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Every Little Thing

von  -Moonshine-

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Kapitel 11: Little Catastrophe

"So." Mr. Dickinson - ich brachte es noch immer nicht über die Lippen, ihn mit seinem Vornamen, Gregory, anzusprechen, aber andererseits waren wir auch geschäftlich hier und nicht privat - schob einen hohen Papierstapel beiseite und rückte mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht, die ihm ein wenig von der Nase gerutscht war. Dann musterte er mich wieder prüfend.
Wir waren auf dem Polizeirevier; Sean hatte mich hergefahren und würde mich gleich in den Kindergarten bringen, zumindest hatte er das versprochen. Vorher aber hatte er darauf bestanden, dass ich die Geschehnisse bei mir zu Hause der Polizei meldete.
Und da saß ich nun.
Ohne große Komplikationen hatte er mich in sein und Dickinson's Büro geschleust, damit ich nicht zufällig von irgendeinem anderen Kollegen "verhört" wurde. Eigentlich war das fast schon Vetternwirtschaft, was er hier betrieb, aber wer konnte sich schon beschweren, einen eigenen, privaten Polizisten für sich zu haben, der sich um alle Angelegenheiten ganz wie von selbst kümmerte? Also mir sollte das nur recht sein. Es bedeutete weniger Stress und Ärger.
Nachdem Sean Gregory das ganze Desaster mit all seinen Ausmaßen kurz skizziert hatte, war dieser dazu übergegangen, mich selbst auszufragen.
"Wie lang, sagen Sie, bekommen Sie schon diese Drohbriefe?", wollte er von mir wissen und ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her.
"Seit etwa... zwei Wochen...", murmelte ich kleinlaut und warf einen unsicheren Blick zu Sean, der mit verschränkten Armen vor der Brust gegen seinen Schreibtisch lehnte und uns geduldig zuhörte. Als er bemerkte, dass ich ihn zuspruchsuchend anschaute, nickte er nur ernst.
Mr. Dickinson warf zuerst ihm, dann mir einen äußerst unzufriedenen, verärgerten Blick zu, sagte aber nichts weiter. Vielleicht kam er auch noch nicht dazu, etwas zu sagen, weil ich mal wieder den Mund aufmachte. Er sollte nicht böse auf Sean sein, denn er hatte sich nur meinem Willen gebeugt.
"Das ist nicht seine Schuld, Mr. Dickinson. Ich wollte... nicht zur Polizei, weil..." Ich brach ab. Es musste ja nicht jeder wissen, dass ich die Männer in Blau für nicht ganz so machtvoll hielt, wie sie sich wahrscheinlich selber.
"Weil, Miss Jones?", hakte Gregory interessiert nach.
Ich biss mir auf die Unterlippe. "Sie können ja sowieso nichts tun!", platzte es unglücklich aus mir heraus.
Mr. Dickinson blickte mich einen sich ewig hinziehenden Moment lang mit einem undefinierbaren Ausdruck an; ich meinte, von seitens Sean ein unterdrücktes Lachen zu hören, aber ich drehte mich nicht um.
Nach einem schier endlos scheinenden Augenblick sprach Mr. Dickinson wieder.
"Wir helfen, so gut wir können, Miss Jones."
Was hatte ich gesagt? Das war nur die Bestätigung für meine Annahme.
Er klang tatsächlich ein wenig eingeschnappt, irgendwie steif.
"Ich meine, Sie... niemand hat Hinweise und eigentlich ist es unmöglich, diesen... diese Person ausfindig zu machen. Niemand wird sich die Mühe machen, weil... das einfach zu unwichtig ist...", schloss ich, meine Stimme wurde von Wort zu Wort leiser.
Immerhin war das hier kein Mordfall – zum Glück! Es wurden keine Suchtruppen losgeschickt. Keine Fingerabdrücke genommen.
Zaghaft wagte ich es, einen Blick auf Mr. Dickinson zu werden. Ich wollte ihn auf keine Fall angreifen oder seine Arbeit schlecht machen, aber ich war mir sicher, auch er konnte das nicht bestreiten.
Wieder Stille.
"Und könnte es nicht doch ein dummer Jungenstreich sein?", hakte er schließlich nach. Ich wusste es doch!
Hilflos zuckte ich mit den Schultern. Wenn es so war, dann war es ein ziemlich grausamer Streich.
"Das glaube ich ehrlich gesagt nicht", warf Sean ernst ein. "Derjenige, der das macht, gibt sich richtig Mühe... die Adresse und die Telefonnummer rausfinden und alles. Das sind gezielte Angriffe, ich verstehe nur noch nicht, weshalb und wohin das führen soll."
Gregory nickte abwesend und kratzte sich an der Stirn, seufzte dann.
"Haben Sie einen Verdacht, wer Ihnen vielleicht nicht so gut gesonnen sein könnte, Miss Jones?", fragte er wieder geduldig und äußerst gelangweilt. Aha, die Trockenpflaume in ihm war also wieder erwacht!
Ich schüttelte den Kopf. Mir fiel niemand ein, der mich so hassen könnte. Warum auch? Ich hatte niemandem etwas Böses getan und hatte das auch in nächster Zeit nicht vor.
"Was ist mit diesem... diesem jungen Mann, mit dem sie sich letztens unterhalten haben?" Er dachte angestrengt nach. "Der sah nicht besonders wohlwollend aus... hatten Sie nicht gesagt, er wäre nicht ihr Freund?"
Oh Mann, wieso musste er das SO ausdrücken? Natürlich war Tom alles andere als "mein Freund".
"Ja... ich meine, nein... ist er nicht..." Ich schluckte. Bitte, bitte, nicht in Sean's Gegenwart!
"In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm, Miss Jones?"
ARGH!
Ich versteifte mich auf meinem ziemlich unbequemen Stuhl und hielt mich unwillkürlich an der Stuhlkante fest. Dass hier mein ganzes Privatleben der Vergangenheit ans Tageslicht gezerrt werden sollte, damit hatte ich nicht gerechnet!
Ich zwang mich, nicht in Sean's Richtung zu sehen, als ich antwortete.
"Er ist... mein Ex... Freund...", würgte ich schuldbewusst hervor und sah aus den Augenwinkeln, wie Sean sich augenblicklich aufrechter hinstellte, spürte seinen neugierigen Blick auf mir ruhen.
"Oh." Gregory war sich wohl gewahr, dass er eben in ein Minenfeld getreten war und wir uns nicht mehr gerade auf sicherem Gebiet befanden, aber er fuhr ganz fachmännisch fort. "Haben Sie einen Grund zur Annahme, dass er Ihnen irgendetwas Böses wollen könnte? Aus Rache vielleicht? Das ist ein allseits bekanntes Motiv. Das üblichste, um es so zu sagen. Oder Eifersucht?" Er warf einen kurzen Blick zu Sean.
"Nein, nein...", winkte ich zaghaft ab. "Das glaube ich nicht... " Eigentlich müsste ich doch diejenige sein, die sich an ihm rächen wollen könnte. Und Eifersucht? Nun. Er hatte Tania, wieso sollte ER eifersüchtig sein, nachdem er mich betrogen und dann acht Monate lang wie die Pest gemieden hatte? Eher unwahrscheinlich.
"Sind Sie SICHER?" Dickinson beugte sich über den Tisch und beäugte mich eindringlich.
Eingeschüchtert nickte ich. "Ja, ich... ich meine, Tom hat überhaupt keinen Grund und..." Ich musste kichern, aber eher aus Nervosität, weil ich vorher noch nie ausprobiert hatte, das laut auszusprechen. "Er ist schrecklich feige."
Niemals würde er das, was er hatte, gefährden, indem er so einen Mist anstellte. Er hatte viel zu viel Angst vor Autoritäten und war wohl deshalb so ein penibler, penetranter, ignoranter Typ. Ugh, wie konnte ich so einen überhaupt nur gemocht haben?
Angewidert in meine Gedanken versunken über meine Dummheit und Tom's zahlreiche Makel fiel mir noch etwas ein und ich überlegte nicht lange, bevor ich es in Worte fasste: "Außerdem... Tom hat sich nie besonders viel aus mir gemacht, deshalb... glaube ich nicht, dass er so eine Show abziehen würde..."
Weil ich so was, in seinen Augen, gar nicht Wert wäre.
Dickinson öffnete den Mund, aber Sean hatte sich bereits vom Tisch abgestoßen, stand nun neben mir und kam ihm zuvor. "Das reicht erst mal, Greg. Wir haben genug Informationen", sagte er sanft und es kam mir vor, als redete er eher mit mir, als mit Trockenpflaume.
Dieser nickte bestätigend.
"Ich bringe Emily jetzt zur Arbeit und bin in zehn Minuten wieder da." Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Soll ich dir Kaffee mitbringen?"
"Das wäre gut. Der Kaffee, den du uns kochst, ist schließlich ungenießbar und die Kaffeemaschine gibt auch bald den Geist auf." Gregory grinste erschöpft. Es schien, als hätte auch er keine besonders ruhige Nacht gehabt.
Sean nickte abwesend, anscheinend mit den Gedanken ganz woanders, und geleitete mich nach draußen, zu seinem Auto. Den ganzen Weg runter sagte er nichts und ich fragte mich, womit er sich wohl beschäftigte. Vielleicht damit, was ich über Tom erzählt habe? Wir hatten bis jetzt über nichts besonders Privates gesprochen und eigentlich wollte ich über seine bestimmt zahlreichen Ex-Freundinnen auch nichts wissen... Aber vielleicht beschäftigte er sich auch mit ganz anderen Sachen. Wo er den Kaffee kaufen wollte, beispielsweise. Starbucks? McDonalds? Das kleine Café in der Nähe meiner Arbeit?

"Sag mal", durchbrach ich nachdenklich die Stille und hatte wieder seine volle Aufmerksamkeit. Auffordernd schaute er mich an.
"Ist deine Abteilung überhaupt für so was zuständig? Könnt ihr meine Aussage einfach so aufnehmen?"
Sean grinste. "Wir können alles. Wir sind wie Superman", neckte er mich, als er aus dem Auto stieg und ich es ihm gleich tat. Wir waren mittlerweile beim Kindergarten angekommen, die Fahrt hatte nur wenige Minuten gedauert.
"Superman kann aber fliegen", protestierte ich störrisch. Das war gerade ganz sicherlich nicht Superman, der da eben seinen Höhenflug hatte! Ich konnte nicht leugnen, dass Sean manchmal wirklich etwas zu überzeugt von sich selbst war. Leicht arrogant. Aber das war ja wiederum auch etwas, das mich unglaublich anzog. Ich war irgendwie... bescheuert!
Er lächelte süffisant und hob die Augenbrauen, als er mir einen Seitenblick zuwarf. "Dafür kennt Superman nicht deine Dessoussammlung, Röntgenblick hin oder her..."
Das musste ja jetzt kommen. Warum, zur Hölle, hatte sich gerade DAS so in sein Gedächtnis eingebrannt? Es war wahrscheinlich nie wieder auszulöschen.
"Hmpf. Superman wäre viel zu anständig, um da überhaupt hinzugucken", erwiderte ich verdrießlich und drehte mich demonstrativ von ihm weg.
Er war vollkommen immun gegen meine Defensive und den Versuch, ihn mit Ignoranz zu strafen, und plapperte unbeeindruckt weiter, während er um den Wagen zu mir herumging.
"Das denkst auch nur du. Soll ich dir noch etwas verraten, was an mir außerdem noch besser ist als an Superman?"
Alles, aber das sagte ich nicht. Neugierig drehte ich mich zu ihm um, unfähig, ihn allzu lange nicht zu beachten. "Da bin ich aber gespannt", sagte ich mit einer Mischung aus Neugierde und Skepsis.
Er lächelte und beugte sich zu mir herab. "Mich gibt es wirklich." Und dann nahm er mein Gesicht in beide Hände und küsste mich, küsste mich, küsste mich... Nahm mir den Atem.
Bis er wieder aufhörte.
"Emily?"
Erschrocken riss ich die Augen wieder auf. Warum klang er plötzlich so ernst?!
"Ja...?", antwortete ich zaghaft.
"Ich muss dir noch etwas sagen...", druckste er herum und sah plötzlich etwas schuldbewusst drein. Oh je. Was kam jetzt?
"Es ist so, ich hab... ich habe einen Hund."
Einen... was? "Hund?", echote ich stumpf. Wo?!
"Ich hab keinen Hund gesehen", erklärte ich ihm etwas vorwurfsvoll. Einen imaginären Hund? Was meinte er mit "Hund"?
Er lächelte mild. "Ich wusste nicht, ob du Hunde magst und ich wollte nicht, dass er unnötig stört, deshalb hab ich ihn für den einen Abend an den weltbesten Hundesitter gegeben. Holly war ganz schön aus dem Häuschen, sie liebt Sam."
Sam. Der Hund. Der Hund Sam. Holly liebte Sam.
Ich hatte Angst vor Hunden. Also, vor Sam.
"Ein großer... Hund?", wollte ich verunsichert wissen. Die Großen waren immer am furchteinflößendsten.
Sean überlegte eine Weile, was ich wohl für "groß" befinden würde und nickte anschließend. Ich schluckte.
"Er beißt nicht, er ist ganz lieb, ich versprech's dir", versicherte er mir. Na, das konnte ER sagen, aber ob der Hund derselben Meinung war?
Ich wollte ihm jetzt auch nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich keine Hunde mochte und seiner wahrscheinlich auch keine Ausnahme sein würde. Vielleicht würde er das ja sogar persönlich nehmen?
"Na gut", ergriff er wieder die Initiative, als ich noch immer schwieg und überlegte, wie ich auf die Information "Hund" reagieren sollte, mit meinem Schicksal hadernd. "Ich hole dich ab... wann? Um vier?"
Ich nickte.
"Also um vier und dann reden wir weiter, in Ordnung?"
"Ja, gut", erklärte ich mich einverstanden. Ich musste den Tag ohne Hund, den ich jetzt noch vor mir hatte, gehörig genießen, bevor ich ein großes Tier mit großen Reißzähnen an meinem Arm oder meiner Wade hängen haben würde.
Sean beugte sich zu mir herunter und küsste mich beiläufig auf die Wange. "Bis nachher."
"Tschüss", murmelte ich und sah ihm nach, als er in den Wagen stieg. Dann gab ich mir einen Ruck, drehte mich um und lief zielstrebig die paar Meter bis zur Eingangstür des Kindergartens.

Eve war bereits da und erwartete mich mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht. Eigentlich nichts Neues.
"Uh lala, Emily, was seh ich denn da? Hast du also doch den tollen Polizisten an Land gezogen, was? Wurde ja auch Zeit!"
Ich hängte meine Jacke an den Haken und warf ihr einen bösen Blick zu, aber sie dachte nicht daran, endlich zu verstummen.
"Und dann dieser Kuss... da wurde ja sogar mir ganz heiß. Ehrlich, hast DU ein Glück." Dann seufzte sie. Ich wusste, was jetzt kommen würde. "Ich wünschte, Paul würde mich auch ab und zu so küssen. Oder zumindest so ansehen."
Was?
"Wie ansehen?", fragte ich auf dem Schlauch stehend.
Sie rollte genervt die Augen. "Na so. Wie dieser Typ dich anschaut."
"Wie denn?" Sean sah mich irgendwie besonders an? Habe ich nie mitbekommen!
"Maaan, Emily, stell dich gefälligst nicht so doof, das kauft dir doch keiner ab. Komm, wir müssen Brötchen schmieren."
Sprach's und verschwand. Und ließ mich mit einem Fragezeichen über den Kopf hängend alleine zurück.
Da ich aber nun mal schon als "doof" bezeichnet wurde, traute ich mich nicht, das Thema noch mal anzusprechen. Bis jetzt galt ich nur als "gespielt doof", aber wenn ich ihr den Ball noch einmal zuspielte, würde sie mich als "wirklich doof" abstempeln. Nun, vielleicht hatte sie ja Recht, aber sie sollte es trotzdem nicht wissen!
Verwirrt folgte ich ihr in die Küche und begab mich daran, das Frühstück für die Kleinen zuzubereiten. Die ersten Kinder spielten schon im Spielzimmer, aber es waren erst zwei oder drei, sodass sie nicht sonderlich laut waren. Eve verwickelte mich in ein unverfängliches Gespräch über ihren Yoga-Kurs, den sie letzte Woche angefangen hatte und beschwerte sich, dass außer dem schwulen Kursleiter sonst nur noch Frauen anwesend waren. Na, was für eine Überraschung!


Nur wenige Stunden später saß ich beschämt auf der niedrigen Bank in der Vorhalle des Kindergartens und starrte betrübt den Boden an. Das war wohl nichts gewesen mit "den letzten Tag ohne Hundebisse genießen".
Ben saß neben mir, und obwohl er noch lange nicht so missmutig wirkte, wie ich, gab er sich dennoch alle Mühe.
Aus der Küche hörte ich ein lautes Seufzen - Martha - und Eve's Geplapper, die heute etwas länger geblieben war. Meinetwegen.
In gedämpften Tonfall sagte unsere Pseudoköchin etwas zu meiner Freundin und ich wusste genau, dass es um mich ging.
In diesem Moment ging die Tür auf und jemand trat herein. Ben blickte auf, aber ich machte mir die Mühe erst gar nicht. Ich wusste es sowieso. Er war pünktlich, wie es sich gehörte.
Neben mir rutschte Ben aufgeregt auf der Bank herum, als er erkannte, um wen es sich handelte.
Ich versuchte, im Erdboden zu versinken...
"Hallo!", begrüßte mein kleiner Freund meinen großen Freund erwartungsvoll, als dieser näher kam und ihm höchstwahrscheinlich ein Lächeln schenkte.
"Hey, Ben. Alles klar bei dir?" Es sollte mich wohl wundern, dass Sean sich noch an Ben's Namen erinnern konnte, aber das tat es nicht. Er war immer äußerst aufmerksam, was man von mir nicht gerade behaupten konnte...
"Klaaar", zog Ben grinsend in die Länge, bewegte sich aber nicht einen Zentimeter von meiner Seite. Der Engel!
Doch dann konnte er nicht mehr abwarten und streckte seine Hand begeistert in die Höhe.
"Guck mal da! Emily hat auch so was!" Er sprang auf, lief um mich herum und packte meine rechte Hand, um sie in Sean's Richtung auszustrecken.
Dieser schnappte erschrocken nach Luft und war mit einem Satz bei uns, wusste jedoch nicht, wem er sich zuerst widmen sollte: meiner oder Ben's bandagierten Hand.
"Was ist passiert?", drängte er und suchte meinen Blick. Nur widerwillig schaute ich ihn an und sah direkt in ein besorgtes Augenpaar, das auf mich gerichtet war.
Das alles sollte er wegen mir nicht durchmachen... Ich brachte jedem, der mit mir zu tun hatte, nur Ärger ein. Er sollte glücklich sein und leben und sich keine Sorgen zu machen brauchen. Und schon gar nicht rund um die Uhr. Um mich.
"Nur ein kleiner Unfall", murmelte ich betrübt und zuckte mit den Schultern, um die Situation abzuschwächen. "Kein Grund zur Besorgnis."
"Kein Grund zur Besorgnis" implizierte ein halbes Blutbad, eine Küche voller Porzellansplitter, ein paar traumatisierte Kinder und eine wildgewordenen Julie, die mich über drei rote Ampeln in ihrer Klapperkiste von Auto ins Krankenhaus gefahren hatte. Aber das musste Sean ja nicht wissen...
"Das war VOLL COOOOL!", begeisterte Ben sich stattdessen und tänzelte um mich herum. Seine Augen leuchteten, während er nur darauf wartete, Sean seine eigene Version der Geschichte zu erzählen. "Emily ist bestimmt mit huuundert Tellern durch die Gegend geflogen und dann war alles voller Blut!"
Jungs... sie waren also schon von Geburt an so... Ich würde fünfzig Pfund darauf verwetten, dass Ben ein begeisterter Kriegs- und Splatterfilm-Liebhaber wird, spätestens, wenn er das Teenageralter erreicht.
Sean war nicht so begeistert von dieser Geschichte und starrte mich ungläubig an, unfähig, etwas zu sagen. Dann wandte er sich noch einmal an Ben, wahrscheinlich, weil ihm die Worte fehlten.
"Und was ist mit dir?" Er deutete mit einem Kopfnicken auf Ben's ebenfalls bandagierte Hand.
"Das ist nur aus Solidarität", knurrte ich, plötzlich ein wenig verärgert.
Ich wusste, dass ich wütend auf mich selbst war, weil ich so... unfähig war. Aber ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Und Sean und Ben waren die einzigen beiden in unmittelbarer Nähe.
"Ach so." Sean schien beruhigt und atmete erleichtert aus. Dann warf er mir einen prüfenden Blick zu.
"Alles in Ordnung? Tut's sehr weh?"
Was dachte er denn? Dass es ein angenehmes Kitzeln war?
"Gar nichts ist in Ordnung", erwiderte ich in Weltuntergangsstimmung. In meinem Leben war gar nichts in Ordnung! Ich wurde ausgeraubt, terrorisiert, von zu Hause vertrieben und als Krönung landete ich in einem Haufen zerbrochener Teller, nur, weil irgendjemand seinen Ball in der Küche hatte liegen lassen. Irgendwann hatte auch ich die Schnauze voll. Meine Kraftreserven würden nicht für immer reichen!
Sean ging vor mir in die Hocke, wie damals in der Eishalle, und nahm zärtlich meine Hand in seine, um sie sich anzusehen.
"Du warst beim Arzt?" Es war eher eine Feststellung, als eine Frage, doch ich nickte trotzdem.
"Krankenhaus", korrigierte ich knapp, immer noch düster.
"Wie schlimm?", erkundigte er sich fachmännisch, doch im selben Moment streichelte er sachte über den Verband an meinem Handrücken. Meine Wut verrauchte, hinterließ eine Spur der Resignation, die wie eine große Welle über mich schwappte und mich zu Boden drückte.
"Ein tiefer Schnitt", kam Ben mir mit wichtigtuerischer Miene zuvor, da ihm in den letzten zehn Sekunden keiner mehr Beachtung geschenkt hatte. "Aber es musste nichts genäht werden."
Das waren exakt Julie’s Worte, als sie Eve und Martha Bericht erstattet hat, nachdem wir wieder zurückgekehrt waren.
Ben grinste triumphierend. "Meine Mama sagt, ich soll später mal Arzt werden!", verkündete er dann stolz.
Sean konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, und auch um meine Mundwinkel herum zuckte es müde. Ben war wirklich zu süß!
"Das ist ein sehr ehrenwerter Beruf. Aber dafür musst du hart arbeiten und in der Schule immer aufpassen. Denkst du, das kriegst du hin?" Sean blickte Ben mit hochgehobenen Augenbrauen an, als zweifelte er daran.
Dieser nickte sofort eifrig, anscheinend in seinem männlichen Ego verletzt. "Klar kann ich das!"
"Ich verlass mich auf dich." Sean zwinkerte ihm zu, lehnte sich dann etwas von mir weg, zu Ben rüber, und flüsterte so, dass ich es gerade noch hören konnte: "Dann musst du unsere Emily verarzten, wenn sie sich wieder einmal wehtut."
Beide "Männer" grinsten mich spitzbübisch an, wobei eine Menge Begeisterung in Ben's Lächeln mitschwang. "Das mach ich, Emily", versicherte er mir äußerst glaubwürdig. "Dann werde ich dein Lieblingsarzt, oder?" Fast schon flehend sah er mich aus seinen großen Augen an.
Ich lächelte. "Sicher. Ich gehe nie wieder zu einem anderen. Und nun geh spielen, ja?"
Er schien zufrieden mit sich selbst, nickte und verschwand schnell im Spielraum, wo die anderen von Julie unterhalten wurden, um meinen vermeintlichen Amoklauf zu vergessen.
Ich blickte in Sean's Gesicht, das wieder ernst geworden war. Auch ich ließ den Kopf hängen. Ich wusste nicht mehr weiter.
Ob er womöglich daran dachte, mich loszuwerden? Und gleichzeitig den ganzen neu hinzugekommenen Stress loszuwerden? Ich würde mich jedenfalls nicht haben wollen mit allem, was dazugehörte...
"Wollen wir?", fragte er und versuchte dabei, so aufmunternd wie möglich zu klingen. Wahrscheinlich, weil ich wie ein Häufchen Elend aussah und mich auch so fühlte.
Ich nickte und stand auf. Ich war schon vollkommen angezogen, in Jacke und Schuhen, und wir konnten sofort los.
"Also... willst du erst mal ein paar Sachen packen?", fragte er zögerlich, wahrscheinlich verunsichert von meiner schlechten Laune und der Tatsache, dass ich bis jetzt keine drei Sätze mit ihm gesprochen hatte.
"Vielleicht... " Ich schluckte. "Vielleicht ist das doch keine gute Idee?“ Fragend schaute ich ihn an.
"Warum?", wollte er prompt wissen. "Du wirst mich ganz bestimmt nicht nerven, das hab ich doch schon gesagt. Ich verspreche auch, nicht zu kochen. " Feierlich legte er seine rechte Hand auf’s Herz und grinste.
Aber ich lächelte nur müde. "Ich bin eine Katastrophe", gestand ich niedergeschlagen. "Ich würde wahrscheinlich dein Haus in Brand oder unter Wasser setzen oder sonst was."
Daran wollte ich wirklich nicht schuld sein...
"Du bist doch keine Katastrophe", widersprach er sanft und hielt kurz inne, um sich seine nächsten Worte sorgfältig zu überlegen, aber dann grinste er wieder über’s ganze Gesicht. "Selbst bei meinen Kochkünsten hab ich es bisher nicht geschafft, das Haus abzubrennen, und das will schon was heißen, wie du sicherlich weißt, deshalb glaube ich nicht, dass du eine ernsthafte Gefahr darstellst."
Er legte mir spontan einen Arm um die Taille und zog mich beim Gehen näher an sich heran. Vor Überraschung, weil ich das nicht erwartet hatte, kam ich ein wenig ins Straucheln.
"Außerdem bin ich gut versichert", murmelte er noch still schmunzelnd, während er mir einen schnellen Kuss auf die Schläfe hauchte.
"Überzeugt... ", nuschelte ich lächelnd, wieder vollkommen berauscht von seinem Charme. Ich musste mir dringend ein paar Taktiken zulegen, mich nicht so schnell um den Finger wickeln zu lassen!
Später...


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