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Eien 永遠

Der Samurai und der Fremde
von

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Rätsel

21. Kapitel: Rätsel
 

[Du sprichst leis meinen Namen

Du siehst mich starr an.

Ich erinnere mich nicht.]
 

----------------------------------------
 

September 2001
 

„Ist alles in Ordnung? Hast du mir überhaupt zugehört?“

Der besorgte Ton in der Stimme des Bandleaders ließ Hyde aufsehen.

„Was?“, murmelt der Blonde wie im Reflex.

Tetsu, der neben ihm stand, legte seinen Kopf etwas schief und runzelte die Stirn.

„Ist alles okay? Du bist schon wieder so nachdenklich.“

Hyde nickte, griff nach der großen Sonnenbrille, die auf dem Tisch lag, und schob sie auf seine Nase.

Tetsu starrte den Sänger fragend an.

„Ich hab dir doch gesagt, dass das alles zu viel wird.“

„Tet-chan, mir geht es gut“, winkte Hyde seinen Freund ab.

„Wirklich?“

„Ja, mach dir keine Sorgen.“

Der Sänger setzte ein gespieltes Lächeln auf und nickte.

Dass er damit den manchmal zu besorgten Freund beruhigen konnte, glaubte er aber kaum. Trotzdem tat er es, obwohl er wusste, dass Tetsu ihn sofort durchschauen würde.

Es waren knapp drei Monate vergangen, seit er das Krankenhaus verlassen hatte.

Wie ein Verrückter hatte Hyde sich sofort in die Arbeit gestürzt, in der Hoffnung, alles vergessen zu können, was in den letzten Wochen passiert war.

Natürlich hatten sowohl Tetsu, als auch Ken und Yukihiro Bedenken gehabt. Vor allem, als sich der Blonde partout nicht umstimmen lassen wollte und sie nur wenige Tage nach seiner Entlassung einen neuen Song aufgenommen hatten.

„Lass uns den neuen Song machen“, hatte Hyde in der vertrauten Memberrunde vorgeschlagen, nachdem der Mann von Square Pictures*, der um einen Song für den kommenden Final Fantasy Animationsfilm gebeten hatte, gegangen war.

Die Reaktionen der anderen war gemischt. Von Yukihiros Kopfschütteln, über Kens aufgerissene Augen bis hin zu Tetsus skeptischem Stirnrunzeln.

„Als du im Koma lagst, haben wir sie bereits mit einem alten Song vertrösten können. Ich war froh, dass sie nicht ganz abgesprungen waren. Außerdem haben wir diesen neuen Song nicht. Erinnerst du dich? Du warst drei Wochen nicht hier. Zwei Tage vor deinem Zusammenbruch sagtest du noch, du hättest drei Zeilen geschrieben“, hatte Tetsu gesagt.

„In den wenigen Wochen einen neuen Song auf die Beine stellen, ist kompletter Wahnsinn“, war von Ken gekommen. Nur Yukihiro hatte nichts gesagt, sondern immer nur weiter mit dem Kopf geschüttelt.

Doch Hyde hatte sich von dieser Idee nicht abbringen lassen.

„Aber ich habe ihn fertig. Ich habe den kompletten Text, die Melodie und ein Demo. Wir müssen ihn nur aufnehmen.“

„Wie ...?“

Tetsus erstaunter Gesichtsausdruck hatte Bände gesprochen.

„Das ist jetzt egal. Wichtig ist nur, dass wir alles haben, was wir brauchen.“

„Du bist erst vor ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und ...“

„Ich weiß Tet-chan, ich weiß ... Aber ich will diesen Song machen, bevor wir in die Bandpause gehen. Ich will diesen Song mit euch machen. Jetzt! Unbedingt!“

Und so hatte er alle überstimmt.

Sie hatten den Song aufgenommen, Square Pictures eingereicht und als neue Single angekündigt.

Es ging schnell. Schneller als er gedacht hätte. Und es war tatsächlich der komplette Wahnsinn gewesen, aber sie hatten es trotz aller Schwierigkeiten rechtzeitig geschafft.

Und doch hatte der Blonde während dieser Zeit nicht alles um sich herum vergessen können.

Das Koma, Tayamas Geschichte, der Brief.

Alles war Tag für Tag, Stunde für Stunde präsent gewesen.

Er hatte sich so tief in seine Arbeit vergraben und nichts außer der Musik war an ihn herangekommen. Er war wie besessen von diesem Song und den Aufnahmen gewesen.

Und trotzdem waren seine Gedanken irgendwann immer wieder zu seinen Ängsten und Sorgen zurückgekehrt.

Auch wenn er es noch immer nicht akzeptieren wollte, aber sie waren mittlerweile fester Bestandteil seines täglichen Lebens geworden.

Doch egal, wie schwer es für ihn gewesen war, der Song war gut geworden. Besser, als er es sich erträumt hatte.

Seit zwei Monaten konnte man ihn bereits im Abspann des Animationfilms hören. Und heute würden sie ihn das erste Mal live vor Publikum spielen. **
 

Hyde war nervös, was vor dem ersten Auftritt eines neuen Songs nicht unbedingt außergewöhnlich war. Es war völlig normal, hätte Tetsu gesagt.

Doch diesmal war es intensiver als sonst.

Verkrampft faltete Hyde seine Finger ineinander. Er kaute angespannt auf seinen trockenen Lippen herum. Und immer wieder versank er in sorgenvollen Gedanken, die um alles mögliche kreisten, nur nicht wirklich um den kommenden Auftritt.

Vielleicht lag es ja an der seltsamen Geschichte, die an dem Lied hing.

Vielleicht, weil er nicht einmal wusste, wie das alles letztendlich zusammengekommen war. Wie ihm die Zeilen und die Melodie in den Sinn gekommen waren. Dass das alles einfach so existierte, ohne dass er sich daran erinnern konnte, ihn komponiert zu haben.

Ein kompletter Song, der ihm unbekannt war und trotzdem hatte er ihn sofort, nachdem er aus dem Koma erwacht war, singen können. Als hätte er jahrelang daran gearbeitet.

Zuerst hatte er sich davor gefürchtet.

Eine seltsame Angst vor sich selbst.

Doch dann hatte er versucht, dahinter zu blicken. In seine eigene Seele.

Er hatte das Geschenk, welches er sich selbst gemacht hatte, angenommen und war gewillt gewesen, es der Welt zu präsentieren. Und das, obwohl er von Anfang an so ein seltsames Gefühl bei diesem Song gehabt hatte.

Doch nun saß er hier. Mit diesem unsicheren Gefühl ... wartend auf ihren Auftritt, mit der dunklen Sonnenbrille auf der Nase, und blickte in die besorgten Augen seines Bandleaders.

„Du bist in letzter Zeit so merkwürdig. So abwesend. Ich könnte nackt auf einem Bulldozer an dir vorbeirauschen und du würdest es nicht bemerken“, beschwerte sich Tetsu, während er ernst auf das Informationsblatt der Sendung in seinen Händen sah.

„Tut mir Leid“, murmelte Hyde leise.

Kens freches Kichern im Hintergrund ignorierte der Blonde. Er hatte momentan wirklich nicht den Kopf für Albernheiten.

„Schon gut.“

Tetsu seufzte resignierend, bevor er still die Liste der teilnehmenden Künstler durchging und sich zu Yukihiro herumdrehte.

„Also wir sind nach Matsuura Aya und vor Gackt an der Reihe. Es sollte ...“

Tetsu zuckte erschrocken zusammen, als es plötzlich hinter seinem Rücken laut krachte. Als hätte sich gerade jemand daran versucht, einen dieser schweren Stahlstühle an die Wand zu werfen.

„Gackt?“, schrie Hyde völlig außer sich, noch bevor der Bassist reagieren konnte.

Und was der Krach zu bedeuten hatte, erschloss sich dem Bandleader, als er einen dieser besagten Stühle umgekippt auf dem Boden liegend erblickte.

Gerade als Tetsu den Blonden darauf ansprechen wollte, riss dieser ihm das Blatt aus den Händen und schüttelte fast panisch den Kopf.

Das konnte doch nicht sein. Hatte er das gerade richtig verstanden?

„D-du du meinst den Sänger?“, stotterte Hyde, während er die Liste durchging.

Perplex sah Tetsu den aufgeregten Freund an.

„Normalerweise sind es Sänger, die diese Musikshow besuchen“, meinte Ken, der an sie herangetreten war und nach der Zigarettenschachtel auf dem Tisch griff.

„Aber ich dachte ...“

Verwirrt starrte der Blonde auf den Namen, der mit dicken Druckbuchstaben die Zeile direkt unter dem Namen seiner eigenen Band ausfüllte.

„Ich dachte ... es gibt ihn gar nicht“, flüsterte er leise zu sich selbst, während er langsam an seinem Verstand zweifelte.

„Was?“, fragte Tetsu, der das Gemurmel des Sängers nicht verstanden hatte.

Hyde schüttelte den Kopf, blickte den Freund an und hielt das Informationsblatt in die Höhe.

„Mein Manager hat mir am Tag vor meinem Zusammenbruch gesagt, dass es keinen Sänger namens Gackt gibt“, erklärte der Blonde.

Ungläubig starrten sich seine Kollegen gegenseitig an.

„Dann wird er dich wohl verarscht haben“, lachte Ken und zündete sich eine Zigarette an.

Hyde runzelte die Stirn.

Als auch Yukihiro zu grinsen begann, setzte er sich verwirrt auf einen der anderen Stühle, die um den großen Tisch standen und fasste sich an die Stirn, während er versuchte, nachzudenken.

Es konnte kein Scherz gewesen sein. Im Internet hatte er doch auch nichts gefunden.

Selbst der Typ im CD-Laden hatte nichts von einem Gackt gewusst.

Und der Werbespot im Fernsehen ... er war doch anders gewesen. Daran erinnerte er sich so genau, als wäre es erst vor ein paar Stunden gewesen.

Was hatte das alles zu bedeuten?

„Auf jeden Fall gibt es diesen Gackt und er wird heute nach uns performen. In 15 Minuten geht die Sendung los, also sollten wir uns langsam bereit machen“, sagte Tetsu ernst. Ken und Yukihiro nickten.

„Aber ...“, wollte Hyde einwenden, obwohl er gar nicht wusste, was genau er sagen wollte. Er saß nur da und starrte seine Bandkollegen hilflos an.

„Was soll jetzt dieses 'Aber'? Du hast das alles unbedingt gewollt, obwohl es dir nicht gut ging. Jetzt musst du es auch bis zum Schluss durchziehen.“

Da hatte er natürlich vollkommen recht.

Er hatte es gewollt, obwohl er wegen seiner Albträume kaum hatte schlafen können.

Obwohl er ständig diesen Brief bei sich getragen, ihn mindestens vier Mal täglich durchgelesen hatte und immer wieder an die Gefühle des Samurais denken musste, bis es ihn innerlich fertig gemacht hatte.

Wie ein Zombie war er jeden Tag ins Studio gegangen und hatte bis in die Morgenstunden gesungen und diskutiert. Die Arbeit hatte ihn immer nur für wenige Minuten von seiner innerlichen Zerrissenheit abgelenkt.

Im Grunde hatte es nichts gebracht.

Er hatte immer noch dieses seltsame Gefühl. Er spürte immer noch diese Reue und hatte immer noch unheimliche Angst.

Es hatte sich nichts verändert.

Vielleicht war die Sache mit diesem Gackt ja auch nur eine dumme Einbildung gewesen. Vielleicht konnte man all dies als eine Art Resultat seiner momentanen Unausgeglichenheit verstehen.

Wahrscheinlich gab es nur diese eine Erklärung dafür.

Aber es beruhigte ihn nicht.

Die Unsicherheit war stärker und präsenter als je zuvor und er spürte, wie sie sich wie ein Virus mehr und mehr in seinem Körper ausbreitete. Gerade jetzt, wo er doch eher auf eigene Zuversicht gehofft hatte.

Aber er konnte nicht mehr zurück. Denn er selbst hatte es ja so gewollt, genau wie Tetsu es gesagt hatte.

Er musste es durchziehen.
 

Mit diesem Gedanken stand der Blonde langsam auf, schob sich die Sonnenbrille tiefer in sein Gesicht und verließ zusammen mit den anderen wortlos den Aufenthaltsraum.

Bis die Sendung letztendlich begann, vergingen nur noch wenige Minuten, die Hyde damit verbrachte, nervös den Songtext durchzumurmeln.

Dann endlich ertönte eine einprägsame Melodie, die Moderatoren kündigten die Gäste an, es wurde laut geklatscht.

Bereits jetzt war es Hyde schon viel zu viel Trubel und das, obwohl er es doch eigentlich gewohnt war.

Doch vieles, was ihm sonst geläufig war, schien ihm in letzter Zeit eher gehörig auf die Nerven zu gehen. Nicht nur hier, sondern auch im alltäglichen Leben.

Da war zum Beispiel die laute Musik, die kreuz und quer aus den Geschäften ertönte, die vielen Menschen auf den Straßen, die alle durcheinander in ihre Handys sprachen, die flimmernden Bildschirme an den Fassaden der Gebäude, der ohrenbetäubende Lärm der stinkenden Autos.

So viele Dinge waren ihm seit seinem Zusammenbruch unerträglich.

Plötzlich war es einfach nicht mehr seine Welt, in der er jeden Morgen aufwachte, zu Mittag aß, arbeitete und spät Abends zu Bett ging.

Es war ihm ein fremdes Leben, in dem er sich seit ein paar Monaten überhaupt nicht mehr so zurechtfand.

Als wären diese drei Wochen in Wirklichkeit dreißig lange Jahre gewesen.

Er wusste zwar, dass dies völlig absurd war, aber sein Körper fühlte tatsächlich so.

Und so war es auch während dieser Sendung.

Es wurde wie immer viel geredet. Doch der Blonde bekam kaum ein Wort mit. Es interessierte ihn auch nicht, was sie alle zu sagen hatten. Es interessierte ihn nicht, was sie alle dachten.

Er tat nur so, als würde er zu ihren Geschichten lachen, als würden sie ihn erstaunen.

Während er die Worte des Moderators, der gerade mit dem Sänger einer Boyband sprach, vollkommen ausblendete, sah er sich unter den anwesenden Künstlern um.

Sein Blick blieb sofort an einem bestimmten Sänger hängen. Er saß nur eine Reihe hinter dem Blonden, auf der gegenüberliegenden Seite und genau am äußersten Rand der Sitzbänke.

Hyde fasste sich an die Brust, als plötzlich ein merkwürdiger Ruck durch seinen Körper gegangen war. Gerade als sich kurz ihre Blicke getroffen hatten.

Da saß er nun also, dieser Gackt, um den sich gerade all seine Gedanken zu drehen schienen. Seltsam, dass er bis vor ein paar Minuten tatsächlich noch geglaubt hatte, es hätte ihn nie gegeben. Aber nein, so war es ja nicht gewesen.

Es wurde ihm eingeredet.

Er selbst war doch felsenfest davon überzeugt gewesen, ihm schon einmal begegnet zu sein.

Doch egal, wie es wirklich war, der Solosänger hatte momentan sein ungeteiltes Interesse erweckt. Vielleicht nicht unbedingt wegen dieser seltsamen Vorgeschichte, sondern viel eher, weil dieser Mann eine außergewöhnliche Aura besaß, der sich Hyde nur schwer entziehen konnte.

Der Blonde musterte den großgewachsenen Mann mit der weißen Stoffhose und dem dunkelgrün-weiß gemusterten Hemd genauer.

Sein Haar war braun und kurzgeschnitten und er trug eine durchsichtige Brille. Er schien die Sendung genauso desinteressiert zu verfolgen wie der Bandsänger. Er blickte an die Decke oder in die andere Ecke des Studios. Selbst die Auftritte der anderen Künstler verfolgte er kaum. Das Mikrophon hatte er neben sich liegen, als hätte er nicht vor, zu reden.

Während der kurzen Werbepausen sprach er mit niemanden.

Er wirkte unnahbar und kühl.

Und er sah anders aus, als Hyde ihn von ihrem letzten Treffen in Erinnerung hatte. Aber das war lange her. Sie alle hatten sich verändert.

Doch Fakt war, dass er wirklich existierte.

Er war keine Halluzination, kein Traum, keine Erscheinung und auch kein Scherz.

Eigentlich sollte er darüber erleichtert sein, doch es war genau das Gegenteil. Irgendwie fühlte er sich eigenartig, wenn er diesen Mann ansah.
 

„Hyde-san, erzählen Sie uns, wie dieser Song zu Stande gekommen ist?“, fragte der Moderator, als der Blonde gerade nach dem Mikrofon griff und so tat, als würde er überlegen.

„Eigentlich weiß ich das auch nicht so genau. Ich hatte ihn eines Morgens einfach im Kopf“,*** lächelte er gespielt.

So hatte er es mit seinem Management abgesprochen.

Niemand sollte von diesen drei Wochen, in denen er im Koma gelegen hatte, erfahren. Niemand sollte wissen, dass es diese kritische Zeit in seinem Leben gegeben hatte. Kein Wort würde er jemals darüber verlieren.

„Also haben Sie davon geträumt?!“, hakte der Mann mit der großen Sonnenbrille lachend nach.

„So kann man es sagen, ja“, antwortete Hyde sofort.

Als er dazu nickte, lachte das ganze Studio. Ihm selbst aber war dazu nicht zumute. Er fühlte sich eher seltsam, wenn er an diese soeben erzählte Situation dachte.

Es stimmte. Er hatte den Song im Kopf gehabt, als er aus dem Koma erwacht war.

Es war, als hätte er davon geträumt, ihn komponiert zu haben.

An mehr konnte er sich nicht erinnern.

Alles, was übrig geblieben war, war dieser ominöse Song.

Der Song eines Traumes.

Danach ging es um den Film. Belanglose Fragen, die Ken, Yukihiro und Tetsu mit einem Lachen beantworteten.

Obwohl das Interview nur wenige Minuten dauerte, kam es Hyde wie eine Ewigkeit vor.

Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen und dann wieder von hier verschwinden.

Er konnte es einfach nicht mehr ertragen, wie sie lachten und dumme Fragen stellten.

Noch nie hatte er sich unter Menschen so schrecklich unwohl gefühlt wie heute.

Es war ein völlig neues Gefühl, mit dem er gerade zu kämpfen hatte.

Aber wieso? Was zum Teufel war mit ihm los?
 

Tetsu stand auf. Das Interview war beendet.

Während sie auf ihre Bühne gingen, hörte der Blonde noch, wie die Frau neben dem Moderator ihren Song ankündigte.

„Und nun 'Spirit Dreams Inside -Another Dream-'.“

Er schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er sich dicht an das Mikrofon stellte und den Instrumenten lauschte. Kurz darauf setzte er mit seinem Gesang ein.

Seine Stimme war kräftig und klar und darüber war er sehr erleichtert. Obwohl er sich merkwürdig fühlte, hatte das keinen Einfluss auf seinem Gesang.

Es war alles so wie immer. Es gab keinen Grund, irgendetwas zu befürchten.

Sie merkten es nicht.

Keiner der Anwesenden konnte seine Müdigkeit hinter der schwarzen Sonnenbrille sehen.

Keiner konnte an seiner Stimme hören, dass er innerlich zitterte.

Niemand sah ihn fragend an.

Nein, niemand.

Niemand außer diesem Gackt.

Ihm wäre fast das Mikrophon aus den Händen gerutscht, als er diesen durchdringenden Blick bemerkte. Ein Blick, der ihn zweifelnd mit tausend Fragen zu durchbohren schien.

Was war es, was dieser Sänger gerade gesehen hatte und ihn so aufmerksam werden ließ, wo es ihn doch die ganze Zeit nicht interessiert hatte, was die anderen Künstler präsentierten?

Warum starrte er dem Blonden in die Augen, als könne er hinter die dunkle Sonnenbrille blicken?

Es machte Hyde nervös. Ein Zittern fuhr in seine Hände und seine Wangen fingen an zu glühen.

Warum konnte er nicht einfach wegsehen, so wie er es die ganze Sendung über getan hatte?

Warum hatte der Blonde das Gefühl, dieser Solokünstler hätte ihn bei einem merkwürdigen Gedanken ertappt? Ein Gedanke, der in 1000 Puzzleteilen in seinem Kopf herumschwirrte.

Konnte dieser Gackt lesen, was er gerade fühlte?

Konnte er sehen, dass er mit seinem Leben nicht mehr zurechtkam? Dass etwas nicht stimmte und er leise um Hilfe schrie?

Aber Hyde wollte sich diese Unsicherheit auf keinen Fall anmerken lassen. Wenigstens vor den anderen nicht.

Er sang weiter, packte noch mehr Energie in seine Stimme und hoffte innerlich, dass dieser Tag – nein, die letzten Wochen nur ein Traum gewesen waren. Er betete, dass er nicht wirklich verrückt war, und dass es irgendwo noch einen Weg aus diesem nicht endenden Wahnsinn gab.
 

Atemlos klammerte er sich an den Mikrophonständer, als das Licht ausging und das Publikum, bestehend aus dreißig bis vierzig Musikfans, begeistert applaudierte.

Er hatte es geschafft.

Es war vorbei.

Er seufzte während er Tetsu, Ken und Yukihiro kurz hinter die Bühne folgte, um etwas zu trinken, bevor sie sich zurück auf ihre Plätze hinter den Moderatoren begaben.

Gackt hatte sich derweil auf seine Bühne begeben.

Der Blonde war erleichtert. Nur noch dieser Auftritt, dann war die Sendung vorbei.

„Du hast gut gesungen,“ flüsterte Tetsu. Hyde bedankte sich mit einem Nicken für dieses Kompliment und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, während er aufmerksam den letzten Auftritt dieser Sendung verfolgte.

„Aber du siehst blass aus. Ich hatte kurz das Gefühl, irgendwas würde mit dir nicht stimmen. War was?“

Der Blonde schüttelte den Kopf.

„Ich hatte nur wieder Angst, den Text zu vergessen“, flüsterte Hyde, obwohl es ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach. Ausnahmsweise war dies einmal nicht seine Sorge gewesen

„Auf jeden Fall gute Arbeit. Besser als ich es von deiner momentanen Verfassung erwartet hätte.“

Hyde nickte, ohne den Bandleader dabei anzusehen.

Die wenigen Minuten bis zum Ende der Show vergingen wie im Fluge.

Der kühle Sänger kehrte von seinem Auftritt zurück in die Gesprächsrunde, bevor die Moderatoren kurz darauf die Sendung mit einer kurzen Abschlussrede beendeten.

Während sich der ein oder andere noch in ein Gespräch verwickelte, ertappte sich der Blonde dabei, wie er noch einmal nach dem dunkelhaarigen Sänger mit den eisblauen Augen Ausschau hielt.

Doch es wurde nur ein flüchtiger Blick. Denn als er bemerkte, wie dieser in seine Richtung sah, riss sich Hyde panisch herum.

„Was ist los?“, fragte Ken, gegen den er Aufgrund seiner Unachtsamkeit gestoßen war.

„Nichts“, stammelte Hyde verlegen.

Als er zusammen mit seinen Bandkollegen das Studio verließ, schüttelte er fassungslos über sein eigenes Verhalten den Kopf.

Warum hatte er sich wegen dieser Sache so aus dem Konzept bringen lassen?

Warum musste er immer wieder darüber nachdenken?

Er existierte doch. Es war doch so, wie er die ganze Zeit geglaubt hatte.

Er hatte doch so gezweifelt, als sein Manager die Existenz von diesem Sänger abgestritten hatte.

Es war doch von Anfang an komisch gewesen.
 

*
 

Obwohl er froh war, dass dieser Abend endlich vorbei war, saß er noch eine Weile allein vor den Spiegeln im Aufenthaltsraum des Senders.

Er zog sich die Sonnenbrille von der Nase und starrte lange sein Spiegelbild an. Sein Handy, mit dem er gerade noch telefoniert hatte, legte er auf die Ablage.

„Ich habe es mir wirklich eingebildet“, murmelte er schockiert, während er sich über die Stirn in sein Haar fuhr.

Die ganze merkwürdige Sache mit diesem Gackt ließ ihm keine Ruhe.

Aufgewühlt hatte er seinen Manager angerufen und gefragt, warum er sich diesen Scherz mit ihm erlaubt hätte. Doch dieser hatte von nichts gewusst.

Nie sollte es dieses Thema während ihres Telefonats gegeben haben. Es war nur ein Hirngespinst gewesen. Tatsächlich nur eine Halluzination.

„Anscheinend werde ich wirklich verrückt“, sagte er und sah in den Spiegel.

Der merkwürdige Ausdruck in seinem Gesicht ließ ihn schmunzeln.

Lange blickte er in seine gespiegelten Augen. Und je länger er dies tat, desto fremder wurde ihm dieser Anblick. Er sah einen Menschen, den er einfach nicht mehr kannte.

Er hatte sich zweifelsohne verändert, ohne dass er es überhaupt bemerkt hatte.
 

Während er verzweifelt den Kopf schüttelte, stand er auf und griff nach seinem Handy und der Sonnenbrille. Er verließ den Raum und lief den langen Flur entlang.

Leute kamen ihm entgegen und verabschiedeten ihn mit einer knappen Verbeugung. Doch er sah ihnen nur abwesend in die Gesichter.

Er wusste nicht, was er ihnen sagen sollte. Er wusste ja nicht einmal, wie er sich selbst beruhigen und das alles erklären sollte.

Es war noch viel schlimmer geworden, als er sich je zu träumen gewagt hatte. Sein Leben entglitt vollkommen seinen Händen.

Er seufzte, während er vor der Ausgangstür des Senders stehenblieb und wieder den Kopf schüttelte.

„Vielleicht sollte ich zumindest endlich diesen Brief wegwerfen“, murmelte der Blonde leise.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er zu diesem Entschluss gekommen war. Obwohl er es wirklich wollte, fehlte es ihm dafür einfach an dazugehörigem Mut.

Jeden Tag schlug er sich damit herum. Jedes Mal, wenn er ihn in seine Hände nahm, verspürte er den Drang, dieses wertlose Blatt Papier endlich zu verbrennen.

So oft hatte er bereits versucht, sich davon zu befreien. Doch immer wieder war es diese verborgene Verbundenheit, die ihn in letzter Sekunde davon abhielt.

Langsam fuhr er mit seiner Hand in die Hosentasche und wollte den Brief herausziehen. Doch er griff ins Leere.

Er war nicht da.

Er war nicht in seiner Tasche.

Panisch fasste er in die andere Seite seiner Hose, doch auch dort konnte er ihn nicht finden.

„Verdammt“, fluchte der Blonde.

Er drehte sich um und lief aufgewühlt den Flur zurück.

Er musste ihn finden. Er wollte ihn unbedingt zurück.

Sein Innerstes schrie danach. Plötzlich hörte er sich selbst sagen, wie wichtig ihm diese Zeilen in Wirklichkeit waren, dass er sie niemals aus den Händen lassen würde.

Obwohl er ihn die ganze Zeit über nur hatte loswerden wollen, fühlte er sich nun, da sich sein Wunsch doch erfüllt hatte, als hätte er etwas unbezahlbar Wichtiges verloren.

Es war völlig verrückt, doch mit einem Mal hatte er eingesehen, dass es kein wertloses Stück Papier war.

Ja, es war eine billige Kopie. Aber nicht das Papier oder die Originalität war das Wichtige daran, sondern die Worte, die darauf standen. Die Gefühle des Samurai, die mit jenen Worten ausgedrückt waren. Hyde wollte sie bewahren, sie beschützen. Niemand sollte sie zu lesen bekommen.

Dass er diesen ungewöhnlichen Brief verloren hatte, konnte sich der Blonde nicht verzeihen. Er fühlte sich, als hätte er den Schreiber mit seiner Unachtsamkeit unfair behandelt. Obwohl er ihn gar nicht kannte, diesen Krieger, der schon viele jahrhundertelang tot war.

Als der Blonde daran dachte, wie andere über die niedergeschriebenen Gefühle lachen könnten, tat es ihm in der Brust weh. Ein seltsamer Schmerz, den er sich nicht erklären konnte.

Was, wenn er ihn nicht hier, sondern auf dem Weg in den Sender verloren hatte? Was, wenn er ihn nicht wiederfinden würde?

Hyde schüttelte den Kopf und lief weiter.

Voller Sorge und Schuldgefühlen starrte er in die Ecken des verwinkelten Flures, bis er plötzlich geschockt stehenblieb.

„Hidetori!“

Jemand rief diesen Namen und Hyde blickte automatisch in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war.

Aber warum hatte er das getan?

Stirnrunzelnd fasste er sich an die Brust, genau dort, wo sein Herz plötzlich wie verrückt schlug, während es seltsam still wurde.

Sein Innerstes war in wirrer Aufruhr und alles stand auf einmal Kopf. Aber er wusste nicht warum. Sein Körper reagierte, doch sein Verstand hatte keine Ahnung.

Normalerweise hätte er es ignoriert und wäre einfach weitergegangen, doch seine Füße trugen ihn automatisch in die Richtung, aus der er den Ruf gehört hatte.

Und dann stand er vor ihm.

„Das lag vor dem Raum von L'Arc~en~Ciel“, meinte der Sänger mit den blauen Kontaktlinsen, während er noch etwas näher kam und Hyde ein zusammengefaltetes Blatt reichte.

Es war dieser Gackt.

Von allen Menschen, denen er heute in diesem Gebäude begegnete war, war es ausgerechnet Gackt gewesen, der den Brief gefunden hatte.

War es Zufall? Reiner Zufall, oder entwickelte sich die Sache zu einem merkwürdigen Mysterium?

Hartnäckig versuchte Hyde den Drang, den Dunkelhaarigen in die Augen zu sehen, zu ignorieren. Doch er verlor diesen Kampf wenig meisterlich. Und nun wusste er auch, warum er sich so dagegen gewehrt hatte.

Als sich ihre Blicke trafen, war es, als wäre ein Blitz durch seinen Körper gefahren. Er konnte sich nicht rühren, kaum atmen. Die Zeit war einfach für einen kurzen Moment stehengeblieben.

Bestürzt blickte der Blonde in die blauen Augen, die ihn ebenso fassungslos anstarrten.

Dann bemerkte Hyde ein Zittern in den Lippen des anderen.

Selbst die Hände des Größeren bebten kurz, als der Blonde das Blatt an sich nahm und sich ihre Finger dabei flüchtig berührten.

Doch er sagte nichts. Nicht einmal ein Dankeschön kam über Hydes Lippen.

Er war geschockt. Es verschlug ihm die Sprache. Alles in seinem Kopf drehte und vernebelte sich. Und diese Augen ... Sie kamen ihm so bekannt vor.

Nicht von einer ihrer flüchtigen Begegnungen, in denen sie sich nie wirklich angesehen hatten, sondern von etwas viel Tieferem, etwas Bedeutungsvollerem als das.

Aber er erinnerte sich nicht. Es kam ihm einfach nicht in den Sinn, was es war.

Er dachte nur plötzlich, dass er von diesem Sänger Antworten bekommen könnte. Antworten auf all seine seltsamen Fragen.

Am liebsten hätte er direkt danach gefragt, doch als er sprechen wollte, bemerkte er, wie dumm dieser Gedanke doch war. Was sollte er denn sagen?

Dass er verrückt war und nicht genau wusste warum? Sollte er fragen, ob er vielleicht den Grund kannte?

„Vielleicht ...“, meinte Gackt verkrampft, während er ungläubig den etwas kleineren Sänger musterte.

„Vielleicht hast du ... I-ich meine, haben SIE es verloren.“

Die Unsicherheit in der Stimme des Größeren machte Hyde nervös. Er wusste, dass er etwas sagen musste, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.

Der Sänger mit dem kurzen braunen Haar starrte ihn ununterbrochen an. Genau wie vorhin, als der Blonde auf der Bühne gestanden und gesungen hatte.

Natürlich war es Hyde klar, dass es unhöflich war, doch aus lauter Verzweiflung sah er keinen andren Weg aus dieser Situation.

Er blickte zu Boden, setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase und verbeugte sich zum Dank.

Dann ging er einfach, ohne noch etwas zu sagen.

Während er verwirrt die Lippen aufeinanderpresste, fing er an zu rennen, als hätte er Angst, dieser Gackt würde ihn verfolgen. Er riss die Tür auf und knallte sie laut hinter sich zu. Die frische Luft, die er draußen einatmete, ließ ihn wieder ruhiger werden.

Was war da eigentlich gerade geschehen?

Sollte er zurückgehen, oder es lieber dabei belassen?

Sollte er so tun, als hätte er soeben nicht dieses seltsame Gefühl gehabt?

Er schwankte, er zögerte.

Doch Gackt, der immer noch wie paralysiert in diesem Flur stand, ahnte nichts davon.

Er war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Gedanken, die um eine Frage kreisten.

„Wie kann das sein?“
 

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*#*#*
 

Erläuterungen:
 

* Square Pictures

eines der Studios unter Square, die für den Animationsfilm verantwortlich waren.
 

**

eigentlich war dieser Music Station Auftritt nicht der erste für diese Single. Es gab noch einen Auftritt bei der Filmpremiere (und der war eben sehr viel früher im Juli), wenn ich das so richtig mitgekriegt habe. Ich habe es für meine Story aber mal so minimal verändert.
 

***

auch den Talk habe ich nach meinem Belieben verändert, damit er in die Story passt. Eigentlich weiß ich auch gar nicht, was sie in Wirklichkeit gelabert haben. Irgendwas mit London. ^^



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Cookie-Hunter
2012-02-09T21:51:31+00:00 09.02.2012 22:51
Ich konnte Hydes Verwirrung völlig nachvollziehen. Erst versucht die ganze Welt ihm weiß zu machen, dass es keine Person namens Gackt gibt und plötzlich kennt ihn doch jeder?
Und dabei hat der sich seinen Kopf doch schon so kaputt gerätselt und dann kommt noch mal so ein Hammer >.<
Wie die beiden sich dann das erste Mal richtig gegenüber gestanden haben und sie gespürt haben: Da ist was. Die Stelle war gut.
Bei der Geschichte mit dem Bulldozer war ich, ehrlich gesagt, froh, dass ich noch nicht aus meiner Teetasse getrunken hatte xD Das Bild war einfach zu herrlich.
Ich freue mich jedes Mal aufs neue, wenn diese FF weiter geht, weil sie so gut geschrieben ist und du immer wieder Überraschungen einbringst.
Weiter so x3
Von:  Tiff
2012-02-08T08:48:02+00:00 08.02.2012 09:48
hey-ho!
wollte mich nur mal vorstellen: deine neue leserin! war die letzten tag krank und hab nur diese fnfic gelesen - hat mich total von den socken gehauen :)
wirklich, ich LIEBE diese fanfic, sie ist einfach nur toll. und weil du sie geschrieben hast, heißt das, du bist toll!!!
also, schreib bitte schnell weiter, ja?
LG julia
Von:  Vampire-Mad-Hatter
2012-01-30T15:38:56+00:00 30.01.2012 16:38
Endlich das Treffen zwischen den beiden! 0_0
Aber Gackt war so... hm... wie soll ich sagen... keine Ahnung *drop*
Und als sie sich dann Gegenüber standen, da war dann was bei Gackt *_*
Und dann geht Hyde *boah ich könnt mir die Haare raufen*

Weeeeiteeeeer

Ich lieb diese FF @_@
Von:  SummerRiver
2012-01-26T06:59:21+00:00 26.01.2012 07:59
oaahh~
das kann noch was werden.
ich hoffe hyde erinnert sich >.<
Ist i-wie traurig zu lesen wie er sich quält..

LG Shinda
Von: abgemeldet
2012-01-24T22:22:24+00:00 24.01.2012 23:22
>_____<
das war total dramatisch zu lesen irgendwie...

*"Erinnere dich Hyde!!!" vor sich hin betet*


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