauf aus, mir unter den Rock zu stieren?!", schreit Echidna theatralisch über mir, "Hinfort mit dir, du Lustmolch!" Postwendend trifft mich ihr Stiefel an der Wange und befördert mich in Richtung der Wand. In meinem Kopf dreht sich alles, aber ich habe nicht die geringste Zeit, mich zu erholen, ich muss sofort wieder aufstehen und dem nächsten Angriff der Möchtegernprinzessin entgehen.

Ludwig nutzt die Gunst der Stunde und hetzt Echidna laut rufend sein Schwert auf den Hals. Sie bemerkt seinen Ausruf noch rechtzeitig, um die Wunden auf ein paar oberflächliche Schnitte an Arm und Taille zu beschränken. Trotzdem verzieht sie schmerzhaft ihr Gesicht und sinnt sogleich auf Rache. In einer mörderischen Geschwindigkeit nähert sie sich Ludwig, welcher sich bereit macht, ihren Angriff abzufangen - nun, so denkt die Dämonin wohl, ehe die Schwertsplitter hinter ihr aufglimmen und erneut Treffer verbuchen können.

Sie stolpert nach vorne, während ich - sobald ich Atem gefasst habe - nun auch wieder zu ihr presche.

Ich habe sie noch gar nicht erreicht, da wirbelt sie schon herum, ihre leeren Augen glotzen mich wutentbrannt an wie der weiße Kern einer glühenden Esse.

Mit gefletschten Zähnen reißt sie die Sense herum, die gerade noch auf Ludwigs Hals gezielt und den schwarz Gekleideten veranlasst hat, sich auf den Boden zu werfen, und ist kurz davor, mich horizontal zweizuteilen.

"Solve!!", brüllt Ludwig aus voller Kehle, schickt mir die ganze Klinge zur Hilfe, teilt die Außenpartien des leuchtenden Metalls mit seiner Gabe in kleinste Splitter, die den Kern wie ein schimmernder Nebel umgeben.

Doch es ist vergebens. Ich habe mich instinktiv, völlig von der Todesangst zum Handeln gezwungen, nach hinten fallen lassen und trotzdem spüre ich die brennende Schneide der Sense in mein Fleisch eindringen. Ich lasse einen bestialischen Schmerzensschrei verklingen, ehe mir vom Aufprall auf dem Boden der Atem weg bleibt und ich erst merke, wie verheerend dieser eine Schnitt gewesen ist: Meine Sicht wird trüb, die Farben explodieren und werden trotz der zunehmenden Dunkelheit schrill und unerträglich grell. Aber nichts bewegt sich, ich fühle meinen Körper zucken. Endlich dringt wieder Luft in meinen Brustkorb, doch die Welt bleibt statisch und stumm.
 

Außerhalb seiner Wahrnehmung war aber keineswegs niemand mehr in Bewegung. Wie ein Berserker hatte sich der braunhaarige Dämonenjäger auf das lilahaarige Dämonenweib gestürzt, das schnell das Weite suchte und hinunter in den Mittelpunkt des Gebetsraumes auswich.

Ludwig studierte prüfend Maljus' starre Augen, hob den zuckenden Jüngling an und ließ sein Schwert fallen, um wieder nach einer Mixtur zu suchen. Ein dunkelgrünes, moosfarbenes Serum war, was er zu Tage förderte, um es dem Blonden so schnell wie möglich zu verabreichen.

Zu gerne hätte er noch wundlindernde Salbe auf die Blutung, die sich quer über den verschrammten Rumpf des Elfen zog, aufgetragen, nur Echidna war alles andere als gewillt, zu warten, sondern ergriff sofort wieder die Initiative.
 

Wesentlich mehr Glück bei ihrem Vorhaben hatten währenddessen Alex und Craylo, die neben Zea und mit einem großen Papierstapel in den Händen unter dem Vordach der Verwaltung standen.

Zufrieden blätterten der Elf und sein Magiergehilfe durch die Steckbriefe.

"Kolxe Lotsch klingt nach schnell verdientem Geld. Eine mehrfache Mörderin, die bevorzugt in Dörfern ihr Unwesen treibt. Besonders stark wird sie nicht sein, ich seh' niemanden in ihrer Opferliste, der wohl je richtig gearbeitet hat.", meinte Alex, ohne den Blick vom Papier zu nehmen.

"Wieviel ist auf ihren Kopf ausgesetzt?", fragte Craylo, woraufhin der Blonde ihm wortlos den Zettel reichte. "… Hm, zwanzig Silbermünzen, das klingt nicht schlecht. Aber hör dir das an: Bodo, der Dellenkopf. Der ist so auffällig, den würden wir sofort erkennen. Er ist zwar der Sündedämon eines Titanen, aber auf seinen Kopf sind fünf Goldmünzen ausgesetzt!"

"Craylo, seit wann weißt du denn so gut, wie man Goldmünzen in Bier umrechnet?"

"Sei doch mal still, Carod!", zischte Dorac leise, "Oder willst du unbedingt die Aufmerksamkeit der Zwergin auf dich zieh-"

"Dafür steht bei dem Kollegen aber auch, dass er zuletzt in Wilmvar gesehen wurde! Ich möcht' nicht wissen, wie du da so schnell hinkommen willst, das liegt ganz weit im Westen!"

Craylo schämte sich richtig, Zea nicht zu sagen, dass er mit zwei sprechenden Dolchen reiste, als sie ihn und Alex so verwirrt anschaute, wie sie gar keine Reaktion wegen der beiden Stimmen zeigten. Sich ihr Gesicht genauer zu besehen, genügte, um zu schlussfolgern, dass sie sich ernsthaft fragte, ob sie wahnsinnig oder erleuchtet sei mit den ganzen Geistern, die scheinbar nur sie hören konnte. Nervös zupfte sie an ihrem Ohrläppchen, beschloss dann aber, nicht zu viel Gedanken daran zu verschwenden.

Stattdessen erkundigte sie sich ein wenig enttäuscht bei den beiden: "Arbeiten alle Exorzisten so und wägen lieber ab, was das meiste Geld bringt bei dem wenigsten Aufwand?"

"Ich weiß nicht, ob das alle so machen - aber wir sind damit gut über die Runden gekommen, ja.", meinte Alex. Seine Bartstoppeln abtastend, blätterte er weiter, entdeckte hier und da einen Namen, der schon länger im Gesuchtenregister verzeichnet war, aber nichts besonders Lukratives.

Zea derweil erklärte: "Wenn alle Exorzisten so eigensinnig handeln, werden doch alle kleinen Verbrecher und zurückhaltenden Dämonen gar nicht gejagt und werden weiter viel Leid über uns bringen!"

Alex lachte trocken und tätschelte die Novizin.

"Ach, du bist drollig, Kleine. Aber so ist die Welt nun mal, allein die Tatsache, dass man ein Kopfgeld aussetzen muss, zeigt doch, dass sich wenig bis gar keine Leute finden, die aus gutem Willen unser Land von Dämonen und Sündern befreien."

"Lass' dich von ihm nicht so runterziehen, Zea.", sagte Craylo, um sie aufzumuntern, "Immerhin sind wir beide Exorzisten von einer Schule, wir sind viel weltlicher als ein Dämonenjäger, der an einem Kloster wie diesem sein Bekenntnis abgelegt hat."

"Sag wenigstens dazu, dass die euch das Geschäft versauen mit ihrer Nächstenlie-"

"Die sind auch wesentlich freundlicher als manche dieser Halsabschneider, mit denen wir schon zusammenarbeiten mussten. Arme Schläger, die beschlossen haben, ihr eigener Herr zu bleiben und ihre Muskeln nicht gleich ans Militär zu verkaufen, sondern lieber auf eigene Faust windelweich prügeln, was auf einem Stückchen Papier bebildert ist." Er wollte noch weiter von den unterschiedlichsten Exorzistentypen erzählen, als von fernher ein lautes Rumpeln und Donnern sie zusammenfahren ließ.

"Das… das war jetzt aber kein gewöhnliches Donnern, oder?", vermutete Craylo beunruhigt. Als er über dem fernen Wald eine riesige Staubwolke aufsteigen sah, fühlte er sich bestätigt.

Aus dem Verwaltungsgebäude kamen mehrere Geistliche gelaufen und schauten ebenfalls hinüber. Einer rief erschrocken: "Das muss aus dem alten Heiligtum gekommen sein!"

"Die Dämonen! Das müssen sie sein! Sie hausen tatsächlich dort, o Terra!"

"Wer's glaubt! Irgendein morscher Balken muss gebrochen sein und dadurch ist ein Teil des Gebäudes eingestürzt!", mutmaßte noch ein anderer Priester, eine erregte Diskussion brach aus, welche die drei wie unsichtbar beobachteten.

Zea schlug vor: "Solltet Ihr Euch das nicht ansehen, die Herren Exorzisten?! Vielleicht sind das wirklich die Dämonen, die Ihr jagt!"

Still diskutierend, starrten Craylo und Alex einander drängend an. Der Blonde versuchte, seinem Partner durch ein energisch Zucken zu verstehen zu geben, dass er gefälligst etwas sagen solle, doch dezent und rasch schüttelte der Magier seinen Kopf und fletschte kurz die Zähne.

Schließlich erübrigte sich langes Verständigen, denn Alex erspähte nicht weit entfernt die Titanen, welche ebenfalls den Aufruhr bemerkt hatten und aus einem der anderen Gebäude traten. Er gab Craylo einen Stoß, griff sich Zeas Handgelenk und lief schnellstens in Richtung des Haines.

"H- hey, warum nehmt Ihr mich denn mit?"

"K- komm einfach, wir brauchen jemand Ortskundigen!", zischte Alex, die Zwergin hinter sich herschleifend.

"Aber-!"

"Kein Aber!"
 

Mein eigenes Husten reißt mich endgültig aus meiner Starre. Nachdem ich wieder vollkommen ins Geschehen zurückgekehrt bin, finde ich mich plötzlich in einer dichten Staubwolke wieder, während ich dicht neben mir den Regen hereinfallen höre.

Als ich überrascht nach oben sehe, zeigen die schemenhaften Umrisse außerhalb der Wolke mir, dass die Decke eingestürzt sein muss.

Langsam legt sich der Staub.

"Was… was ist passiert?", murmele ich leise, ehe ich vor Schmerz zusammenzucke. Ich habe zu schnell versucht, mich wieder aufzurichten, und gleich wieder meine Wunde zu spüren bekommen. Vermaledeit, das ist schon das zweite mal an diesem Tag!

"Das war Ludwigs Verdienst…", erklärt Sira plötzlich, kaum dass sie in meinem Blickfeld aufgetaucht ist, "Er hat mit seinem Schwert die Decke eingerissen, um Echidna in den Trümmern zu begraben."

Ich brauche etwas, bis ich ganz verstehe, noch sind meine Gedanken durcheinander und es benötigt Zeit, sie wieder zu ordnen. Ich huste erneut und frage dann: "Dann… ist sie jetzt also tot?"

Noch ein mal mache ich den Versuch, aufzustehen, dies mal langsamer und mit mehr Bedacht - sowie Erfolg.

Keine Sekunde vergeht, nachdem ich aufgestanden bin, schon ertönt hinter mir das altbekannte Zischen. Das Blut gefriert mir in den Adern.

"Sss… wie sagt… ihr Sterblichen doch? Man soll den Tag… nicht vor dem Abend loben. Sss…"

Blitzschnell fahre ich in Erwartung eines Angriffes herum und starre die blutüberströmte Echidna an, die sich verkrampft auf ihre Sense stützt. Ihr Hut liegt irgendwo zerknittert zwischen ein paar Trümmern und ihr Kleid hängt in blutigen Fetzen. "Du… du siehst ja gar nicht froh aus mich wieder zu sehen! … Und dabei sind wir beide wie… von den Toten auferstanden. Sss..."

"An deiner Klinge klebt ein Gift, habe ich Recht?", will ich viel lieber wissen.

"Gut… gut erkannt, Maljus! Und wäre dieser Exorzist dir nicht zur Hilfe geeilt… würdest du immer noch verkrampft deinem Ende entgegen… sehnen.", keift Echidna angestrengt.

Nicht lange, dann schleicht sich seichte Belustigung in ihre verzerrte Miene. "Aber… dafür sieht es so aus… als habe dein Freund weniger Erfahrung… in Selbsthilfe. Hehe…" Jetzt erst erkenne ich am anderen Ende des Raumes Ludwig, der bewegungslos über dem Geländer hängt und sich hin und wieder angestrengt weiter verkrampft, ehe seine Muskeln wieder erschlaffen. Er starrt vor Dreck und hat eine schlimme Wunde am linken Arm.

Schwach phosphoreszierend liegt das Lichtschwert in Splittern auf dem Schutt verteilt und leuchtet von Zeit zu Zeit schwach auf. "… Sss, er war ein guter Kämpfer… aber nicht gut genug… mit uns Spiegeldämonen hält niemand mit… unsere Waffen sind schneller… weil sie zu unseren Körpern gehören!"

Sie schlägt ganz plötzlich wieder nach mir. Stolpernd weiche ich aus und gehe zum Gegenangriff über, sobald ich mein Schwert aufgehoben habe. Sie hüpft flink über mich hinweg, tritt im Flug mit ihrem Füßen nach meinem Kopf.

"Na warte, du Scheusal!" Da lasse ich mit einer Hand das Heft los und packe ihren Fuß. Sofort schlägt sie auf dem Teppichboden auf, stößt sich noch am Geländer den Kopf und ist nicht mehr schnell genug, meinem Schwertstreich zu entgehen. Gepeinigt schreit die Dämonin auf, da der Stahl ihr durchs Bein fährt.

Meiner anschließenden Attacke kann sie aber wieder entkommen, verteilt dabei ihr Blut auf dem Boden, als sie zurückspringt und keuchend einknickt - genauso wie ich. Die Wunde… sie hat sich wieder geöffnet und lässt mich Blut spucken! Ich ringe nach Atem.

"Du… du redest dummes Zeug!", rufe ich, "Du bist schneller…?! Schneller, weil deine Waffe mit dir verbunden ist, sagst du?!" Ich muss mich ganz breitbeinig aufstellen, um nicht hinzufallen, und das Schwindelgefühl ignorieren, um bei Sinnen zu bleiben. "Das Erste… was ich damals gelernt habe, als ich anfing… mit dem Schwert zu kämpfen… war: 'Für einen guten Kämpfer, der seine Klinge kennt, ist die Waffe kein Werkzeug… sie ist nichts weiter als eine Verlängerung seines Armes!'" Noch ein mal lege ich eine längere Pause ein, um mich ein wenig zu regenerieren. "Aber weißt du noch was, Echidna…? Wir Sterblichen… sind fähig, uns zu entscheiden… ob wir kämpfen wollen, oder nicht! Ihr… ihr Dämonen seid zum Töten geschaffen, weil ihr so blutlüstern und… bewaffnet auf die Welt kommt!"

"Ssssss… was weißt du denn schon?!" Echidna hustet und spuckt, ihre Augen fest zusammengekniffen.

Als sie mich wieder anblickt, schreit sie: "IhrSterblichen seid es, die uns eine Lebensgrundlage geben mit all euren Sünden, Lastern und Makeln! Ihr verdient nichts anderes als… als den Tod!"

Was dann über ihre Lippen gleitet, kann ich weder als eindeutiges Heulen noch Lachen einordnen, es klingt wie beides auf ein mal. "… Du weißt ja nicht mal… welche Frevel dein Freund begangen haben muss..." Obwohl ich hellhörig werde, bleiben meine Gesichtszüge wütend.

"Worauf willst du hinaus, Scheusal…?!"

"Huhu… das sage ich dir nicht so einfach… warum… warum folgst du mir nicht? Komm auf unsere Seite - und lass dich unterrichten in den wahren Begebenheiten dieser Welt! Denn weißt du…" Auf einmal entspannt sich ihr Gesicht unheimlich und wie eine gnädige Geliebte sieht sie mich aus mitleidigen Augen an. "… du könntest noch ein prächtiger, junger Mann werden… sss... wenn du den richtigen Weg einschlägst, anstatt so blind den Tod zu wählen…" Na wunderbar, jetzt bin ich also schon der zukünftige Traummann einer Dämonin? Es ist so lächerlich, dass ich kurz den Ernst der Lage vergesse.

"Wenn ich so attraktiv auf dich wirke… warum kehrst du dann nicht Dyonix den Rücken?!"

"Das geht nicht... du siehst, was mit unseresgleichen bei euch gemacht wird... wir werden von Exorzisten grausam gejagt und getötet... wir werden als die Antagonisten verurteilt von denen… sss… die selber nur kleine Rollen spielen!" Sie klammert sich krampfhaft an ihre deformierte Hand und hält inne, als ein Hustanfall ihren Leib erschüttert. "Aber Meister Dyonix ist anders, er weiß um unseren Wert. Er ist mächtig und weise! Und schließt man sich nicht immer jemandem an, der... mächtig ist? Das müsste doch auch auf dich zutreffen, Maljus… Dyonix wird sicher auch dich willkommen hei-"

"Wer sagt, dass ich mich so blenden lasse wie du?! ... Vergiss es, das kann ich Sira, Rio, Griselda und all den anderen nicht antun!"

Echidna ist über diese Antwort alles andere als glücklich, sie setzt sich humpelnd wieder in Bewegung und macht sich für einen Angriff bereit. "Mal sehen, wie dich diese verwöhnte Schlampe dann mag, wenn du erstmal tot bist! Sss...", faucht sie, während aus ihrem Auge ein winzige Träne fließt. Verwöhnte Schlampe? Von wem redet- ach, egal, ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren!

"Ich glaub nicht, dass du das noch sehen wirst!", erwidere ich fest entschlossen, die Sache nun zu Ende zu bringen.
 

VII.
 

"Schneller!", rief Griselda, "Ich bin mir sicher, wir sind ganz nah!" Sie scheuchte Rio regelrecht vor sich her, der Richtung folgend, aus der vorher das ohrenbetäubende Tösen und Schreien gedrungen war.

Sie war fest überzeugt, dass Maljus dort sein musste und betete für ihn - sie wusste bereits, dass er in Schwierigkeiten steckte.

Sie und Rio hatten das Treppenhaus des Gebäudes durchquert und liefen nun durch einen weiten Flur, welcher reich an bröckelnden Zierbögen und Arkaden an den Wänden, sowie zersplitterten Keramikfliesen am Boden war. In den Putz geschlagene Metallhalterungen für Fackeln säumten ihren Weg.

Ein in Altcardighnisch verfasstes Schild gab an, dass eine der Abzweigungen am Ende zum Reinheitsbad führe, die andere zum Oratorium. Rein aus der Überzeugung, dass Maljus wohl kaum in der alten Therme um sein Leben kämpfte, schlugen sie letzteren Weg ein.

Alsbald darauf wurden sie für ihre Wahl belohnt, als sie hallende Stimmen vernehmen konnten: "Wir werden als Antagonisten verurteilt von denen… sss… die nur kleine Rollen übernehmen."

Verwundert starrte Rio die blass gewordene Griselda an. Zwischen mehreren hastigen Atemzügen fragte er: "Meisterin Griselda… war das nicht grad… EureStimme? Die Ähnlichkeit… ist erschreckend hoch!"

Die Hexe wusste gar nicht, wie ihr geschah, was hatte das denn zu bedeuten? Und vor allem: wovon redete diese Unbekannte mit ihrer Stimme?

Sie beschleunigte ihren Schritt abermals, obwohl sie bereits nach Luft schnappte und spürte, wie Schweißbäche ihr über die Haut rannen.

Im Dunkel des Ganges kam gerade die Tür zum Gebetssaal in Sichtweite, als ein grässlicher Schrei ihnen entgegenschlug. Nie hatte Griselda so eine Gänsehaut bekommen wie in den Moment, da sie selbst hörte, wie sich ihr Todesschrei anhören musste. Schlagartig blieb sie stehen, ihr Herz schien stehen geblieben zu sein.

Zu viel, es war… zu viel. Als sie wegsackte, fing Rio sie schnell auf.

Er starrte sie bohrend an, wie sie bewusstlos in seinen Armen lag. Die Gelegenheit, sie war hilflos und niemand da, um ihr zu Hilfe zu eilen. Er könnte- ein sanfter Schock ging durch ihn und beendete seinen erschreckenden Gedankengang. Er schüttelte seinen Kopf und lud sich die bewusstlose Hexe auf den Rücken, um mit ihr das Oratorium zu betreten.
 

Schlaff hängen Echidnas Arme herab, das Sichelblatt hat sich krachend in die Empore gebohrt und leblos baumelt das schneeweiße Haupt der Spiegeldämonin nach hinten, leicht zur Seite, den Blick schielend ins Leere gerichtet.

Ich bin so erstarrt, dass ich gar nicht merke, wie all ihr Gewicht auf meinem Schwert lastete, das direkt durch ihre Brust gedrungen ist und mit einem Ruck ihr Schulterblatt auf der anderen Seite durchbohrt hat.

Es ist so schnell passiert, dass ich es anfangs gar nicht richtig wahrgenommen habe. Blitzschnell ist sie auf mich zugerast, hat mir den Kopf von den Schultern trennen wollen und ist dabei fast von selbst in die Klinge gerannt, die ich ihr reflexartig entgegen gestoßen habe.

Angewidert und verstört trete ich mit der Sohle gegen ihren Bauch, stemme mich gegen sie, um sie von seinem Schwert zu bekommen. Zäh und dunkel fließt ihr Blut an der Unterseite der Klinge entlang und tropft auf den Boden.

Als ich sie endlich losbekomme und sie wie eine fallen gelassene Marionette wirr ihre Gliedmaßen an- und abwinkelnd auf dem Boden regungslos liegen bleibt, lasse ich erschöpft mein Schwert und mich auf die Knie fallen, um von langsamen Keuchen in unterdrücktes Schluchzen überzugehen.

Sie war ein Dämon, ein verfluchter Dämon!

Doch sie wirkt so menschlich, ihr Gesicht ist dasselbe wie Griseldas, ihre Stimme, ihre Bewegungen, sie ist wie ein verzerrtes Abbild eines unschuldigen Mädchens!

Was hätte ich tun können, außer sie zu töten?!, frage ich mich selbst weiter.

Und dennoch… es ist ein schlimmes Gefühl… ich habe immer nur gegen Tiere gekämpft, gegen Untote, gegen menschenunähnliches… und als ich gegen Ventosus gekämpft habe, habe ich ihn nicht getötet, ich habe nicht gesehen, wie er sich nach Erlösung von dem endlosen Pein verzehrt, der seine Miene anfüllt, wenn die Seele ausbricht und entschwindet.

Ihr Schrei… Echidnas Schrei hat grauenvoll geklungen. Und ihr Leben ist schneller dahin gewesen als dass ich sie ganz durchstoßen habe.

"… Du hast dich… nie entschieden, zu töten, nicht wahr…?", dringt Echidnas Stimme aus den letzten Sekunden wieder zu mir durch, holt mich wieder ein.

Ich kann ihre Leiche nicht ansehen, ich habe mich zusammengekauert und fasse mit beiden Händen an meinen pochenden Kopf. Auch die anderen, die inzwischen im halbzerstörten Turm stehen und wohl fassungslos die Bestandteile der Situation erfassen, will ich nicht ansehen.

Wieder flammt die letzte Erinnerung auf. "… Du bist… wirklich ein Idiot… Maljus. … Basgorn wird Prometheus befreien… und du… hast dich aufhalten lassen… wie ich es mit ihm… gerade noch abgesprochen hatte. Ich… ich habe gewonnen…" Dann ist sie still geworden und hat seitdem keinen Muskel mehr bewegt.
 

"Maljus! Maljus!!", schrie Rio, bis er zu ihm ging, ihn packen und hochzerren wollte, um ihn mit einer kräftigen Ohrfeige zurückzuholen, aber Sira schritt ein: "Nein, nicht! Du, sieh zu, dass du hier rauskommst und einen Priester namens Basgorn ausfindig machst! Falls du Craylo und Alex unterwegs triffst, nimm sie gleich mit und mach diesen Mann sofort unschädlich!"

"Aber Meisterin Griselda ist-"

"Lass sie hier, wir kümmern uns um die Verletzten!" Erneut unterwarf Rio sich dem Willen jemandes anderen und legte die Hexe vorsichtig ab, ehe er wieder verschwand.

Einige Zeit geschah nichts, weder Maljus, noch Ludwig, noch Griselda, noch Echidna waren ansprechbar und niemand betrat mehr das Oratorium. Es war totenstill geworden, der Regen war bis auf ein leises Nieseln abgeschwächt.

Sira zwang sich zu eiserner Ruhe, während sie wartete, dass Maljus oder Griselda wieder zu sich kamen.

Schließlich regte die Hexe sich langsam wieder, blinzelte und richtete sich halb gefühlstaub auf. Langsam kehrte die Wärme wieder zurück und dennoch fröstelte ihr. Ihr entwich ein erstickter Schrei, wie sie Maljus und Echidna erblickte. "Bei Sols warmer Güte…!"

"Endlich bist du wach!", platzte es sofort aus Sira heraus und sie flog zu Griselda. Sie nahm keine Rücksicht auf sie und forderte gleich: "Los, geh' zu dem jungen Mann dort und durchwühl ihn nach so einer grünen Mixtur! Wenn du sie hast, gib sie ihm schnellstens zu trinken, sonst wird er auch nicht mehr munter!"

Erschrocken von dem plötzlichen Auftauchen der Víla wich Griselda aus Reflex zurück.

Sie nickte schlagartig und lief zur anderen Seite der Empore. Sie fand das erwähnte Gegengift und kippte es dem Braunhaarigen, der sie glasig anschaute und ganz langsam seine Pupillen bewegte, den Rachen hinunter.

"G… gut so?", fragte sie verunsichert.

"Ja! Es wird wohl ein wenig dauern… Maljus hat vorhin auch eine Weile gebraucht, um wieder zu sich zu kommen.", erläuterte die grüne Dame mit den Schmetterlingsflügeln beherrscht.

Einen Moment später wurde ihre Miene steinhart und sie nahm die Hexe anklagend ins Visier. Mit in die Hüften gestemmten Händen sagte sie: "Aber nun zu Euch… Prinzessin Selet…"

Ein augenblicklicher Ruck ging durch die Hexe, bei der sie mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Panisch fasste sie sich an den Hals und merkte, wie ihr schon wieder fast die Luft weg blieb.

"Wo… woher weißt du… dass ich Selet bin?" Sie hätte sich ohrfeigen wollen. Jetzt war sie so überrumpelt gewesen, dass sie es gleich ausgeplaudert hatte!

"Ich habe mir so meine Gedanken gemacht und als eins zum anderen führte, bin ich darauf gekommen, dass Ihr die Prinzessin sein müsst - und das da drüben… EuerSpiegeldämon ist." Sie deutete auf Echidna und schnaubte.

Irgendetwas stieß ihr sauer daran auf, dass sie das Mädchen nun so konfrontieren musste, aber sie war nicht über zweihundert Jahre alt geworden, um das alles auf sich beruhen zu lassen: "Und nun wüsste ich doch gerne ein mal, was hier wirklich gespielt wird!"

"… Du hast bereits erkannt, wer ich wirklich bin, aber kannst nicht erahnen, was das alles soll? … Ich wünschte, ich könnte das. Was… was macht diese Dämonin hier?!"

"Sie übernimmt offenbar deine Rolle als Königstochter und hat deine Abwesenheit ausgenutzt, ein großartiges Drama zu inszenieren! Dyonix muss mitgedacht haben, er hat das Kloster abschotten lassen, indem er die 'Prinzessin' hier einreisen ließ, und wollte so garantieren, dass niemand Basgorns Zeremonie unterbrechen kann!"
 

"… und dann…" Ich hebe träge meinen Kopf, um die Silberhaarige anzuschauen, "… hat er sie rechtzeitig in Kenntnis von uns gesetzt, um uns eine Falle zu stellen."

Die Hexe bricht in Tränen aus, als sie mich erblickt. Fassungslos schlägt sie sich die Hand vor den Mund.

"Aber mich würde wirklich interessieren, wieso die Prinzessin lieber draußen in der Welt umherreist, uns über die Gräber ihrer Urahnen erzählt und ein Abenteuer erlebt, anstatt am Hofe dafür zu sorgen, dass Dyonix nicht komplett treiben kann, was er will! Wenn du mich fragst, wusstest du von Anfang an, dass er es war, der in Cardighna für Unruhe sorgt!"

"Was… was hast du denn für eine Ahnung?! Du bist eine kleine Víla, die jahrzehntelang unter der Erde gelebt hat! Weißt du überhaupt, wie das ist, wenn man auf ein mal erfährt, dass man ab sofort in Verkleidung durch Cardighna reisen muss, stetig in der Angst, dass man von einem Verräter am Hofe gefangen genommen und heimlich exekutiert wird?!", fragt Selet schreiend und stapft auf die Víla zu.

Siras Mund öffnet sich aus ihrer Verwunderung heraus, nur kommt sie nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Griselda ist noch lange nicht am Ende: "Hast du auch bloß eine Vorstellung davon, wie ich mich gefühlt habe, als ich vor mehr als sieben Wochen von meiner Zofe erfuhr, dass es einen handfesten Verdacht gab, dass irgendjemand aus den höheren Kreisen Ardsteds es auf mein Leben abgesehen und seine Finger bei den steigenden Unruhen im Spiel habe?! Mir wurde nichts gesagt! Weder, wer genau gemeint sein könnte, noch woher diese Informationen stammten! Ich habe meinem Vater nicht ein mal 'Lebewohl' sagen können, bevor ich mit gefärbten Haaren und in diesem demütigenden Aufzug irgendwo in einem Bergdorf abgesetzt und fast nur mir selbst überlassen wurde! Ich war gezwungen, in einer Magierschule eine Schnellausbildung zu absolvieren und ständig vor eventuellen Übergriffen durch die Häscher des Verräters zu fliehen!"

"Du… du warst über einen Cardighnischen Monat lang allein unterwegs?", frage ich verblüfft nach.

Ich traue mich wieder aufzustehen und drücke ihr mit einem Blick all mein Verständnis und Mitleid aus. Auch Sira fasst sich - etwas langsamer - ein Herz und schwächt ihren energischen Gesichtsausdruck angesichts Selets Schicksals etwas ab.

Diese nickt schwach.

"… Ja. Und ich war keineswegs so froh darüber, von zuhause wegzugehen wie du, Maljus."

"Wirst du also zurückkehren, wenn wir hier fertig sein werden?"

"Nein… es ist noch nicht an der Zeit. Solange ich keine Beweise habe, dass Dyonix hinter diesem Schauspiel steckt, bin ich am Hofe immer noch nicht sicher. Außerdem…"

Zu ihren Tränen gesellt sich auf einmal ein wehleidiges Lachen. "… muss ja jemand auf dich aufpassen. Du kannst kaum noch stehen und bist noch voller Tatendrang." Ich bin stumm, als sie das sagt und verschweige ihr, wie ich wirklich denke… dass es womöglich so oder so einen Abschied in naher Zukunft geben wird, so wie die Dinge nun stehen.

Sich dessen nicht im geringsten bewusst, bittet Selet: "Sira, gestattest du es mir, noch länger bei euch zu bleiben? Am Hof… bin ich zu nichts gut momentan."

"Ich schätze…", beginnt die Víla. Nach einem kurzen Seufzer erklärt sie sich einverstanden: "… ich schätze, wir können nicht auf dich verzichten. Aber ich will ab sofort besser informiert werden!"

Ich derweil werde auf ein leises Gähnen aus einer anderen Richtung aufmerksam, was meine Ohren kurz zucken lässt, ehe ich den Blick zu Ludwig lenke, der sich ein wenig unbeholfen wieder auf die Beine schwingt und vorsichtig seinen Arm abtastet. Er murmelt so etwas wie: "Autsch, bevor ich dann auch wieder aufbreche, sollt' ich mich wohl doch noch hierum kümmern…"

Nun drehen sich auch Griselda und Sira ihm zu, woraufhin Ludwig grinsend eine Verbeugung andeutet und sagt: "Und auch euch begrüße ich, echte Prinzessin von Cardighna! Gestatten, mein Name ist Ludwig!" Dieser Kerl ist schon wieder so fidel, obwohl sein Arm und er im Allgemeinen immer noch schlimm zugerichtet aussehen - er ist einfach unfassbar!

"Ist das so eine Angewohnheit von dir, dich immer bewusstlos oder schlafend zu stellen?", reagiert Sira etwas forsch auf seine Begrüßung. Aber auch das ist außer Stande, ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu wehen.

Er winkt lachend ab: "Ach quatsch! Aber jetzt weiß ich zumindest, dass ich euch wirklich nicht den Wachen übergeben muss. nichts läge mir ferner, als bei der Wiederauferstehung des Prometheus behilflich zu sein! Also, was sagt ihr, soll ich euch nun endlich nach draußen führen, sobald ich mir noch mal die Wunden besehen habe?"

Dagegen hat wahrlich niemand etwas einzuwenden, doch vorher muss Ludwig sich noch um andere Dinge kümmern, sagt er. Wie zum Beispiel sein Schwert holen.

Er klettert, so gut es geht, hinunter, zieht den Griff zwischen all dem Schutt, der von der einst prächtigen Kuppel des Turmes geblieben ist, hervor und besieht sich all die winzigen Metallsplitter, die herumliegen. "Coniuge!", muss er nur rufen und jeder einzelne fliegt zurück an seinen Platz, keine Sekunde dauert es, die bis aufs Kleinste zerstörte Klinge wiederzusammenzusetzen.

Wieder bei uns angekommen, macht der Exorzist sich auch sogleich daran, wieder in seiner Sammlung von Behältern zu wühlen. Er kramt dies mal ein kleines Döschen heraus, in dem eine rosafarbene Paste ist. Diese trägt er sowohl auf meine, als auch auf seinen eigenen Wunden auf.

Anschließend drückt er mir das ganze Döschen in die Hand und sagt: "Behalt's gleich, es ist eine wundstillende und desinfizierende Salbe."

"Soll ich wirklich die ganze Dose behalten?"

"Haha, keine falsche Bescheidenheit, das Zeug wird schneller leer, als dir lieb ist!"

"Gut…" Ich packe das Döschen sicher ein. Hoffentlich brauche ich es nicht wirklich so oft, wie Ludwig sagt.

Er schaut jetzt wieder Selet an und spricht etwas lauter und humorloser: "So… und jetzt noch etwas anderes, bevor wir gehen… da gibt es noch eine Sache, über die ich mit Euch reden muss, Prinzessin." Als habe sie es geahnt, schlussfolgert Selet: "Es geht um diese Echidna, nicht wahr?"

"Ja. Ich weiß nicht, wie sehr ihr alle über Spiegeldämonen informiert seid, aber ein wichtiges Faktum an diesen Biestern ist… dass sie nicht so einfach sterben wie andere Dämonen, wenn man ihnen das Herz durchbohrt, den Kopf abhackt oder was für eklige Tötungsmethoden es da noch gibt."

Jetzt ist mir wieder ganz unwohl zumute. Heißt das, Echidna ist nicht ein mal tot?! Sofort will ich wissen: "Wie denn dann?!"

"Nun ja…", Ludwig kratzt sich verstört am Nacken, da ihm schwerzufallen scheint, was er uns nun mitzuteilen hat: "Die einzigen, die einen Spiegeldämon töten können, sind diejenigen, denen sie so ähneln. Andernfalls fallen sie lediglich in eine länger anhaltende Starre, bis sie sich irgendwann regeneriert haben und von Neuem Unsinn anstellen. Sie sind derbe Spiegelbilder unserer schlechten Seiten und nur wir selbst können sie ausmerzen. Leider bin ich ungeschult im Versiegeln und exilieren kann ich diese Schlangendame grade genauso wenig."

Selet ist ganz klein und angstvoll geworden bei diesen Worten, verständnislos sucht sie Ludwigs Gesicht nach Anzeichen eines schlechten Scherzes ab. "Es ist der einzige Weg, sicherzugehen… aber wenn Ihr wollt, kann ich-"

"Nein…!", schneidet sie ihm entschieden das Wort ab, "Ich kümmere mich selber darum! … Bitte, wenn es euch beiden nichts ausmacht, Ludwig und Maljus, würde ich euch bitten, den Raum zu verlassen."

Nicht nur ich bin ein wenig überrascht, sondern auch Sira, die gleich erfahren will: "Und was ist mit mir? Werde ich jetzt schon vergessen, nur weil ich so klein bin?!"

"Nein, Sira. Du sollst dabei sein und später bezeugen, dass ich meine Schuldigkeit wirklich getan haben werde." Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Warum soll dann nur Sira dabei sein und Ludwig und ich nich-

Mein Gedankengang wird unterbrochen, da Ludwig mich wortlos nach draußen führt.
 

Draußen auf dem Gang, wo wir uns postwendend an die Wand lehnen und warten, ist es ebenfalls unheimlich ruhig und auch aus dem Oratorium vernehmen wir lange Zeit keinen Mucks.

Diese Zeit nutze ich, um eine Frage los zu werden, die mir jetzt wieder richtig auf der Zunge brennt: "Sag mal, Ludwig, Echidna hat vorhin so eine komische Äußerung gemacht… irgendetwas wie 'du weißt ja gar nicht, welche Sünden dein Freund auf sich geladen hat' oder so. Was meinte sie damit?"

"Tja, da hat sie wohl gerochen, dass ich nicht bloß Exorzist, sondern sogar Mors-Krieger bin. Informier dich mal darüber, wenn du etwas Zeit hast, dann wirst du verstehen, was sie meint… ich will dich nicht wirklich mit so etwas vertraut machen." Das ist nicht wirklich die Antwort, die mir viel bringt.

Ludwig schneidet bereits ein anderes Thema an: "Mal was ganz anderes, Maljus: Denkst du, du kannst so weitermachen…?"

Wie geschlagen zucke ich zusammen und richte meine Augen auf die Bodenfliesen, während Ludwig fortfährt: "Ich war zwar halb-betäubt, aber ich hab trotzdem mitbekommen, dass das das erste Mal war, dass du jemanden 'getötet' hast. Es ist nicht schön, was?"

Ich schüttele meinen Kopf.

"Und es bringt eine Menge Schuldgefühle mit sich, nicht wahr?"

Nun nicke ich schwach.

"Dann lass mich dir eins sagen, Maljus: Wenn du nicht aufhörst, es schlimm zu finden und wenn du weiterhin tiefe Reue verspürst, wenn du gezwungen bist, deinen Gegner zu töten…"

"Dann sollte ich diesem Abenteuer den Rücken kehren…?", beende ich den Satz.

Ich bekomme einen heftigen Schreck, weil mir sofort auf den Hinterkopf gehauen wird und Ludwig herrisch "Quatsch!" ruft. "Wenn es dich so plagt, dann ist das gut so! Hör nicht auf, dich dieser Problematik zu stellen und ruf' dir immer ins Gedächtnis, dass es schlecht ist, jemandem das Leben zu nehmen. Denn kämpfst du nicht genau dafür, dass Leute nicht durch die Hand anderer sterben? Oder wieso hast du dir so ein Schicksal aufgebürdet?" Darauf weiß ich anfangs gar nichts zu erwidern.

Ja, habe ich nicht jedes mal nur gekämpft, um mich oder jemand anderen zu beschützen? Sara vor dem Untoten im Wald, die Familie in Keslynth vor Cheeta, Aaron in- nun gerät meine anfängliche Überzeugung ins Wanken. Ja, wie war das mit Aaron? Ist es Selbstverteidigung gewesen, als ich mit ihm gekämpft habe - oder habe ich ihn bloß niedergeschlagen, um an ihm vorbei zu kommen und das Geheimnis hinter der Identität des Umbramanten zu lüften, welcher Cheeta befehligt?

"Deine Freundin weiß genauso wie du und ich, dass Töten nichts ist, worauf man stolz sein darf. Und du, der das gerade erst zu spüren bekommen hat, sollst nicht gleich wieder sehen müssen, wie getötet wird. Sie ist ein Schatz, merk dir das."

"… wenn ich aufhören würde, darüber nachzudenken und kaltblütig töten würde, würde mir ein Sündedämon entspringen, nicht wahr?"

"Ja. Wer weder einen Läuterungsgegenstand besitzt, noch sich seiner Fehltritte in irgendeiner Weise schämt, ist schuld an einem weiteren Sündedämon, der uns heimsuchen wird. Exorzismus ist ein großes Geschäft geworden… und ich will nicht, dass ich eines Tages deine Dämonen austreiben muss, verstehst du? Bei vielen setzt die Reue erst dann ein, wenn es bereits zu spät ist." Er klingt wie ein alter Mann, der die Welt lang in ihrem Gang beobachtet hat und nun zu einer schrecklichen Erkenntnis gelangt ist.

"Ich denke, ich habe verstanden, Ludwig…", erwidere ich nach einer Weile.

Und just in diesem Moment ertönt ein dumpfes Krachen, ehe man Stein auf Stein fallen hört.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Azahra
2012-05-17T14:37:20+00:00 17.05.2012 16:37
So .. ich bin fertig! :D
*Siegerfähnchen schwing*

Griselda ist eine Prinzessin ... DIE Prinzessin Selet O.o
Ich bin baff, aber wirklich!
Ich hätte das wirklich nicht von ihr erwartet.....
Dieser Ludwig ist mir noch nicht so ganz geheuer ....
Muss mich mit ihm noch anfreunden.
Die Idee mit dem Spiegeldämon ist dir wirklich gut gelungen!
Hat toll reingepasst ^^
Ich musste lachen als ich mir vorstellte wie Rio sich auf Kora stürzt XD
Hoffentlich finden die beiden Exorzisten ihre Freunde wieder.
Zea scheint ihnen nicht gerade wirklich als Führerin dienen zu wollen :)
Wie lange hast du eigentlich für dieses Kapitel gebraucht?

so ...
Bis bald :)

cucu
Azahra


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