Weihe des Siegelschwerts von Ubeka ================================================================================ Capitulum VIII: Der Weg hinfort - Oder doch bloß hinein? -------------------------------------------------------- I. Die monumentalen Architekturunterschiede der Titanen und 'Üppchen', wie sie uns anderen Völker nennen, lassen erkennen, wieso so viele von ihnen bevorzugen, auf diesem Berg zu leben, wo die Treppenstufen für sie genau richtig sind. Für die anderen und mich sind sie das nicht im Geringsten, es ist eher wie das Erklimmen eines Berges, der lauter steile Kanten voller großer titanischer Lettern hat, die Treppe zur Stadtverwaltung hinaufzusteigen. Am Eingangstor, das stolze zwölf Meter misst, lässt man uns ohne weiteres ein, als man den Flamen erkennt. Wir werden dazu aufgefordert, kurz in der Empfangshalle am Ende des Gartens zu warten, ehe Consultor Majoris Gerdonis uns eine Audienz gewähren wird. Die Verwaltung selbst ist ein kleines Schloss, eine winzige Feste, deren Innenhof von einem perfekt symmetrischen Prunkgarten ausgeschmückt wird. Bis auf Basgorn begutachten wir alle die zu Schönheitsdienern geknechteten Hecken, Bäume und Büsche durch die riesigen Spitzbogenfenster. Am Ende der Eingangshalle befindet sich ein breiter Säulengang, an den weitere Galerien mit Blick auf den Garten anschließen. Zwischen den hohen Säulen und auf den großen Treppe zur Linken und zur Rechten, welche mit einem wunderschön bestickten, roten Teppich ausgelegt sind, tummeln sich zahlreiche ältere Herren und ein paar wenige Damen höheren Alters, die es sich nicht haben nehmen lassen, ihr vermutlich längst ergrautes Haar nachzufärben und kunstvoll hochzustecken, im Diskurs. Sie alle sind in prächtige Togen gekleidet, die meisten davon dunkelblau gefärbt mit schwarzen Rändern, aber ich sehe auch ein paar wenige, die zusätzlich zu dem schwarzen Streifen noch einen goldenen auf ihren Gewandungen haben. "Das sind die Consultores.", erklärt Selet mir im Flüsterton, "… hochrangige Männer oder niedere Adelige, die in den Senaten der Stadtverwaltungen und im Gericht sitzen. Die mit den goldenen Borten sind entweder Consultores Maiores - das sind die Vorsitzenden, allesamt adelig und von den anderen Consultores gewählt." "Und was können sie noch sein?" "Nun, sie könnten genauso gut zum einfachen Gefolge eines Präfekten gehören und stellvertretend für ihn hier sein. Das erlaubt ihnen auch schon, eine golden verzierte Toga zu tragen." Ich nicke, doch beeindruckt von den bärtigen und glatzköpfigen Männern und alten, ehrfurchtgebietenden Damen, die fast alle irgendwelche Bücher, Schriftrollen oder sogar noch kleine Steintafeln mit sich führen. Ständig öffnet sich irgendwo eine Pforte, worauf man für einen kurzen Moment einen sehr erregt sprechenden Consultor eine Rede halten hört, und weitere Sitzungsteilnehmer treten ein oder verlassen den Raum. Selet fällt noch etwas ein: "Ach ja… und dann gibt es noch den Consultor Maximus, von dem solltest du ja gehört haben." "Ja… das ist die rechte Hand des Königs und momentan kein anderer als Dyonix." Mein Blick verfinstert sich augenblicklich. "Richtig…" Besorgnis schleicht sich in Selets Züge. "Dyonix wurde vor Jahren vom Präfekten des Regierungsbezirkes Wilmvar zum Vorsitzenden des Ardsteder Senats und damit zur rechten Hand meines Vaters erhoben." "Und offenbar reicht ihm die für ihn höchst erreichbare Position im Staate nicht.", flüstert Sira düster, "Wäre er nur so ein einfacher Consultor, hätten wir ein wesentlich leichteres Spiel." "Hören wir auf, darüber zu sinnieren, was hätte sein können, und wenden wir uns den Dingen zu, die wirklich sind.", mahnt Basgorn und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die beiden Wächter, die auf uns zukommen. Über dem üblichen Wams tragen sie noch einen kurzen, bis zur Oberarmmitte reichenden Überhang in strahlendem Weiß und mit goldenen Rosenverzierungen. "Der Consultor Majoris Gerdonis erwartet Euch und Eure Begleitung, Flamen Terrae Basgorn." Unter strengen Blicken der Consultores und Custodes in den Hallen werden wir in Gerdonis' Arbeitszimmer geführt, das von seinen Ausmaßen genauso gut einer der Hörsäle hätte sein können, in denen nun immer noch hitzig diskutiert und Urteile gesprochen werden. Auch Gerdonis trägt die traditionelle Robe der Richter und Denker, sie verschleiert seine üppige Körperfülle nur kaum. Sein dunkles, krauses Haar und der gut gestutzte Backenbart lenken mangelhaft von seinen stets schielenden Augen ab, in deren Anwesenheit ich eine Gänsehaut bekomme, da ich nie sicher weiß, ob der Mann mich wirklich ansieht oder nicht. Vier der durch ihre Kleidung exponierten Custodes stellen sicher, dass der Consultor Majoris Basgorn, uns ohne jegliche Furcht um sein Leben empfangen kann. Dass er diese ohnehin nicht hat, entnehme ich seiner freundlichen Begrüßung: "Mein werter Freund Basgorn, es ist angenehm, Euch zu sehen." "Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Herr Consultor." "Nur der Anlass scheint unangenehmer zu sein, oder?", deutet Gerdonis in seiner langsamen, träge klingenden Stimme. "Ich habe schon gehört, dass im Kloster Aufruhr herrscht. Haben Eure Begleiter etwas damit zu tun?" "Ja, das fürchte ich. Das Kloster stand unter Angriff eines Dämons, der sich in unserem alten Heiligtum breitgemacht hat." "So, so… muss man jetzt fürchten, dass die Schauermärchen um das Gemäuer wohl doch Prophezeiungen waren?", wundert sich der Consultor, der auch in seinem fein gefertigten Stuhl mit von kräftigen Querbalken gestützten Armlehnen den Elfen überragt. "Ein dunkles Vorzeichen ist es gewiss, wenn jetzt sogar unser ehrwürdiges Kloster von Beluae heimgesucht wird. Es ist sogar zu befürchten, dass Prinzessin Selet von Ardsted - welche ebenfalls am Kloster verweilt, wie Ihr ja wisst - zu Schaden gekommen ist." Ein tiefes Ächzen dringt aus Gerdonis' Kehle. Er beugt sich vor, um seine Ellbogen auf seinem Arbeitstisch aufzulehnen und die Hände vor seinem Furchen bildenden Gesicht zu verschränken. Wieder klingt er verwundert, nur dass nun auch der Zorn in seiner mächtigen Stimme wie die eines Jahrtausende alten Berges mitschwingt: "Die Ruhe selbst seid Ihr, Basgorn. Ihr habt Euch schon mit dem schlimmsten Schicksal abgefunden?" "Es hat keinen Sinn, unnötigen Optimismus zu verbreiten, wenn Ihr seht, was die Bestie mit meinen Begleitern angestellt hat.", erklärt Basgorn sich, die Hand zu einer Geste ausgeholt. "Ich würde gerne vermeiden, dass sie in dieser momentan so feindlichen Gegend bleiben." Gerdonis schielt zu seinen Wachen - so ist die Bewegung seiner unterschiedlich gerichteten Augen zumindest am ehesten zu deuten. "Ein großer Wunsch im Angesicht der bevorstehenden Unruhen, die meine Stadt heimsuchen werden… da ist auch Freundschaft mir noch kein triftig genügender Grund, solch eine Bitte zu erfüllen." Mir wird heiß und kalt, so wie das Gespräch sich entwickelt. Ich kann spüren, wie ich blass werde, als Gerdonis sagt: "Um ehrlich zu sein, wäre es doch besser, wir warten mit Reiseplänen, bis wir Genaueres über Prinzessin Selets Wohlergehen wissen." Auch Basgorn ist nun leicht in die Enge getrieben. Ist der Redefluss bis jetzt ununterbrochen und spontan klingend abgelaufen, gerät er ins Stocken und der Flamen muss erst ein mal nachdenken, bis er etwas zu entgegnen hat. "… Mit Verlaub, je nach Ausgang dieser Sache wird die unruhige Göttin Chaos auf die Stadt hinabsteigen und ich möchte nicht, dass diese Mutigen erst innerhalb ihrer verworrenen Präsenz abreisen. Es passiert so viel Schreckliches dieser Tage, warum dann nicht einem Übel vorbeugen?" "Ihr scheint mir bloß sehrin Eile zu sein. Seid Ihr so besorgt, dass seine Majestät im Affekt diese jungen Männer und die junge Dame irgendwelcher Meucheltaten beschuldigen würde?" "Bedingt, Gerdonis. Mit seiner Hand würde Gustere schnell den Finger erheben und angesichts des tragischen Verlustes seine Trauer und Wut an den Erstbesten auslassen, die seiner Autorität vor die Klingen kommen.", spricht Basgorn, seine Stimme absenkend. Kommt mir das nur so vor, oder hat er mit diesen Worten mehr gesagt, als die Wächter erahnen könnten? Tiefer graben sich die Denkfalten in Gerdonis' angespannte Miene. Er streicht sich ein paar auf seine Stirn herabfallende Strähnen zurück, als er seufzend auf die Tischplatte starrt. Schnell erhebt er sein Haupt wieder und im nächsten Moment auch sich selbst. Er verkündet: "Wenn dem so ist, werden wir zu verhindern wissen, dass seine Majestät womöglich die Falschen zum Schafott schicken wird. Hoffen wir das Beste für seine Tochter und beten wir, dass es wirklich nur dem Dämonen an den Kragen geht, der ihr etwas angetan haben mag." Umringt von seiner Leibgarde geht er um den Schreibtisch herum und schüttelt Basgorn noch ein mal die Hand. "Ja, ich werde auch für sie beten." "Die Götter müssen uns auf die Probe stellen, so viel wie nun passiert. Es bleibt nur zu hoffen, dass dies nicht Vorzeichen für das Ende des Aenea Aetas sind. … Verzeiht, dass ich so etwas Banales jetzt frage, aber was kommt danach noch ein mal?" "Wenn selbst Eisen Wert verliert, ist es nichts weiter als Stein, mein guter Gerdonis. Chaos hat uns mit Lux' Ermordung das Gold genommen, mit der Geburt des Diabolus durch Sols Unzucht ist uns auch das Silber verkommen… und wenn nun das Eisen durch Sterbliche zu Stein wird, steht das Ende Terras kurz bevor." "Dann ist es wohl wirklich besser, wir flehen die Götter an, uns zu bewahren und die Verdorbenen zu läutern. Ich werde sofort sehen, wie ich Euch behilflich sein kann!" II. Medicus Ottonenglorw ist ein unangenehmer Zeitgenosse, dessen gelangweilt klingenden Erzählungen aus der Zeit des Bürgerkrieges ich schnell entnommen habe, dass der bucklig gewordene Elf sich wohl immer gewünscht hat, mit den anderen als glorreicher Kämpfer in schimmernder Rüstung an der Front zu kämpfen, anstatt die schwächlichen Verletzten, die blutbesudelt und halb verstümmelt in ihren zerbeulten Panzern zu ihm gekommen waren, zusammenflicken zu müssen. Er hatte immer diesen einschüchternd stechenden Blick an sich und wohl schon so lange nicht mehr gelächelt, dass es ihm offenbar körperliche Anstrengung bereitete, seine Mundwinkel wenigstens in eine neutral erscheinende Stellung zu bringen. Stets schaute er bitter drein und das die ganzen vier Tage lang, die wir mit ihm auf der Fahrt verbrachten. Flugs sind wir nach unserem Besuch bei Gerdonis einer von Soldaten bewachten Delegation zugeteilt worden, die aus drei großen Titanenkutschen bestanden hat. Allesamt wurden die Gefährte von je drei Ogereseln gezogen, deren dickporige Rücken groß genug sind, um darauf auch zwei junge Titanen reiten zu lassen. Gerdonis hatte sich im Vorraus ein mal konkret für die Umstände, unter denen wir gereist sind, entschuldigt, aber hatte wohl verstanden, dass Basgorns Tross, also wir, angesichts der Eile, in der wir gewesen waren, sowieso wenig dagegen einzuwenden gehabt hatte. Man darf eben nicht wählerisch sein, wenn man auf der Flucht ist. Das habe ich versucht, mir einzureden, während ich mich als geduldetes Anhängsel eines Gefangenentransportes auf holpriger Fahrt die baldige Ankunft herbeigewünscht habe. Und das dies mal ohne irgendwelche lustigen Erzählungen des Exorzistenduos oder kleinen Schlagabtauschen mit Carod und Dorac. Alex und Craylo sind nämlich nicht mitgekommen, sie haben vorgezogen, sich rauszuhalten. "Wie, du bist nicht mehr interessiert?", hatte ich Alex verdutzt zur Rede gestellt. "Ach, lass ihn lieber, Maljus. Wenn er sich beruhigt, dann kann er oftmals wieder ganz schön gleichgültig sein." "Pff!", hatte Alex gemacht, "Ich hab bloß was Besseres zu tun, als in einem Gefangenentransport mitzufahren! Ich verlasse Titania auf eigene Faust. Schon vergessen, Craylo? Garang 'Schwarzbart' Emm, der Sündedämon, wartet auf uns! Oder hast du das zehn-Silbermünzen-Kopfgeld vergessen?" Craylo hatte nur tief geseufzt und sich Alex' Willen unterworfen. Der anschließende Abschied war knapp und unspektakulär verlaufen. "Ich kann's kaum erwarten, mal wieder nach Seestfor zu kommen!", hatte Alex bloß gelacht. "Kleiner, wenn du da jemals hinkommst, dann lass es dir mal richtig gut gehen! Du könntest Erholung gebrauchen!" Der hat vielleicht ne Ahnung. Kleinverbrecher und bereits länger gesuchte böse Burschen und Frauen haben mit uns die Gefährte geteilt - glücklicherweise entweder in hölzernen Zellen untergebracht oder mit gefesselten Füßen an den Wänden festgekettet. Sie waren Ottonenglorws eigentliche Aufgabe; bis diese Übeltäter den Rest ihrer Strafe im Endziel Klemensbürgen absitzen oder dort an Ort und Stelle hingerichtet werden, hat er dafür sorgen müssen, dass sie die grenzwertigen Verwahrungsbedingungen überlebten. Es war fast nie ruhig, denn irgendein Schreihals fand sich immer, der noch nicht aufgegeben hatte, mit Flüchen auf Cardighna und die Götter irgendetwas an seinem Schicksal zu ändern, während die bereits seelisch gebrochenen unter dem Lärm endgültig die Nerven verloren - ich auch fast bei dem Anblick. Ich weiß nicht, wie oft ich erwachsene Kerle oder hartgesotten aussehende Mannsweiber in klägliche Heulkrämpfe ausbrechen und sich selbst einnässen gesehen habe, bis wir endlich ins Klemensbürgen angekommen sind. Ottonenglorws guckte mich schief an, als ich meinen Unmut bei einer letzten Untersuchung meiner Wunden, die der Mitte-Vierziger auch nebenbei gepflegt hat, erwähnte, und sagte: "Ist's nicht passend, dass solche Drecksäcke, wie sie's sind, so abstoßend weggeführt werden? Immerhin haben sie genug Leuten das Leben schwer gemacht, um selbst mal zu sehen, wie das ist." "Ich halt's einfach nicht aus zwischen all dem Unrat und wäre gern' irgendwo, wo mir nichtjeden Moment was hochkommt." "Stell dich mal nicht so mädchenhaft an. Wer so zerschnitten ankommt wie du, hat sich nicht über ein paar stinkende Gerüche aufzuregen!" Noch unfreundlicher begegneten uns bloß die begleitenden Wächter, darunter auch dieser Thioklez, welcher versucht hatte, Ludwig einzufangen, als wir bei Gerdonis gewesen waren. Thioklez ließ Selet nach einigem Herumdrucksen wissen, dass der Braunhaarige ihm entwischt war, was bloß eine Bestätigung für unsere Hoffnungen war; hatten wir den braun Gebrannten doch nirgends unter den Gefangenen entdecken können. Am ersten Tag der Reise widmeten wir uns auch meiner Frage, was denn überhaupt ein Mors-Krieger ist. Sira erklärte es uns: "Es kommt alle Jahrzehnte oder sogar bloß Jahrhunderte vor, dass die Sünden eines Sterblichen schwer genug sind, dass sie nicht mehr länger im Lebenskreis bleiben dürfen." "Das heißt, der Mann ist tot…?", wunderte ich mich da. "Nein, das habe ich damit nicht gesagt! Sondern nur, dass er nach seinem Tod nicht wiedergeboren werden wird! Bis dahin ist er dazu verdammt, in alle Ewigkeit Dämonen zu jagen." Sie fasste sich an den Kopf. "Jetzt ergibt sein Verhalten auch einen Sinn!" "Zum Beispiel, dass er nicht wirklich mehr wusste, wie es mit seinem Dorf steht?" "Nicht nur das… Mors-Krieger altern nicht. Dieser Mann, dem wir begegnet sind, kann gut und gerne so alt sein wie der Umgedrehte König oder sogar älter…" Und ich hab ihn bloß für einen leichten Spinner gehalten - na gut, das hätte ich vermutlich erst recht, wenn er mir gesagt hätte, dass er älter als hundert Jahre sein könnte. "Verrückte Geschichte…", sagte Selet, "Aber ich habe von ihnen gehört. Ein Ritterorden soll unter diesem Namen in Meskardh residieren. Mein Vater hat mir von ihnen erzählt. Die Zitadelle von Sepromor hieß ihr Sitz, denke ich." "Sepromor… Sedes Proeliatorum Mortis - Der Sitz der Mors-Krieger.", murmelte Sira. "Ja, jetzt erinnere auch ich mich. Ich habe ebenfalls von dieser Feste im Wüstenmeer gehört. Sie soll genau in Meskardhs Mitte liegen, zwischen den Harpyienstämmen und der Stadt der Ost-Titanen." Griselda verarbeitete das Gesagte kurz, indem sie wissen wollte: "Heißt das, du hast vor als nächstes nach Meskardh zu gehen, um jemanden wie Ludwig aufzutreiben?" "Das klingt gar nicht so schlecht. Denn in Titapolis befindet sich zufällig auch noch der Ignis-Krater, wo wir das Wunder des Feuers fänden!" Nervös lachte ich daraufhin und tippte mir mit der Stirn gegen den Kopf. "Noch mal zu Titanen? Und dies mal sogar zu den Ost-Titanen?! Macht ihr Witze?" Selbst ich mit meiner wenigen Kenntnis der Außenwelt weiß, dass mit Ost-Titanen noch weniger zu spaßen ist als mit den West-Titanen… selbst 'Beidhänder-Ludwig' würde vor denen erzittern, fürchte ich. Jedenfalls bin ich dafür gewesen, es lieber mit dem Aqua-Nymphaeum zu versuchen, von dem wir ja wenigstens wissen, was das Wunder ist. Obwohl Sira gedehnt seufzte, ließ sie sich überzeugen. "Er hat schon Recht.", pflichtete Selet bei, "Immerhin lassen Ost-Titanen Außenseiter nicht in ihre Stadt und sagen inzwischen ja, sie gehören nicht mal mehr zum Königreich… genauso wie die Schneeelfen von Frigus-Hehm." III. Am dritten Tag machte ich eine weitere mir weniger geheuere Bekanntschaft. Als ich mir zur Hora Sexta dieses Tages ernst dreinblickend und nur zaghaft mein Mittagessen einverleibte, eine klebrige bittere Paste in weiß bis grauem Farbton, die meiner Meinung nach niemand auf der ganzen Welt 'schmackhaft' nennen könnte, wurde einer der Gefangenen auf mich aufmerksam. Ich hatte ihn schon vorher bemerkt, denn selten sieht man einen, dessen Haar so feuerrot und hochstehend ist wie eine Tanne. Seine Frisur war fast doppelt so groß wie sein ganzer Kopf! Er hatte einen unfreundlichen Blick, den ich in letzter Zeit auch geübt habe, wenn ich mit Ottonenglorws oder den Wächtern gesprochen habe. Grade eben erst hatte ich wieder eine kleine Diskussion mit Thioklez geführt, ob wir wirklich alle diese Pampe essen mussten. Natürlich war ich damit nicht weiter gekommen, doch der Mann in der Zelle meinte: "Wenn's Euer Hochwohlgeboren nicht mundet, lasst's rüberwachsen, ich ess' es gern!" "Ich glaub, mehr als eine Schüssel pro Mahlzeit sollte man davon nicht runterwürgen, sonst kommt's alles zusammen wieder hoch.", erwiderte ich und löffelte lustlos weiter. "Lieber irgendwas im Magen als gar nichts!", entgegnete der Stachelkopf wütend. "Was bist du überhaupt für ein Pimpf?", wollte er dann wissen. "Ich wüsste nicht, was dich das angeht." "Du gehörst nicht zu diesen Wachen, das weiß ich schon mal.", stellte der Rothaarige fest, während ich mich schon umdrehte. "Und wenn ich so hör', was du mit dem Rest deines kleinen Vereins beredest, glaub ich auch nicht, dass du 'n Reisender bist, der die falsche Kutsche bestiegen hat." "Was willst du damit sagen?" Ich hatte mich ihm wieder zugewandt. Der Stachelkopf lächelte, "Ich glaub', wir zwei beide sollten uns mal über Dinge unterhalten, gegen die solche Mors-Krieger Bagatellen sind." Er senkte seine Stimme mit hämisch verzogenem Grinsen. "Was weißt du über das Zwifratzjuwel?" "… Ich hab nicht im Geringsten Ahnung, wovon du redest." Und das war nichts als die blanke Wahrheit. Die Zwifratzmaske? Was soll das denn sein? Und was um des Impristinums Willen hat das mit Mors-Kriegern, Dämonen, Víly und Wundern zu tun?! "Verkauf mich nicht für dumm!", blaffte der Gefangene, "Verrat mir, was du weißt, jetzt, sonst wird's dir später leidtun!" "Oh~, ich hab ja solche Angst!", schauspielerte ich übertrieben. "Zwischen dir und mir sind dicke Gitter, Stachelkopf." "Ach ja, Zauselbirne?!" Ein Wächter wurde auf uns aufmerksam und lief herbei, um brüllend an den Gitterstäben zu rütteln: "Zurück an die Wand, du Missgeburt! Los, weg von ihm, du Stück Scheiße!" Prompt wich der rothaarige Mann zurück, aber auch ich, der fast das Gefühl hatte, die Warnung gelte auch mir. Doch der Titan redete erst mit mir, nachdem er sich umgedreht hatte: "Bleib weg von denen, hörst du, Üppchen? Der Doktor hat dich erst zusammengeflickt, also mach dir nicht noch Feinde!" "J- ja…! Ich hab's ja begriffen!" Der Wächter war noch nicht fertig. "Sei besonders vorsichtig mit dem Kerl! Er könnte ein Magier sein nach dem, was wir gehört haben! Da können die Gitterstäbe schon mal nutzlos sein." Dass auf diese Aussage hin ein dreckiges Lachen folgte, gefiel mir überhaupt nicht. Der Stachelkopf grinste auch in sich hinein und ließ mich nicht aus den Augen - auch nicht, als ich aufstand und den Ort meines Mahles verlegte. Ich konnte an seinen Armen sehen, wie ich eine Gänsehaut bekam, da meinte ich, ganz leise eine Drohung zu hören: "Nicht lange und ich werd' hier draußen sein…" IV. Doch nun, am vierten Abend seit unserer Abreise sind wir schließlich angekommen in Klemensbürgen, einer Ortschaft, die es wohl nur knapp geschafft hat, dem Titel 'Stadt' gerecht zu werden. Auf weiten Flächen innerhalb der doppelten Palisade ist die Landschaft noch unbebaut oder von schlichten Holzhütten geprägt. Das Steinpflaster ist noch nicht vervollständigt, ganze Viertel bestehen noch aus Holzgerüsten und ausgehobenen Lehmgruben, die wohl eines Tages mal Keller eines kleinen Anwesens sein werden. Direkt vor dem großen, steinernen Herrenhaus im Südwesten, an welchem der Gefangenentransport Halt gemacht hat, fließt der Wolpartartn unter einer breiten Steinbrücke hindurch, deren Balustraden von steinernen Fabelwesen gekrönt sind. Im Abendlicht funkelt das Wasser in den frisch gezogenen Gräben bezaubernd und lässt einen denken, der riesige, steinerne Torbogen vor der auf einer Anhöhe errichteten Villa sei die Einfahrt ins Reich der Götter. Auch auf die anderen schlägt sich gute Stimmung nieder trotz der verzweifelten und hoffnungsleeren Gesichter, die uns hinter Gitterstäben und dem Boden zugewandt umgeben. Ach, aber wir können endlich raus aus diesen miefenden Wägen und sind wieder unsere eigenen Herren! Bis Sira das Ruder wieder an sich reißen wird… Während die Gefangenen in Ketten gelegt und in einem langen Zug zur Rückseite des Hauses geführt werden, überreicht Theokliz mir die Zügel meines Pferdes, das man auch in den Zug eingespannt hat. Es ist wie ein perfektes Gemälde, die ehemaligen Feinde vereint in Freundschaft und die Zügel mit fertig gesatteltem Reittier als Zeichen des bevorstehenden Abschieds. "Und jetzt verschwindet, ich hab euch lange genug ertragen müssen!" Oder so ähnlich… Keiner lässt sich lange darum bitten, dieser Aufforderung nachzukommen, nur noch ein kurzer Blick zu dem dunkel gebrannten glatzköpfigen Titanen mit schwarzem Vollbart auf der Treppe in einer gelben nietenbesetzten Rüstung und blauem Umhang, dann machen wir uns auf, eine Unterkunft zu finden. Und zu unser aller Glücke - unverhofft aber bloß für die, welche nicht Selet heißen - erweist sich auch die Unterkunftsbeschaffung als ein Leichtes, denn die Hexe hat im Stillen längst Pläne geschmiedet, seitdem ihr der Name des Zielortes bekannt gewesen ist, wie wir erfahren. Der Empfang im gerade um ein paar Anbauten zu erweiternden Haus der Magiergilde von Klemensbürgen ist warm und herzlich. Nicht nur für die Silberhaarige hat Rheomin, der Gildenmeister, eine Umarmung übrig, auch wenn sich mir fast das Gesicht zusammenzieht, als ich die Titanenmenge Parfüm rieche, die der überaus prächtig mit Geschmeiden und goldenen Ringen ausgestattete Mann aufgetragen hat. Da hat nicht nur die Brokatrobe ein paar Silbermünzen verschlungen. "Mein Onkel würde wohl sagen, dass Mors' Schicksalsmetze gute Arbeit geleistet haben!", ruft ein tonfarbener Zwerg aus einer Ecke der mit edlen Dielen ausgelegten Eingangshalle, deren Vielzahl an langen Tischen und Hockern und geschwungen gearbeitetes Rednerpult offenbaren, dass hier wohl auch Versammlungen der Gilde stattfinden. "Ist gut, dich wiederzusehen, Griselda!" Der für einen Zwerg wenig beleibte Mann, der seinen Bart zu einer dünnen Flechte aus schwarzem, gekrümmten Haar gestutzt hat, steht von seinem einsamen Platz auf und geht zu uns. Ausgesprochen still beäugt Rio ihn kritisch. "Hallo, Jallom!" "Und die zwei da? In so wenig Wochen gleich zwei Freunde gefunden?" "Ach, Quatsch! Wir sind uns nur zufällig begegnet und reisen seitdem zusammen!", kichert Selet. Rheomin lächelt: "Das sind uns willkommene Gäste! Ihr habt gut auf meine Schülerin aufgepasst, wie ich sehe!" "Das ist doch selbstverständlich!", sage ich. Rio hingegen schaut mit bitterer Miene weg. Irgendwas scheint ihn seit unserer Reise unter den Gefangenen verdrießlich zu stimmen. Er ist wortkarger als sonst, fasst sich so kurz wie möglich und schläft schlecht, hat Selet erzählt. Aber so verschlossen, wie er ist, frage ich ihn lieber nicht danach - das wäre Garts Art, mit der Tür ins Haus zu fallen. "Dann stell' sie uns doch mal vor, die zwei Brüder!", fordert Jallom. "Brüder?", fragen Rio und ich wie aus einem Mund. Ich sage sogar noch spaßeshalber: "Als Schmiede sollt ihr ziemlich gut sein, aber mit den Augen habt ihr's nicht so, oder?" "Höhö! Wenn du wüsstest, was Leute wie mein Großvater Chalmaran geschmiedet haben! Da kann's mir egal sein, ob ich mal etwas über's Ziel hinausschieße. Na ja, nichts für ungut - von hier unten seht ihr Spitzohren euch halt so ähnlich!" "Wenn jemand Maljus auch nur im Geringsten ähnlich sehe…", erklärt Selet, "… dann vielleicht Alex, der auch mit uns gereist ist!" Irgendwie mag ich den Zwerg. Obwohl er sich mit der reichlich unzwergischen Kunst des Zauberwebens befasst, erkenne ich in ihm dennoch die in zahlreichen Büchern beurkundeten Eigenschaften eines waschechten Kriegers der Steine: Ehrlichkeit, angenehme Schlichtheit im Umgang mit anderen und ein kräftiger Bart statt Etikette. Selbst eine obligatorische Streitaxt erkenne ich am Gürtel von Jalloms Lederrüstung. "Gut, da wir uns dann ja alle kennen…", ergreift Rheomin wieder das Wort, "… biete ich euch allen an, euch an unserer vollen Speisekammer zu bedienen." Das klingt auch wunderbar nach dieser Pampe auf der Fahrt. "Und später zeige ich euch dann die Zimmer. Lomina, Ville und Xaoli sind seit wenigen Tagen außer Haus, im Süden helfen sie den Arbeitern im Auftrage der Stadt, mehr Holz zu fördern. Und unsere besten Eismagier Helga, Perwanus, Lombarth und Erik sind im Steinbruch mit Sprengen beschäftigt. Wie ihr ja seht ist Klemensbürgen im Bauwahn … und auch ich hab mich in diesen geldbringenden Zeiten dazu verleiten lassen, unserem Haus ein paar neue Kammern zu spendieren. Nach all den Jahren scheint die Miliz endlich die Grenzen gefestigt zu haben. Und selbst die Ungesühnte Armee soll schon lange nicht mehr gesehen worden sein. Gute Zeiten, um eine große Stadt zu errichten." "Gut genug, dass ich mich noch mal beim Met bedien', wenn ich denn darf! Immerhin bin ich heut' erst wieder zurückgekehrt vom Bau!", johlt Jalom. Rheomin nickt ihm zu und der Zwerg entfernt sich. Nachdem der Zwerg den Raum verlassen hat, wechselt der Gildenmeister einen ernsten Blick mit Selet, die kurz die Augen schließt und den Kopf dezent senkt. Ein Seufzen verlässt die Lippen des Gildenmeisters. "Jalloms Onkel hätte ganz Recht… die Schicksalsmetze meinen es gut mit Euch, Selet.", sagt Rheomin, die Schultern senkend. Ich habe gar nicht gesehen, wie angespannt der dünne Herr unter seiner langen, bunten Robe gewesen sein muss. "Ich habe gelogen. Die Zeiten sind gar nicht so gut, wie man denkt. Die Stille ist trügerisch, was die Dämonen angeht…" "Sprecht Ihr von der Ungesühnten Armee?" Junge Erinnerungen stoßen mir sauer auf, wenn ich bloß an Dämonen denke. Ich sehe kurz Ventosus und Echidna gackernd nebeneinander stehen und auf mich herabschauen. "Denn wir hatten jetzt schon genug Ärger mit nur einem Dämonen auf einmal!" Ich atme heftig und stammle entsetzt "… Tut… tut mir leid.", als mir bewusst wird, wie ich den Magier angefahren habe. Ich muss selbst wie ein Dämon gewirkt haben, wenn ich so ausraste! Rheomins anfangs erschrockener Blick wird ernster, aber er klingt nicht erbost: "Dann ist es nur gut, dass ich Gerüchte aufgeschnappt habe. Ein Heer von Sündern samt Dämonen soll durch Rosetum-Rubicundum ziehen. Ardnas haben sie hinter sich gelassen und das scheinbar, ohne wirklich aufzufallen… einzig und allein ein kleines Dorf ist angegriffen worden, sagt man. Auch der Consultor Majoris von Klemensbürgen, Herzog Kyotin III., ist beunruhigt deswegen." "Muss er denn Angst haben, dass die Stadtwache mit den Dämonen nicht fertig würde?" "Das ist nicht sicher… ich fürchte, Kyotin ist bereits verängstigt, weil auch nur die Möglichkeit besteht, dass die Dämonen einfallen werden, denn-" Just in diesem Moment trifft Jallom fröhlich pfeifend wieder ein; bewaffnet mit einem randvoll gefüllten Krug Met - wobei dieser Zustand auch nur von kurzer Dauer ist. Er 'nippt' bereits wieder. "Steht ihr da immer noch rum? Na los, setzt euch doch, im Sitzen plaudert sich's gemütlicher!", lädt der Zwerg uns ein und schwingt sich auf eine Bank. Zaghaft lassen wir uns gegenüber von ihm nieder. "Da fällt mir ein, wie lang gedenkt ihr eigentlich zu bleiben?" "Nun, ich fürchte, viel Zeit werden wir nicht haben. Wir haben dringende Termine.", entschuldigt Selet ganz in ihrer schüchternen Griselda-Rolle. Rheomin setzt sich ebenfalls zu uns und bedauert: "Könnt ihr nicht etwas bleiben?" Eine gewisse Víla würde jetzt am liebsten aufschreien, wie mir meine Nackenhaare erzählen. "Vor kurzem hat mich nämlich ein Brief erreicht. Deine Tante möchte hierherkommen, Griselda." Von einer Sekunde auf die andere leuchten Selets braune Augen geradezu. Sie kann es kaum fassen: "Wirklich? Tantchen Flera reist hierher?!" Rheomin nickt mit breitem Grinsen. "Sie wollte sich eigentlich nur erkundigen, wie es dir geht, aber das geht noch besser, wenn du selber hier bist, denke ich." "Oh, dann muss ich wirklich noch ein mal nachdenken. Komm, Maljus!" Was hat das mit mir zu-?! Schon schleift sie mich an beiden Armen nach draußen vor die Tür des Gildenhauses, während Jallom herzhaft lacht und irgendeinen Spruch über meine angeblich hochrote Birne loslässt. Was denkt der denn?! Es dämmert bereits draußen. Als hätten die Mädels jetzt schon eine geheime Zeichensprache entwickelt, erscheint Sira prompt, da wir auf der dunklen Straße stehen. "Nachtigall, ich hör dir trapsen!" "Och bitte, Sira, können wir nicht ein, zwei Tage länger bleiben?" Selet setzt einen richtigen Schmollmund auf, bei der auch ihr nie etwas abschlagen würde. Ist das jetzt noch Teil ihrer Rolle als Hexe? "Ist diese Flera wirklich deine Tante?", frage ich verdutzt. Das müsste ja heißen, sie wäre irgendwie mit der Königsfamilie verwandt. Aber das ist doch viel zu auffällig, wenn jeder im Prinzip weiß, dass die Hexe Griselda Verbindungen zum regierenden Stand hat! Selet schüttelt ihren Kopf und kichert. Sie erklärt: "Mitnichten, Flera ist nicht meine Tante! Aber sie ist meine Zofe und auch ein bisschen sowas wie eine Ersatzmutter… nun ja, meine Mutter ist schließlich schon lange tot." Bedrückt schaut sie auf den Boden und Sira fasst sich kopfschüttelnd an die Stirn. Nach einigen unruhigen Blicken zu mir, auf den ich mit einem unsicheren Achselzucken antworte, lässt sie sich erweichen und sagt: "Na gut! Du darfst sie sehen! Aber übermorgen reisen wir weiter! Haben wir uns verstanden?" "Klar und deutlich! Vielen Dank, Sira, das bedeutet mir wirklich viel! Und weißt du, Flera kann ich dann auch erzählen, wer wirklich hinter den Machenschaften am Hofe steckt! Dann sind wir nicht mehr ganz so alleine auf weiter Front!" "Wenn sie Geheimnisse behalten kann, soll es mir recht sein." Damit ist die kleine Unterredung auch schon beendet und wir gehen wieder nach drinnen, wo Rheomin und Jallom uns blöd grinsend erwarten. V. Am nächsten Abend erzählt Jallom mir grade stolz von seiner Familie und den vielen Heldentaten, die sie angeblich Jahrhunderte lang erlebt haben. Obwohl das in meinen Ohren nach plumpen Lügen klingt, höre ich interessiert dem gedrungenen Magier zu, denn er versteht sich bestens darauf, seine Sagen auszuschmücken und mich bei Laune zu halten. Gerade, als er ausschweift, wie sein Urgroßonkel Umpelboer in den Wüsten am Ende der Welt auf Drachenjagd war, höre ich die Eingangstüre klappen. Mit kleinen, schnellen Schritten tippelt eine beleibte Frau herein, die sich samt ihrem roten, schönen Kleid unter einem dunklen Kapuzenmantel verbirgt hält. Erst halte ich sie für Alid und kriege einen Mordsschrecken, da springt Selet von ihrem Platz neben Rio auf und rennt zu der Dame, die ihre Haare streng unter ein seidenes Kopftuch gebunden hat. Selet fällt fast auf die Knie, die beiden sich in die Arme und Freudentränen werden von beiden Frauen geweint, als die vor Staunen groß gewordenen Augen der untersetzten Zofe vor Glück glänzen. "Tantchen Flera!" "S-" Im letzten Moment korrigiert sie sich. "Griselda, bist du's wirklich?!" "Ja, ich bin's! Tantchen Flera, ich hab dich so vermisst!" Selet drückt die Frau fester an sich, deren von Elfenblut stammenden spitzen Ohren erregt wackeln. Jallom steht auf und geht zu den beiden, um 'Tantchen Flera' mit einem gut gemeinten Nicken zu begrüßen. Er sagt: "Potzblitz, wenn man euch sieht, möchte man auch vor Freude weinen!" Doch die zwei nehmen kaum Notiz von ihm. "Griselda, bin ich vielleicht froh, dass es dir gut geht!" Auf Jallom mag sie vielleicht bloß unheimlich froh über das Wiedersehen wirken, aber mit etwas tieferem Wissen um Selets wahre Identität, wie ich es besitze, kann man die große Erleichterung raushören - aber selbst so klingt Flera mir doch etwas zu aufgeregt und verwundert. Warum wittere ich bloß wieder irgendetwas Schlechtes…? "Willst du nicht vielleicht auf eines der Zimmer und dich von der Reise erholen? Meister Rheomin überlässt dir sicher eines!" "Danke, danke, Liebes, aber ich habe bereits eine Unterkunft hier.", lehnt Flera schmunzelnd ab. "Aber vielleicht solltest du mich trotzdem ein wenig herumführen. Ich würde gerne mal sehen, wie es hier so aussieht. Hier, wo du dich hast ausbilden lassen." "Selbstverständlich, Tantchen Flera!" Selet schaut mich an. "Maljus, kommst du mit?" "Öh… ja, meinetwegen!" Komisch, was soll ich denn dabei? Aber andererseits ist es besser, ich gebe Jallom etwas Zeit, sich noch mehr Geschichten einfallen zu lassen. Und ich muss auch nicht die ganze Zeit Rios durchdringenden Blick auf mir spüren. Der Dunkelelf hat mich heute kaum aus den Augen gelassen, was mir allmählich unheimlich wird. Auch Flera entkommt seinem Wachhundsblick nicht und guckt viel mehr ihn verwundert und befremdet an als mich. Ich stehe auf und schiebe mich in ihr Blickfeld, um sie von ihm abzulenken. "Guten Tag, ich bin Maljus.", stelle ich mich vor und reiche ihr die Hand, die sie mir fast zerdrückt. Boah, was hat die denn für einen Händedruck drauf?! "Freut mich, ich heiße Flera, wie du wohl schon weißt… obwohl man mich meistens bloß 'Tantchen Flera' nennt." Sie streichelt Selet lachend den Kopf und lässt sich von uns aus der Halle dirigieren. Auf den Gängen im Obergeschoss des Gildenhauses ist es noch stiller als im Versammlungsraum, wo neben Rio und Jallom bloß zwei sehr müde dreinblickende Magier ausprobieren, wie weit man eine einzige Partie Yömigä in die Länge ziehen kann. Entlang der Schlafstuben strömt durch mehrere Deckenluken Luft und Licht herein und verziert die Wände mit Streifenmustern aus Dunkelheit und Sonnenschein. Verschwörerisch fragt Flera: "Und wer genau bist du nun, Maljus?" "Er ist eingeweiht, Tantchen.", antwortet Selet für mich, "Du brauchst mich auch nicht 'Griselda' nennen, wenn er da ist… und Sira vermutlich auch, oder?" "Ich komm ja schon, ich komm ja schon…", tönt es lustlos hinter meinem Hals und Sira quält sich zermürbt hervor. Sie und Flera mustern sich eindringlich, bis sich das feiste Gesicht der Halbelfe ein wenig lichtet. Trotzdem behält sie ihre Brauen gesenkt, als sie wieder zu Selet guckt: "Warum hast du sie eingeweiht?" "Sie sind meine Verbündeten! Stell dir vor, Tantchen Flera, wir konnten herausfinden, wer am Hofe Dreck am Stecken hat! Er plant sogar, einen uralten Dämon heraufzubeschwören und hat Siras Stätte deswegen überfallen lassen!" "Durchaus, gnädige Frau.", bestätigt die Víla, "Der Schuft hat unverzeihliche Dinge angerichtet, weswegen wir nun eine heilige Klinge weihen müssen. Die Dinge stehen laut meiner Einschätzung sehr schlecht." So, so, sie kann sich also auch etwas zurückhaltender ausdrücken - aber nichtsdestotrotz redet sie wieder so, als seien wir noch ganz am Anfang unserer Mission. Flera indes macht ein sehr erstauntes Gesicht und raunt: "Ach wirklich? Um des Impristinums Willen, das ist ja schrecklich!" Selet wird von ihren dunklen Augen im Schatten des Mantels angesehen. Nicht nur der Schrecken über die drohende Enthüllung des Unfriedenstifters stechen daraus hervor. "Selet, ich hatte bereits einen riesigen Schrecken gekriegt, als ich dich bloß gesehen habe!" "… Wieso das denn?", will Selet völlig vom Hocker wissen. "Na… na, du bist doch angegriffen worden! Vor wenigen Tagen in Titania!" "Tantchen Flera, das war ich nicht! Das war ein Spiegeldämon, der meine Gestalt angenommen hatte! Dyonix hat ihn geschickt, um seine Machenschaften nicht zu gefährden!" "Dy- Dyonix?! Kind, bist du von Sinnen?! Der Consultor Maximus ist der Schuldige…?!" "Wenn ich mich mal einmischen dürfte…", fange ich an, die Zofe etwas mehr ins Bild zu rücken, "… wir haben ihn belauschen können. Es besteht kein Zweifel, dass der Premierminister dahinter steckt." Flera bekommt ihren Mund gar nicht mehr zu vor Staunen. Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und murmelt nur immer "Terra, Terra, Terra… das ist nicht gut." oder "Was mache ich nun bloß…?" "Was hast du denn, Tantchen Flera?" "Das darf nicht wahr sein… was wurde bloß getan, dass Mors uns so übel mitspielt?!" Weil mir diese Verwirrung langsam über den Kopf wächst, bitte ich direkt: "Könntet Ihr etwas deutlicher werden?" "Was denkt ihr, wie ich überhaupt hierher gekommen bin? Ich bin nichts weiter als Zofe und Köchin!" Sie atmet tief durch und sammelt sich zuerst. "Kyotin, der Herr dieser Stadt, hat nach deinem Vater verlangt, Selet. Und weil er sowieso vor hatte, sofort nach Titania zu reisen, als wir von der Tragödie gehört haben, hat er stattdessen seinen Stellvertreter geschickt." Ich mag überhaupt nicht, wonach das klingt! "Dyonix ist hier! Direkt in Klemensbürgen!" Wie besessen wirble ich augenblicklich herum und bin kurz davor, mit gezogener Klinge aus dem Haus zu stürzen. Dieser verdammte Bastard ist hier! Er ist schon wieder zum Greifen nahe! Und dies mal darf ich nicht versäumen, diesen Scharlatan eines Ministers zu bestrafen und Rache walten zu lassen für das, was er mir - was er uns allenangetan hat! Er soll bezahlen! Er- "Du wirst jetzt nirgends hingehen." Ich erschrecke ob der Kälte von Fleras zischender Stimme, als mich die Hünin fast schon anspringt und meinen Kopf in ihre Armbeuge klemmt. Oh Hilfe, ich glaube, ich ersticke! Wie wild reiben ihre harten Knöchel auf meinem Kopf, bis ich glaube, zu kochen. "Was du vorhast, ist unüberlegt, Junge! Und so ein rauer Starrkopf ist mit meiner kleinen Selet gereist?! Untragbar!" "Äh, Tantchen Flera, bitte lass ihn noch ganz, ja~?" "Werde ich schon, Selet. Aber so eine Lektion muss sitzen, das hast du doch oft genug gelernt!" In jeder Situation, wo mein Kopf nicht grade wie mit einem Hobel behandelt würde, hätte ich über die versteckten Andeutungen wohl lachen können. Jetzt aber wünschte ich mir fast, dass statt Flery Alid mich für meine Flucht aus Welsdorf maßregeln würde. "Ich denke, die Lektion sitzt besser als alles, was ich diesem Dickschädel versucht habe, einzutrichtern." "Vielen Dank, Sira…!", presse ich hinter fest aufeinanderruhenden Zähnen hervor, "Ich hab dich auch lieb…!" Endlich lässt mich Selets Zofe gehen. Mir ist vielleicht schlecht - so ein Monster einer Ziehmutter! Flera meint: "So, das dürfte dir eine Lehre sein! Sich in einen offenen Kampf mit Dyonix zu wagen, ist Selbstmord, hörst du? Nicht allein hat er seine eigene Leibgarde, sondern genießt auch noch den Schutz von Kyotins angeheuerten Söldnern!" "Ja doch…" "Und überhaupt… wer soll denn auf meine kleine Selet aufpassen, wenn du nicht da bist?!" Vom Adoptivsohn zum Prophezeiten und jetzt zur Leibgarde der Prinzessin - da soll mal einer sagen, ich erfülle nicht viele Aufgaben! "Am liebsten würde ich jetzt sofort aufbrechen…", sagt Sira, "Aber man wird die Stadttore bereits geschlossen haben und wir sitzen für diese Nacht fest - in derselben Stadt wie unsere Nemesis!" "Dyonix hat doch keine Ahnung, dass wir hier sind!", argumentiert Selet. "Ach, genauso wie er keine Ahnung hatte, dass wir den Friedhof vom Mons Mortuorum passieren würden?" Selet wird ganz kleinlaut. Sie lässt ihre Schultern hängen und schlägt die Augen nieder. "Ich denke, wir sollten es gut sein lassen für heute.", schlägt Flera vor. "Man wird man dich auf Kyotins Anwesen vermissen, Tantchen Flera?" "Erst in über einer Stunde. Ich habe gesagt, ich würde ein wenig die Stadt besichtigen und mich umhören. Das heißt, etwas Zeit habe ich noch, damit wir uns im Detail austauschen können. Allerdings werde ich früher gehen müssen." Verwundert werfe ich ein: "Wieso denn?" "Nun, um mich eben umzuhören. Mit leeren Händen erwartet man mich ja nicht zurück!" Selet registriert es mit genehmigenden Nicken. Sie beschließt: "Lasst uns dann die Zeit nutzen! Denn ich will brennend wissen, wie es zuhause steht!" "Ohne mich, ich geh schlafen.", sage ich. "Nun doch alles andere als tatendurstig?", stichelt Sira. "Hast du ein Gedächtnis wie ein Sieb? Erinnerst du dich noch an das vor zwei Minuten?", zische ich, während Selet und Flera belustigt kichern. Ein Lächeln weht auch durch meine ernste Miene. "Außerdem will ich morgen ausnahmsweise wach sein, wenn du wieder voller Aufbruchsstimmung sein wirst." "Oh, ein bisschen Drill tut dir doch ganz gut!", meint Sira, "Aber gut, dann wünsche ich eine gute Nacht und Euch einen sicheren Aufenthalt, Madame Flera. Seid besonders vorsichtig in Anwesenheit dieses Blenders." "Ihr habt meinen Dank. Ihr alle. Aber versprecht ihr mir genauso, auf euch aufzupassen. Vor allem du, Selet! Verstanden?" "Wenn das mal keine Selbstverständlichkeit ist, Tantchen Flera!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)