Zum Inhalt der Seite

Every Little Thing

von  -Moonshine-

  Seite 1 - [1] [2] [3] [4] [5] Seite vor  

Kapitel 6: Knights In Shining Armour

Ein bisschen beunruhigt war ich ja schon. Ich hatte Sean natürlich angelogen, was diesen seltsamen Zettel auf meiner Türmatte anging, aber was hätte ich auch anderes tun sollen?
Nachdem er weg war und ich mich wieder einigermaßen erholt hatte, fischte ich das Blatt doch wieder aus dem Papierkorb heraus und faltete es auseinander.
Die Nachricht war immer noch dieselbe, nichts hatte sich verändert.
Sollte ich das wirklich ernst nehmen, wie Sean gesagt hatte? Oder war es wirklich nur ein dummer, schlechter Scherz? Was auch immer es sein mochte, es lieferte keinerlei Hinweise und so kam ich auch nicht weiter.
Ich seufzte und das Blatt landete wieder dort, wo es hingehörte: im Müll.

"Verflixt noch mal...", murmelte ich, als der Regen einsetzte. Vor zwei Minuten schien noch heiter die Sonne und von gleich auf jetzt hatte sich der Himmel verdunkelt und nun goss es wie aus Eimern.
Ich hatte natürlich keinen Regenschirm dabei.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, ein bisschen durch die Stadt zu bummeln und mich nach ein paar neuen Klamotten umzusehen, aber heute schien nicht unbedingt mein Glückstag zu sein. Ich fand nichts, was mich besonders umhaute und war mit den Gedanken sowieso woanders.
Bei Sean, um genauer zu sein - wer hätte das gedacht?
Drei Tage war unser letztes Treffen nun her, doch bis jetzt hatte er noch immer nicht angerufen und mich davor bewahrt, auch den letzten meiner Nägel anzuknabbern.
Verdrießlich und schlecht gelaunt sah ich mich nach Ablenkungsmöglichkeiten um und vergaß dabei fast, dass es in Strömen regnete. Meine Haare waren mittlerweile ganz nass, aber meine Jacke war zum Glück wasserdicht. Was man von meinen Jeans nicht unbedingt behaupten konnte... Kalt und eklig klebte sie an meinen Beinen, die Kälte kroch langsam in meine Glieder und ich begann, zu frösteln.
Mein Blick fiel auf das riesige, graue Gebäude der Polizei. Stimmt ja... am Ende der Einkaufsstraße war das Revier. Es war schon immer hier gewesen, aber mich hatte es nie sonderlich interessiert.
Bis jetzt natürlich. Sofort vergaß ich, dass ich mich eigentlich ablenken wollte und starrte das Bauwerk an. Ob sich hinter einem dieser Fenster Sean's Büro befand? Ob er jetzt gerade dort war? An seinem Schreibtisch saß und "Papierkram" ausfüllte und dabei nicht gerade glücklich aussah? Oder war er vielleicht gerade in einem dieser blau-weißen Polizeiwagen unterwegs und jagte Verbrecher?
Sean auf Verbrecherjagd. Dieser Gedanke setzte sich fest und ich sponn ihn noch ein wenig weiter. Vor meinem inneren Auge erschien er als attraktiver James Bond-Verschnitt im Anzug, cool und unnahbar und niemals die Nerven verlierend. Attraktiv und sexy und gefährlich und...
"Emily?!", meldete sich eine entsetzte, fast schrille Stimme hinter mir, die mich aus meiner Fantasiewelt wieder in die Realität zurückholte. Leider.
Nichts Gutes ahnend drehte ich mich langsam um, in der Hoffnung, der Besitzer dieser Stimme, die ich zugegebenermaßen schon lange nicht mehr gehört hatte, würde sich in dieser Zeit in Luft auflösen, aber mein Wunsch blieb natürlich unerfüllt.
Ein braunes, geschocktes Augenpaar stierte mich an und ich war mir sicher, ich starrte ebenso geschockt zurück. Wär ich doch nur in meiner Fantasiewelt geblieben!
Zu dem Augenpaar gehörte selbstverständlich auch ein Gesicht, ein Kopf und ein Körper und zu dem Körper gehörte ein weiterer Körper mit Kopf, eingehakt und dicht an ihn geschmiegt und mich misstrauisch beäugend.
Oh Goooott. Wieso immer ich?
Schweigend glotzte ich Tom an. Die Haare klebten mir im Gesicht und Regentropfen perlten an meinen Wimpern hinunter, meine Haare waren plattgedrückt vom Wasser und zu allem Überfluss hielt Tom, der edle Ritter, seiner überaus hübschen Freundin und sich einen Regenschirm über die Köpfe.

Genau, das war Tom. Ich hatte schon ziemlich lange nicht mehr an ihn gedacht und es hatte mich lange Zeit gekostet, endlich über ihn hinwegzukommen, nachdem er mich so gnadenlos abserviert und mich auch noch belogen hatte.
Es reichte ihm nicht, mich einfach sitzen zu lassen, nein, er musste mich wegen einer anderen sitzen lassen und zu allem Überfluss - das war wirklich das Schlimmste und Widerlichste - war er mit dieser anderen, zufälligerweise genau der, die sich da gerade so erbärmlich an ihn drückte, schon zusammen, als er mit mir noch nicht auseinander war. Und das ganze drei Monate lang! Was das übersetzt im Klartext bedeutete, konnte man sich ja denken.
Zwei Eisen im Feuer. Zwei Frauen im Bett.
Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass es zwei verschiedene Betten waren, sonst wäre ich wahrscheinlich vor Panik und Ekel aus dem Fenster gesprungen. So aber empfand ich nur Ekel und Abneigung.
Es war wirklich widerlich. Ich war zwar ein mehr oder weniger ausgeglichener Mensch, na ja, meistens zumindest, aber nachdem ich das erfahren hatte, war ich wochenlang in einer Art wütendem Dauerzustand und hab alle um mich herum verrückt gemacht, indem ich wegen jeder Kleinigkeit fürchterlich aufgebracht war und auch mit Kritik nicht hinter dem Berg halten konnte. Zum Glück haben mich weder meine Freunde, noch meine Familie an die Luft gesetzt und mich einfach als "unzurechnungsfähig" abgeschrieben, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Heute zumindest. Damals kam mir deren Haltung unglaublich selbstgerecht vor und ich fühlte mich mehr als nur unverstanden. Ich war sozusagen ein Pulverfass und eine einzige falsche Bewegung hatte ausgereicht, um mich losgehen zu lassen wie einen höchst explosiven Vulkan.
Irgendwann hatte ich mich beruhigt, wenngleich ich tief im Inneren immer noch wütend war, doch das geriet mit der Zeit in Vergessenheit und tatsächlich war es schon ganze acht Monate her, dass ich Tom das letzte Mal gesehen habe. Die Phase der Trauer hatte ich einfach übersprungen, weshalb auch immer, aber das war auch besser so. Diesem Verräter wollte ich keine einzige Träne nachweinen.

Warum musste mir immer so was passieren? Hier stand ich nun, nassgeregnet und bestimmt alles andere als atemberaubend schön. Ein Zustand, in dem man seinem Ex nicht begegnen wollte. Und seiner neuen Flamme mit dem wallenden, blonden Haar schon gar nicht.
Tom's Ausdruck wechselte von entgeistert zu überheblich.
"Lange nicht gesehen", stellte er fest und entspannte sich ein wenig, musterte mich abschätzig von oben bis unten und hob unmerklich die Augenbrauen, als wollte er sagen: was für ein Glück, dass ich diese dumme Pute noch rechtzeitig losgeworden bin.
Zu allem Überfluss tat seine Freundin, die an seinem Arm klebte, dasselbe.
Zwei gegen eine war wirklich ungerecht, oder? Ich war mir sicher, dass ich unter ihren Blicken um einige Zentimeter schrumpfte und wünschte mir, einfach - plopp! - zu verschwinden. Unglaublich, wie manche es mit nur einem Blick schafften, dass man sich fühlte, wie der totale Idiot.
"Ja, stimmt", nuschelte ich und ließ mich beregnen, während mir ein Wasserfall vom Kopf floss.
"Tania kennst du ja." Er nickte kurz mit dem Kopf in Richtung seiner Freundin.
Ja genau... Tania, die all die Zeit über von meiner Existenz wusste und trotzdem skrupellos mit meinem Freund rumgemacht hatte! Ja, ich kannte sie.
Ich spürte, wie ein kleiner Funke Wut wieder in mir hochstieg, obwohl ich eigentlich gedacht habe, ich hätte das überwunden. Aber das war das erste Mal, dass ich den beiden von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand und sie erdreisteten sich auch noch, so zu tun, als wäre ICH hier der dreckige Schleim unter den verfaulten Fußbodendielen!
"Und?", hakte Tom mit einem arroganten Lächeln nach, noch bevor ich etwas sagen konnte. "Arbeitest du immer noch im Kindergarten?"
Er sprach "Kindergarten" so verächtlich aus, als würde ich irgendwo in einer drittklassigen Disko die Klos putzen.
Außerdem... was sollte die Frage? Ich hatte dort meine Ausbildung gemacht, also werde ich jawohl kaum plötzlich Architektin geworden sein. Aber ich ahnte schon, dass er mich nur runterputzen wollte. Tania studierte nämlich Wirtschaft, genauso wie er auch, und wahrscheinlich wollte er mir damit zu verstehen geben, dass ich nicht intelligent genug sei. Und obwohl ich wusste, dass das absoluter Quatsch war und er mich nur ärgern wollte, trugen seine Bemühungen Früchte. Ich fühlte mich wirklich dumm und klein unter ihren stechenden Blicken.

Tom war nicht immer so gemein gewesen. Im Gegenteil, er war sogar richtig lieb und aufmerksam, damals, aber irgendwann hatte er sich verändert... wahrscheinlich hatte Tania ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Arrogant war er allerdings auch früher schon gewesen.
Da fand ich es irgendwie attraktiv, heute nur noch ätzend. Jemand, der so viel von sich hielt und im Grunde so wenig davon war, hatte meiner Meinung nach einfach nicht das Recht, so selbstgefällig zu sein.
"Ja", antwortete ich mit fester Stimme und versuchte ihn so entschlossen, wie ich konnte, anzusehen.
Er nickte. "Dacht ich's mir doch."
Was für ein unausstehlicher, arroganter Snob! Ich musste zugeben, er sah zwar ganz gut aus - und ich ärgerte mich ziemlich darüber - mit seinen dunkelbraunen Haaren und die passende Statur hatte er auch... nur die Nase war etwas schief geraten, aber keineswegs hässlich. Seine neue alte Freundin mit der Modelfigur, dem perfekten Make-up und den goldblonden, glänzenden und vor allen Dingen TROCKENEN Haaren hatte denselben arroganten Ausdruck im Gesicht wie mein Ex.
Gleich und gleich gesellte sich ja bekanntlich gerne, dachte ich in einem kurzen Anflug von Neid. Die zwei waren mir mindestens genauso unsympathisch wie ich ihnen.
Musste das überhaupt so kommen? Ich hatte es acht Monate lang geschafft, nicht in die Arme dieses Irren zu rennen, aber heute hatte ich eindeutig Pech. Das mit dem Pech kannte ich ja schon, also warum war ich überhaupt noch überrascht?
Ich seufzte resigniert und schaute mich um. Wenige Meter weiter befand sich eine Bushaltestelle und die Menschenmenge drängelte sich unter das Dach des kleinen Haltestellenhäuschen, aber natürlich passten sie da nicht alle rein.
Wie sehr wünschte ich mir, Sean würde wie aus dem Nichts hier auftauchen, den Arm um mich legen und die beiden mit einem strengen Blick bestrafen, sodass ihnen die Kinnlade zu den Kniekehlen herunterkippen würde. Das wäre zu schön um wahr zu sein... wenn sie mich in der Gesellschaft eines Mannes sehen würden... eines richtigen, ehrlichen, aufrichten Mannes im schwarzen Smoking und... Halt! Meine Erinnerung an Sean vermischte sich mit meiner James Bond-Fantasie und ich rief mich zur Ordnung. Das war nun wirklich nicht die Zeit und der Ort, an SO ETWAS zu denken!

Sean kam natürlich nicht. Dafür aber kam jemand, mit dem ich ganz und gar nicht gerechnet hatte.
Ein Regenschirm wurde über meinen Kopf gehalten und eine Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam, meldete sich hinter mir zu Wort. Trotzdem konnte ich sie im ersten Moment nicht sofort einordnen.
"Herrgott, Miss Jones, sind Sie das?"
Ich drehte mich verwunderte um und blickte zu Mr. Dickinson, der Trockenpflaume und Sean's Kollegen, auf, der mich besorgt musterte und dann einen kurzen, prüfenden Blick zu Tom und Tania warf, während die beiden plötzlich wie erstarrt schienen.
Natürlich, Mr. Dickinson hatte seine Polizeiuniform an und trug sogar den Revolver am Gürtel. Wer wäre da nicht beeindruckt gewesen?
Ich war noch nie so froh, ihn zu sehen, auch, wenn ich ihn bis jetzt erst zwei Mal gesehen hatte.
"Mr. Dickinson", japste ich, verwirrt und erfreut gleichzeitig.
"Was machen Sie denn in diesem Regen draußen, Kind?", rügte er mich. "Sie erkälten sich doch, schauen Sie mal, wie nass ihre Haare schon sind!"
Ich lächelte schief. "Ich hatte keinen Regenschirm..."
"Man muss immer einen mit sich tragen, in weiser Voraussicht, sag ich immer", erklärte er mir weise und runzelte die Stirn, als er wieder kurz zu Tom rübersah.
"Wollen Sie nicht mit reinkommen? Vielleicht haben wir ja noch eine heiße Tasse Tee für Sie, oder ein Handtuch..."
Mir blieb fast das Herz stehen. "Da rein?", fragte ich ehrfürchtig.
"Natürlich. Sie waren doch schon mal da." Er schaute mich verständnislos an. "Nun kommen Sie schon, es wird langsam kalt."
"Äh, okay... also dann..." Ich wandte mich an Tom und seine überaus reizende Freundin, die mich mit großen Augen und absolut verwundert anstarrten. "Tschüss."
Etwas befremdet folgte ich Dickinson ins Gebäude, während er immer noch seinen Regenschirm über uns beide hielt. Und langsam wurde mir klar, dass ich mich in ihm total getäuscht hatte. Er war kein langweiliger, alter Mann, sondern ein sehr liebenswerter, fürsorglicher... nun ja, alter Mann.
"Sean wird sich bestimmt freuen, Sie zu sehen", sagte er aufmunternd, als wir den leeren Korridor überquerten. Die Empfangsdame in dem Polizeidress sah mich zwar kurz argwöhnisch an, aber Dickinson nickte ihr nur kurz zu und sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Sean... ich bekam Herzklopfen und vergaß Tom für einen Moment. Hoffentlich würde er nicht denken, dass ich mich extra vor dem Polizeirevier herumtrieb, um ihn zu sehen! Ich war doch kein Stalker! Plötzlich fühlte ich mich unwohl.
Würde er sich wirklich freuen? Immerhin hatte er nicht angerufen. Vielleicht war das ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen und ich tauchte plötzlich hier auf! Wie peinlich und äußerst unangenehm, auch für ihn!
"Meinen Sie?", fragte ich zaghaft. "Ich meine, ist das überhaupt erlaubt...? Ich sollte nicht hier sein..."
Dickinson öffnete eine Tür und schob mich, ohne auf meinen Protest zu achten, hinein.
Wie angewurzelt blieb ich in dem Büro stehen, während er an mir vorbeiging, seinen Regenschirm in die Ecke stellte und zur Begrüßung etwas murmelte.
"Da bist du ja", murmelte Sean abwesend und sein Blick war fest auf die Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch geheftet. "Jackson hat mir hier irgendwelche Formulare gefaxt, aber nicht gesagt, was ich mit denen soll." Er klang etwas gereizt, aber auch müde.
"Die sind von Jackson?", hakte Dickinson desinteressiert nach und stellte den büroeigenen Wasserkocher an, um mir einen Tee zu machen. "Schwarz oder Pfefferminze?", wollte er von mir wissen.
"Pfefferminze", sagte Sean prompt. Ich musste unwillkürlich grinsen. Das hätte ich auch gesagt...
Da ich nicht ewig wie angewurzelt da stehen konnte und Dickinson nicht die Absicht hatte, auf mich aufmerksam zu machen, musste ich das wohl selber in die Hand nehmen.
"Jackson schickt die Dokumente immer an unser Büro, obwohl die nach 2.08 müssen. Er kriegt das nicht hin mit den Zahlen." Dickinson ließ einen Teebeutel in eine Tasse fallen. Diese Erklärung war eindeutig an mich gerichtet.
Sean seufzte.
Ich räusperte mich leise.
Sofort blickte er alarmiert auf und starrte mich an, als sei ich eine Erscheinung.
"Emily?", brachte er schließlich verwundert heraus und erhob sich, indem er den Stuhl zurückschob.
"Äh, ja", sagte ich unsicher und druckste mich immer noch in der Türgegend herum, die Hände in meinem Schoß faltend. "Ich war nur, äh, na ja..." Wieso hatte ich das dringende Bedürfnis, mich zu rechtfertigen?
"Ach ja. Ich hab Miss Jones draußen aufgelesen, total durchnässt vom Regen und ohne Schirm." Er nickte Sean bedeutungsvoll zu. "Du weißt ja, was ich immer sage?"
Sean ließ mich nicht aus den Augen, sein Ausdruck war unergründlich. "Immer einen mitnehmen, in weiser Voraussicht", spulte er apathisch murmelnd ab und kam ein paar Schritte auf mich zu.
Dickinson schien zufrieden. "Genau, so ist es. Aber Miss Jones, Sie sollten sich wirklich überlegen, mit wem sie sich anfreunden."
Ich warf ihm einen verwirrten Blick zu, gerade mal so lange, wie ich mich von Sean lösen konnte.
"Das Pärchen, mit dem sie sich unterhalten haben, hat ihnen nicht mal ein bisschen von ihren Schirm angeboten und der war doch groß genug für eine Kleinfamilie, oder?"
Das stimmte. Tom's Schirm war einer von diesen großen Dingern, unter dem locker fünf bis sechs Leute Platz fanden.
"Äh, also, eigentlich waren das nicht meine Freunde." Ich musste schief grinsend angesichts dieser Ironie. Nicht MEHR.
"Dann", verkündete Dickinson und goss das aufgekochte Wasser in die Tassen, "sollten sie sich erst recht nicht mit solchen Leuten abgeben."
Er drückte Sean und mir unsere Tassen in die Hände. "Ich gehe mal nachsehen, ob ich irgendwo ein Handtuch finde."
Er verschwand aus dem Raum. Ob er wirklich auf der Suche nach einem Handtuch war oder nur einen Vorwand gesucht hat, um uns alleine zu lassen, war mir nicht ganz klar. Auf jeden Fall schien er Bescheid zu wissen, sonst hätte er nicht behauptet, Sean würde sich freuen, mich zu sehen. Ob er das auch wirklich tat, war natürlich die große Frage.
Ich schaute ihn vorsichtig an.
"Du bist ja ganz nass", sagte er sanft und hob die Hand, um mir mit dem Handrücken über die nasse Wange zu streichen. Sofort wurde ich rot und das Blut schoss mit in den Kopf. Ein Wunder, dass das ganze Wasser dadurch nicht verdampfte!
"Ich hatte keinen Regenschirm", nuschelte ich verlegen und wiederholte somit, was Mr. Dickinson schon erzählt hatte, schaute auf den Boden, als hätte ich dort etwas interessantes entdeckt. All diese kleinen, liebevollen Gesten war ich einfach nicht gewohnt und sie machte mich unglaublich glücklich, waren mir aber auch unangenehm.
Er schien sich zu entspannen und half mir aus meiner Jacke, die er an einen Garderobenhaken hängte, neben dem auch schon sein eigener Pullover hing.
"Tja", sagte er heiter. "Du weißt ja, was man über die Regenschirme sagt, oder?"
Ich nickte, froh über den Stimmungswechsel. "In weiser Voraussicht!", zitierte ich und er lachte.
"Genau. Jetzt hast du einen kleinen Einblick, was ich mir den ganzen Tag so anhören muss." Er zwinkerte mir zu, als Mr. Dickinson gerade durch die Tür kam. Ich nippte an meinem Tee. Er war zwar ungesüßt, aber trotzdem irgendwie tröstend, so heiß, aromatisch und dampfend, wie er war.
"Tut mir leid, aber anscheinend ist ein Polizeirevier ein handtuchloser Ort." Er zuckte hilflos mit den Schultern und schüttelte in milder Verwunderung den Kopf. "Erstaunlich. Ich konnte nur Papiertücher auftreiben, aber ich befürchte, mit denen wollen Sie sich nicht unbedingt die Haare trocknen?"
"Das geht schon so, danke, Mr. Dickinson", sagte ich hastig, etwas verlegen, weil er sich wegen mir solche Umstände machte. Das war wirklich nicht nötig. Er war sehr nett und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich mit meiner Einschätzung damals meilenweit daneben gelegen habe.
"Bitte, Greg reicht vollkommen aus. Mr. Dickinson... Da komme ich mir immer so alt vor", jammerte er und schüttelte leidvoll den Kopf.
Sean's und meine Blicke trafen sich und ich hatte Mühe, mir ein schiefes Grinsen zu verkneifen, doch auch er sah mehr als nur belustigt aus. Er nickte mir unmerklich zu, um mir zu bedeuten, dass er wohl eben dasselbe gedacht hatte wie ich.
"In Ordnung...", erklärte ich mich einverstanden, wenn auch eher zögerlich. Ein "Greg" hängte ich jedoch absichtlich nicht dran, denn es wollte mir einfach nicht über die Lippen. Für mich war er immer noch der alte Mr. Dickinson, alias Trockenpflaume, wenn ich mich mittlerweile für diesen Spitznamen auch ein wenig schämte. Er war keineswegs so, wie er auf den ersten Blick gewirkt hatte und ich war mal wieder der Illusion des ersten Eindrucks unterlegen. Schande über mein Haupt!
"Sean, willst du Emily nicht nach Hause fahren? Bei diesem Regen können wir sie unmöglich wieder raus lassen", sagte Greg beiläufig, während er einen Stapel Papier auf seinen Schreibtisch abstellte und das obere Blatt in die Hand nahm, um es genau zu studieren.
Er runzelte die Stirn, griff nach seiner Lesebrille, die daneben lag, und setzte sie sich auf, führte das Blatt näher an sein Gesicht heran, kniff die Augen zusammen und formte lautlose Worten mit seinen Lippen.
Sean sah etwas beunruhigt auf. Ich protestierte.
"Das ist wirklich nicht nötig, danke", wollte ich abwinken. "Sie haben sich schon genug Umstände gemacht..." Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und warf einen unsicheren Blick zu Sean. Er sollte bitte nicht denken, ich sei nur hier, um ihm hinterher zu spionieren wie ein verrückter Stalker oder so was. Ein schrecklicher Gedanke... Ich kam mir mehr als nur fehl am Platze vor, was ich auch sicherlich war: eine harmlose, durchnässte Kindergärtnerin auf dem Polizeirevier in einem Büro von zwei äußerst.... nun ja, einem äußerst gutaussehenden, kompetenten Mann und einem wahrscheinlich genauso kompetenten Mann. Beide Polizisten. Pistolen. Gefahr. Uhh, mir lief eine Gänsehaut über den Rücken und ich bemerkte, dass meine Gedanken wieder mal abschweiften und die Richtung gefiel mir ganz und gar nicht. Was war nur los mit mir in letzter Zeit? Das war wirklich beunruhigend...
Beide Männer ignorierten meinen Protest und nahmen mich gar nicht wahr.
"Was ist mit Jackson?", wollte Sean wissen und kratzte sich ratlos am Hinterkopf, was ich überaus reizend fand und ihn wieder für einen kurzen Augenblick gebannt anstarrte. "Mittagspause ist schon lange vorbei..."
"Hm." Mr. Dickinson brummte leise und legte das Blatt wieder auf den Stapel zurück. "Was für ein Schwachsinn. Ich dachte, wir sind hier bei der Polizei und nicht in der Bürokratiehölle... Jackson", wandte er sich wieder Sean zu, "ist sowieso damit beschäftigt, die falschen Unterlagen an die falschen Büros zu faxen. Aber wenn er nach dir fragen sollte, sag ich ihm, dass wir heute länger bleiben und du uns etwas zum Abendessen besorgst. Aber nimm dein eigenes Auto und nicht eines der Polizeifahrzeuge."
Sean grinste und schnappte sich sofort seine Schlüssel vom Schreibtisch. "Geht klar."
"Aber", platzte es aus mir heraus, die ich reglos ihre Unterhaltung mitverfolgt hatte, "das wäre doch gelogen!"
Beide Männer starrten mich mit einem undefinierbaren Ausdruck im Gesicht an und das Unheimliche daran war, dass ihre Mienen einander bemerkenswert glichen. Ein bisschen sahen sie mich so an, als hätte ich gerade mir nichts, dir nichts plötzlich einen Polka auf's Parkett gelegt.
Sie schwiegen und bewirkten damit, wenn auch unwissentlich, dass ich mir wieder dumm und unzulänglich vorkam. Hielten sie mich jetzt für einen Moralapostel? War ich vielleicht viel zu verklemmt? Ich biss mir wieder auf die bereits mitgenommene Unterlippe. Warum konnte ich mich manchmal einfach nicht beherrschen? Meine Mutter sagte immer: denken, dann reden. Und das sagte sie aus einem ganz bestimmten Grund!
Ich sah ein kurzes Anzeichen eines kleinen Lächelns auf Sean's Lippen, aber Greg hatte wieder das Wort ergriffen. Schweigend wandte er sich von mir ab und sagte zu ihm, und das in ziemlich neutralem Tonfall: "Vergiss die Pizza nicht, Sean."
Dieser nickte grinsend, berührte mich kurz an der Schulter, um mir zu bedeuten, mich in Bewegung zu setzen und hielt mir mit dem Arm über meinem Kopf die Tür auf.
Dickinson, wieder in den Papierkram vertieft, murmelte mir nickend einen Abschiedsgruß zu.

Schweigen herrschte zwischen uns, als wir die Treppe hinunterkamen, denn ich versuchte immer noch zu verarbeiten, dass ich die zwei wahrscheinlich gerade dazu "genötigt" hatte, sich tatsächlich etwas kaufen zu müssen und Sean sagte einfach gar nichts.
Ein lautes "Hey" riss mich aus meinen Gedanken und erschrocken starrte ich in die Richtung, aus der die laute Stimme gekommen war.
In der Nähe des Ausgangs lungerte ein junger Kerl herum, ebenfalls in Polizeiuniform, jedoch stand sie ihm nicht halb so gut wie Sean und verlieh ihm auch nicht die Anmut, wie manch anderem. Weil er so schlaksig war, hing sie nur schlaff herunter und sah fast so lächerlich aus wie ein Karnevalskostüm. Sein blondes Haar war glatt zur Seite gekämmt und pappte auf seinem Kopf. Er war mir sofort unsympathisch und zu allem Überfluss starrte er mich an, nur nicht ganz so angewidert, wie ich ihn ansah.
Er befeuchtete sich die Lippen und ließ nicht die Augen von mir, während er seine nächsten Worte sprach.
"Seit wann ist denn privater Damenbesuch erlaubt, Sean, hä? Kann man die sich ausleihen, hä?"
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen und musste einen leichten Würgereiz unterdrücken. Stirnrunzelnd schaute ich den seltsamen Typen an, nur, um dann einen unsicheren Blick zu Sean zu riskieren. Was sollte das? Ich war nicht freiwillig hier, und schon gar nicht, um mich beschimpfen oder beleidigen zu lassen!
Sean's Gesichtszüge verspannten sich, wenn auch nur ein wenig, und er legte seine rechte Hand auf meine ebenfalls rechte Schulter, doch nicht, um sie dort verweilen zu lassen. Stattdessen verlangsamte er seinen Schritt, drückte mich kurzerhand auf die andere Seite, weiter weg von dem Typen, sodass ich nicht mehr zu Seans Rechten, sondern zu seiner Linken den Gang entlangging, und warf dem Kerl einen frostigen Blick zu.
"Halt den Mund, Carter", wies Sean ihn schroff zurecht. "Hast du nicht zu tun, anstatt hier faul in der Gegend herumzulungern?"
Er hatte es ganz ruhig gesagt, aber die Kälte und Zurückweisung in seinem Tonfall ging durch Mark und Bein und in seinen plötzlich strengen Augen blitzet es gefährlich auf.
Derjenige, der sich Carter nannte, murmelte irgendetwas unverständliches, aber bestimmt keinesfalls freundliches, und verzog sich wieder, indem er durch eine der vielen Türen verschwand.
Ich war ziemlich beeindruckt und verschüchtert gleichzeitig. Bisher hatte Sean sich mir nur als liebenswürdig und ziemlich selbstsicher gezeigt, aber er hatte auch diese andere, gefährliche Seite... Ich war nicht stolz drauf, dass ihn das in meinen Augen noch anziehender werden ließ, aber so was es nun mal. Eine primitive, einfache Reaktion. So vorhersehbar.

"Tut mir leid wegen eben", sagte er und fuhr sich durch die Haare, als wäre er erschöpft. Er klang gar nicht mehr so kühl, sondern so wie immer, nur vielleicht etwas resignierter. "Das war Carter. Er ist neu - wurde aus irgendeinem Dorf hierher versetzt, weil er dort nur Mist gebaut hatte. Sie haben sich erhofft, in einem großen Betrieb würde es anders laufen, aber er macht nur Ärger..." Er stockte wie jemand, der sich bewusst wurde, zu viel auszuplaudern und fuhr dann fort: "Das entschuldigt sein Verhalten natürlich nicht... Er ist mir nicht geheuer."
Mir allerdings auch nicht. Ausleihen! Wie der mich angestarrt hat. In etwa so, wie ich ein Steak anschaute, das durchgebraten vor mir auf meinem Teller lag...
"Halb so wild", nuschelte ich. Er konnte ja nichts dafür, dass einer seiner Kollegen ein dämliches Schwein war. "Vielleicht solltest du ihm sagen, dass er was mit seinen Haaren machen sollte?", schlug ich ihm im Scherz vor, um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern. Es klappte. Sean lachte los.
"Darüber habe ich tatsächlich schon selbst ein paar Mal nachgedacht." Er warf mir einen beiläufigen, liebevollen Blick zu und mir wurde sofort ganz warm ums Herz. Die Wärme bereitete sich in meinem ganzen Körper aus und ich musste unwillkürlich lächeln, weil er so süß war und so wundervoll. ich konnte mein Glück kaum fassen!
Wir setzten uns in sein Auto, er startete den Motor und mir fiel noch etwas anderes ein.
Sogleich öffnete ich den Mund, doch dann wurde meine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt., Als er den Wagen aus der Ausfahrt manövrierte und langsam auf die Straße fuhr und sich in den Verkehr einfädelte, bemerkte ich zwei mir sehr bekannte Gestalten an der Bushaltestelle stehen und mich mit offenem Mündern anstarren.
Es waren natürlich der großartige Tom und seine wunderbare Freundin Tania, doch während sie sich in strömenden Regen mit zwanzig anderen Menschen unter das kleine Dach des Häuschens quetschen mussten, wurde ich von einem attraktiven Mann in Polizeiuniform nach Hause gefahren.
Wenn das also keine ausgleichendende Gerechtigkeit war, dann wusste ich auch nicht weiter. Ich konnte es mir nicht leisten, die beiden direkt anzugrinsen, auch wenn ich gerne wollte, doch ich konnte mir mein triumphierendes Lächeln auch nicht verkneifen, also tat ich so, als streifte ich die beiden mit einem ausdruckslosen Blick und grinste meine Schuhspitzen erst an, nachdem wir bereits an ihnen vorbeigetuckert waren. Der Verkehr war zu dieser Tageszeit gewohnt dicht und zähflüssig und die Baustelle zwanzig Meter weiter vorne mit der ewig roten Ampel beschleunigte die ganze Sache auch nicht unbedingt.
"Was ist denn so lustig?", wollte Sean nach einem kurzen Seitenblick amüsiert wissen. Offenbar sorgte ich mit meinem plötzlichen Gegrinse sehr für sein Vergnügen. Ich setzte so schnell wie möglich wieder eine gleichmütige Miene auf und versuchte, nicht allzu peinlich berührt zu klingen.
"Gar nichts", winkte ich schnell ab und hoffte, er würde nicht noch darauf herumreiten. Ich hatte wirklich keine Lust, ihm die Geschichte von Tom und mir, oder genauer gesagt, von Tom und Tania, auf die Nase zu binden. Außerdem kannten wir uns ja auch nicht so gut, um schon von Verflossenen zu sprechen. Oder von Verflossenen, die sich als Arschlöcher entpuppt hatten und einen wie Dreck behandelten. Nein, so weit waren wir wirklich nicht.
Zum Glück ließ er es auch dabei bewenden und wechselte stattdessen das Thema.
"Ich hab' nicht angerufen."
Ich runzelte die Stirn. Das hatte ich nun auch schon bemerkt, das konnte er mal glauben, aber ich hörte in seinem Tonfall reine Feststellung, keine Entschuldigung. Vielleicht hat er ja doch gemerkt, dass das mit uns nicht klappen kann. Dass ich nicht gerade die beste Wahl bin... Würde jetzt das Unvermeidliche kommen? Die Erklärung, dass es einfach nicht geht? "Ist mir aufgefallen", erwiderte ich so beiläufig wie es mir möglich war. Er sollte bloß nicht denken, dass ich stundenlang neben dem Telefon saß, mir die Fingernägel abknabberte und in Paranoia versank.
Er schmunzelte angesichts meiner Antwort. "Ich wusste noch nicht, ob ich am Samstag frei habe", erklärte er. "Aber Gregory springt für mich ein."
"Aha", kommentierte ich skeptisch. Sehr interessant. Und was hatte das Ganze mit mir zu tun?
"Tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast."
"Hab ich nicht!", beteuerte ich schnell - ein wenig zu schnell, wie mir Augenblicke später bewusst wurde. Er lächelte und sagte höflicherweise nichts darauf, doch es war ihm anzusehen, dass er mir kein Wort glaubte.
"Jedenfalls wollte ich dich zum Essen einladen."
Ich starrte ich ihn und sagte nichts darauf, was ihn zu verunsichern schien.
"Samstag Abend. Bei mir zu Hause", fügte er hinzu, nun nicht mehr ganz so selbstsicher, aber mit eindeutig hoffnungsvollen Tonfall. Oh, er war so süß!
Ich war schon ziemlich neugierig, aber noch viel mehr als das war ich total aufgeregt und nervös. Was hatte es zu bedeuten, einen Abend mit ihm zu verbringen? Was er wohl vorhatte? Ich ertappte mich bei dem Gedanken an etwas ganz und gar nicht Jugendfreies und schüttelte schnell den Kopf, als die Hitze wieder in mir hochstieg. Nein, so jemand war ich nicht, mochte er auch noch so gut aussehen und lieb sein und wie muskulös sein nackter Oberkörper auch sein mochte und egal, wie verführerisch seine Haare an der Stirn klebten, die mit kleinen Schweißtröpfchen besprenkelt war...
"Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast." Er runzelte die Stirn und war nun wieder ganz sachlich. Mein sprachloses Zögern hat ihn kurzzeitig verunsichert, konnte er doch nicht wissen, in was für Gefilde meine Fantasie wieder abgeschweift war. Vielleicht, dachte ich, war er es nicht gewöhnt, dass Frauen nicht sofort auf seine Angebote reagierten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er an jedem Finger zehn haben könnte und gerade deshalb war ich ja so fassungslos. Was wollte er mit mir?
"Warum sollte ich etwas dagegen haben?", wollte ich leicht geistesabwesend wissen, immer noch in Gedanken an den Grund seiner Absichten. Bei ihm zu Hause essen konnte vieles bedeuten. Es konnte ein Essen sein... aber auch mehr. Sean machte mir nicht unbedingt den Eindruck, als sei er nur auf das Eine aus, aber er machte auch nicht den Eindruck, als sei er nicht darauf aus. Ich war etwas verwirrt.
Er lachte ein wenig und drückte auf das Gaspedal, als die Ampel von rot auf grün sprang, an der wir eben gestanden haben und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, bevor er in eine kleinere Gasse einbog.
"Bei einem fast völlig Fremden zu Hause eingeladen zu sein... Hast du keine Angst, dass ich ein psychopathischer Irrer oder irgendeiner anderen abartigen Perversion unterlegen bin?", fragte er im Scherz.
Daran glaubte ich nun weniger. Immerhin war er Polizist. Na gut, ich wusste, dass das nichts garantierte, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es so war und er machte doch nur Spaß, oder? Trotzdem, nach dem Einbruch und dieser seltsamen Drohung, von der ich nicht wusste, wie ernst ich sie nehmen sollte, waren seine Worte doch ein wenig einschüchternd.
Offenbar hatte ihn mein Schweigen irritiert, denn er sprach plötzlich beruhigend auf mich ein. "Das war nur ein Scherz... ein Dummer, ich geb's zu. Ich wollte dir keine Angst machen." Dann verzog er seinen Mund zu einem gequälten Lächeln. "Da hab ich wohl ein Eigentor geschossen", fügte er dann etwas leiser und absolut ernst hinzu.
Ich schüttelte schnell den Kopf. "Nein, gar nicht. Ich komme gerne am Samstag", sagte ich zu.
Er nickte, nicht sehr überzeugt. "Ich hol dich ab."
Oh Nein. "Das musst du nicht, wirklich", beteuerte ich. Er sollte mich nicht immer herumkutschieren. Ich hatte zwar kein Auto, aber ich war gut zu Fuß und auch mit dem Bus hatte ich auch keinerlei Probleme.
Er schmunzelte. "Ich will es aber. Außerdem wohne ich etwas außerhalb, es ist nicht so einfach, dorthin zu gelangen."
Ich wollte wieder protestieren, doch er schüttelte nur bestimmt den Kopf, als sie die Sache jetzt geklärt. Ich sah ein, dass er sich nicht würde umstimmen lassen und im Grunde war es mir ganz recht.
Für einige Augenblicks kehrte wieder Stille ein. Seine Ansage, er könnte möglicherweise ein Psychopath sein, schwirrte mir immer noch im Kopf umher. Hatte er damit vielleicht andeuten wollen, ich wäre viel zu vertrauensselig meinen Mitmenschen gegenüber? War das vielleicht der Grund, weshalb ich ständig in Schwierigkeiten geriet und weshalb ich nicht vorher gemerkt habe, dass mit Tom etwas nicht stimmte? War ich grenzenlos naiv?
Ich hörte das nicht zum ersten Mal. Jo erklärte mir immer wieder in unregelmäßigen Abständen, etwas aggressiver an die Dinge heranzugehen und nicht alle Menschen sofort ins Herz zu schließen. Aber ich tat es immer als einen Witz ab, als übertriebene, freundschaftliche Besorgnis.
Sean deutete mein Schweigen als Beunruhigung. "Wir können auch auswärts essen gehen, wenn dir das lieber ist", schlug er bestürzt vor und holte mich aus der Grübelei wieder in die Realität zurück. "Du weißt schon, unter Menschen."
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. "Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Solange du mich später wohlbehalten wieder zu Hause ablieferst", scherzte ich und er hob süffisant eine Augenbraue.
"Wenn du das denn willst", raunte er mir etwas leiser zu und grinste ein wenig anzüglich.
Ich errötete, obwohl ich mich mit aller Kraft dagegen wehrte, und wich seinen Blicken aus. Sein Lächeln vertiefte sich, als er wieder geradeaus auf die Straße schaute. Und mir fiel bei Gott nichts ein, was ich darauf hätte erwidern können. Hatte ich mich geirrt? Machte er vielleicht doch den Eindruck, dass er auf etwas bestimmtes hinaus wollte?
Mich selbst verstand ich auch nicht mehr. Tag und Nacht träumte ich von ihm, aber wenn er so etwas mal zur Sprache brachte, reagierte ich wie ein kleines Mädchen, indem ich den Rückwärtsgang einlegte.
Oder vielleicht bildete ich mir das alles bloß ein? Vielleicht interpretierte ich etwas Falsches in seine Aussagen hinein, was er gar nicht so meinte. Vielleicht WOLLTE ich es so hören, wie ich es hörte, und nicht, wie er es sagte? Vielleicht war ich paranoid und er hatte mich so verwirrt, dass ich sie nicht mehr alle beisammen hatte?
Ich musste irgendetwas sagen, in dieser peinlichen Stile konnte ich keine Sekunde länger ausharren! Außerdem wollte ich meine eigenen Gedanken nicht mehr hören, die teilweise um meinen Wahnsinn im Anfangsstadium kreisten, teilweise um etwas ganz anderes...
"Das mit dem Essen war nicht so gemeint", entschuldigte ich mich plötzlich, als mir wieder eingefallen ist, was ich ihm hatte sagen wollen, bevor ich Tom und Tania gesehen hatte, und war froh, das Thema auf etwas so Unverfängliches richten zu können. "Ihr könnt natürlich tun und lassen, was ihr wollt, ich hätte mich nicht einmischen sollen."
Sean schien im ersten Augenblick verwirrt, aber er kam doch noch ziemlich schnell auf den Trichter.
"Ach, das", winkte er lachend ab. "Das geht schon in Ordnung. Du hast ja Recht." Er nickte nachdrücklich. "Außerdem ist es immer besser, Beweismittel zu haben, falls Jackson, das ist übrigens unser Vorgesetzter", fügte er schnell erklären hinzu, "vorbeikommt und nach Indizien sucht, dass wir ihn mal wieder aufs Kreuz gelegt haben." Er grinste in sich hinein.
"'Mal wieder'", echote ich ungläubig und sein Grinsen vertiefte sich.
"Kleine Machtspielchen", erklärte er schmunzeln. "Er lässt uns den Papierkram durchackern, obwohl wir nicht dafür zuständig sind, zumindest nicht primär, und... tja." Den Rest des Satzes musste ich mir dann wohl selbst zu Ende denken. Ich vermutete, es hieß in etwa, dass sie sich dafür ein bisschen mehr freie Zeit nahmen, als erlaubt war. Sean hatte also eine kleine Affinität zum Regelbruch, das hatte ich schon bemerkt, als er erwähnt hatte, meine Nummer aus der Akte stibitzt zu haben.
"Und wofür seid ihr primär zuständig?", hakte ich neugierig nach und vergaß den Teil mit den Machtspielchen schon wieder gänzlich. Was Sean auf der Arbeit machte, interessierte mich viel mehr, als die kleinen Scherereien mit dem Vorgesetzten, der, laut Dickinson, sowieso ein wenig schwachsinnig war, zumindest was seine Denkkapazitäten anging.
Er zuckte die Schultern. "Streife. Hauptsächlich in den weniger sicheren Gegenden... und natürlich, das steht ganz oben auf der Liste, die ausgeraubten Wohnungen hübscher Frauen inspizieren." Er lachte und zwinkerte mir kurz zu, bevor er sich wieder der Straße vor ihm zuwendete. "Und nicht nur die", hörte ich ihn leise murmeln und warf ihm einen empörten Blick zu. Damit spielte er eindeutig auf meine Unterwäsche an! Er grinste süffisant vor sich hin und es war klar, dass ich diese Bemerkung ganz und gar nicht überhören sollte, ganz im Gegenteil. Ich beschloss, sie zu übergehen.
"Wie viele hübsche Frauen werden denn so ausgeraubt?", wollte ich stattdessen unschuldig wissen und versuchte, einen neutralen Tonfall einzuhalten. Mir war schon klar, dass er von mir gesprochen hatte, na ja, wenn er auch übertrieb, aber die Mehrzahl in seinem Satz machte mich doch stutzig, wenngleich ich auch wusste, dass das absoluter Schwachsinn war. Aber trotzdem... ein kleines Flämmchen der Eifersucht regte sich in mir.
Konnte doch sein, dachte der kranke Teil meines Gehirn, dass es eine Masche von ihm war. Ich traute ihm nicht so ganz, noch nicht vielleicht, aber ich hatte meine Gründe. Er gab sehr wenig von sich preis und ich war schon einmal enttäuscht worden und würde mich ganz bestimmt nicht noch mal blind in etwas hineinstürzen, so sehr ich ihn auch mochte, ohne mir alle bekannten Details vor Augen zu halten. Zumindest war das mein fester Vorsatz. Jo hatte das mit dem folgenden Satz kommentiert: "Soviel Weitsicht ist dir eigentlich gar nicht zuzutrauen."
Ich wollte es ihr zeigen!
Sean lächelte und warf mir einen Seitenblick zu. "Bis jetzt bist du die Einzige, die ich persönlich kenne", sagte er mit weicher Stimme. "Und das reicht mir eigentlich auch."
Huch! Mein Herz fühlte sich an, wie es sich wahrscheinlich nach dem New York Marathon anfühlen würde und ich dankte Gott im Stillen, dass ich saß, denn meine Knie wurden ganz weich und eine Welle der Zuneigung überrollte mich. Gleichzeitig wurde ich durch meine hohe Herzaktivität mal wieder rot und klammerte mich an den Türgriff, starrte stur aus dem Fenster, nicht wissend, was ich auf so etwas antworten sollte.
Das Einzige, was die Situation davon abhielt, sich in eine Vertrackte zu verwandeln, war die Tatsache, dass wir nur wenige Sekunden später bei mir zu Hause ankamen und er den Wagen zum Stehen brachte. So blieb mir diese peinliche Stille erspart, in der ich nicht wusste, was ich auf seine Schmeicheleien erwidern sollte und er sich nicht fragen musste... was auch immer. Was wusste ich schon, was Männer sich in solch einer Situation fragten?
"So, wir sind da."
"Ja... danke für's Fahren." Ich zwang mich zu einem nervösen Lächeln, das er freundlich erwiderte, und beeilte mich, aus dem Auto zu steigen.
"Gern geschehen, Emily." Die Art, wie er meinen Namen aussprach - jedes Mal auf's Neue, ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Bei ihm klang jedes "Emily" wie ein tiefschürfendes Kompliment, das mir unter die Haut ging. Ich liebte den Klang seiner Stimme und ich liebte es, wie er das sagte. Wie er alles sagte, aber vor allem, wie er meinen Namen aussprach.
"Tja, also dann... tut mir leid für die Störung!", platzte es wieder aus mir heraus. "Das war keine Absicht, wirklich!", beteuerte ich.
Er lächelte nachsichtig. "Das war doch eine willkommene Abwechslung, wirklich." Machte er mich gerade nach? "Ich hab mich jedenfalls gefreut. Bis Samstag dann?"
Ach ja, stimmt ja! Übermorgen hatte ich eine Verabredung mit ihm! Wie schön...
"Ja, bis übermorgen", nickte ich, erleichtert, dass er es mir nicht übel nahm, heute einfach so bei ihm aufgetaucht zu sein - oder von Dickinson hingeschleppt worden zu sein, um es zu präzisieren - und schloss die Beifahrertür.
Er hob zum Abschiedsgruß noch kurz die Hand, bevor er das Auto in Bewegung setzte und davonbrauste.
Ich suchte nach meinen Schlüsseln, konnte sie jedoch im ersten Moment nicht finden und war kurz davor, in Panik zu verfallen, als sich meine Hand in den Weiten meiner Tasche doch noch um das vertraute Metal schloss.
Erleichtert stieß ich die Luft aus. Noch mal Glück gehabt!
Moment mal... Glück?


  Seite 1 - [1] [2] [3] [4] [5] Seite vor  
Kommentare zu diesem Kapitel (9)

Fanfic-Anzeigeoptionen

Zurück