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In Nottingham

von  -Moonshine-

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Kapitel 4: Disappointments and other diseases

Lustlos kritzelte Katie in ihrem Notizblock herum.
Wie immer war Jake zu spät, aber heute hatte sie so gar keine Lust, zu lernen. Ihre Motivation lag unter dem Gefrierpunkt und schon der kleinste Blick ins Lehrbuch strengte sie an.
Ihre linke Kopfhälfte schmerzte, wenn sie sich schnell bewegte, pochte sie sogar qualvoll auf.
Alles in einem fühlte Kate sich an diesem Tag miserabel, denn in der Nacht hatte sie kaum geschlafen. Was sie wach gehalten hatte, wusste sie allerdings auch nicht.
Mit einer Hand stützte sie ihren schmerzenden Kopf ab und starrte eine Weile lang gedankenversunken auf ihre Kritzeleien, doch auf keinen einzigen ihrer Gedanken konnte sie sich richtig konzentrieren. Sie wollte nach Hause, ins Bett, doch es wartete noch eine zweistündige Literaturvorlesung auf sie.

Plötzlich wurde ruckartig der Stuhl neben Katie nach hinten weggezogen, und das nicht gerade leise. Erschrocken zuckte sie zusammen und ihr Kopf schnellte zu dem Übeltäter herum, der hinter den Stuhl stand und gerade dabei war, seine Jacke über die Stuhllehne zu hängen.
Zu Kate's großem Entsetzen war es nicht Jake, der sie angrinste - nein, es war der Medizinstudent mit den braunen Locken und dem Schlafzimmerblick: David.
Innerlich stöhnte Kate auf und das Pochen in ihrem Kopf wurde nun heftiger und schmerzhafter.
Verwirrt starrte sie ihn an und bemerkte, wie hinter ihm Jake mit einem Tablett voller Essen und einem Mädchen im Schlepptau angeschlendert kam.
Das Mädchen hatte kurze, schwarze Haare und für Katie's Geschmack zu viel Make-up im Gesicht. Dazu trug sie eine viel zu kurze, enge schwarze Jacke und eine hüfthohe Jeans.
Ihr Lächeln wirkte engelsgleich, aber einstudiert, während Jake ihr frohgelaunt irgendetwas zu erzählen schien.

"Hallo Kate", begrüßte Dave sie und Katie zwang sich, ihren Blick von ihrem besten Freund und seiner Flamme, Rachel Clarke, wieder abzuwenden.
"Hi Dave", murmelte sie, ihre Kopfschmerzen ignorierend, und versuchte, ihre mangelnde Begeisterung über sein Auftauchen so gut wie es ging zu verbergen.
Jake hatte also zu ihrem wöchentlichen Treffen seine Studienfreunde mitgebracht. Klasse.
"Alles klar bei dir", wollte Dave wissen, während er sich auf seinem Platz niederließ und sie anlächelte.
"Ja, klar...", brummelte Katie wenig überzeugend.
Jake stellte sein Tablett vor ihr ab und nahm gegenüber Platz, so wie immer. Rachel setzte sich neben ihn.

Obwohl er sie freundlich grüßte, war das Einzige, was Kate's Aufmerksamkeit erregte, der Geruch der zwei Burger und der Pommes vor ihr, die zu Jake gehörten.
Ungewöhnlich stark schlug er ihr in die Nase und sie schien ihn auch mit allen anderen Sinnen wahrzunehmen.
Angewidert wand sie sich ab, denn schlagartig war ihr übel geworden und sie wünschte sich dringend irgendetwas Kühles, an das sie ihren Kopf lehnen konnte.
Dann kam ihr eine Idee und sie linste zur Glasscheibe herüber, doch sie konnte sich unmöglich so hängen lassen, gerade jetzt, wo Jake sich dazu entschlossen hatte, Besuch mitzubringen! Verdammter Jake!

"Was ist los, Kate?", hörte sie seine besorgte Stimme, die sie aus ihrer Benommenheit wachrüttelte.
"Geht's dir nicht gut?" Sie blickte zu ihm auf und hielt die Luft an. Jakes Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, er hatte sich über den Tisch zu ihr herübergelehnt und schaute sie prüfend, mit gerunzelter Stirn, an.
"Doch, doch", beeilte sie sich schnell zu sagen und wandte den Blick ab.
Heute war sie wirklich nicht sie selbst und hatte sich nicht ganz unter Kontrolle. Doch warum musste Jake ausgerechnet heute seine Freunde unangemeldet mitschleppen? Und dann ausgerechnet Rachel und Dave! Als hätte sie keine anderen Probleme!
Aber nun war es zu spät, sich zu ärgern. Sie musste das Beste aus der Situation herausholen, die sich ihr in folgender Form präsentierte:
Sie, Kate, saß in einem erbärmlichen Zustand und absolut unausgeschlafen vor Jake, ihrem besten Freund, Rachel, seiner neuen Flamme und dem Grund seiner schlaflosen Nächte und Dave, der anscheinend Interesse an ihr gefunden hatte.
Das alles wäre halb so schlimm gewesen, wenn sie nicht eine ausgewachsene Abneigung gegen Rachel empfinden würde und wenigstens ein bisschen etwas für Dave übrig hätte. Doch war beides nicht der Fall.
Sie würde Jake umbringen!

Aber erst, wenn sie geistig und körperlich wieder in der Lage dazu sein würde.
Im Moment hatte sie nicht einmal mehr die nötige Kraft, um Wut zu empfinden.
Alles, was sich in ihr regte, war mutlose Resignation. Und sogar ein bisschen Gleichgültigkeit. Ihr Kopf war viel zu benebelt, um komplexere Gedanken oder Emotionen zu produzieren.
Jake schaute sie zwar skeptisch an, widmete sich dann aber doch seinem Essen. Kate bemerkte, dass Rachel sie unverhohlen anstarrte.
Als sie ihren Blick erwiderte, stahl sich ein ausgesprochen falsches Lächeln auf Rachel‘s Lippen.
"Du siehst wirklich nicht so gut aus", beschien sie ihr, als sie Kate von oben bis unten musterte.
Müde wandte sich die Neunzehnjährige von Jake's Schwarm ab, ohne darauf etwas zu erwidern.
Selbst, wenn sie klar bei Sinnen gewesen wäre, hätte sie die eindeutig zweideutige Bemerkung auf sich sitzen lassen, denn sie wollte Jake auf keinen Fall verärgern, indem sie sich mit seinem Erdmittelpunkt anlegte.

Außerdem, und das musste sie zu ihrem Leidwesen, eingestehen, war sie bei Fremden ausgesprochen schüchtern und zurückhaltend, kaum sie selbst.
Sie fühlte sich oft auf eine niedere Stufe gestellt, vor allem in Momenten wie diesen, wenn so jemand wie Rachel, die sich offensichtlich für etwas Besseres hielt, sie so von oben herab behandelte und war, was das anging, nicht besonders selbstbewusst. Jedoch schien nur sie den Spott, der in Rachels Bemerkung mitgeschwungen hatte, wahrzunehmen, denn die Jungs blieben vollkommen ungerührt.
"Ich hab am Wochenende versucht, doch zu erreichen", ergriff nun Dave das Wort, der, und das hielt sie ihm in diesem Augenblick zu Gute, nur ein absolut geruchsneutrales Wasser gekauft hatte.
"Aber du warst nicht da."
Kate versuchte ein schwaches Lächeln.
"Ich war bei meinen Eltern", erklärte sie. "Tut mir leid."
Wieso entschuldigte sie sich? Und wieso konnte sie nicht einfach sagen, dass sie auf seine Anrufe gut verzichten konnte?
"Ja, ich wollte dich eigentlich fragen...", begann Dave mit gesenkter Stimme, doch Jake, der gute, alte Jacob, der das nicht mitzukriegen schien, da er schwer damit beschäftigt gewesen war, seinen Cheeseburger aus dem äußerst geräuschvollen Knitterpapier zu befreien, unterbrach ihn.
"Wie war's zu Hause?", wollte er wissen, ohne den Blick von dem Sandwich zu heben. Schließlich biss er genussvoll hinein.
Kate, froh über die Ablenkung, ließ sich nicht zweimal bitten.
"Ganz gut. Judy ist schwanger."
Vielleicht lag es an ihrem matten Tonfall, denn Jake hielt inne und starrte sie an.
"Oh...", sagte er vorsichtig und Kate musste unwillkürlich lächeln.
"Das ist gut", erklärte sie ihm und auf Jake's Gesicht breitete sich ein erleichtertes Grinsen aus.
"Richte ihr einen herzlichen Glückwunsch von mir aus."
"Ist Judy deine Schwester?", mischte sich David nun ein, der aufgrund der Unterbrechung bis dato schmollend neben Kate gesessen hatte, aber beschloss, es aufzugeben, nachdem niemand ihm Beachtung geschenkt hatte. Sie nickte.
"Die Älteste", klärte sie ihn freiwillig auf, doch Jake konnte schon wieder seinen Mund nicht halten.
"Kate hat zwei Schwestern und einen Bruder", sagte er im Kauen, und prompt meldete sich auch Rachel zu Wort.
"So viele Kinder?" Sie klimperte unschuldig mit den langen, künstlichen Wimpern. "Dann tritt deine Schwester wohl in die Fußstapfen deiner Eltern."
Rachel's rechter Mundwinkel zuckte kurz nach oben, doch ließ sich weiter nichts anmerken und beobachtete neugierig, wie Katie auf ihre Bemerkung reagierte.
Diese schien wieder die Einzige zu sein, die an dieser Aussage Anstoß nahm, denn weder Jake noch Dave zuckten auch nur mit der Wimper.

Langsam stieg doch die Wut in ihr hoch, bahnte sich ihren Weg durch Katie's müden Kopf, der vor lauter Schmerzen nun zu explodieren drohte. Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht, bekam überdies gar nicht mehr mit, was Dave sagte.
"...und ich wollte dich eigentlich nur persönlich einladen", schloss er nun seine Ausführungen und sah Kate fragend an. Das Mädchen starrte ihn abwesend an.
"Wozu?", hakte sie nach, mitten in die erwartungsvolle Stille hinein und fühlte sich wie eine komplette Idiotin in der Gesellschaft von Rachel, die nur starr lächelte.
"Mein Geburtstag", half Dave ihr auf die Sprünge und bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. "Am 21. Claire ist natürlich auch eingeladen."
Natürlich. Dave hatte Claire schon einmal kennen gelernt, an einem jener Abend in diesen schmutzigen Drecksloch, wie Kate den Stammpub von Jake's Freunden nannte, und wollte wohl nur nicht unhöflich sein, doch Katie würde den Teufel tun und dort alleine auftauchen. Noch bevor sich bedanken oder etwas darauf erwidern konnte, sprang David nach einem Blick auf seine Armbanduhr hektisch auf und schnappte sich sein Wasser im Pappbecher.
"So, ich muss los. Bis dann", verabschiedetet er sich, sah aber nur Kate an und lächelte ihr zu. Benommen nickte sie mit dem Kopf, ihr war es gar nicht recht, dass er seine ganze Aufmerksamkeit ihr schenkte, obwohl sie doch so gerne darauf verzichtete hätte. Sie konnte Rachel's Gedanken schon geradezu laut hören: "Was findet der nur an DER?"
Zumindest würde das oder etwas ähnliches zu ihrem leicht spöttischen Lächeln passen. Hörte sie denn auf zu lächeln?

"Die Newton gibt momentan echt Gas", schmatzte Jake genüsslich in Rachels Richtung und holte somit Kate aus ihren düsteren Gedanken. Newton? Wahrscheinlich eine Dozentin.
"Ich komm kaum noch mit."
Rachel überlegte eine Weile und nickte dann. "Wahrscheinlich wegen dem Test in drei Wochen", mutmaßte sie und zog ihre perfekten Augenbrauen zusammen. Jake starrte sie unverhohlen an und Kate konnte regelrecht sehen, wie in seinen Augen kleine Sternchen funkelten. Musste Liebe schön sein!
Widerlich...

Sie wandte den Blick ab und hatte wieder die Tischplatte vor Augen. Wie gerne würde sie ihre Stirn an die kühle Platte legen... und sich vollends zum Gespött aller Anwesenden machen!
Genau in diesem Moment klingelte ihr Handy und für einen kurzen Augenblick dachte sie verwirrt, das Klingeln in ihren Ohren hätte deutlich zugenommen. Der Ton klang unnatürlich hell und überaus laut, sodass sie es schon fast nicht aushielt. Eine Kopfschmerztablette war angesagt...
Erschrocken kramte sie in ihrer Tasche und schaffte es schließlich, das klingelnde Ding herauszufischen. Claire‘s Name blinkte auf dem Display.
"Claire?", meldete Katie sich besorgt. Normalerweise hätte ihre Freundin just in diesem Moment in ihrem Seminar sitzen müssen, und dort war Telefonieren ausgeschlossen.
Eine vollkommen heisere Claire - sie hatte sie zu Anfang gar nicht richtig erkannt - war am Telefon und berichtete Kate, dass sie, nach einem Besuch beim Arzt, mit Grippe im Bett lag. Katie sollte aufpassen, sich nicht anzustecken.
"Zu spät", stöhnte Kate gequält in ihr Handy, während ihr plötzlich ein Licht aufging. Die verwirrten Sinne, ihre Übelkeit, die Schmerzen und diese fiebrige Benommenheit... diese Sehnsucht nach etwas Kühlem...
"Ich nehme jetzt Medikamente und geh schlafen", informierte Claire am anderen Ende der Leitung ihre Freundin. "Je schneller ich gesund werde, desto besser."
Schicksalsgebeutelt legte Kate das Handy weg.
"Claire hat die Grippe", gab sie die Information an Jake, und zwangsläufig auch an Rachel, weiter, die während des Telefonats ihr Gespräch abgebrochen und sie fragend angeschaut hatten.
Besorgt runzelte Jacob die Stirn.
"Stimmt. Der Grippevirus geht herum", murmelte er geistesabwesend, wandte sich aber sofort wieder seiner Freundin zu.
"Und du hast dich angesteckt!" Anklagend deutete er auf Kate, als hätte sie eine ansteckende Krankheit - war gewissermaßen leider ja tatsächlich stimmte - aber diese winkte lahm ab.
"Ich hab keine Zeit für so was..."!
Jake macht den Mund auf, um etwas zu sagen, doch Rachel kam ihm zuvor.
"Sorry, Leute. Ich muss gehen. Ich will mich ja nicht anstecken", erklärte sie mit ihrem Engelslächeln und stand hastig auf. "Bye bye", winkte sie den beiden, die ihr hinterher sahen, in Jake‚s Fall ziemlich verdattert, noch zu und suchte schnell das Weite.
Für einen Moment lang sah Jake aus wie ein begossener Pudel, bestellt und nicht abgeholt, doch dann sackte er regelrecht enttäuscht in sich zusammen, und Kate hätte ihn in diesem Augenblick am liebsten geohrfeigt.
"Tut mir leid", murmelte sie stattdessen betreten und Jake blickte auf, als hätte er sich wieder an ihre Anwesenheit erinnert.
"Hm?", machte er.
"Dass ich sie mit der Grippe verjagt habe...", erläuterte sie resigniert und hätte in diesem Augenblick am liebsten sich SELBST geohrfeigt. Seit wann musste man sich dafür entschuldigen, dass man krank war? Es war lächerlich - und es war typisch für sie!
Selbst, wenn jemand sie mit einer Pistole bedrohen würde, würde sie sich wahrscheinlich noch bei demjenigen entschuldigen - dafür, dass sie rein zufällig in der Nähe gewesen war!
Jake lächelte schwach.
"Du kannst nichts dafür", beruhigte er sie - anständig, wie er war - doch obwohl sie froh über Rachels Abgang war, nagten die Schuldgefühle, Jake etwas verdorben zu haben, an ihr. Wie immer befand sie sich im Zwiespalt der Gefühle: dass Jake jetzt so enttäuscht war, konnte sie nicht ertragen und es tat ihr leid, gleichzeitig aber hasste sie den Grund für sein Verhalten!

Er schluckte den Rest seiner Cola herunter und stand auf, nahm sein Tablett vom Tisch. "Komm, ich bring dich jetzt nach Hause", forderte er Kate sanft auf, doch sie protestiere. "Ich hab noch eine Vorlesung!"
Jacob rollte mit den Augen.
"Kate", sagte er, betont langsam und deutlich, als wollte er einem kleinen Kind Vernunft einreden. "Das kann unmöglich dein Ernst sein."
Als sie ihm einen widerspenstigen Blick zuwarf, stellte er das Tablett wieder ab und platzierte augenblicklich seine Hand auf ihrer Stirn.
Vor Überraschung zuckte Kate unmerklich zusammen. Seine Hand war zwar warm, fühlte sich auf ihrer glühenden Stirn aber dennoch angenehm kühl an. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie zu atmen.
"Du hast Fieber, wie ich es gedacht hatte", stellte Jake fachmännisch fest und griff wieder nach dem Tablett. Auf seinem Gesicht erschien ein selten gesehener, ernster Ausdruck, der keine Widerworte dulden würde.
"Komm schon. Du gehörst ins Bett und nicht in einen stickigen Hörsaal voll gestopft mit lauter stinkenden Studenten."
Missmutig erhob sich nun auch Kate und folgte ihm leise murrend an die frische Luft, die ihren Kopf schlagartig ein bisschen klarer machte.
Jake hatte ja recht. Wenn sie sich das vorstellte... ihre Nase war heute so empfindlich und sich zwischen all den Studenten hindurchdrängen zu müssen, die staubtrockene Heizungsluft und die nicht gerade reizvollen Reden der Dozentin - normalerweise kein Problem, aber heute einfach undenkbar!
"Du brauchst nicht mitzukommen", versicherte sie Jake, der die Straßenbahnhaltestelle 20 Meter weiter ansteuerte, die Kate nach Hause in die Hawton Crescent bringen würde. Er blieb vor der roten Ampel stehen und wartete, bis es grün wurde.
"Ich find den Weg auch alleine."
Jake drehte sich zu ihr um, sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert.
"Du siehst so aus, als ob du gleich umkippst, glaubst du wirklich, dieses Risiko geh ich ein?" Seine Sorge rührte sie an, doch dass er sie wie ein unzurechnungsfähiges Kind behandelte, schmeckte ihr gar nicht.
"Aber du verpasst deine Vorlesung!", argumentierte sie, doch Jacob lachte nur kurz auf.
"Da könnte ich mir Schlimmeres vorstellen."
Der strenge Gesichtsausdruck war wieder dem Jake-typischen, gleichmütigen Grinsen gewichen, das sie vom dem sorglosen Jake kannte.
"Du solltest wirklich zum Arzt gehen", riet er ihr, nachdem sie eingehend studiert hatte. "Du bist so weiß im Gesicht, dass... du beinahe grün bist."
Katie stöhnte auf. "Kein Arzt", flehte sie kläglich, in der Befürchtung, Jake würde sie jetzt auch noch dahin schleifen! Doch ihr Freund runzelte nur die Stirn, während er, jederzeit eingriffsbereit, langsam neben ihr ging.
"Du magst keine Ärzte", stellt er sachlich fest, ein paar dunkle Erinnerungen aus seinem Gedächtnis herauskramend.
"Nein…", bestätigte sie leise. Alles, was mit Krankheiten zu tun hatte, war Katie suspekt. Den Geruch von Krankenhäusern konnte sie nicht ausstehen, wenn sie Blut sah, wurde ihr schwindelig und wenn andere detailliert über irgendwelche Verletzungen und Gebrechen redeten, wurde ihr übel und sie musste sich schnell hinsetzen.
Jake war in Gedanken.
"Ich studiere Medizin", informierte er sie, als sei ihm diese Tatsache jetzt erst bewusst geworden.
"Ich weiß das…", sagte Kate, immer noch halbflüsternd. "Solange du die unschönen Details für dich behältst..." Sie ließ den Satz unausgesprochen in der Luft hängen, denn Jake hatte auch so verstanden. Außerdem war er noch nie die Sorte Mensch gewesen, die widerliche und ekelerregende Sachen gerne ausführten und in allen Einzelheiten diskutieren mussten.

Die Straßenbahn war so voll, dass keine Sitzplätze mehr frei waren. Jake drängte sich vorsichtig, mit Kate im Rücken, durch die Menschenmenge, bis er an einen einigermaßen geeigneten Stehplatz stehen blieb.
Zwischen all den Leuten und durch die stickige Luft in der engen Straßenbahn wurde Katie wieder ganz flau im Magen und sie musste tief durchatmen. Das Stehen bekam ihr nicht gut, denn ihr Kopf schwirrte wieder irgendwo im Raum herum, das Innere der Straßenbahn schwankte bedenklich. Konzentriert darauf, die schwarzen Punkte, die vor ihren Augen tanzten, loszuwerden, starrte Katie auf ihre Füße und atmete gleichmäßig ein und aus.
Jake, der ihren Schwindel zu bemerken schien, beugte sich sachte zu ihr herunter.
Er fasste sie sanft an der Schulter und brachte sie dazu, sich leicht gegen ihn zu lehnen, während er sich mit der anderen Hand an der Haltestange festhielt.
"Schließ die Augen", flüsterte er ihr leise ins Ohr, denn sie versuchte verzweifelt, den aufkommenden Schwindel wegzublinzeln. "Dann geht es etwas besser."
Mit milder Verwunderung stellte er fest, dass Kate ohne Widerworte gehorchte und die restliche Fahrt mit ihrem Kopf gegen seine Schulter gelehnt blieb, während er sie sicher davor bewahrte, den Halt zu verlieren und umzukippen.
Nach nur wenigen Minuten kamen sie an der Haltestelle in der Nähe der Hawton Crescent an und zum wiederholten Male sog Katie gierig die kalte, beißende Winterluft ein.

Jake und Kate setzten ihren Weg fort durch das nasse, kalte Nottingham, Richtung Hawton Crescent, wo Claire wohl schon eingemümmelt in ihrem weichen Bett lag und ihre Grippe auskurierte.
Sie bogen in die Straße Hawton Spinney ein, die direkt an die Crescent angrenzte, als Kate kurzzeitig der Kopf schwirrte und als sie automatisch nach Jake's Jackenärmel griff, um sich festzuhalten, fasste er sie erschrocken am Arm und blickte sie überbesorgt an.
"Geht es? Kannst du gehen? Soll ich dich tragen?", bombardierte er sie mit Vorschlägen, doch Kate lehnte peinlich berührt ab.
"Mach dich nicht lächerlich", wehrte sie murmelnd ab. "Sonst kippen wir noch beide um."
Jacob, der sie weiterhin am Arm festhielt, schüttelte missbilligend den Kopf.
"Du spinnst, Kate."

"Himmel", stieß Jake entsetzt aus, als er die Küche betrat. Kate warf einen kurzen Blick hinein.
Auf dem Küchentisch türmten sich verschiedenen Packungen von Medikamenten, dazwischen lagen ein paar lose Tabletten herum und mehrere Päckchen Taschentücher.
"Ich hoffe, Claire hat das nicht alles genommen", murmelte er entgeistert, während er einige Verpackungen hochhob und sie genau inspizierte.
"Ich leg mich hin", informierte Kate ihn gleichgültig, fiebrig, und verließ die Küche, um langsam zu ihrem Bett zu schwanken.
Kaum einige Minuten später stand Jake auch schon wieder neben ihrem Bett, mit einem Glas Wasser und ein paar Tabletten.
"Gegen Fieber, Schmerzen und ein leichtes Schlafmittel. Nimm das!“, kommandierte er und hielt Katie, die ihn irritiert anstarre, das Wasser und die Medikamente hin.
Schließlich griff sie danach, nahm sie jedoch nicht sofort ein, sondern warf Jake einen fiebrig-strengen Blick zu.
"Versprich mir, dass du zurück zu deiner Vorlesung gehst", forderte sie, doch Jake schaute nur mit einem amüsierten Blick auf sie hinunter.
"Erstens ist es schon zu spät und zweitens kann ich es doch nicht verantworten, euch zwei kranke Hühner hier allein zu lassen. Claire liegt wie tot im Bett, dass sie atmet, konnte ich nur durch die verstopfte Nase hören - sie hat wohl den Tabletten-Overkill, die Gute", sagte er lachend, doch Kate fand das alles nicht so witzig, ließ sich auch nicht vom Thema ablenken.
"Aber das ist wichtig", beharrte sie, ohne auf Jake's Bemerkung einzugehen.
"Du wirst Arzt", erinnerte sie ihn. Ihr bester Freund lächelte angesichts der Dringlichkeit in ihrem Tonfall, doch schnell wich es einem bedrückten Ausdruck.
"Und du hasst es", sagte er leise. Kate antwortete nicht.
Stattdessen schwieg sie einen Augenblick lang und betrachtete das Wasser, schluckte dann die drei Tabletten, die Jake angeordnet hatte, hinunter.
Sie verstand einfach nicht, warum es ihm so wichtig war, was sie davon hielt. Es war doch vollkommen egal - jedem das Seine, pflegte Lizzie immer zu sagen und lebte auch danach - vollkommen vogelfrei durch ihre eigene Welt tänzelnd. Und sie hatte recht.
"Ich geh dann mal", verabschiedetet der Blondschopf sich und nickte Kate aufmunternd zu, jetzt wieder mit seinem sorglos-Grinsen im Gesicht.
Als er das Zimmer verlassen und vorsichtig die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sich Kate erschöpft in ihre Kissen zurück und schloss die Augen. Sie fühlte sich, als schwirrte ihr Kopf schon längst in anderen Sphären und sie konnte sich nicht länger dagegen wehren, ihm dorthin so schnell wie möglich zu folgen.


Es war das klappernde Fenster, gegen das der Wind hart schlug, und das ungewöhnlich laute Rascheln im Laubwerk der Bäumen draußen, die Kate letztendlich aus ihrem tiefen Schlaf rissen.
Verwirrt setzet sie sich im Bett auf. Sie brauchte einen kurzen Moment, um sich zu orientieren, wo sie war und weshalb. Im Zimmer war es dunkel, auf der anderen Seite des Fenster auch. Kate warf einen verwirrten Blick auf die Uhr. Fast Elf abends. Sie hatte also beinahe sechs Stunden lang geschlafen!
Die Braunhaarige schlug die Decke zurück und wankte in ihren verknitterten Jeans und T-Shirt aus dem Bett. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie sich nicht einmal umgezogen hatte, als sie von Jake gewaltsam nach Hause geschleppt wurde.
Am Fenster angekommen warf sie einen kurzen Blick nach draußen. Offensichtlich hatte ein heftiges Unwetter eingesetzt, denn die Bäume wiegten sich stürmisch im Wind hin und her und große Regentropfen prasselten gegen die bereits nasse Fensterscheibe, an der das Regenwasser in Strömen hinunterlief.

Von irgendwoher konnte sie auch den Wind leise heulen hören, doch in ihrem Zimmer war es warm und trocken. Katie fröstelte trotzdem ein bisschen, aber ihre Kopfschmerzen waren zum Glück wie weggefegt, stattdessen brannte es heftig in ihrem Hals und schwindelig war ihr auch noch immer. Dennoch, das Fieber schien gesunken zu sein, denn sie fühlte sich zwar angeschlagen, aber keineswegs benommen oder duselig.
Katie schlich sich zu ihrem Schreibtisch, auf dem sich ihre Bücher stapelten, machte die kleine, schwarze Leselampe an, die den Raum sofort in dumpfes Licht tauchte, und wandte sich ihrem Schrank zu, aus dem sie kurzerhand einen ihrer "Gammelpullis" herausholte - Pullover, die sie nur noch zu Hause trug - und sich den schwarzen, weichen Pulli überstreifte.
Gerade, als sie das Zimmer verlassen wollte, um etwas zu Trinken zu holen - ihr Hals brannte nicht nut, er war auch nicht staubtrocken, sodass sie fürchtete, sie müssten jeden Moment verdursten - klopfte es leise an ihrer Tür.
Sogleich wurde diese auch schon einen Spalt breit geöffnet und Claire steckte ihren Kopf herein. Ihre Haare sahen ungekämmt aus und standen auf eine faszinierende Art und Weise seitlich von ihrem Kopf ab, wobei sie ein bisschen den Eindruck vermittelten, Claire sei ein Löwe mit prächtiger Mähne.
"Katie?", flüsterte sie und blickte sich schnell im Zimmer um, bis ihr Blick auf ihrer Freundin haften blieb, die halb hinter der Tür am Kleiderschrank stand.
"Bist du wach?", fragte sie dann überflüssigerweise, doch Kate verkniff sich einen passende Antwort und nickte nur.
"Du siehst genauso aus, wie ich mich fühle", beschien sie Claire stattdessen, die bereits eingetreten und die Tür hinter sich zugemacht hatte.
Kaum hatte sie ausgesprochen, fiel ihr auch auf, dass sie automatisch auch geflüstert hatte. Lächerlich. Es war doch niemand sonst zu Hause.
Claire hob die Augenbrauen. "Ich hoffe nur für dich, dass du dich wunderbar fühlst", warnte sie Katie streng, aber immer noch im Flüsterton.
Diese musste nun grinsen. "Natürlich."
Sie probierte es mit Zimmerlautstärke, doch da erkannte sie auch den Grund, weshalb Claire sich wispernd durch die Gegend stahl: aus Katie' Kehle kam nur ein krächzendes, kratzendes Geräusch heraus und das Sprechen tat auch ungemein weh. Diese Stimmbänder waren echt anfällig für jegliche Grippeviren!

"Sag mal, Kate..." Claire spähte argwöhnisch zu ihrer Freundin herüber.
"Was macht eigentlich Jake bei laufendem Fernseher schlafend auf unserer Couch?"
Katie hielt in der Bewegung inne.
"Was?", fragte sie entgeistert. "Jake ist noch hier?"
Das durfte doch nicht wahr sein! Hatte sie ihm nicht ausdrücklich gesagt, er sollte gehen? Hatte er nicht gesagt "Ich geh dann mal"?
"Schau doch selbst nach", forderte Claire sie auf und betrachtete Kate dabei genauestens. Diese stöhnte entnervt.
"Ich schick ihn nach Hause", entschied sie. Ihr war sichtlich unwohl bei dem Gedanken, Jake eine Nacht lang in ihrem Zuhause zu haben, wenn auch mehrere Zimmer zwischen ihnen lagen. Es war einfach nicht richtig.
Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie so... streng mit ihm war. Bei Gabe beispielsweise hätte ihr das doch gar nichts ausgemacht, das musste sie sich zumindest in Gedanken eingestehen. Es laut vor Claire auszusprechen wäre vielleicht nicht die beste Idee gewesen...
Claire hingegen schien leicht entsetzt.
"Kate?! Hast du gesehen, was für ein Sturm draußen wütet?" Sie deutete mit einer ausschweifenden Handbewegung Richtung Fenster und unwillkürlich folgte Katie ihrem Wink.
Sie zögerte. Claire hatte Recht. Sie konnte Jake nicht einfach vor die Tür setzen, dazu auch noch um diese Uhrzeit. Aber die Wohnung wurde eindeutig von gefährlichen Grippeviren beherrscht - also was war schlimmer?

Sie entschied sich dazu, die Entscheidung auf Jake abzuwälzen. Wenn er sich bei diesem Sauwetter tatsächlich nach Hause würde begeben wollen, dann würde sie ihn nicht aufhalten - wenn sie auch ein mulmiges Gefühl hätte. Der Donner, der Regen, die Dunkelheit... alles Dinge, die sie lieber von drinnen aus beobachtete, anstatt mittendrin zu sein.
"Okay, okay...", gab sie nach. "Mal sehen, was Jake dazu sagt..."

Auf Zehenspitzen schlich Kate sich durch die Küche und stieß langsam die Tür auf. Wie Claire gesagt hatte, lief der Fernseher, die Lautstärke war runtergedreht worden - wahrscheinlich hatte er die Zwei nicht wecken wollen.
Jake selbst lag seit auf dem Bauch auf der Couch, sein linker Arm baumelte herab, sodass seine Finger leicht den beigefarbenen Teppich streiften.
Sein dunkelblauer Pullover war etwas hochgerutscht, auf der linken Seite stand eine Ecke seines Hemdkragens ab und verdeckte seine Wange. Passend zu dem Pullover trug er dunkelblaue Socken, an seinem Fußende lag eine weiche Wolldecke, ordentlich zusammengefaltet - und zwar von Kate. Sie fragte sich, warum er sie nicht benutzt hatte, denn die Heizung war aus und das Zimmer relativ kühl.
Kate trat näher und griff nach der Fernbedienung, die auf dem Couchtisch lag. Sie tippte auf eine Taste und der Fernseher wurde schwarz und verstummte. Dann wandte sie sich wieder Jake zu und betrachtete seine zerzausten, dunkelblonden Haare.
Durch das spärliche Licht, das aus der Küche ins Wohnzimmer drang, sahen sie noch dunkler aus und der karamellfarbene, leichte Rotstich, den seine Haare nur im Licht der Sonne annahmen, war nicht einmal zu erahnen.
Im Schlafen sah sein Gesicht erstaunlich ernst aus, das sorglose Grinsen war verschwunden, und doch wirkte er entspannt und... überlegt.
Katie musste unwillkürlich lächeln und löste sich aus ihrer Starre, schlich zu der Decke herüber und breitete sie vorsichtig über Jake aus, darauf bedacht, ihn ja nicht zu wecken.
Er bewegte sich tatsächlich keinen Millimeter vom Fleck und schlief seelenruhig weiter.
Nach einigen Sekunden drehte sich Kate von ihm weg und wollte wieder zurück schleichen, da aber bemerkte sie, wie Claire mit verschränkten Armen in der Tür zur Küche stand und ihre Freundin vielsagend angrinste.

Kate ging an ihr vorbei und schloss die Tür zum Wohnzimmer leise hinter sich.
"Und?", fragte Claire herausfordernd. "Jake bleibt also?"
Kate rollte mit den Augen. Als ob Claire das nicht vorausgesehen hätte.
"Jake bleibt", bestätigte sie krächzend - das Reden schmerzte sehr, deshalb bemühte sie sich nach Kräften, es möglichst zu vermeiden.
Claire hakte sich bei ihrer Freundin unter und zog diese aus der Küche raus, in Kate's Zimmer.
Dort ließ sie los und ließ sich auf Katie's großes Bett fallen.
"Zusammen krank sein macht viel mehr Spaß als alleine", seufzte sie, die Augen bereits geschlossen und schon halb im Traumland.
Kate sagte dazu nichts, ließ sich aber neben ihrer Freundin nieder. Wenn sie auch nur höchstens eine halbe Stunde wach gewesen war, sie fühlte sich schon wieder kraftlos und geschwächt, als wäre sie einen Marathon gelaufen oder ähnliches.
Sie schloss ihre Augen und ihre Gedanken kreisten augenblicklich um Rachel - die Perfektion in Person. Ihre Sprüche, ihre Blicke, die wie Pfeilgeschosse direkt ins Ziel einstachen, mit einer vorher noch nie dagewesenen Präzision. Und Jake, wie er sie ansah, wie er sie anhimmelte, als wäre sie - eine Göttin.
Kate wusste, dass ihre Fantasie ihr hier einen Streich spielte - oder war es gar Fieberwahn? - und trotzdem schaffte sie es nicht, den Anblick der zwei aus ihrem geistigen Auge zu verbannen.
Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrem Brustkorb aus, in ihrem Zustand, kurz vor dem Einschlafen, kaum wahrzunehmen, und trotzdem wusste sie, dass es da war. Und es würde da sein, wenn sie wieder aufwachte.
Kate drehte sich mit dem Gesicht Claire zu, deren Atmung regelmäßig und ruhig ging. Das monotone Geräusch ihres Ein- und Ausatmens und das ebenfalls stetige Ticken der Uhr beruhigte Kate ein wenig und ließ auch sie innerhalb kürzester Zeit einschlafen.


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