Fremde Welten: Unmöglich ist nichts (#3) von Purple_Moon (Prinz Soach und das Prinzip des Chaos) ================================================================================ Prolog: Vor 19 Jahren --------------------- Der Alptraum eines jeden Mannes, insbesondere eines werdenden Vaters, wurde für Soach, den Prinzen der Eisigen Inseln, an einem milden Sommerabend beinahe Realität. Er flog seinen Drachen gemächlich zu den Feuerwäldern, einer Gebirgskette mit Wäldern, deren Bäume durch lange Evolution immun gegen Feuer geworden waren, so dass sie die häufigen kleinen Vulkanausbrücke in großer Zahl überstanden. Dies war die Heimat des Flammenbrunnen-Hexenzirkels, einer Gruppierung von zehn bis zwölf Magierinnen, die hier ihre Feuermagie praktizierten. Sie waren gastfreundlich, galten aber als aufbrausend und leicht reizbar. Als Soach sich näherte, sah er schon von weitem eine Verschiebung der magischen Ströme, die das Gebiet durchzogen. So etwas kam zuweilen vor, konnte jedoch auch herbeigeführte Ursachen haben. Er trieb Gandora zur Eile an, und der Drache stieß ein lautes Brüllen aus, um seine Ankunft zu verkünden. Die Gebäude auf dem so genannten Infernogipfel waren beschädigt oder zerstört, die Gärten vernichtet von trampelnden Füßen. Kein Feuer brannte, obwohl sonst ein ewiges Lagerfeuer den Berg erhellte, gespeist von einer geheimnisvollen Quelle, aus der brennbare Flüssigkeit an die Oberfläche drang. Doch der Brunnen war kalt, und als der Besucher sich näherte, kamen nur sehr zögernd und wachsam zwei oder drei der Frauen aus ihren behelfsmäßigen Unterkünften und winkten ihm. Gandora landete so nah wie möglich. Soach sprang vom Rücken des großen, schwarzen Drachen und rannte auf eine Frau zu, die ihm bereits rufend entgegen kam. „Funkenflug! Was ist hier passiert? Wo ist Fuega?“ Funkenflug hatte Tränen in den Augen. „Soach! Wir wurden von raubenden Goblins überfallen! Es war am Fest der Götterflamme, nach dem Ritual... du weißt ja, dass wir dann alle nur sehr schwache Magie übrig haben. Sie kamen zu Dutzenden und hatten Bestienwölfe dabei... Brandis und Gluthitze wurden getötet, aber Fuega geht es gut. Komm mit!“ Die Magierin führte Soach zu einem befestigten Zelt, aus dem es auffällig nach Heilkräutern roch. Im Inneren gab es mehrere Schlaflager direkt auf dem Boden, in denen verwundete Magierinnen ruhten, aber eines enthielt einen Mann. Fuega kniete bei ihm und fütterte ihn mit Brühe. Als sie sich umwandte und Soach bemerkte, sprang sie auf, so schnell es ihr Zustand erlaubte. Sie war am Kopf und an der rechten Schulter bandagiert, vor allem aber hatte sie schwer an ihrem ungeborenen Kind zu tragen. Erleichtert schloss er sie in die Arme. „Oh, Fuega... warum war ich bloß nicht hier!“ „Du kannst nicht immer dort sein, wo du gebraucht wirst, das ist der Lauf der Dinge,“ meinte sie. „Komm... ich möchte dir jemanden vorstellen.“ Sie führte ihn an das Lager des Mannes, der bei näherer Betrachtung ein Krieger zu sein schien, denn seine Aura war nicht magiertypisch. Außerdem war er sehr kräftig gebaut, gut trainiert und sonnengebräunt. Momentan aber wirkte seine Lebenskraft sehr schwach, und er war an zahlreichen Körperstellen bandagiert und zeigte frische Schrammen an den sichtbaren Hautpartien. Er konnte sich anscheinend kaum bewegen, geschweige denn hinsetzen. „Rahzihf, dies ist Soach, der Vater meines Kindes und ein Magier von den Eisigen Inseln. Ich habe dir von ihm erzählt,“ sagte Fuega zu dem Krieger. Rahzihf nickte schwerfällig. „Es ist... mir eine Ehre...“ Soach kniete sich neben das Krankenlager, legte die zu einer lockeren Faust geschlossene rechte Hand auf sein Herz und neigte den Kopf zu einem respektvollen Gruß. „Rahzihf... wie ich sehe, habt Ihr tapfer gekämpft.“ „Dieser Mann hat uns gerettet,“ erklärte Fuega. „Er hat uns gegen die Feinde beigestanden und sie fast alleine in die Flucht geschlagen. Wäre er nicht gewesen, hätte ein Goblin mir den Bauch aufgeschlitzt und unser Kind getötet! Ohne seine Hilfe wären wir wahrscheinlich alle verloren gewesen.“ Soach blickte von ihr zu dem Mann und fand kaum Worte. „Ich... ich danke Euch. Ich weiß nicht, wie ich ausdrücken soll, was Ihr für mich getan habt!“ „Nur... meine Pflicht,“ presste Rahzihf hervor. „Ich bin Krieger... ich helfe, wo... ich kann! Mein Schwert... verteidigt... die Schwachen und Hilflosen...“ Es strengte ihn sehr an, deshalb brachte Fuega ihn sanft zum Schweigen. Normalerweise hätte sie jeden gegrillt, der implizierte, dass sie schwach oder hilflos war, aber das hatte er wohl nur allgemein gesagt. Soach hatte eigentlich nur kurz zu Besuch kommen wollen, aber er blieb mehrere Wochen und half bei der Pflege der Verwundeten. Rahzihf war so schwer verletzt, dass sein Schwertarm amputiert werden musste. Er war es sogar selbst, der es aussprach, nachdem tagelang keine Besserung eingetreten war und ein Wundfieber seine Gesundheit noch mehr bedrohte. „Nehmt mein Schwert und tut, was nötig ist,“ sagte er zu Soach, der sich darauf in der ungemütlichen Lage befand, einem Mann den Arm abschlagen zu müssen. Aber er war der Einzige, der es tun konnte, denn es erforderte eine gewisse Körperkraft sowie einige Kenntnisse im Umgang mit einem Schwert. Die meisten Hexen kurierten noch ihre eigenen Verletzungen aus und übernahmen deshalb die Aufgabe, dem Krieger ein schmerzlinderndes Mittel zu kochen und sich anschließend um die Wunde zu kümmern. Soach bewunderte die Tapferkeit des Kriegers. Nicht nur wegen der Schmerzen, die er ertrug, sondern auch, weil er den Arm verlor, der ihm sein tägliches Brot sicherte. „Ich werde einfach lernen, mit der linken Hand das Schwert zu führen,“ sagte Rahzihf dazu. „In meinem Beruf kommen Verstümmelungen häufig vor. Es ist keine Schande.“ Inzwischen hatte Fuega einen gesunden Jungen geboren. Soach konnte ihn nicht ansehen, ohne immer daran denken zu müssen, dass ihm dieses Glück fast verwehrt geblieben wäre. Nach mehreren Wochen konnte Rahzihf die Hexen verlassen. Er trug sein Schwert an der rechten Seite, so dass er es mit links ziehen konnte, und verbarg seinen Armstumpf unter einem Reiseumhang. „Seid Ihr sicher, dass ich Euch nicht auf dem Drachen heimbringen soll?“ fragte Soach erneut. „Nein, ich komme schon zurecht,“ versicherte der Krieger. Soach respektierte das mit einem Nicken. Er ließ sich von Fuega ein Armband geben, das sie getragen hatte. „Nehmt dies als Pfand meines Dankes. Ich habe es eigentlich für meine Frau gemacht, damit sie mich immer finden kann. Aber nun sei es Euer. Wenn Ihr ein Problem habt, für das Ihr die Hilfe eines Magiers benötigt, kommt zu mir. Dafür, dass Ihr mein ungeborenes Kind gerettet habt, werde ich für Euch tun, was immer Ihr braucht. Ihr habt das Wort von Soach, Prinz der Eisigen Inseln.“ Darüber diskutierte Rahzihf nicht, beteuerte weder, dass es nicht nötig sei, noch dass seine Tat nicht der Rede wert wäre. Ein Krieger wusste um den Wert seiner Taten, und um den Wert eines Gefallens, den ihm ein Magier schuldete. Er nahm das Geschenk dankend an und verabschiedete sich mit einem Kriegerhandschlag seiner linken Hand. Kapitel 1: Vergib mir, Magie ---------------------------- „Der Zirkel des Bösen geht nach Prüfung aller verfügbaren Fakten und Aussagen davon aus, dass der Angeklagte den Raub des Artefakts vor seiner erstmaligen Inhaftierung in Auftrag gab und diese Tatsache bewusst verschwieg, um sich eine Möglichkeit für später offen zu halten. Wir erwägen zu glauben, dass der Angeklagte inzwischen seine Absichten geändert hat, da er eine gewisse Loyalität zu Direktor Crimson und der Lotusschule empfindet. Er hat sich gestellt und keinen Fluchtversuch unternommen. Deshalb, und nur deshalb, sehen wir von der Todesstrafe ab, wie sie beim Scheitern des Rehabilitationsprogramms Stufe drei für gewöhnlich fällig wäre, wenn schon die Stufe drei nur aufgrund von Fürsprache und mildernden Umständen gewährt wurde.“ Der Vorsitzende brachte einen Ausbruch von Gemurmel mit einem Pochen seines Stabes zum Schweigen. „Chaoshexer Sorc, Ihr werdet zum Ausbrennen der Magie und anschließender gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Dies entspricht dem Rehabilitationsprogramm Stufe vier. Das Urteil wird sofort vollstreckt.“ Sorc schloss erbebend die Augen und verkrampfte die Hände um den Rand seines Stehpultes. Egal, wie sehr er mit diesem Urteil gerechnet hatte... es war immer etwas anderes, wenn es tatsächlich ausgesprochen wurde. Die Information manifestierte sich als dicker Klumpen in seinen Eingeweiden und kroch seinen Hals hoch, um ihn langsam zu ersticken. „Nein!“ Hinter ihm wurde es laut. „Das könnt ihr nicht machen! Bitte!“ Das war Crimsons Stimme. Den Geräuschen nach zu urteilen war er von seinem Zuschauerplatz aufgesprungen und wurde daher von einigen Wachen dingfest gemacht und in seine Schranken verwiesen. Sorc war dankbar für die Ablenkung, denn so blieb ihm ein Moment Zeit. Tief atmend brachte er seine Mimik unter Kontrolle und stellte sicher, dass seine Hände nicht zu sehr zitterten. Dann blickte er langsam auf. Ein Mitglied des Zirkels des Bösen stand vor ihm und wartete geduldig. Als er Sorcs Aufmerksamkeit hatte, fing er mit ernster Mine zu reden an: „Ich muss einige organisatorische Fragen stellen. Sollen wir irgendwelche Angehörigen benachrichtigen?“ Sorc schüttelte den Kopf. Jemand zog seine Arme nach hinten und fesselte ihm sachlich die Hände auf dem Rücken. „Möchtet Ihr Eure Aussage doch noch revidieren oder ergänzen?“ „Nein.“ „Ihr habt bis direkt vor der Vollstreckung Gelegenheit, noch etwas auszusagen.“ Sorc nickte zum Zeichen, dass er das zur Kenntnis genommen hatte. Er sah sich nach Crimson um. Dieser befand sich inzwischen in Gesellschaft von Lord Genesis, der leise auf ihn einredete. „Wünscht Ihr, dass jemand als Beistand bei Euch ist?“ fragte der Zirkelangehörige weiter. „Vielleicht Crimson vom Lotusschloss?“ „Nein... auf keinen Fall, er ist... zu sensibel,“ lehnte Sorc sofort ab. Seine eigene Stimme klang seltsam belegt in seinen Ohren. „In Ordnung... Wollt Ihr den Vorgang im Liegen oder im Stehen auf Euch nehmen?“ „Ich will meinem Schicksal aufrecht begegnen,“ sagte Sorc. Das schien dem Frager zu gefallen, denn sein Nicken wirkte anerkennend, als er ein Kreuzchen auf seinem Klemmbrett machte. „Dann wünscht Ihr wohl auch keine Augenbinde?“ „Nein.“ „Ihr scheint körperlich gesund zu sein,“ fuhr der Zirkelangehörige fort. „Sollen wir dennoch einen Heiler für hinterher abstellen oder für den Fall, dass es Komplikationen gibt?“ Erst zog er den Vorschlag in Erwägung, entschied dann aber, dass Crimson genügte. „Nein... das wird nicht nötig sein.“ „Ihr bekommt gleich noch Gelegenheit, Euch kurz vorzubereiten. Waschen, umziehen... wir erleben es oft, dass die Verurteilten darauf großen Wert legen. Zuerst könnt Ihr noch kurz mit Direktor Crimson reden, mir scheint, er wartet schon auf seine Gelegenheit...“ So war es auch. Sorc hatte den Platz des Angeklagten, eine halbrunde Kanzel in der Mitte eines großen Forums, noch nicht verlassen und wurde auch jetzt genötigt, dort zu bleiben. Crimson musste sich ihm gefesselt nähern, nachdem er solches Theater veranstaltet hatte. „Es ist nicht erlaubt, einander zu berühren,“ warnte Lord Genesis und postierte Crimson in ausreichender Entfernung. „Keine Gedankenunterhaltungen.“ Dieser sah völlig fertig aus. Kein Wunder... jeder Mensch hatte schon schwer genug daran zu tragen, das Leid seiner eigenen Seele zu verkraften. „Ich... ich habe mitbekommen, dass du mich nicht dabei haben willst...“ begann der Weißhaarige. „Ich verstehe auch deine Gründe... aber du solltest dir um mich keine Sorgen machen. Jeder sollte in schweren Situationen einen Freund an seiner Seite haben.“ Doch Sorc schüttelte den Kopf. „Glaub mir, Crimson... dabei möchtest du nicht zusehen. Ich möchte nicht, dass du das siehst. Hinterher jedoch... hinterher wüsste ich deinen Beistand zu schätzen. Lord Genesis, bitte passt auf ihn auf, damit er keine Dummheiten macht.“ „Das hatte ich sowieso vor,“ murmelte der Vampir. Er wandte sich an seine Kollegen. „Ich denke, das genügt. Bringt ihn weg.“ Zwei Wachen ergriffen Sorcs Oberarme. „Nein! Wartet!“ rief Crimson. „Lass mich dabei sein, Sorc! Du brauchst jemanden... und ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich dich jetzt allein lasse!“ „Es wird nicht schön,“ presste Sorc mit halb erstickter Stimme hervor. „Gerade deshalb,“ entgegnete Crimson. „Du brauchst jemanden, der nicht dein Bruder oder dein Sohn ist, dich aber trotzdem gut kennt.“ Die Wachen warteten tatsächlich auf seine Entscheidung. Sorc wollte Crimson dies eigentlich nicht zumuten und den Jüngeren nicht sehen lassen, wie schwach er sein konnte. Aber in diesem Ausnahmefall traf er eine rein egoistische Entscheidung. „Na gut,“ sagte er, und es wurde fast nur ein Flüstern. Sein Blick trübte sich verdächtig. Vorsichtshalber vermied er jedes weitere Wort. Crimson schwieg ebenfalls. Der Zirkelangehörige mit dem Klemmbrett notierte etwas und nickte den Wachen zu. Sorc ließ sich widerstandslos wegführen, begegnete noch kurz einmal Crimsons Blick und starrte dann auf den Boden. Vielleicht konnte er es hinter sich bringen, bevor er realisierte, was vor sich ging. Die Wachen, die Crimson gefesselt hatten, befreiten ihn rasch wieder. Er bekam eine offizielle Verwarnung und musste versprechen, sich zu benehmen. Das fiel ihm ziemlich schwer. „Ist es nicht möglich, in Berufung zu gehen? Ein Gnadengesuch einzureichen? Zu protestieren?“ wandte er sich hektisch an den Vampirlord. Sie hatten nicht viel Zeit, aber es musste etwas geben, was sie tun konnten! „Aufschub... wie wäre es erst einmal mit Aufschub?“ „Und ihm Hoffnung vorgaukeln, die er nicht hat?“ Genesis schüttelte bedauernd den Kopf. „Crimson, er hat das Programm der Stufe drei auf Fürsprache seines Sohnes und einiger Zirkelmitglieder bekommen. Weil wir glaubten, dass sein Potential noch nützlich sein kann. Aber das bedeutet natürlich, dass jede weitere Verfehlung ihn unwiderruflich zum nächst härteren Schritt verdammt. Es gab hier Stimmen, die heute vehement Sorcs Hinrichtung gefordert haben.“ „Es muss etwas geben! Bitte, Angelus! Was wäre, wenn... er seine Mutter dabei haben will?“ „Nein. Ausbrennungen werden immer sofort vollstreckt, damit sich niemand einmischt. Nur bei Hinrichtungen kann auf Verwandte gewartet werden, wenn der Verurteilte das wünscht.“ Crimson presste die Hände an die Schläfen und lief auf und ab wie ein nervöses Tier. „Ich kann das einfach nicht geschehen lassen!“ „Ich wusste gar nicht, dass du Sorc inzwischen so nahe stehst,“ bemerkte Lord Genesis. Crimson konnte das nicht abstreiten. „Ja, wir kennen uns mittlerweile ganz gut. Als Sorc zu uns kam, sagte er, dass er um Exekution gebeten hätte, wenn ihr ihn zum Ausbrennen der Magie verurteilt hättet. Auch Lady Charoselle hat mir gegenüber erwähnt, wie wichtig ihm die Magie ist. Und nun das! Wieso lässt er das jetzt zu?“ Der Vampirlord hob eine Augenbraue. „Glaubst du, er hat einen Trumpf im Ärmel, um sich zu retten?“ „Nein... er hat Angst, Angelus. Er zeigt seine Schwächen nicht öffentlich, aber ich habe es deutlich gesehen.“ „Das habe ich auch vermutet. Er ist normalerweise besser darin, Haltung zu bewahren. Soweit ich ihn kenne, scheint das sehr wichtig für ihn zu sein. Kein Wunder, als Sohn des Königreichs der Eisigen Inseln wurde er so erzogen. Ich frage mich, ob er ahnt, dass wir ihn durchschaut haben.“ „Wie bitte?“ „Seine Art zu argumentieren passt nicht zu dem, was wir beim letzten Mal von ihm erlebt haben. Er hat angeblich vergessen, dass der Bursche noch in seinem Auftrag unterwegs war. Ich bitte dich! Wir sind der Zirkel des Bösen. Wenn er damit einen Plan verfolgt hätte, würden wir das gerissen finden. Aber vergessen? Er dürfte inzwischen wissen, wie der Zirkel denkt. Wenn er gestanden hätte, wäre das viel glaubwürdiger gewesen, obwohl es am Urteil vermutlich nichts geändert hätte – auch nicht zum Negativen. Es wäre also kein Risiko gewesen, hätte ihn aber in unseren Augen besser dastehen lassen. Also womöglich wollte er uns wissen lassen, dass er lügt.“ „Du... du hast Recht... ich weiß, dass er lügt. Aber wieso? Hintergeht er uns alle? Das glaube ich einfach nicht... Und wenn er unschuldig ist, wovon ich ausgehe, warum tut er das dann?“ „Wofür würdest du deine Magie opfern?“ erkundigte Genesis sich lauernd. „Oder für wen?“ Crimson atmete scharf ein. „Der Junge...!“ „Ah ja... das mag sein. Weißt du, eigentlich glauben die meisten von uns, dass er kippt, bevor das Urteil vollstreckt wird. Vielleicht rückt er noch mit der Wahrheit heraus.“ Das tröstete Crimson nicht. „Wäre dann nicht wieder der Junge auf der Anklagebank?“ „Ja, natürlich,“ bestätigte Genesis. „Und die Chancen stehen gut, dass er schlicht und einfach Lord Arae übergeben wird, weil der Diebstahl eigentlich nur ihn betrifft.“ „Aber... würde dieser Lord Arae den Jungen töten? Einfach so? Das würdet ihr nicht zulassen. Doch nicht wirklich, oder?“ Genesis schwieg, und Crimson fragte nicht weiter nach, denn ein weiterer Angehöriger des Zirkels kam auf sie zu. Er kannte den Mann. Es war Old Sage, der alte weise Magier... eine hochgewachsene, schlanke Gestalt, auch im Alter noch. Im Prinzip sah er aus wie Dark mit einem langen Bart und grauen Haaren und etwas imposanterer Kleidung. „Großvater...“ „Crimson, mein Junge.“ Sage tätschelte seinem Enkel die Schulter und wirkte dabei unangemessen heiter. „Ich bin hier, um an deiner Seite zu sein, während du der Urteilsvollstreckung beiwohnst.“ „Aber... ich dachte, Angelus wird...“ „Nein, ich warte vor der Tür,“ wiegelte der Vampir ab. „Freigesetzte Zerstörungsmagie ist nichts für mich, da halte ich mich lieber fern.“ Crimson stürzte sich regelrecht auf seinen Großvater. „Kannst du nicht etwas tun? Sorc ist unschuldig! Er ist Magier mit Leib und Seele, ihr dürft ihn nicht vernichten!“ „Wir sollten uns auf den Weg machen.“ Sage schob Crimson sanft in die richtige Richtung. „Und du, mein Junge, musst jetzt stark sein für deinen Freund, statt nach Wegen zu suchen, ihn vor seinem Schicksal zu bewahren. Es gibt Situationen im Leben, da kannst du nichts weiter tun als da zu sein. Akzeptanz ist wichtig, um der Aufgabe gewachsen zu sein.“ Sie gingen allerdings noch das Stück bis zur Tür des Vollstreckungsraumes zusammen mit Genesis. Hier war bereits allerhand los. Magier versammelten sich schwatzend in dem Raum, der zu Crimsons Entsetzen einem Kerker oder gar einer Folterkammer glich... ein kalter, fensterloser Raum im zweiten Kellergeschoss, mit nackten Steinwänden, an der Decke befestigten Ketten und passenden Gegenstücken am Boden. Einige Bannkreise waren in die Steine eingearbeitet, wo der Verurteilte stehen sollte. Dies wurde gerne an Orten gemacht, wo Magier sie oft benutzten – sie ließen sich ganz einfach bei Bedarf aktivieren und mussten nicht immer erneuert werden. Sage fing an, die Magier zu sortieren. Er schien zu den ältesten zu gehören und wies sie in ihre Aufgaben ein, die hauptsächlich darin bestanden, einen Bann aufzusagen, damit der Verurteilte keine Magie einsetzen konnte. Sie versammelten sich an der linken und rechten Wand. Die meisten blieben stehen, ein paar nahmen eine Meditationshaltung ein. Crimson bekam den Platz auf der rechten Seite ganz am oberen Ende der Reihe zugewiesen. Sein Großvater stellte sich neben ihn. Auch seine Großmutter Cosmea war da. Sie winkte ihm von der anderen Seite aus lächelnd zu. Crimson gewann zunehmend den Eindruck, dass hier nicht mit dem nötigen Ernst an die Sache herangegangen wurde. „Verhalte dich ruhig,“ ermahnte Sage ihn. „Ich bin dafür da, auf dich zu achten. Lass dich nicht dazu hinreißen, dich einzumischen. Wir können den Raum wegen der dichten Bannzauber nicht verlassen, wenn es begonnen hat, also ist jetzt die letzte Gelegenheit, dich anders zu entscheiden.“ „Ich mache jetzt keinen Rückzieher,“ versicherte Crimson. Nicht nachdem er Sorc extra überzeugt hatte, ihn dabei sein zu lassen. Aber was hatte er sich nur dabei gedacht? Konnte er das wirklich ertragen? Doch es war so, wie er Sorc gesagt hatte: Er würde es sich nie verzeihen, wenn er ihn allein ließe. Außerdem glaubte er fest daran, dass der Chaosmagier insgeheim gehofft hatte, dass er so handeln würde. Er war nur zu stolz und auch zu rücksichtsvoll, um selbst darum zu bitten. Sorc bekam zehn Minuten, in denen er ein Bad benutze durfte, allerdings unter strenger Aufsicht. Er hatte zuvor eine formelle Robe getragen und tauschte diese gegen eine einfache Hose aus, die ihm zur Verfügung gestellt wurde, denn das war für den Zweck praktischer. Der Ausbrennzauber wurde für gewöhnlich auf den nackten Oberkörper abgefeuert, soweit er wusste. Seine Schuhe musste er weglassen, damit sie seine Füße anketten konnten. Seit er aus dem Gerichtssaal weggeführt worden war, dachte er sachlich und analytisch über die Situation nach, so als beträfe sie einen anderen. Auf diese Weise fiel es ihm leichter, seine würdevolle Fassade aufzubauen und zu halten. Bei einem Blick in einen großen Spiegel konnte er seine eigene Aura sehen. Sie bildete ein rot flackerndes Feld um seinen Körper, auffällig für Augen, die sahen wie seine. Sicherlich waren unter den Zirkelmagiern einige, die daraus ihre Schlüsse ziehen würden, aber Sorc sah sich momentan außerstande, außer seiner Körperhaltung auch noch seine Aura zu manipulieren. Auf dem Weg zur Urteilsvollstreckung wurden ihm wieder die Hände gebunden. Zwei bewaffnete Männer gingen vor ihm, zwei hinter ihm. Er hatte ein paar letzte Momente für sich, während er zwischen ihnen geführt wurde. Vergib mir, Magie, dass ich zulasse, dass sie uns voneinander trennen, dachte er, wohlweislich so, dass er es nicht telepathisch sendete. Wenn du mich dann noch willst, hilf mir, den Weg zurück zu dir zu finden... Ich werde für den Rest meines Lebens danach suchen. Er trug nichts, das seine Magie unterdrückte, aber im Gebäude war alles mit Zaubern gesichert, und die Wachen passten ganz genau auf. Selbst wenn er es versuchte... es gab kein Entkommen, jedenfalls nicht lebend. Nicht dass ihn das aufgehalten hätte, wenn es sein Wunsch gewesen wäre, seinem Schicksal zu entgehen... aber er bevorzugte es, am Leben zu bleiben. Für alle, die ihn liebten. Für alle, die er liebte. Sogar für all seine Feinde, nur um sie zu ärgern. Im Nachhinein beschämte es ihn, dass er jemals der Ansicht gewesen war, lieber sterben zu wollen als ohne Magie zu leben. Sterben konnte er später noch. Der Vollstreckungsraum ließ ihn dann fast seine Meinung ändern. Es war im Prinzip nur ein Kerker ohne Fenster im Keller, erleuchtet durch Lichtmagie. Der Raum war sehr geräumig, so dass die Zuschauer zu beiden Seiten kaum Gefahr liefen, von dem Zauber getroffen zu werden, der nur für den Verurteilten gedacht war. Die vielen Zuschauer hätte er sich lieber weggewünscht, aber sie erfüllten wohl auch den Zweck, seine Flucht zu verhindern, denn einige murmelten ständig vor sich hin. Er konnte sehen, dass sie die Magie in dem Raum dahingehend manipulierten, dass sie sich unmerklich bindend um ihn legte. Sorc fand etwas Trost in dem Bewusstsein, dass er von Magie umgeben war. Er betrachtete sie niemals als seinen Feind, selbst wenn sie gegen ihn gerichtet wurde. Während die Zirkelmagier für ihn alle zu einer gesamtheitlichen, murmelnden Masse verschwammen, kristallisierte sich Crimsons Aura am Ende der Reihe rechts von ihm klar heraus. Sie war ebenfalls rot, wirkte aber eher defensiv, zu erkennen an dem klaren, glatten Umriss. Sorc blendete die anderen Magier aus und konzentrierte sich auf den Freund. Dessen Haltung war krampfhaft gerade, die Fäuste geballt und die Lippen zusammengepresst, die Stirn gerunzelt wie in größter Anstrengung. Sorc begegnete Crimsons Blick, und es war wie eine Sicherheitsleine, die ihren Anker fand. Da gab es jemanden, der ihm bedingungslos zur Seite stand. Der weißhaarige Magier konnte es vermutlich kaum ertragen, nichts zu unternehmen, doch er war hier. Sorc hätte es ihm gerne erspart oder zumindest erklärt, warum all das geschah. Aber das musste warten. Seine Bewacher lösten seine Fesseln. Sie ketteten ihn mit hochgestreckten Armen mitten im Raum an der Decke an und seine Füße am Boden. Die Ketten ließen ein klein wenig Bewegungsfreiheit, was aber wohl nur dazu diente, den Unterschied zu einer Foltersitzung zu verdeutlichen. Sorc versuchte, normal zu atmen, aber irgendwie schien sein Körper mehr Luft zu benötigen als sonst. Der Sprecher von vorhin baute sich in seinem Blickfeld auf und hielt seine Rede für die Anwesenden: „Wir sind hier versammelt, um die Magieausbrennung an dem Chaoshexer Sorc zu vollstrecken. Er wird dem Ausbrennritual ausgesetzt, bis die ihm innewohnende Magie unwiederbringlich vernichtet ist. Wir rechnen mit einer Dauer von etwa zehn Minuten. Cosmea und Thaumator werden das Urteil vollstrecken.“ Es war ganz gut, dass er redete, denn so hatte Sorc Zeit, das Pochen seines Herzens zu beruhigen. Es erschien ihm ziemlich laut, und er konnte sich kaum auf die Worte konzentrieren. Sein Atem wollte einfach nicht langsamer funktionieren. Er umklammerte die Ketten mit Händen, die feucht an dem Metall abrutschten. Nein, es war doch nicht gut, dass der Kerl ihn hinhielt. Besser, sie kamen einfach zur Sache. Schließlich wandte sich der Sprecher an ihn: „Wir werden jetzt mit dem Vorgang beginnen. Habt Ihr noch etwas zu sagen?“ Vergib mir, Magie. Sorc schüttelte möglichst würdevoll den Kopf. Seine Eingeweide bestanden nur noch aus einem verkrampften Klumpen. Vermutlich hätte er nichts sagen können, selbst wenn er gewollt hätte. Der Mann blinzelte, als stünde das so nicht in seinem Skript. Er räusperte sich und konsultierte sein Klemmbrett. „In Ordnung. Um es Euch leichter zu machen, leistet bitte einfach keinen Widerstand. Es gibt zahlreiche Theorien darüber, wie das Ritual am besten zu überstehen oder gar zu überlisten ist, aber glaubt mir... jeder Widerstand ist zwecklos und quält Euch nur länger.“ Er trat zur Seite, machte Platz für einen Mann und eine Frau, die aus den Reihen an der rechten Seite hervortraten. Sie blieben vor ihm stehen, betrachteten ihn abschätzend. „Die Aura ist stark,“ murmelte die Frau. „Und aggressiv.“ Der Mann nickte nachdenklich. „Lass mich beginnen...“ Er legte eine kalte Hand auf Sorcs Brust und schloss konzentriert die Augen. Die Ketten klirrten leise, als Sorc automatisch versuchte, der Hand auszuweichen. Noch passierte nichts... sie sondierte seine Magie, um das richtige Maß an Zerstörung anwenden zu können. Er kannte die Theorie, aber seltsamerweise war er bei allen Gedanken, die er sich jemals darüber gemacht hatte, nicht in der Lage, sich für eine Strategie zu entscheiden, um dieser Situation zu begegnen. Als Chaosmagier reagierte er instinktiv auf Bedrohungen, aber Pläne gegen etwas zu schmieden, war nicht so einfach. Der Vorstoß des Zirkelmagiers war wie ein Einbrecher in seinem Haus, der die Tür aufbrach und sich hereinschlich. Sorc fuhr all seine geistigen Schranken hoch und warf ihn hinaus. Es war überraschend einfach. „Nanana,“ murmelte der Vollstrecker. „Ganz ruhig, Junge... Cosmea, er wehrt sich instinktiv.“ „Das ist ja auch irgendwie verständlich, Thaumator. Aber wir können uns damit nicht aufhalten. Lass mich mal.“ Ihr Vorstoß war brutaler und überraschender. Sie legte auch ihre Hand auf seine Brust, aber die Hand fühlte sich warm an. Im nächsten Moment hatte sie die Tür nicht aufgebrochen, sondern aus den Angeln gerissen. Cosmea trat zurück, die Hand erhoben. Sorc fühlte sich wie ein Fisch an der Angel und wand sich in den Ketten, wollte sie mit Magie sprengen, doch das war anscheinend genau das Falsche. Zu seinen Füßen flammte golden ein Bannkreis auf. Cosmea ließ einen Zauber auf ihn los, der seine Magie packte und auflöste, und dann fraß er sich weiter, verfolgte den Weg seiner Magie in sein innerstes Zentrum, wo sie zu Hause war, und fing an, dort zu wüten. Sorc schrie auf, versuchte, etwas zu retten, doch genauso gut hätte er versuchen können, ein brennendes Haus voller Papier zu retten. Wenn er etwas hinaustragen wollte, brannte es zuerst; wenn er das Feuer bekämpfen wollte, musste er dafür Papier nehmen und fütterte es nur noch mehr. Es gab kein Wasser weit und breit, eigentlich bestand die einzige Chance in der Flucht. Doch er weigerte sich, alles tatenlos zerstören zu lassen... Crimson erstickte fast an seinem eigenen Atem. Noch nie hatte er so viel Willenskraft aufbringen müssen wie in diesen Minuten. Er wusste, dass es besser war, einen Ausbrennvorgang zu beenden, wenn er erst einmal begonnen hatte, vergleichbar mit der Amputation eines Körperteils. Aber diese Minuten, während ausgerechnet seine eigene Großmutter sich darauf einstimmte, einen mächtigen Magier zu vernichten, waren Sorcs letzte Chance. Crimson wünschte so sehr, irgendetwas tun zu können, sich im letzten Moment an eine traditionelle Begnadigungsregelung zu erinnern, aber es gab keine. Für Hinrichtungen, ja, aber nicht für Ausbrennungen. Er war sicher, dass Angelus es ihm gesagt hätte, wenn es eine Möglichkeit gäbe, aber der Vampir hatte sich diesbezüglich sehr pessimistisch gezeigt. Deswegen dachte er sogar über ein gewaltsames Eingreifen nach, aber gegen all die versammelten Magier hatte er keine Chance, und Sorc hätte auch nicht gewollt, dass er sich zu einem Gejagten des Zirkels machte. Und so musste er untätig zusehen, wie Sorc, bewusst oder unbewusst, die Vorstöße der beiden Vollstrecker abzuwehren versuchte, nur um dann umso brutaler zur Strecke gebracht zu werden. Es gab keinen bekannten Weg, dem Ausbrennritual zu entgehen, wenn das Opfer erst einmal gebunden und gebannt war. Aus Cosmeas Hand schoss ein silbriger Energiestrahl in Sorcs Brust. Während andere magische Angriffe immer so aussahen, als würden sie auf das Ziel aufprallen, schien dieser tatsächlich darin zu verschwinden. Eine halbe Sekunde lang war es still bis auf das Zischen der zerstörerischen Magie. Sogar das Murmeln der umstehenden Magier hatte aufgehört. Crimson hoffte, dass alles nur ein Fehler war oder gleich jemand zu lachen anfing und es sich als übler Scherz erwies. Dann schrie Sorc. Wieder und wieder und wieder. Das Geräusch ging Crimson durch Mark und Bein. Er hatte in seinem Leben schon gestandene Männer vor Schmerzen schreien gehört. Auch erinnerte er sich noch an seine eigenen Schreie, als Malice ihm sein Tattoo in den Rücken geritzt hatte. Aber nie hatte in einem Schrei so viel Qual mitgeschwungen. Crimson vernahm die Verzweiflung eines Mannes, der einen Teil seines Wesens verlor, eines Magiers, dessen Existenz zerstört wurde. Crimson wollte um Gnade flehen oder gar um den Tod betteln... Gedanken, die teilweise nicht von ihm kamen. Die Empfindungen zwangen ihn fast in die Knie. Er öffnete sich dennoch bewusst der Verbindung, die sein Schlossherz mit Sorcs Seele hatte, denn ganz verschließen konnte er sich ihr ohnehin nicht. Und er wollte, dass Sorc seinen Beistand spürte. Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, der Veranstaltung fern zu bleiben. Crimson würde diese Erinnerung nie wieder loswerden, und genau das hatte Sorc ihm wahrscheinlich ersparen wollen – und sich selbst, denn er wollte niemals vor einem Freund so schwach wirken. Doch dafür waren Freunde da. Damit es später jemanden gab, der ansatzweise verstand, was mit ihm passiert war, und ihn nicht dafür verurteilte, wenn es ihm schlecht ging. Jemanden, der ihm wieder auf die Beine half. Und so sah er zu, wie einer seiner besten Freunde sich in den Ketten wand, an ihnen zerrte und immer wieder versuchte, dem vernichtenden Zauber auszuweichen. Dem Weißhaarigen kamen die Tränen. Er ließ sie zu und unterdrückte sein Schluchzen nicht. Sorcs Schreie übertönten ohnehin das meiste davon. Crimson lehnte sich gegen die Wand in dem Bemühen, auf den Beinen zu bleiben. Sage drückte verständnisvoll seine Schulter. Der grausame Ritualzauber tauchte den Raum in flackerndes Licht. Cosmea wirkte hochkonzentriert. Ihr jüngerer Kollege stand wachsam daneben. War es für den ausführenden Magier eine Überwindung, so etwas zu tun? War es anstrengend, schwierig? Konnten sie sich ohne Probleme konzentrieren, wenn das Opfer so offensichtlich litt? Wie viele hier im Raum waren in der Lage, diese Folter auszuführen? Die Schreie nahmen eine höhere Tonlage an. Crimson wollte sich gar nicht vorstellen, wie der Ausbrennzauber sich anfühlte. Der Name war ja im Prinzip schon Programm. Aber am grausamsten war, dass es kein Entrinnen vor den Schmerzen gab. Nicht für Sorc. Umso mehr fürchtete Crimson um die Gesundheit des Mannes. Er kannte Sorc gut, wusste aber nicht, wo für ihn die Grenze des Erträglichen lag. Nach den Empfindungen zu urteilen, die er von ihm auffing, kamen sie der Lösung zu dieser Frage heute ein großes Stück näher. Cosmea legte eine Pause ein, aber der Bannkreis blieb aktiv. Sorcs Körper erschlaffte in den Ketten. Er bemühte sich, auf die Füße zu kommen, doch seine Beine hörten nicht auf ihn. Also hielt er einfach die Augen geschlossen und ließ alle glauben, er sei bewusstlos. Bewusstlosigkeit war ihm nicht vergönnt. Sie kam nur für jene, die aufgaben, und für jene, die sich an den Ort zurückziehen konnten, den man als Seele kannte. Dahin ging das Bewusstsein, wenn der Körper es nicht mehr tragen konnte. Doch ihm war dieser Weg verwehrt, zu groß war die Entfernung. „Es wird doch länger dauern, als ich dachte. Ich mache für dich weiter,“ sagte der Magier Namens Thaumator, und die Frau, Cosmea, widersprach nicht. Sorc spürte wieder die kalte Hand und erbebte unwillkürlich. Er konnte sich gerade noch ein ängstliches Wimmern verkneifen. „Sträube dich nicht länger,“ riet ihm die geradezu väterliche Stimme sanft. „Zum jetzigen Zeitpunkt ist es bereits zu spät. Deine Magie würde eitern wie eine infizierte Wunde, wenn wir jetzt aufhören würden... Füge dich einfach in dein Schicksal. Es macht die Prozedur leichter.“ Sorc zwang seine Augen, sich einen Spalt breit zu öffnen, und hob mühsam den Kopf. Seine Sicht war verschwommen, aber die rote Aura im Hintergrund konnte er erkennen. Thaumator hielt sein Schweigen wohl für zustimmende Resignation. „So ist es gut, Junge... mach es dir nicht unnötig schwer.“ Seine Hand wurde so kalt, dass sie glühte, und Sorc fühlte sich in das brennende Zimmer zurückversetzt. Seltsamerweise war er ein Kind, hilflos und schwach... Er versuchte, Bücher zu retten, doch sie fingen auf dem Weg zur Tür Feuer und zerfielen in seinen Händen zu Asche. Er wollte sich mit einer Schriftrolle zufrieden geben, doch damit verlief es nicht anders. Seine Hände bekamen Blasen, sein restlicher Körper fühlte sich versengt an von der Hitze. Aber das alles empfand er als zweitrangig. Verzweifelt sah er sich um, sah sein ganzes magisches Dasein in Flammen aufgehen... bis sein Blick auf einen kleinen Notizzettel fiel, der zusammengefaltet auf der Erde lag, wo er dem Brand bisher durch pures Glück entkommen war. Es war nur ein kleiner Zettel, viel zu unwichtig, doch Sorc sprang hin und hob ihn auf. Sofort fing eine Ecke des Papiers Feuer. Er schloss die linke Hand darum und wandte sich zur Tür. Wenn er nur diesen Zettel behalten durfte... nur dieses kleine Stück Papier, von dem er nicht einmal wusste, ob etwas darauf geschrieben war... Nein, du musst alles hergeben, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Er konnte nicht unterscheiden, ob es Cosmea oder Thaumator war. Lass den Zettel los... Er rannte auf die Tür zu, den Zettel fest in der geschlossenen Faust. Alle Wände brannten bereits, denn sie standen voller Bücherregale. Selbst der Boden glühte an manchen Stellen schon, und die Tür war nur noch ein Loch in einer Flammenwand. Er warf sich mit einem Hechtsprung hindurch und kam hart auf der anderen Seite auf. Doch das Feuer ließ ihn nicht in Ruhe, solange er etwas bei sich hatte, das aus dem Raum mit den Büchern kam. Es klebte an seiner Faust und versuchte, zu dem Zettel vorzudringen. Es wäre einfach gewesen, aber er ließ ihn nicht los. Alles Papier muss verbrennen. Lass los, oder es vernichtet auch deine Hand. Sorc weigerte sich. War es zu viel verlangt, diesen kleinen, unwichtigen Zettel zu behalten? Das Feuer kroch in seine Faust und glühte an dem Papier entlang, egal, wie fest er zudrückte. Es tat weh, und wäre sicherlich angenehmer gewesen, hätte er einfach losgelassen. Er hielt aus, selbst als er sich kreischend am Boden wälzte. Irgendwann hörte es auf. Die Flammen mussten das Papier zu ihrer Zufriedenheit vernichtet haben, doch er konnte nicht nachsehen. Er traute sich nicht. Seine Finger klebten blutig und verkohlt aneinander, und er hatte Angst davor, dass sie nur ein bisschen Asche festhielten und er alles umsonst ertragen hatte. „Das dürfte genügen,“ befand Cosmea schließlich. „Wenn wir weitermachen, gefährden wir unnötig sein Leben, und die Prozedur hat mich erschöpft.“ „Stimmt wahrscheinlich, ich bin auch schon ganz geschafft,“ murmelte Thaumator. Die Stimmen drangen in sein Bewusstsein, doch Sorc war zu schwach für irgendeine Reaktion. Es war vorbei... Während die körperlichen Schmerzen sich auf einen Restpegel einpendelten, der ausreichte, um weniger trotzige Männer wimmern zu lassen, nahm er seinen eigenen Schweißgeruch war, und es roch auch nach Blut... Sorc war froh, dass es noch wehtat. Dadurch konnte er sich einreden, dass die Verletzung heilen würde, die der Ausbrennzauber in ihm hinterlassen hatte. Das war momentan die beste Taktik. „Aus dem Weg! Lasst mich zu ihm!“ Crimson! Sorc freute sich, seine Stimme zu hören. Soweit er sich im Moment über irgendetwas freuen konnte. „Nein, ich mache das schon! Löst die Ketten. Bringt die Trage hierher. Na los, der Mann blutet!“ Jemand schloss zuerst seine Fußfesseln auf, und erst, als Crimson ihn sicher hielt, kamen die Handfesseln dran. Crimson fing ihn auf, in mehr als einer Hinsicht. In seiner Gegenwart fühlte er sich seiner Seele näher. Er war eigentlich größer und schwerer, aber der jüngere Magier ließ ihn nicht fallen. Sorc zwang Energie in seine Beine, doch er konnte nicht stehen. Seine Finger bekamen mit Mühe etwas von Crimsons Robe zu fassen, konnten sich aber kaum daran halten. Verdammt! Er war völlig hilflos! „Schon gut, Sorc. Wir werden dich in den Nebenraum bringen.“ Crimson half ihm, sich hinzulegen. Ein weiteres Paar Hände fasste mit an, eventuell der alte Mann. Sorc wollte nicht hier rausgetragen werden. Allerdings konnte er das im Moment kaum verhindern, und im Endeffekt war es ihm dann auch egal. Er atmete immer noch keuchend und zitterte jetzt auch noch, unfähig, die Reaktion seines Körpers auf das kräftezehrende Ritual zu unterdrücken. Er hielt die Augen geschlossen und konnte nur erahnen, dass er kurz transportiert wurde. Wahrscheinlich waren noch ein oder zwei weitere Personen da, aber das blendete er aus. Bewusstlosigkeit wäre ein Segen gewesen. Schwer zu ertragen für seinen Stolz, aber der machte sich im Moment ganz klein. Kapitel 2: Stufe vier --------------------- Crimson hielt nichts mehr an seinem Platz, als Cosmea und Thaumator mit dem Zauber fertig waren und der Bannkreis erlosch. Sorc hing beängstigend schlaff in den Ketten, und von den Scharnieren rann Blut in dünnen Rinnsalen von seinen Handgelenken seine Arme herab. Sein Kopf hing nach vorne und die Haare verdeckten sein Gesicht. Der Atem ging schwer und keuchend, begleitet von einem hektischen Heben und Senken des Brustkorbes. Die Augen waren geschlossen, doch Crimson wusste, dass Sorc außerhalb von Schloss Lotusblüte nicht das Bewusstsein verlieren konnte, weil seine Seele nicht in seinem Körper wohnte. In seinem momentanen Zustand konnte der Schwarzhaarige nicht einmal auf ihn gestützt gehen, daher ließ Crimson ihn in das andere Zimmer tragen. Ein paar Helfer rissen sich geradezu um die Aufgabe, er achtete aber nicht weiter darauf, wer das war. Sage wollte ihn unbedingt kurz sprechen, aber Crimson ließ sich nicht von Sorcs Seite bewegen. „Wenn du etwas zu sagen hast, tu das hier!“ blaffte er seinen Großvater an. Sage nahm ihm den Tonfall zum Glück nicht übel. „Es hat Zeit, bis du dich beruhigt hast.“ „Lasst mich mit ihm allein,“ verlangte Crimson. Sage winkte die Helfer und Wachen hinaus. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, sah Crimson sich rasch um. Dieser Raum war viel kleiner als der andere und auch nicht mehr als ein Kerker, in dem ein paar Möbelstücke standen, die ihn wie ein notdürftiges Krankenzimmer erscheinen ließen. Es gab einen Stuhl, einen Tisch, einen Schrank und mehrere Regale, anscheinend ein Lager für medizinische Dinge. Auf dem Tisch standen eine Karaffe voll Wasser, ein Becher und eine ebenfalls mit Wasser gefüllte Schale. Die Helfer hatten Sorc in einem schlichten Bett abgelegt, das mit dem Kopfteil an der Wand stand, so dass es von beiden Seiten zugänglich war. Crimson tätschelte Sorcs Wangen. „Sorc! Bitte sag was... sieh mich an! Gib mir irgendein Zeichen, dass du mich hörst!“ Er spürte eine Berührung in seinem Geist, aber die telepathische Verbindung kam nicht zustande. Sorcs Augenlider zuckten. Er wimmerte leise. Für Worte schien er keine Kraft mehr zu haben, aber diese Antwort genügte. Der Ältere war bei Bewusstsein und nahm auch wahr, dass nur noch Crimson im Raum war. Vor einem Fremden hätte er sich solche Zeichen von Schwäche nie erlaubt. Oder zumindest vorher nicht. Momentan stand noch nicht fest, wie sehr ihm dieses Erlebnis zugesetzt hatte. „Ich hole dir etwas zu trinken,“ murmelte Crimson betroffen. „Und mische etwas rein, das gegen Schmerzen hilft, ja?“ Crimson hatte immer ein kleines Sortiment an heilenden Substanzen in den Taschen seiner Kleidung, die er denen vorzog, die er hier vorfand. Er wählte einen Trank, der rein pflanzlich wirkte und im Prinzip nichts mit Magie zu tun hatte, und mischte diesen in einen Becher mit Wasser. Sorc konnte nur langsam trinken und brauchte Hilfe dabei, so dass Crimson es vorerst bei ein paar wenigen Schlucken beließ und sich dann lieber um die verletzten Handgelenke kümmerte. Die Kettenscharniere hatten brutal in sie eingeschnitten, weil Sorc die ganze Zeit gekämpft hatte. Und er hatte mit seinem ganzen Gewicht daran gehangen. Crimson hoffte, dass die Knochensubstanz nicht beschädigt war, aber darum konnte sich später Vindictus kümmern. Die Fußgelenke sahen auch schlimm aus... wie die Folge zahlreicher Fluchtversuche. Alles zum Verbinden der Verletzungen fand er im Schrank. Er reinigte die blutenden Wunden, tränkte ein Stück Verbandsstoff mit Salbe und legte es darauf, ehe er alles mit weiteren Verbänden umwickelte. Er bekam es ganz passabel hin, wünschte aber, Lily wäre da. Doch sie hätte Sorcs Anblick in diesem Zustand nicht ertragen. Auf Sorcs Brust prangte eine sternförmige, wunde Stelle. Crimson verteilte großzügig Salbe darauf. Als seine Hand mit dem kühlen Zeug die Stelle berührte, zuckte Sorc zusammen und stöhnte. „Tut mir Leid...“ murmelte Crimson. „Es wird gleich besser... warte, ich decke dich zu...“ Obwohl das Zittern wohl nicht nur von der Kälte kam. Es war eine körperliche Reaktion auf die Gewalteinwirkung und ließ nur langsam nach. Crimson nahm die Wolldecke vom Fußende und zog sie über den Freund. Sorc bewegte die Lippen, aber seine Stimme klang rau und war kaum mehr als ein Flüstern. „Crimson... danke... bin... froh... dass du da warst...“ Seine Augen öffneten sich zur Hälfte, als kostete ihn schon das viel Kraft. Die roten Pupillen wirkten getrübt, wie bei einem verfärbten Gewand. „Ich möchte... mich hinsetzen. Wenn sie kommen, will ich nicht... hier liegen.“ Crimson runzelte die Stirn. „Wen meinst du? Du kannst jetzt nicht aufstehen. Sei vernünftig und bleib liegen, bis du zumindest wieder etwas bei Kräften bist.“ „Stufe vier,“ presste Sorc hervor. „Das war... nicht alles...“ „Du... du meinst...“ Crimson fühlte sich auf einmal schwindelig und sank auf die Bettkante. „Sie werden dich mir wegnehmen und dich irgendwo anders hinschicken?“ Heftig schüttelte er den Kopf. „Das geht nicht. Cathy kann nicht auf dich verzichten. Ich werde das nicht zulassen.“ Sorc brachte ein schwaches Lächeln zustande, aber plötzlich presste er die Augen und die Zähne zusammen und drehte den Kopf zur anderen Seite. Sein Atem wurde unregelmäßig und klang teilweise abgehackt. „Wenn du möchtest, gehe ich einen Augenblick raus und rede mit meinem Großvater... der wollte mir ohnehin etwas sagen, vielleicht ja genau das. Aber ich will dich jetzt eigentlich nicht alleine lassen.“ Crimson, der das hilflose Gefühl von gebannter Magie kannte, glaubte im Ansatz nachempfinden zu können, wie Sorc sich jetzt fühlen musste, zumal die Verbindung über sein Schlossherz nach wie vor Empfindungen zu ihm herüber schwappen ließ. Sorc tastete nach seiner Hand, ohne hinzusehen. Seine Finger konnten kaum Druck ausüben, aber die Botschaft vermitteln. Crimson blieb sitzen. Er wartete für einige Minuten schweigend ab, während der Ältere um seine Fassung rang. Dann nahm er das feuchte Tuch zur Hand, mit dem er die Wunden gereinigt hatte, und faltete es anders, bis er eine saubere Stelle fand. Sanft drehte er Sorcs Gesicht in seine Richtung und reinigte es von allen verräterischen Spuren. „Das ist eine ganz normale Reaktion,“ murmelte er. „Schäm dich nicht dafür.“ Sorc schloss die Augen und atmete tief durch. Danach wirkte er ruhiger. „Mehr Wasser,“ bat er. „Sehr vernünftig... Du solltest möglichst viel Flüssigkeit zu dir nehmen.“ Sorc konnte den Becher nur lose und mit zittrigen Fingern halten, deshalb griff Crimson erneut ein und hielt ihm das Trinkgefäß an den Mund. Sorc lehnte seine Hilfe nicht ab. Er trank folgsam, bis er den Becher geleert hatte. „Wir sollten schnell verschwinden,“ murmelte er.“ „Darum kümmere ich mich,“ versprach Crimson. „Auf keinen Fall lasse ich dich hier zurück. Also... versuch, dich zu entspannen.“ Das war sicherlich leichter gesagt als getan, aber Crimson wusste keinen besseren Rat. Sorc konnte derzeit kaum stehen, geschweige denn zum Schloss zurück reisen. Vielleicht in ein paar Stunden. „Als ich klein war, hat mein Vater einmal von mir verlangt, dass ich den Boden in der Küche auf den Knien schrubbe...“ begann der Weißhaarige zu erzählen. „Es war das dritte Mal in der Woche, dass ich etwas verschüttet hatte, und das aus purer Unvorsichtigkeit.“ Crimson wählte ein willkürliches, unwichtiges Thema, das nichts mit Magie zu tun hatte. Da er selbst ein Magier war, fiel ihm das gar nicht so leicht. „Sprich weiter,“ sagte Sorc leise. Seine Taktik schien gut anzukommen. „Es handelte sich um Getreidebrei. Kind das ich war, hatte ich ihn am Boden liegen gelassen, und er war angetrocknet. Wir hatten ein paar Angestellte, die es jedoch nicht mehr einsahen, hinter mir her zu räumen. Das Kristallschloss war immer ein einsamer Ort, so dass wir nicht gerade Geld scheffelten, also bezahlte Vater auch nicht viel, es war eher so, dass diese Leute bei uns essen und schlafen durften und den ein oder anderen Nutzen daraus zogen, ich weiß es gar nicht genau... hat mich als Kind auch nicht interessiert. Jedenfalls war ich stundenlang damit beschäftigt, den Brei von den Steinen zu kratzen. Wir haben graue Marmorsteinplatten in der Küche. Allerdings haben sie, seit ich zur Welt kam, einige permanente Flecken erhalten, ehe Vater darauf bestand, dass ich bestimmte Sachen nur noch im Alchemielabor mache. Das war auch besser für uns alle, da wir ja aus den Kochtöpfen noch essen wollten. Einmal hatten alle Schlossbewohner Durchfall, weil ich den Topf nicht richtig gereinigt hatte, als ich mit meinen Experimenten fertig war.“ Crimson überlegte, eine ähnliche Geschichte von Sorc zu fordern, um ihn weiter abzulenken, aber er besann sich eines besseren. Sorc hatte von klein auf die Magie als seinen Lebensinhalt betrachtet. Jede Geschichte aus seinem Leben musste sich zwangsläufig um Magie drehen. „Hast du früher gerne gekocht?“ fragte Sorc. Er schien weiter zuhören zu wollen. Inzwischen hatte sich seine Atmung fast normalisiert, und auch das Zittern verschwand zusehends. „Ja, ich habe schon immer gerne Dinge in einem Topf verrührt. Erst habe ich nur die Erwachsenen imitiert – mit Kuchen aus Sand und Suppe aus wilden Beeren und ungenießbaren Teilen. Nur als ich das dann essen wollte wurde es unangenehm. Beim Sand war mir ja klar, dass es nur ein Spiel ist, aber bei meinen Suppen... zweimal passierte es, dass mein Vater einen Heiler kommen lassen musste, weil ich giftige Pilze oder Pflanzen gegessen hatte. Danach befahl er der Köchin, mir ein paar einfache Rezepte zu zeigen.“ „Deine Karriere hat in einer Küche angefangen,“ stellte Sorc fest. „Naja... kann man sagen... Später fiel mir dann ein Alchemiebuch in die Hände und...“ Crimsons weitere Ausführungen wurden unterbrochen, als jemand an die Tür klopfte. Sofort versuchte Sorc, sich aus dem Bett hochzustemmen, aber Crimson hielt ihn mit sanfter Gewalt davon ab. „Großvater, bist du es?“ rief er. Doch nicht Sage trat ein, sondern Lord Genesis. Er schloss die Tür hinter sich und drehte sich um – mit einem Gesichtsausdruck, den Crimson noch nie bei ihm gesehen hatte. Der Mund des Vampirs stand leicht offen und offenbarte seine Zähne. In seinen Augen lag ein wilder Glanz. Crimson erhob sich langsam vom Bett. „Angelus... was ist denn los?“ Genesis atmete mit bebenden Nasenflügeln die Luft ein. „Marquis Belial möchte mit dir sprechen, Crimson... ich bleibe solange bei Sorc.“ Doch Crimson verließ seinen Posten nicht. „Der Marquis kann hier mit mir reden.“ Der Vampir knurrte ungehalten. „Na fein... wenn du darauf bestehst...“ Er zog die Tür auf und rief das andere Zirkelmitglied herein. Crimson ballte die Hände zu Fäusten. Nun wurde es also ernst... Sorc beobachtete, wie nach Lord Genesis einige Wachen und Marquis Belial den Raum betraten. Die Quadratmeterzahl reichte dafür kaum aus. Der Marquis brachte ein Klemmbrett und eine Mappe mit Unterlagen mit. „Direktor Crimson, hier sind Eure Abschlussdokumente und einige Fragebögen zu statistischen Zwecken, die Ihr bitte ausfüllt, ja? Es hat mich gefreut, mit Euch zu arbeiten, vielleicht können wir ja mal wieder einen Rehabilitanden...“ „Abschlussberichte?“ unterbrach Crimson. „Ähm, ich hatte gedacht, der Rehabilitand bliebe weiterhin in meinem Schloss, trotz der veränderten Umstände. Ich kann einen Hausmeister gebrauchen, der sich um Reinigungsarbeiten, Renovierungen und die Gartenanlagen kümmert. Außerdem fallen Aufgaben in der Küche an, die Lebensmittellieferungen müssen verräumt und organisiert werden, und jemand muss den neuen Schülern ihre Zimmer zuteilen und für die Einhaltung der Nachtruhe sorgen.“ „Aaah, Ihr wollt Euch bewerben? Das ist kein Problem, Direktor, ich komme einfach morgen oder übermorgen bei Euch vorbei und wir besprechen die Einzelheiten,“ entgegnete Belial. „Sehr schön...“ Crimson lächelte, doch seine Augen blickten ernst. „Ich nehme Euren Klienten dann vorerst wieder mit... das erspart Euch doch auch die Unterbringung, nicht wahr?“ „Sicher. In diesem Fall lasse ich seine persönlichen Sachen herbringen. Wir hatten sie bereits in ein Zimmer bringen lassen.“ Der Marquis neigte förmlich den Kopf und schritt mit federndem Gang davon. Sorc entging nicht, dass er noch nicht sicher auf Schloss Lotusblüte bleiben konnte, aber wenn es ihm erst einmal gelang, dorthin zu kommen... Als Belial fort war, entließ Lord Genesis auch die Wachen und wandte sich wieder den Gästen zu. „Ich möchte noch etwas mit euch bereden... oder speziell mit Sorc... Du weißt ja, Crimson, dass ich dich mag und mich deshalb immer gerne für deine Belange einsetze. Aber ich erhalte auch gerne mal eine Gegenleistung für meine Mühen.“ Der Tonfall des Vampirs hatte eine andere Note angenommen. Finster, bedrohlich. Ein Jäger. „Was? Aber das ist jetzt kaum der richtige Ort oder die richtige Zeit, um... oh.“ Crimson hielt inne, hatte anscheinend erst gedacht, dass Genesis es auf ihn abgesehen hatte. Der Vampir atmete zischend durch den Mund ein. „Ich kann sein Blut riechen, seit die Tür des Vollstreckungsraumes geöffnet wurde...“ Er wandte seinen glühenden Blick Sorc zu. „Noch nie hatte ich das Blut eines Magiers, der gerade ausgebrannt wurde... Ihr macht euch keine Vorstellung, was Schmerz, Verzweiflung und Angst mit Blut anstellen können. Es wird zu einer Delikatessen mit seltenen Gewürzen!“ „Er ist geschwächt!“ protestierte Crimson. „Vielleicht in einer Stunde...“ „Nein, die Qualität nimmt ab mit jeder Sekunde, die wir vergeuden...“ Der Lord schob Crimson zur Seite. „Halte mich jetzt nicht auf. Oder ich garantiere für nichts.“ Sorc sah, dass sein Freund mit sich rang, ob er eingreifen sollte oder nicht. „Ist schon gut, Crimson,“ sagte er deshalb. Genesis hätte sich auf ihn stürzen können, denn sein Opfer konnte sich nicht wehren. Doch er kniete sich auf das Bett, stützte sich mit den Händen neben Sorcs Kopf ab und verharrte heftig atmend, die Nase dicht an seinem Hals und den Mund in genüsslicher Erwartung halb geöffnet. Geradezu verträumt blickte er auf die Quelle seines Hungers. Sorc erkannte so etwas wie eine verwandte Seele in dem Mann... jemanden, der sich trotz seiner Begierden gut im Griff hatte und auf die Form Wert legte. Er wusste das zu schätzen. „Ihr dürft,“ sagte er leise, aber deutlich. Genesis gab ein wohliges Knurren von sich. Seine unerwartet sanften Finger fuhren an Sorcs Hals entlang zu seinem Kinn und drehten den Kopf ein wenig nach rechts. Langsam wie ein wahrer Genießer näherte er sich erst mit der Nase und sog erbebend den Duft ein, bevor seine Zähne sich gierig in die Halsader versenkten. Der Schmerz war von ganz anderer Qualität als das, was Sorc zuvor erlebt hatte. Er verletzte ihn rein körperlich und fügte ihm eine Wunde zu, die heilen würde. Der Vampir war nicht zimperlich mit dem Blut und trank es langsam, in vielen kleinen Schlucken, die er offensichtlich sehr genoss. Nach eigener Aussage mochte er den Geschmack von Angst, Verzweiflung und Schmerz. Sorc hatte nichts dagegen, dass er ihm all das nahm, wenn er konnte. Er schloss die Augen und ließ es geschehen. „Du musst loslassen, sonst kann die Hand nicht heilen,“ sagte eine sanfte Stimme. Klein Sorc vor dem ausgebrannten Haus schlug überrascht die Augen auf. Jemand hielt ihn im Arm, aber er konnte die Person kaum sehen. „Öffne die Hand und lass los,“ wiederholte der Fremde. „Nein... ich will es behalten,“ protestierte Sorc. „Lass uns nachsehen, ob es sich lohnt, hm?“ „Ich will es behalten!“ „Na gut... aber du kannst es trotzdem nicht die ganze Zeit festhalten. Jemand muss in dem Haus aufräumen. Du bist der Einzige, der das kann. Und dafür brauchst du beide Hände.“ Sorc zögerte, starrte auf seine verkohlten Finger. Eigentlich sahen sie so als, als wären sie unrettbar verloren und zusammengeschweißt für immer. Doch als er entschied, die Hand zu öffnen, lösten die Finger sich einzeln und gaben den Blick auf das frei, was die hielten. Es war ein kleiner, schwarzer Klumpen, geformt aus der Asche des Zettels und seinem eigenen trockenen Blut. Mehr nicht. Er hatte den kleinen Zettel nicht gerettet. Der Fremde griff nach dem Klumpen, doch Sorc war schneller. Er nahm ihn mit der Rechten und steckte ihn in den Mund. Er war nicht größer als eine getrocknete Weintraube und schmeckte eklig, aber er schluckte. Jetzt konnte ihm das niemand mehr nehmen. „Nun hast du ja beide Hände frei,“ meinte die Stimme amüsiert. „Wenn deine linke Hand geheilt ist, räum den Schrott fort und überleg, mit was du das Haus statt dessen füllst.“ „Ich weiß, was ich machen muss!“ erwiderte Sorc trotzig. Etwas leiser fügte er hinzu: „Aber ich bin noch nicht bereit dafür.“ „Nein, wahrscheinlich nicht,“ stimmte der Fremde zu. „Lass dir ruhig Zeit.“ Lord Genesis ließ von ihm ab, richtete sich auf und zog seine Kleider zurecht, nun wieder ganz der beherrschte Adelsmann. „Aaaaah... so gut... Ich sollte mich schämen, dass ich mich so am Leid anderer ergötze, aber es ist nunmal meine Natur.“ Sorc war ein bisschen verwirrt, als er sich in der Realität wiederfand. Hatte er den Effekt von Genesis' Biss erlebt, oder war das nur eine generelle Reaktion seines Unterbewusstseins gewesen? Die kleinen Bisswunden bluteten nur ganz wenig – Vampire hatten einen Stoff in ihrem Speichel, der das bewirkte. Aber der generelle Blutverlust ließ seinen Blick verschwimmen und machte seinen Kopf wirr. „Hättest du dich nicht mit weniger zufrieden geben können?“ hörte er Crimson fragen. „Nicht in diesem Fall. Das war einfach einzigartig. Ich brauchte, was ich kriegen konnte,“ sagte der Vampir. „Meist halte ich mich fern, wenn der Zirkel Urteile vollstreckt, aber ich blieb deinetwegen hier. Kommst du zurecht?“ „Es wäre nicht schlecht, wenn du dich dafür aussprechen könntest, dass Sorc bei mir bleibt, Angelus. Er ist ein guter Freund, den ich nicht hergeben möchte. Und für ihn ist es schon schlimm genug, seine Magie zu verlieren. Er sollte nicht noch aus seinem Zuhause gerissen werden.“ „Nun gut, ich werde mich bemühen. Normalerweise wird die Stufe vier nicht an Verurteilten vollstreckt, die sich vorher irgendwo eingelebt haben. Dafür werden meine Kollegen sicherlich Verständnis haben.“ Der Lord entfernte sich und verließ den Raum. Sorc seufzte. „Das trägt jetzt wahrscheinlich nicht dazu bei, dass wir hier schneller wegkommen. Aber er ist nach diesem Leckerli bestimmt motiviert, sich für uns einzusetzen.“ „Wir hauen bald hier ab, und wenn ich dich tragen muss,“ versicherte Crimson ihm. „Bevor eine Entscheidung darüber fällt, wo du hin sollst, will ich in Cathys Einflussbereich sein.“ „Gib mir noch was zu trinken. Man soll Blutverlust durch Flüssigkeit ausgleichen.“ Crimson nickte und half ihm, noch einmal den Becher zu leeren. Auch er selbst genehmigte sich einen. „Hast du noch Schmerzen?“ Sorc hätte fast gelacht, wenn die Situation etwas anders gewesen wäre. „Frag lieber nicht.“ „Entschuldige... Vermutlich kann das Schmerzmittel nur bedingt helfen.“ „Es gibt nichts zu entschuldigen... du tust bereits mehr als genug.“ Sorc versuchte, seine Füße zu bewegen. Schmerz stach in seine Gelenke wie bei einer Verstauchung. Vergleichsweise harmlos. „Ich glaube, ich werde gehen können... irgendwann demnächst.“ Im Prinzip schon jetzt, wenn er nicht so schwach gewesen wäre. Sorc hasste das Gefühl von Hilflosigkeit, schon deshalb wollte er hier weg. Crimson blieb bei ihm auf dem Bett sitzen. Diesmal schwieg er, war vermutlich in eigene Grübeleien versunken, aber Sorc war völlig damit zufrieden, ihn in seiner Nähe zu wissen. Eine unbestimmte Zeit nach Lord Genesis und Marquis Belial kam sein Großvater zu ihm. „Hast du kurz Zeit, Crimson?“ Der Weißhaarige sah sich nach Sorc um, der schlief oder zumindest mit geschlossenen Augen und ruhig atmend dalag. Er spürte den warmen Körper an seinem Rücken und eine bandagierte Hand an seiner eigenen. „Wenn ich dafür nicht aufstehen muss, ja,“ antwortete er. Old Sage legte einen Beutel auf den Tisch. „Sorcs persönliche Sachen – die Robe und seine Schuhe. Außerdem die Kleidung, die er trug, als er von Lord Araes Leuten inhaftiert wurde. Seine Waffen kann ich dir jetzt nicht aushändigen, wie dir klar sein dürfte. Marquis Belial wird sie mitbringen, wenn er zu dir kommt, um über deinen Antrag zu reden.“ Crimson nickte. „Danke.“ Mehr fiel ihm momentan nicht zu sagen ein. Sage schien das merkwürdig zu finden, denn er hob eine Augenbraue. Als noch immer keine weiteren Worte kamen, zog er sich den Stuhl heran und setzte sich. „Crimson... das war sicherlich schwer für dich, aber ganz ehrlich... wir haben nicht erwartet, dass wir es tun müssen.“ Crimson runzelte ungläubig die Stirn. „Das habt ihr nicht erwartet? Stell dir vor, ihr hättet ihn zum Tode verurteilt! Dann wäre er jetzt tot!“ Er versuchte, seine Lautstärke zu mäßigen, obwohl er den Älteren am liebsten angeschrien hätte. „Nein, nein, Todesurteile haben eine längere Frist, um auf Verwandte zu warten, wenn der Verurteilte das wünscht. Das hätte uns Zeit verschafft, die Wahrheit herauszufinden.“ „Ach... in dem Fall befandet ihr das also nicht für nötig. Oh ja, ich vergaß... ihr dachtet alle, er würde seine Aussage im letzten Moment ändern.“ „Stimmt... für die meisten Magier ist die Ausbrennung schlimmer als der Tod, deshalb gingen wir davon aus, dass es nicht dazu kommen würde.“ Sage schien das wirklich zu bedauern, aber dadurch wurde es nicht besser. „Da kennt ihr Sorc schlecht. Er ist ein Prinz der Eisigen Inseln und ein Mann mit Prinzipien. Er ändert seine Entscheidung nicht, sobald sie ihm unbequem wird.“ „Das ist eine ehrenvolle Eigenschaft, wenn auch nicht unbedingt klug. Hat er etwas über seine Gründe gesagt?“ Crimson erstarrte. „Ach... willst du mich ausfragen? Nun, ich kann mir denken, dass der Zirkel neugierig ist, aber es wird wohl Dinge geben, die er nicht erfährt.“ „So habe ich das nicht gemeint,“ versicherte Sage. „Aber so habe ich es verstanden,“ erwiderte Crimson. „Wie sieht es eigentlich aus, sind wir hier Gefangene oder dürfen wir gehen, wenn Sorc es kann?“ „Selbstverständlich seid ihr beide frei zu gehen – Belial hat das den Wachen schon mitgeteilt, sie werden dich passieren lassen. Aber ich würde dazu raten, wenigstens noch einen Tag zu bleiben, damit wir seinen Gesundheitszustand überwachen können.“ „Wie nett von dir, ich weiß das zu schätzen, nachdem ihr ihn selber in diesen Zustand versetzt habt.“ Crimsons Stimme troff vor Sarkasmus. „Es müsste jetzt Nachmittag sein, dann schaffen wir es noch, abends zu Hause zu sein. Dort haben wir einen guten Heiler.“ Sage nickte nachdenklich und warf einen Blick auf Sorc. „Wie du meinst. Lass mich wissen, wenn du deine Meinung änderst, dann lasse ich Essen für euch bringen.“ Crimson fühlte sich sehr aufgewühlt, als sein Großvater gegangen war. Er fuhr sich mit der freien Hand durchs Gesicht. „Sie dachten, du würdest deine Aussage ändern... wenn sie so sicher sind, dass du nicht schuldig bist, warum... warum?“ „Sie sind der Zirkel des Bösen. Sie können nicht einfach von diesem Urteil Abstand nehmen, wenn ich ihnen keinen plausiblen Grund liefere,“ sagte Sorc. Crimson merkte, dass seine Augen feucht wurden, und wischte schnell mit dem Ärmel darüber. Er riss sich mit aller Kraft zusammen. „Ja... ist wohl so, ich sollte mich freuen, dass sie dich nicht töten.“ „Es tut mir Leid, dass du das miterleben musstest, mein Freund. Aber du hattest Recht... es war gut, dass ich dort nicht alleine war.“ „Das wirst du nie sein. Und nun... helfe ich dir in deine Schuhe, falls du dich schon in der Lage fühlst, von hier zu verduften.“ „Kommt auf einen Versuch an.“ Sorc stemmte seinen Körper in eine sitzende Position und hievte die Beine aus dem Bett. Crimson verglich skeptisch die Weite der Stiefel mit den bandagierten Knöcheln. Wie sich herausstellte, passte beides gerade noch zusammen, und anschließend half er Sorc in seine Robe. „Ich glaube, ich muss mich an dir festhalten, wenn ich nicht irgendwo auf dem Gang lang hinfallen will,“ stellte Sorc fest. Aber er konnte gehen, obgleich es so aussah, als hätte er Schmerzen dabei. Seine Entschlossenheit, von hier weg zu kommen, trieb ihn vorwärts. Crimson nahm den Beutel mit den restlichen Sachen an sich und stützte Sorc mit der freien Hand. An der Tür sah er den früheren Chaoshexer kurz an seiner Mimik arbeiten, um eine möglichst neutrale Mine aufzusetzen, bevor sie den Raum verließen. Langsam bewegten sie sich durch die Gänge und an mehreren Wachposten vorbei. Crimson bemerkte schon nach kurzer Zeit, dass Sorc der Schweiß auf der Stirn stand und er angestrengt atmete, immer in dem Bemühen, nicht zu sehr zu keuchen und sich generell nichts anmerken zu lassen. Am schwierigsten gestalteten sich die Treppen, von denen sie einige erklimmen mussten, ehe sie das Erdgeschoss und einen Ausgang erreichten. Doch sie legten keine Pause ein, beide darauf bedacht, das Gebäude schnell zu verlassen. Das Hauptquartier des Zirkels des Bösen war, abgesehen von den Kellern, ein malerisch schöner Bau mit einer Inneneinrichtung, die das Auge erfreute. Aber selbstverständlich hatten die unfreiwilligen Besucher dafür keinen Blick übrig, auch nicht für den romantischen Park, der daran anschloss. Crimson fand eine Bank und lud Sorc dort ab, dann ließ er sich aufatmend neben ihn fallen. Von hier aus konnten sie den Eingang sehen und auf eventuelle Verfolger reagieren, auch wenn angeblich keine kommen dürften. Unter normalen Umständen hätte er hier viele Möglichkeiten gefunden, seine alchemistischen Vorräte aufzufüllen, aber auch das spielte momentan keine Rolle. „Ich kann Gandora erreichen,“ teilte Sorc ihm mit. Der Ansatz eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. „Wenigstens etwas... er wird hier bald eintreffen.“ Bald erwies sich als wenige Minuten, so als hätte Gandora in der Nähe gewartet – was Crimson mal nicht ausschloss. Der mächtige Drache kam schnell heran, kreiste brüllend über ihnen und landete in einem Wirbel aus Wind, Blättern und Gras. Als Sorc sich ihm näherte, senkte er den Kopf und stubste ihn an, wobei er geräuschvoll seinen Geruch einsaugte. „Ich bin's noch,“ murmelte Sorc ihm zu und streichelte den Bereich über den Augen, den er gerade so erreichte. „Unbesiegt, wenn auch geschlagen für den Moment.“ Gandora gab ein gurrendes Geräusch von sich und duckte sich tief, damit die beiden Magier aufsteigen konnten. Oder... der eine Magier und das, was von dem anderen übrig war. Crimson war erstaunt von Sorcs Worten, die er an seinen Drachen richtete. Man musste einem Drachen Stärke zeigen, oder er respektierte einen nicht, dennoch hätte er gar nicht erwartet, dass Sorc im Moment überhaupt einen Drachen rufen konnte. Nicht wegen seiner ausgebrannten Magie, sondern einfach wegen der belastenden Situation. Der Mann hatte einen Willen wie ein Gebirge. Er stieg hinter ihm auf den Drachen, der mit dem Abflug wartete, bis Crimson den anderen sicher im Griff hatte. Gandora flog nicht wie ein Weichei, deshalb musste man sich schon gut festhalten. Als er jetzt auf dem schnellsten Wege das Lotusschloss ansteuerte, hatte Crimson dennoch den Eindruck, dass er seinen Flugstil ein wenig gleichmäßiger gestaltete als sonst, wenn auch nicht langsamer. Je näher sie dem Schloss kamen, desto mehr konnte Crimson Catherines ängstliche Erwartung spüren, mit der das Schlossherz ihrer Ankunft entgegen sah. Er teilte ihm mit, ein Bett für Sorc auf der Krankenstation bereitmachen zu lassen. Das würde Sorc nicht gefallen, aber in diesem Fall gedachte Crimson, unnachgiebig zu bleiben. Gandora landete vor dem Haupttor, denn auf den Türmen war es für ihn immer recht eng. Wieder legte er sich auf den Bauch und bildete mit dem Bein eine Treppe, damit seine Reiter bequem absteigen konnten. Noch während des Vorgangs materialisierte Cathy sich im Tageslicht. „Sorc, was haben sie mit dir gemacht? Ich empfing furchtbare Erschütterungen über deine Seele... Zwar habe ich versucht, es mir nicht anmerken zu lassen, aber ich glaube, die Bewohner sind alle schlecht gelaunt und unglücklich deswegen und wissen den Grund nicht, warum sie sich so fühlen...“ Crimson beobachtete, wie Sorc nach etwas in der Luft griff und die Augen schloss, worauf Cathy ganz still wurde. Er hatte dergleichen schon öfter gesehen. Sorc konnte auch telepathisch mit Cathy reden, aber es ging einfacher, wenn er die Seelenstruktur des Schlosses berührte. Möglicherweise war es mit der Telepathie im Moment etwas schwierig... Cathy bekam einen entsetzten, dann traurigen Gesichtsausdruck. Crimson verzichtete darauf, sich in die Konversation einzuklinken. Er konnte sich den Inhalt ungefähr denken. Schließlich beendete Sorc die private Unterhaltung und blickte zu ihm. „So... was passiert jetzt?“ „Jetzt liefern wir dich auf der Krankenstation ab.“ „Uh... Cathy hat das schon angedeutet...“ „Gehst du freiwillig oder müssen wir nachhelfen?“ Darüber dachte Sorc einige Sekunden lang nach. „Ich... ich gehe. Aber lass mich nicht allein mit Lily und ihren Spritzen, ja?“ Womöglich war das Sorcs Art, um Beistand zu bitten. Er konnte zwar gehen, war aber nach wie vor sehr schwach. Also ging Crimson auch hier mit ihm und bot ihm Halt, damit er nicht in die Verlegenheit kam, unterwegs zu stürzen. Doch der Mann schaffte den Weg auf eigenen Füßen, allerdings war sein Gesicht mit Schweiß bedeckt, als sie ankamen. Lily stürzte sich auf ihn. „Da bist du ja endlich! Wir hatten gar keine Nachricht von dir, und mir sagt ja keiner was... nur dass der Zirkel des Bösen dich wieder abgeführt hat! Oje, was ist mit deinen Händen?“ Durch die Verbände schimmerte bereits wieder ein bisschen Blut. Lilys Flügel flatterten unkontrolliert. Kurz nach ihr erschien Vindictus auf der Bildfläche. Er blieb zwei Meter von Sorc entfernt stehen, musterte ihn kurz und sagte zu Crimson: „Jungchen, bring die Fee hier weg. Ich mache das.“ Crimson griff nach Lilys rechtem Arm. „Lily, komm mal mit, du bist viel zu aufgeregt. Ich erkläre dir alles.“ Er fing einen Blick von Sorc auf, der kaum merklich nickte, und zog die Fee mit sich. Kapitel 3: Ein Rest Hoffnung ---------------------------- Crimson brachte Lily in sein Büro, wo sie ungestört reden konnten. Die Fee wehrte sich anfangs noch gegen ihn, gab dann aber nach. „Crimson, nun rede doch schon,“ drängte sie, während sie sich auf die Sessel setzten. „Lily, es geht Sorc gut... zumindest glaube ich das, er verhält sich den Umständen entsprechend gefasst,“ begann der Schlossherr. Lilys tränchenbenetzte Augen vergrößerten sich entsetzt. „Bitte nicht... bitte sag nicht... werden sie ihn hinrichten? Bleiben ihm nur noch ein paar Tage Gnadenfrist? Das darf nicht sein! Ich... ich bin schwanger, Crimson!“ Jetzt war es an ihm, große Augen zu machen. „Sch-schwanger? Von...“ Sie nickte hektisch. „Weiß er es?“ „Ich habe es ihm noch nicht gesagt, aber er weiß solche Dinge... sieht die Auraveränderung oder so... vielleicht weiß er es. Er darf nicht sterben!“ „Nein, das ist es nicht. Der Zirkel hat auf die Todesstrafe verzichtet, weil er sich ergeben hat. Vielleicht auch, weil sie glauben, dass er jemanden schützt, und das kommt bei ihnen gut an.“ Er ließ den Blick über ihren Körper gleiten, doch sie trug ein locker sitzendes Kleidchen, so dass Ihr Bauch nur zu erahnen war – falls es überhaupt schon etwas zu sehen gab. „Aber was ist es dann?“ wollte sie wissen. „Ich kenne Sorc... er sieht schrecklich aus!“ „Vermutlich fühlt er sich auch schrecklich,“ rutschte es Crimson heraus. „Aber du weißt, wie er ist... er will es nicht zeigen.“ Lily nickte zögernd und sah ihn weiterhin erwartungsvoll an. „Sie haben seine Magie ausgebrannt,“ eröffnete Crimson ihr, denn er wusste nicht, wie er das schonend verpacken sollte. „Sie... haben das Urteil gefällt und sofort vollstreckt.“ Lily reagierte erst gar nicht. Als Crimson sich schon fragte, ob sie ihn verstanden hatte, begann sie langsam, den Kopf zu schütteln. „Nein... nein, das darf nicht sein...“ flüsterte sie voller Entsetzen. Dann schrie sie ihn an: „Warum hast du das nicht verhindert? Du warst doch da! Warum hast du es zugelassen? Warum hast du es zugelassen!“ Sie schlug wild mit den Armen um sich, trommelte mit den Fäusten auf ihn ein, traf aber auch die Sessel und sich selbst. Crimson packte Lily und hielt sie fest an sich gedrückt. „Bleib ruhig! Lily...!“ Sie schrie und weinte verzweifelt, als wäre es ihr widerfahren. So als weinte sie für Sorc, weil er selbst es nicht konnte. Sorc war ein bisschen überrumpelt, als er sich auf einmal allein mit Vindictus wiederfand. Der Alte ging ihm voraus zu seiner angestammten Behandlungsliege hinter dem Vorhang und zog sich einen Stuhl heran. „Ausziehen. Hinlegen.“ Sorc entledigte sich kommentarlos seiner Robe und mit Mühe auch der Stiefel. Als er lag, wickelte Vindictus die Verbände an Händen und Füßen ab und seufzte dabei theatralisch. „Stümperhaft... aber bemüht hat er sich...“ Er untersuchte die Verletzungen und kam schließlich auch zu dem geröteten Fleck auf der Brust. Als er den mit einer Hand berührte, verspannte Sorc sich und musste sich sehr beherrschen, um ihn nicht wegzustoßen. „War der Ausbrennzauber heiß oder kalt?“ Sorc runzelte verwundert die Stirn. „Die Hand der Frau war warm, aber der Mann hatte ganz kalte Hände. Hat das was zu bedeuten?“ Vindictus nickte. „Ja, es wird gerne zu zweit gemacht. Meistens von der Kombination kalt und warm. Es ist ein kleiner Unterschied in der Technik der Ausführung. Der Zauber brennt sich in beiden Fällen durch jede Zelle deines Körpers, weil in ihnen allen die Magie ist. Zeig mir den Ort, wo sie wohnt.“ Sorc verstand – er war heute schon mehrmals dort gewesen. Doch es widerstrebte ihm, noch jemanden dahin zu führen. „Zier dich nicht,“ meinte Vindictus streng. „Ich bin dein Heiler, schon vergessen? Hast du irgendwas zu verlieren?“ Sorc sah ihm fest in die Augen. „Kannst du Magie ausbrennen?“ „Ja, ich weiß, wie es gemacht wird,“ gab Vindictus unumwunden zu. „Ich habe es zwei- oder dreimal in meinem Leben getan. Eigentlich ist das jedem Heiler zuwider, aber als Necromant denkst du anders darüber. Meiner Meinung nach sollte in den Heilerunterricht viel mehr Wissen über die Zerstörung der Gesundheit eingefügt werden, damit die Schüler besser verstehen, wie man sie repariert. Nun ist freilich das Ausbrennen der Magie ein Vorgang, der recht endgültig ist. Also lass mich sehen, viel schlimmer kann es nicht werden. Oder soll ich mir den Weg selber suchen?“ Sorc warf misstrauisch noch einen Blick auf die Hand. „Nein... schon OK.“ Ehe er sich versah, befand er sich schon wieder vor seinem ausgebrannten Haus. Er saß auf dem Boden davor, ein Ackerboden mit Aschespuren bedeckt, und hielt sich die linke Hand. „So... das Haus steht ja noch,“ stellte eine andere Stimme fest. „Ich hab mich schon gefragt, ob du überhaupt eins hast, oder vielleicht nur ein Zelt, eine Hütte...“ Sorc blickte auf und sah einen anderen Jungen – vielleicht sechzehn Jahre alt. Der kam ihm vage bekannt vor. „Guck nicht so blöd,“ meinte der Typ. „In unserer Astralgestalt altern wir nur, wenn wir es wollen.“ „Vindictus?“ „Tja...“ Der Neuankömmling ging zum Haus und betrachtete es von außen, warf einen Blick hinein. Er betrat es allerdings nicht. „Die Bausubstanz ist beschädigt. Aber im Prinzip kann keiner dein Haus zerstören, wenn du es nicht zulässt. Dadurch wird der Ausbrennvorgang allerdings in die Länge gezogen und umso qualvoller. Naja, von dir habe ich nichts anderes erwartet. Es ist nun einmal die idiotischste Handlungsweise.“ Sorc bewegte sich nicht vom Fleck. „Kann man es reparieren?“ „Unwahrscheinlich. Weiß irgendwer, dass dieses Haus noch steht?“ „Uhm... ich wüsste nicht, wie... Oh... Genesis hat mich gebissen! Ich glaube, er weiß es!“ „Genesis hat dich gebissen?“ Sorc erzählte es ihm. Er berichtete auch von dem Traum oder der Vision, die er dabei erlebt hatte. Von den scheinbar gut gemeinten Ratschlägen und dem verbrannten Zettel... aber er verschwieg, dass er die Reste verschluckt hatte. Diese Information erschien ihm zu privat, als dass er sie jemandem verraten wollte, der ausbrennen konnte – noch dazu einem Heiler, der vielleicht dafür sorgen konnte, dass er ein Objekt wieder hochwürgte. „Kannst du Lord Genesis vertrauen, oder könnte er jemandem davon erzählen?“ hakte Vindictus' junges Selbst nach. „Mir war, als wäre das... etwas Geheimes zwischen uns beiden... er hat alle weggeschickt, bevor er mich gebissen hat, und er ist ja auch Crimsons Freund, also warum sollte er es erzählen?“ „Ja, warum. Aber vielleicht denkt er sich auch gar nichts dabei. Vielleicht war es nicht Genesis, den du gesehen hast.“ „Was macht das für einen Unterschied?“ „Hör zu... es könnte sein, dass in ein, zwei Tagen jemand kommt, um dich nochmal zu untersuchen. Sie werden irgendeinen Vorwand finden. Das dient dazu, um sicher zu gehen, dass sie deine Magie völlig zerstört haben. So wie das aussieht, hast du dich heftig gewehrt...“ Er deutete auf die verletzten Handgelenke. „Irgendwann ist das Opfer so erschöpft, dass es ein Risiko ist, mit dem Ritual fortzufahren, und dann kann auch niemand mehr wirklich sehen, ob nicht noch ein bisschen Magie da ist. Nun... die Zerstörung sah bei dir ziemlich gründlich aus. Aber für gewöhnlich wird auch das Haus eingerissen. Wenn du eine Chance haben willst, lass niemanden mehr an dich heran, der die Ausbrennung beherrscht.“ Sorc war sich gar nicht sicher, wann sie die Traumwelt verlassen hatten, jedenfalls fiel ihm gerade bewusst auf, dass der Alte neue Verbände besorgt hatte und eine andere Salbe bereitmachte. Er ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Gab es eine Chance? „Ich habe mich mal im Rahmen eines Unterrichtsprojekts mit dem Thema beschäftigt, aber keine Information gefunden, dass man sich davon erholen kann,“ gab er zu bedenken. „Papperlapap,“ winkte Vindictus ab und lächelte selbstgefällig. „Schulbücher. Glaubst du wirklich, dass sowas in Schulbüchern steht? Erholen kannst du dich von allem. Nur wahrscheinlich nicht ganz, nicht von heute auf morgen, nicht ohne Wehwehchen und nicht ohne einen starken Willen. Und natürlich bedeutet Heilung manchmal auch, dass der Patient zurechtkommt, obwohl etwas verloren geht.“ „Wie zum Beispiel... ein Bein oder ein Arm?“ hakte Sorc nach. Vindictus nickte. „Manchmal gibt es keinen anderen Weg. Sei dir im klaren darüber, dass deine Magie nie wieder so wie früher werden kann, wenn überhaupt.“ Er wischte die alte Salbe ab und trug eine neue auf. „Ich verbinde dich neu, und dann legst du dich schlafen und ruhst dich aus. Mach keine Experimente – ob du noch Lichtfünkchen kannst oder so. Das kannst du nicht. Da ist eine Wunde in dir, die du erstmal in Ruhe heilen lassen musst. Wenn du versuchst, Magie zu benutzen, reißt sie wieder auf.“ Obwohl er aussah wie ein Tattergreis, bewegten sich Vindictus' Finger flink und sicher, während er die Verbände erneuerte. Er wischte über den Fleck auf Sorcs Brust, um die alten Salbenreste zu entfernen, trug dort aber wiederum ein anderes Produkt auf. Dieses Mal konnte Sorc seine Berührung an dieser Stelle ertragen, ohne zurückzuschrecken. „Diese Salben sind rein pflanzlich und eigentlich nicht magisch,“ erläuterte der Heiler. „In nächster Zeit ist es besser, wenn du nicht mit Zaubermittelchen behandelt wirst. Erstmal verbrauchen die deine Energie, die du für Wichtigeres brauchst, und außerdem reagiert dein Körper eventuell allergisch gegen Magie, die auf ihn wirken will. Das liegt daran, dass du in Zukunft den Einfluss von Magie mit Schmerz assoziieren wirst.“ „Wie bitte? Niemals...“ „Glaub mir, das wirst du. Unterbewusst, und das reicht.“ Sorc diskutierte nicht weiter darüber. Vindictus stieg von seinem Stuhl, wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und warf ihm einen Krankenkittel zu. „Zieh die Hose aus und das über, dann leg dich in ein Bett. Du hast die freie Auswahl. Vielleicht das hier vorne, wo Lily dich im Auge behalten kann. Ich bin sicher, das wird ihr gefallen. Ich mache dir einen Beruhigungstee, damit sie dich heute nicht mehr nervt.“ „Aber sie nervt mich nicht...“ „So wie ich diese Fee kenne, wird sie das. Sie wird dich mit Fragen löchern, dir Vorwürfe machen und sich beklagen. Du brauchst deinen Schlaf. Der Tee wird auch deinem rauen Hals helfen. Du bist ja ganz heiser. Es ist also besser, wenn du nicht mit Lily diskutieren musst.“ Sorc seufzte und zog sich um, dann ging er vorsichtigen Schrittes zu dem nächsten Bett – dem, das Lily zuerst sah, wenn sie nach den Patienten schaute. Er hatte noch gar keine Zeit gehabt, über seine Lage nachzudenken, und er fürchtete sich davor, die Zeit zu haben. Aber schlafen klang sehr gut. Als er es sich bequem gemacht hatte, kam Vindictus mit dem Tee. Er hatte ihn so temperiert, dass er gleich getrunken werden konnte. Mit dem Vorsatz, sich fürs erste keine Sorgen mehr zu machen, schloss Sorc die Augen. Lily hatte sich soweit beruhigt, dass sie nicht mehr schrie. Tränen kamen noch nach, doch sie konnte zusammenhängende Sätze formulieren. Crimson kam sich hilflos vor – er konnte nichts machen als zu warten und sie mit seiner Gegenwart zu trösten. „Sorc wird verkümmern ohne seine Magie,“ jammerte sie. „Du solltest hören, wie er über Magie redet... sie ist sein Lebenselixier. Nein, manchmal denke ich, er ist Magie. Eine Personifikation... Er kann nicht ohne sie sein. Und er liebt das Schloss! Wie soll er es aber ertragen, jeden Tag Magie zu sehen und selber keine zu haben?“ „Der Zirkel des Bösen will ihn an eine Stelle schicken, wo er gemeinnützige Arbeit verrichten kann,“ eröffnete Crimson ihr und beeilte sich, hinzuzufügen: „Aber ich habe gesagt, ich kann ihn hier gebrauchen. Ich weiß auch, dass er hier nicht weg will... das kann er gar nicht.“ „Er hat doch nichts getan... warum haben sie ihn überhaupt verhaftet? Wofür hat er diese grausame Strafe verdient?“ Lily hatte schon ihre ganze Frisur ruiniert, so oft hatte sie verzweifelt ihre Hände darin verkrallt. „Das hat er mir auch noch nicht erklärt,“ bedauerte Crimson. „Aber es hat was mit diesem jungen Burschen zu tun, der hier auftauchte... wo ist der eigentlich?“ „Wir haben ihn in eins der Schülerzimmer einquartiert.“ „Der Junge hat irgendein Artefakt gestohlen, und Sorc behauptete, das sei in seinem Auftrag geschehen, doch er hatte die Mission für gescheitert gehalten und längst vergessen, deshalb hat er es bei der letzten Verhandlung nicht erwähnt. Seine Aussage war aber nicht glaubwürdig. Der Zirkel des Bösen unterstellt, dass er sich in Wahrheit eine Möglichkeit bewahren wollte, doch noch an die Macht zu kommen.“ „So ein Unsinn... er hat keine derartigen Pläne mehr!“ widersprach Lily heftig. Crimson hob beschwichtigend die Hände. „Jaaa, natürlich, davon bin ich auch überzeugt. Lord Genesis glaubt eh, dass Sorc gelogen hat. Aber das nützte ja nichts, weil Sorc seine Aussage nicht geändert hat. Also haben sie den Fall mit seiner Verurteilung abgeschlossen.“ „Ich... ich möchte zu ihm.“ Crimson nickte bedächtig und ließ Cathy nach Sorc sehen. „Er schläft jetzt... Warte, bis er selbst bereit ist, uns alles zu erklären,“ riet er Lily. „Vorwürfe kann er jetzt nicht gebrauchen. Meinst du, wir sollten seine Familie benachrichtigen?“ „Ich schreibe Lady Charoselle einen Brief,“ schniefte die Fee. „Ob Sorc das nun will oder nicht.“ „Ja, mach das. Danke, dass du dich darum kümmerst.“ Sie gingen zusammen zur Krankenstation zurück, wo sie Sorc so vorfanden, wie Crimson es durch Cathy schon wusste: Er schlief in einem der Betten. Lily sank auf einen Stuhl daneben und streichelte Sorcs rechte Hand, die ihr zugewandt war. Sie bemühte sich aber, ihn nicht zu wecken. Crimson bemerkte ein Ziehen an seiner Robe und entdeckte Vindictus neben sich, der ihn mit Handzeichen aufforderte, ihm vor die Tür zu folgen. Der alte Heiler schloss fest die Tür, ehe er etwas sagte. „Hör gut zu, Jungchen. Die Magier, die Sorcs Magie ausgebrannt haben, haben ganze Arbeit geleistet. Jeder Magier hat einen Ort in seinem Bewusstsein, wo seine Magie untergebracht ist. Der Ort manifestiert sich als ein Gebäude, ein Haus oder so, und da drin ist etwas, das die Magie repräsentiert. Sie haben Sorcs Inneneinrichtung völlig vernichtet, aber ich habe ihm erzählt, dass es noch Hoffnung gibt, solange das Haus steht.“ „Dann hast du gelogen, um ihn zu schützen?“ „Jaaaa... damit er keine Dummheiten macht. Tatsächlich aber ist seine einzige Hoffnung, die Asche wegzufegen und sich etwas Neues zuzulegen. Vielleicht eine Waffensammlung. Sorc ist körperlich topfit, er kann sicher noch ein Krieger werden. Oder ein Gelehrter. Etwas in der Art. Er wird das erkennen im Laufe der Zeit. Aber erstmal ist es besser, dass er noch Hoffnung hat.“ Crimson fuhr sich seufzend mit den Fingern durchs Haar. „Ehrlich gesagt hatte auch ich die Hoffnung, dass er seine Magie irgendwie zurückbekommt.“ „Du kannst nichts zurückbekommen, das zerstört ist, Jungchen. Und es nützt nichts, dem Verlorenen nachzutrauern.“ „Also sagst du mir das, damit ich Sorc nicht zu sehr ermutige?“ „Damit du dir keine Illusionen machst. Allerdings... wenn es einen Weg gibt, dann traue ich Sorc zu, dass er ihn findet.“ „Hm... und wenn nicht, erschafft er einen. Ich glaube, er ist nicht auf existierende Wege angewiesen.“ „Wahrscheinlich nicht. Bei der Magie hängt vieles vom Glauben an die eigenen Fähigkeiten ab. Ich bin neugierig, was wir mit ihm noch erleben.“ Crimson nickte. „Ja, da bin ich auch gespannt. Und jetzt werde ich es den anderen beibringen müssen... es hat schließlich keinen Zweck, es ihnen zu verheimlichen, im Gegenteil. Es ist besser, wenn sie es wissen, damit es nicht zu unangenehmen Situationen kommt.“ „Darum kümmere ich mich. Du solltest jetzt selber etwas zur Ruhe kommen, Crimson. Wie ich dich kenne, hast du nicht mehr richtig geschlafen, seit du ihm zum Zirkel gefolgt bist.“ „Nein... und ich glaube auch nicht, dass ich das diese Nacht kann.“ „Versuch es mit einem Schlaftrunk. Du wirst deine Kraft brauchen.“ Das konnte Crimson sich vorstellen. Er überließ es Vindictus, die Schüler und Kollegen zu informieren, und machte sich dann erst einmal auf den Weg in die Tiefen seines Schlosses. Er schaute bei Catherine vorbei, also in der Kammer, in der sich der Kristallkern des Schlossherzes befand. Selbst hier gab es die Schriftzeichen von Sorcs Seelenzauber. Wenn er an den Tag der Beseelung dachte, den Tag, an dem der Chaoshexer seine eigene Seele an das Schloss gebunden und es zu einem beseelten Schloss gemacht hatte, verspürte er tiefe Trauer, weil er so etwas Großes nie wieder von ihm sehen würde. Seiner Meinung nach war es ein Verlust für die Magierwelt, dass Sorc ihr nun nicht mehr zur Verfügung stand. „Crimson...“ Cathy materialisierte sich zwar nicht, aber in diesem Raum konnte er seine Stimme auch so hören. Vielleicht war sie auch einfach besonders laut in seinem Kopf. Er legte eine Hand an den Kristallkern. Außer ihm konnte nur Sorc das tun, ohne Schaden zu nehmen. „Cathy. Ist alles in Ordnung? Wurdest du irgendwie beschädigt?“ „Nein. Sorc hätte nicht zugelassen, dass ihm etwas angetan wird, das mir ebenfalls schadet. Seine Seele wurde nicht verletzt, doch sie leidet... ich mag dieses Gefühl nicht, es ist... uhm... ich habe so etwas noch nie gefühlt!“ „So ist das, eine Seele zu besitzen, Cathy. Es hat Nachteile, denn wie der Körper kann auch sie Schmerzen empfinden.“ „Wie lange wird das anhalten?“ „Schwer zu sagen. So geht es uns Menschen immer, wenn wir etwas verlieren, das uns wichtig war. Das weißt du doch sicher.“ „Ja, aber ich hatte nie selbst dieses Gefühl. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“ Das konnte Crimson auch nur schwer beantworten. Aber er war der Schlossherr. Sein Schlossherz brauchte eine Antwort. „Die Schlossbewohner spüren es, wenn du Kummer hast,“ sagte er. „Aber es ist nicht ihr Kummer, und sie wissen nicht, was sie fühlen. Du musst für sie so tun, als wäre alles in Ordnung. Sie sehen zu dir auf und verlassen sich auf dich. Du darfst nicht wanken.“ Die Worte kamen aus Crimson hervor, ehe ihm klar war, was er sagte. Er hörte sich selbst zu und begriff, dass auch er seinen eigenen Rat beherzigen musste. Zu seinen Füßen leuchtete der Seelenzauber, als wollte er ihm Recht geben. Oder waren die Worte von dort gekommen? Es war teilweise ziemlich verwirrend, wenn die Grenzen der eigenen Identität verschwammen, aber Crimson hatte sich damit arrangiert. Er wusste, was Sorc tun würde. Allerdings bekam er auch mit, wie es wirklich in ihm aussah, wenn er sich so wie jetzt damit befasste. Demnach musste er selbst jetzt der Starke sein und sowohl sein Schlossherz als auch seinen Freund unterstützen. Hoffentlich bekam er das hin. Sorc erwachte erst in der Nacht wieder. Manchmal konnte er mit seinem Bewusstsein zu seiner Seele und damit zu Cathy gehen, wenn er schlief, aber diesmal hatte er wohl so fest geschlafen, dass dies nicht geschehen war. Vielleicht lag es an dem Tee, dabei hatte doch Vindictus betont, dass nichts Magisches daran war. Er schloss die Augen wieder und versuchte festzustellen, wie spät es war. Cathy teilte ihm mit, dass es bald hell werden würde. Also konnte er noch ein bisschen liegen bleiben und auf den Tag warten. [Bist du in Ordnung, Cathy?] erkundigte er sich. Er fühlte sich mental getreten. [Das sollte ich lieber dich fragen!] Er konnte nicht anders, als darüber zu lächeln. [Tut mir Leid, dass ihr euch alle Sorgen macht.] [Crimson wartet schon auf deine Erklärung, darauf bin ich auch gespannt!] [Reg dich nicht auf, Cathy, das beunruhigt noch die Bewohner.] [Klappe.] Sorc nahm erfreut zur Kenntnis, dass zumindest seine Kontaktaufnahme mit dem Schlossherz ohne Komplikationen funktionierte. Eigentlich hätte es ihn auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Ebenso war es mit Gandora. Der Drache war sozusagen ein Kindheitsfreund, sowas verging nicht einfach. Ob Telepathie generell eine magische Fähigkeit war, darüber stritten sich die Geister. Er kannte Krieger, die das gut konnten, allerdings waren das solche, die in Magierschlössern lebten oder auf diese Art mit Magiern kommunizierten. Eigentlich hatte er nie gefragt, ob Krieger auch untereinander mit Telepathie reden konnten. Oder ob zum Beispiel Unterweltler mit anderen Unterweltlern gedanklichen Kontakt aufnehmen konnten. Auf der anderen Seite hatte er das aber auch nie in Frage gestellt. Schließlich konnten Drachen es auch. Und Feen vermutlich... In dem Moment regte sich etwas im Raum. Er schaute nach links und entdeckte Lily, die im Bett neben seinem schlief. Wie süß von ihr... Sorc beobachtete sie immer gern im Schlaf. Jetzt jedoch fürchtete er ihr Erwachen, denn er wusste nicht, wie er ihr begegnen sollte. Er wandte sein Gesicht wieder der Zimmerdecke zu und schloss die Augen. Ein paar Minuten vergingen. „Gib's auf, Unwürdiger. Mich kannst du nicht täuschen.“ Sorc zog in Erwägung, nicht zu reagieren, verwarf die Idee jedoch. „Oh... du bist wach. Ich wollte dich bloß nicht wecken,“ redete er sich heraus. Seine Stimme klang besser als gestern. Nicht mehr so heiser. Lily kroch aus dem Bett und tapste im Nachthemd zu ihm. Ihr Haar war in niedlicher Unordnung. „Ich... möchte es verstehen... erklär es mir so, dass ich es verstehe.“ Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihn flehend an. Sorc griff nach ihrer Rechten und schmiegte seine Wange daran. „Nicht jetzt. Andere haben die gleiche Frage. Ich werde es euch allen erklären. Oh, nicht doch...“ Sie hatte von einer Sekunde auf die andere das Gesicht voller Tränen. „Du Mistkerl... ich habe auf einen romantischen Moment gewartet, weil ich dir etwas sagen muss... und dann erschreckst du mich so! Was soll ich denn jetzt mit dir machen? Muss ich zusehen, wie du zugrunde gehst? Ich kann das nicht... ich bin extra hergekommen, an eine Schule, weil ich dachte, da ist es nicht so schlimm mit den Verletzungen, die die Leute haben...“ Sorc hob eine Augenbraue. „Ich dachte immer, du liebst deinen Job.“ „Schon. Ich hab das Heilen gelernt, um Leben retten zu können. Aber ich konnte schon viele nicht retten! Und ich bin nicht stark genug dafür. Es war der falsche Weg für mich.“ „Den Eindruck hat man normalerweise nicht...“ „Ich schimpfe nur, damit die Leute mich ernst nehmen.“ „Sehr wirkungsvoll.“ Lily schniefte und versuchte, sich zu beruhigen, aber dann brach es wieder aus ihr heraus. Sorc hätte normalerweise ein paar tröstende Worte für sie gehabt, aber im Moment brauchte er all seine Kraft für sich selbst. Er ließ sich noch nicht einmal zu einem anzüglichen Spruch hinreißen, und das fand er schon alarmierend. Sie kroch zu ihm ins Bett und unter seine Decke, wo sie geradezu verzweifelt seine Nähe suchte. „Was war es, was du mir in einem romantischen Moment sagen wolltest?“ erkundigte er sich schließlich. Dieser Moment war romantisch genug. „Wir... wir bekommen ein Kind,“ sagte sie. „Es ist schon eine paar Wochen unterwegs...“ Das überraschte Sorc nicht, er hatte die Veränderung an ihrer Aura bemerkt, sie aber nicht darauf angesprochen. Seiner Erfahrung nach wollten Frauen die frohe Botschaft gerne selbst verkünden. „Das ist großartig!“ freute er sich. „Aber ich muss dich warnen. Es wird bestimmt ein mächtiger Magier. Ist es okay für dich, wenn ich, nun... wenn ich keiner mehr bin?“ Die Frage löste eine neue Tränenflut bei ihr aus. „Was machst du denn, kleine Fee?“ beschwerte er sich. „Willst du mit deinem Gejammer an meiner sorgfältig aufgebauten Mauer kratzen, bis mir auch die Tränen kommen, sobald ich an meine ausgebrannte Magie denke?“ Da war es – ein stechendes Gefühl in seinem Herzen, als er das so offen aussprach. Er hatte sich mehr vor diesem Gefühl gefürchtet als vor der Tatsache selbst. Vor dem Moment, in dem der Verlust ihn schwach machen würde und an seinen Überzeugungen rüttelte, seine Prinzipien untergrub und seinen festen Glauben an die eigene Kraft erschütterte. Seine Kraft bestand darin, dass er niemals zweifelte. Chaosmagier zu sein hieß, an alle Möglichkeiten zu glauben. Doch jetzt fragte er sich unwillkürlich, ob das noch für ihn galt. War es vielleicht besser, den Verlust hinzunehmen und nach vorne zu schauen, anstatt sich starr an die Hoffnung zu klammern, dass seine Magie nicht ganz verloren war? Lily wischte sich über die Augen. „Ich... es tut mir Leid... Aber ich... ich kann das nicht heilen! Wie soll ich dir denn nur helfen? Da bin ich Heilerin und kann nichts machen...“ „Aber das ist nicht deine Schuld!“ Sorc strich ihr übers Haar. „Niemand kann das heilen. Aber es bringt mich nicht um.“ Sie schien von dieser Aussage überrascht zu sein, denn sie schaute ihn ganz groß an. „Ich dachte... ich dachte, die Magie bedeutet dir so viel...“ „Ja, das tut sie,“ gab er zu. Das Kind in seinem Inneren starrte immer noch voller Schrecken auf die Trümmer seines Lebens. Vindictus hatte von einer Wunde in ihm gesprochen. Die konnte er ganz deutlich spüren. Es waren jetzt wohl tröstende Worte angebracht... in dem Stil, dass seine Familie ihm viel wichtiger war und dergleichen. Aber das hätte bedeutet, seinen Verlust zu leugnen oder zumindest herunterzuspielen. Und er war nicht der Typ für sentimentale Heucheleien. „Du musst mir nicht helfen,“ sagte er statt dessen. „Behandle mich einfach wie immer... naja, nur frag mich nicht, ob ich dir mal ein Licht zaubern kann oder so.“ Lily brachte ein etwas verunglücktes Lachen zustande. „Na gut...“ Er hatte das Gefühl, dass sie noch mehr sagen wollte, es sich aber ihm zuliebe verkniff. Vielleicht eine halbe Stunde später erschien Vindictus auf der Bildfläche. Er trug einen Bademantel und hatte ein Handtuch dabei. Um diese Uhrzeit hatte er noch keinen Dienst, aber er wollte vor seinem Morgentraining nach dem Patienten sehen. Letzterem ging es anscheinend ganz gut, man konnte ja direkt neidisch werden. „Lily! Das ist nicht die gewünschte Arbeitsmoral!“ Er hatte ja Verständnis für die jungen Leute, aber er neckte sie ganz gerne mal. Die Fee war dann auch so anständig, verlegen zu tun und von dem Chaoshexer runterzusteigen. Vindictus betitelte Sorc in seinen Gedanken noch immer wie früher... er hatte sich in der kurzen Zeit nicht umgewöhnen können, und außerdem wollte er da erstmal abwarten. „Mach ihm einen Tee, Lily. Der Mann muss viel trinken, und vergiss sein Frühstück nicht. Dann wechsle die Verbände,“ ordnete Vindictus an. „Machst du nicht etwas viel Wind wegen dieser Verbände?“ erkundigte Sorc sich, als Lily sich entfernte, um die Anweisungen auszuführen. „Die Salbenreste müssen entfernt werden,“ sagte der Alte. „Aber mal davon abgesehen, Sorc... wie fühlst du dich?“ Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet, denn er druckste ein wenig herum. „Nun ja... wie man sich eben fühlt...“ „Etwas genauer. Hast du Schmerzen? Fühlst du dich geschwächt? Ist dir übel?“ „Äh... etwas matt. Die Schmerzen haben nachgelassen. Der Hals tut nicht mehr weh.“ „Und weiter?“ „Wie weiter?“ Vindictus nutzte Lilys Abwesenheit und sagte unverblümt: „Sie haben dir die Magie ausgebrannt. Jeder, dem das passiert, reagiert eigentlich mit Panik, Wut, Trauer oder variablen Mischungen von allem.“ „Aha. Wie oft hast du das denn schon beobachten können?“ „Selber zweimal, aber ich habe Berichte von anderen gelesen und mich mit Kollegen darüber ausgetauscht. Ich möchte, dass du noch mindestens drei Tage zur Beobachtung hier bleibst.“ Sorc setzte sich empört auf. „Was? Drei Tage? Wieso denn das? Ich habe doch keine Krankheit!“ „Wie gesagt, zur Beobachtung. Und wegen des Vampirbisses. Vampire zählen zu den Wesen mit Magie. Und Magie verträgst du derzeit nicht, das habe ich dir gestern erklärt. Ein Biss direkt nach der Prozedur ist eigentlich unverantwortlich. Entweder wusste Genesis das nicht, oder sein Hunger war schlichtweg stärker.“ „Ich hab nichts! Und es ist langweilig hier, Vindictus.“ „Fürchtest du dich vor der Zeit, die du dann zum Nachdenken hast?“ Sorc schwieg. War da eine leichte Unsicherheit in seinem Blick? „Du kannst ein bisschen aufstehen und umhergehen, aber bleib hier. Falls hier jemand vom Zirkel des Bösen auftaucht, werde ich ihm erzählen, du hättest ein Fieber oder sowas. Spiel deine Rolle.“ Damit drehte er sich um und verließ das Schloss. Es war noch früh, da hatte er Ruhe für sein Training. Körperlicher Ausgleich zur Arbeit war immer wichtig. Crimson wartete schon am Strand. Vindictus konnte das Siegel auf seinem Rücken sehen und musste amüsiert daran denken, dass es schlimmer hätte kommen können für den Jungen... aber er hatte Sorc damals nicht verraten, dass er ausbrennen konnte. Dafür war die Bezahlung nicht gut genug gewesen. In letzter Zeit waren ihm noch andere Symbole an Crimson aufgefallen. Sie schienen manchmal auf seiner Haut zu schimmern... aber immer nur so kurz, dass Vindictus sie für Einbildung hielt. Aber auch Crimsons Aura hatte sich leicht verändert. Nun, es mochte daran liegen, dass jeder sich im Laufe der Zeit weiterentwickelte. Als Schlossherr mit der Verantwortung für mehrere junge Leute hatte er schon passable Fortschritte gemacht. Und letztendlich ließ sich vieles damit erklären, dass Sorcs Verbindung mit dem Schlossherz sich auch auf dessen Meister übertrug. Der Weißhaarige bemerkte ihn und wandte sich um. „Oh... da bist du ja endlich. Du hast mich warten lassen. Warst du bei Sorc?“ „Du hast nicht nachgesehen?“ neckte Vindictus ihn. „Ich mache das nicht immer. Eigentlich habe ich mir sogar abgewöhnt, alles und jeden überwachen zu wollen, davon kriegt man ja einen Kontrollfimmel!“ „Gute Einstellung, Jungchen.“ Vindictus legte sein Handtuch auf dem Sand ab. „Ich kenne Sorc als einen Mann, der stets beherrscht und sachlich ist, aber auch ein Magier mit Herz und Seele. Ich mache mir Sorgen, weil er gar nicht zu realisieren scheint, was mit ihm passiert ist.“ „Ich glaube, er spielt für uns den harten Kerl,“ meinte Crimson. „Wie immer.“ „Naja... oder es ist noch der Schock,“ überlegte Vindictus. „Gibt es jemanden, dem er sich anvertrauen würde, wenn er ein Problem hätte?“ „Naja... ich hoffe doch, mir!“ Crimsons Antwort kam ohne langes Nachdenken. Der alte Heiler sah überrascht zu ihm auf. „Tatsächlich? Ich hätte eher an seine Mutter oder den Bruder gedacht.“ „Wir vertrauen einander,“ versicherte der Schlossherr. „Wenn Sorc mit jemandem über seine Sorgen reden würde, dann mit mir. Vielleicht auch mit Ray. Für seine Mutter ist er der älteste Sohn, der mit gutem Beispiel voran gehen muss, und für seine Kinder der Vater, zu dem sie aufblicken. Lily möchte er nicht beunruhigen.“ „Du hast vielleicht Recht. Wenn Sorc zu dir kommt und Hilfe sucht, kriegst du das hin?“ „Ich tue zumindest mein Bestes. Wieso, willst du den Job?“ „Ich bin Necromant, kein Psychologe. Und jetzt rein mit dir ins Wasser, oder willst du den Tag vertrödeln?“ Vindictus legte den Bademantel auf seinem Handtuch ab und ging schonmal vor. Kapitel 4: Des Kriegers Sohn ---------------------------- Sorc hatte früh am Morgen nicht mit Besuch gerechnet, doch noch vor dem offiziellen Unterrichtsbeginn flog die Tür von Lilys Reich geradezu auf und herein stürmte sein Sohn. Ihm fiel fast der Teebecher aus der Hand. Vorsichtshalber stellte er ihn auf den Nachttisch. Fire verschwendete keine Zeit. Er baute sich am Bett auf und packte Sorcs Schultern. „Endlich biste ma wach! Alder, sach mir, warum se das mit dir gemacht ham! Isses weg'n demm ollen Schwertfuchtler? Sach's mir, und ich geb den volles Pfund auf's Maul!“ Allein die Sprechweise seines Sprösslings war für Sorc stets erfrischend, aber auch, wie er sich benahm. „Du kannst nicht den ganzen Zirkel des Bösen verprügeln, Fire.“ „Kannich wohl! Ich burn denen die Hütte unterm Arsch wech!“ „Nein. Die Sache ist erledigt. Lass es darauf beruhen ja?“ „Nääh! Du bis mein Fadder, da iss nix mit beruhn lass'n! Und jetzt sach's mir!“ „Ja, ich... schulde euch wohl allen eine Erklärung. Bleib hier, bis Crimson da ist, und auch Lily, ja?“ Eigentlich war wohl bald Unterricht, aber das nahm Fire eh nicht so genau. Als ehemaliger Schüler der Eisigen Universität konnte er sich ein paar Fehlstunden aber auch leisten. Der Rothaarige setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und wartete. „Scheiße siehste aus! Dafür muss wer bezahl'n. Sach wer und er burnt!“ „Fire, beruhige dich. Du kannst nichts... oh, doch. Fires Augen leuchteten auf. „Ja?“ „Wenn die von Zirkel hier ankommen, sag ihnen, wie wichtig dir meine Anwesenheit an der Schule ist. Aber sei diplomatisch. Sonst denken sie noch, ich hätte einen schlechten Einfluss auf dich.“ „Kein Ding... aba wozu?“ „Die wollen mir einen anderen Arbeitsplatz zuweisen. Crimson hat sich aber schon darum gekümmert, vermutlich belassen sie es einfach so, wie es ist.“ „Nix iss, du bleibst hier und wenn ich all'n andern die Bude abfackeln muss. Ich brauch nämlich voll deine Hilfe. Also dassis villeicht nich de richtje Zeitpunkt, dir zu steck'n, dassich meine Braut geschwängat hab.“ Sorc hob überrascht die Augenbrauen. Das hatte er nicht bemerkt, aber er sah ja Eria auch nicht besonders oft. „Wie passend! Ich meine auch!“ „Ey, is nich dein Ernst! Wieviel Schüsse hast'n gebraucht?“ Fire grinste, und schließlich lachten sie zusammen wie beste Kumpels. Deshalb war wohl Crimson auch ein wenig verwundert, als er mit Vindictus im Schlepptau zu ihnen stieß. Beide hatten feuchte Haare vom Frühsport und deshalb ein Handtuch auf den Schultern liegen. „Hab nicht gezählt, aber sagen wir mal, ich hab es oft genug probiert,“ informierte Sorc seinen Jungen. „Ich störe hoffentlich nicht,“ mischte Crimson sich vorsichtig in das Gespräch ein. „Nein, du kommst gerade recht,“ versicherte Sorc. „Ich hab dir doch versprochen, dass ich dir erzähle, warum es so gelaufen ist, wie es ist.“ „In der Tat, darauf sind wir alle gespannt. Nicht dass ich dir das vorwerfen will, aber... nun ja, es ist nicht das, was ich von dir erwartet hätte.“ „Was ist denn da los?“ rief Lily aus einem anderen Bereich der Krankenstation, wo sie an organisatorischen Aufgaben gearbeitet hatte. „So... eine Versammlung, worum geht es denn?“ Fire starrte sie an, als sie sich näherte, als ob er versuchte, ihre Kleidung zu durchblicken. Sorc winkte die Fee heran, damit sie auch zuhören konnte. Damit hatte er alle im Schloss befindlichen Leute anwesend, denen er gerne eine Erklärung geben wollte. Er nahm noch einen Schluck Tee, während alle sich einen Stuhl besorgten. Lily setzte sich aufs Bett. „Ich hoffe, ihr wart nett zu unserem Gast,“ begann Sorc dann. „Er ist quasi Familie...“ „Wat? Dieser Sausack? Kommt an, läss'dich verhaften und verkriecht sich inner Butze!“ empörte Fire sich. Sorc betrachtete ihn mit all der Liebe, die ein Vater für einen Sohn haben kann, den er fast verloren hätte. „Er gehört zur Familie,“ beharrte er. „Ich erkläre euch, warum.“ Fire rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Möglicherweise war ihm aufgefallen, dass es etwas mit ihm zu tun hatte. Jedenfalls blieb er jetzt still. Sorc überlegte kurz, wieviel er von der Geschichte preisgeben musste und wollte, damit es alle verstanden. Es war ja im Grunde kein Geheimnis. Aber zu ausschweifend sollte er es wohl bei diesem ungeduldigen Publikum auch nicht machen. „Vor fast zwanzig Jahren hatte ich ein Verhältnis mit einer Angehörigen des Flammenbrunnen-Hexenzirkels. Ich besuchte sie alle paar Wochen, wohnte aber nicht dort, denn es war eine reine Frauengesellschaft. Fuega war schwanger von mir, und ich hatte versprochen, zur Geburt bei ihr zu bleiben. Doch als ich anreiste, musste ich feststellen, dass der Ort in meiner Abwesenheit überfallen worden war – die Hexen haben ein jährliches Ritual, in dessen Anschluss sie geschwächt und angreifbar sind, ansonsten wäre es wohl kaum so gekommen. Fuega hatte den Angriff gut überstanden. Ich fand einen Krieger Namens Rahzihf vor, der den Frauen zu Hilfe gekommen war. Allerdings hatte er sich beim Kampf schwere Verletzungen zugezogen, so dass sogar sein Schwertarm amputiert werden musste. Wenige Tage darauf gebar Fuega meinen Sohn, den ihr ja alle kennt...“ Sorc unterbrach sich, um Fire durchs Haar zu wuscheln. Dieser gab sich verlegen, ließ es sich aber gefallen. „Ohne Rahzihfs Hilfe wäre dieses Kind nicht mehr geboren worden. Ich kann heute noch nicht beschreiben, wie sich das anfühlte... ihn lebendig im Arm zu halten und zu wissen, wie knapp ein anderes Schicksal von ihm abgewendet worden war. Als Rahzihf abreiste, gab ich ihm Fuegas Armreif als Pfand meines Dankes und versprach ihm, eines Tages für ihn da zu sein, egal was ich dafür tun müsste. Und so ist es geschehen.“ Für einen Moment herrschte Schweigen, als Sorc seine Erzählung beendet hatte. „Dann ist der Bursche, der das Artefakt gestohlen hat, Rahzihfs Sohn?“ hakte Lily nach. Sorc nickte. „Sein Name ist Kihnaf. Der Armreif hat ihn zu mir geführt. Er war auf der Suche nach Prinz Soach und sagte, dass sein Vater ihn geschickt habe. Ich hatte wenig Zeit, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, weil seine Verfolger ihm dicht auf den Fersen waren. Aber ich erfuhr: Er ist des Diebstahls schuldig, und das Artefakt gehört einem Mitglied des Zirkels des Bösen, Lord Arae. Dieser ist dafür bekannt, dass er nicht mit sich reden lässt, bevor er nicht einen Sündenbock zur Rechenschaft gezogen hat. Also tat ich, was nötig war.“ „Dasis... voll krass!“ murmelte Fire. „Wehe wennich rausfinde, dassde das umsonst gemacht hast! Nur weil so'n Knirps nich selbst seine Suppe auslöffeln kann!“ „Rahzihf hätte sicher nicht den Gefallen eingefordert, wenn es nur eine harmlose Bagatelle gewesen wäre, die man auch diplomatisch hätte klären können. Die hätten mich fast zum Tode verurteilt, allen voran Lord Arae. Es handelt sich offensichtlich um ein wichtiges Artefakt, mit dem ich wieder an die Macht gekommen wäre, wenn ich gewollt hätte. Ich gehe davon aus, dass der Bursche hinüber gewesen wäre, hätte er nicht so schnell rennen können.“ „Weiß jemand von euch genau, was das für ein Ding war?“ erkundigte Vindictus sich. „Nur, dass es magische Eigenschaften hat und Lord Arae gehört,“ sagte Crimson. „Das haben sie bei der Verhandlung erläutert, und anscheinend braucht es der Besitzer, um seine eigene Macht zu festigen. Es kann gut sein, dass er mit dem Jungen tatsächlich kurzen Prozess gemacht hätte, das zumindest kam für mich in einem Gespräch mit Genesis rüber. Aber Sorc war schon als Rehabilitand bekannt und konnte die Tat zu seinen alten Verbrechen hinzufügen. Das hat sich auf eine merkwürdige Art vergünstigend ausgewirkt, denn so bekam er zumindest eine neue Anhörung und wurde nicht einfach abgeurteilt.“ „Darauf habe ich spekuliert,“ bestätigte Sorc. „Mir fällt dazu noch eine ganz andere Frage ein,“ bemerkte Vindictus und rieb sich konzentriert das Kinn. „Wie soll es ein Kriegerbengel geschafft haben, bei einem Mitglied des Zirkels des Bösen einzudringen und ein wichtiges magisches Artefakt zu stehlen, das doch bestimmt irgendwie gesichert war?“ Darauf antwortete ihm nur Schweigen. „Vielleicht isser kein Magier, der Besitzer,“ vermutete Fire. „Dann müssten trotzdem Wachen da sein,“ widersprach Lily. „Vielleicht auch magische Sicherungsmaßnahmen, die jemand anderes für ihn gemacht hat.“ „Wir müssen den Jungen selber genau befragen,“ entschied Crimon. „Sonst können wir nur spekulieren.“ „Nein, lasst ihn zufrieden. Ich kümmere mich darum,“ unterbrach Sorc. „An den Tatsachen lässt sich eh nichts mehr ändern. Ich habe für seine Tat bezahlt, und damit ist es erledigt.“ „Aber ich bin für dich zuständig,“ beharrte Crimson. „Ich lasse nicht einfach zu, dass man deine Magie ausbrennt, ohne dass ich weiß warum! Schließlich mindert das deinen Nutzen für mein Schloss! Also will ich auch dabei sein, wenn du mit ihm redest!“ „Ich auch, der Kerl soll schließlich Familie sein!“ fügte Fire hinzu. Sorc gab sich geschlagen. „Wenn ihr alle darauf besteht...“ „Ähm... Verzeihung...“ Alle schauten Richtung Tür, von wo eine neue Stimme gekommen war. Der Besucher schloss die Tür hinter sich und lehnte sich von innen dagegen. Sorc hatte Kihnaf nicht mehr gesehen, seit er sich dem Zirkel des Bösen gestellt hatte. Kaum zu glauben, dass das noch keine Woche her war. Der Bursche sah jetzt viel besser aus – nicht mehr so abgehetzt, sauber und viel selbstbewusster. „Entschuldigung, ich wollte nicht lauschen,“ sagte er. „Aber soweit ich das mitbekommen habe, ist die Sache ja geklärt. Kann mir wohl jemand einen Drachen leihen, der mich nach Hause fliegt?“ Sorc sah, dass Fire zu einer Entgegnung ansetzte, daher kam er ihm schnell zuvor: „Ich wollte dich eigentlich persönlich zu deinem Vater begleiten, Kihnaf.“ „Aber nicht in den nächsten drei Tagen,“ widersprach Vindictus sofort. „Ach, das wird nicht nötig sein, Prinz Soach,“ winkte Kihnaf ab. „Ihr habt doch jetzt Eure Schuld beglichen, da müsst Ihr mich wirklich nicht auch noch begleiten...“ Crimson beobachtete, wie Sorcs Gesichtsausdruck von freundlicher Besorgnis zu etwas wechselte, das er noch nie gesehen hatte. Die Augen des Schwarzhaarigen weiteten sich und sein Mund öffnete sich zu einer Entgegnung, schwieg dann aber. Zugleich legte sich die Stirn in leichte Falten. War das ein Ausdruck des Unmuts? Empörung? Oder eher mildes Erstaunen? Natürlich war es Fire, der als Erster auf den Beinen war. „Ey laber keinen Schitt! Mein Alder hat seine Magie für dich geopfert!“ „Ohne Magie kann man gut leben, unsereins kommt schließlich auch so aus,“ sagte Kihnaf unbeeindruckt. „Zumindest hat dein Vater doch noch beide Arme!“ „Was ist das denn für ein Vergleich!“ brauste Lily auf. „Du solltest etwas mehr Respekt vor Sorcs Opfer haben,“ sagte Vindictus streng. „Eben! Dein Vater hat Sorcs Frau und Kind gerettet und dabei einen Arm eingebüßt, das ist schlimm. Aber deswegen musst du Sorcs Verlust nicht so runterspielen!“ regte Crimson sich auf. „Für einen Magier ist das so, als würde er beide Hände zugleich verlieren!“ „Jetzt übertreibt Ihr aber, Direktor Crimson,“ meinte Kihnaf. „Er tat es, um das Versprechen zu ehren, das er deinem Vater gegeben hat!“ rief Lily empört. „Also war es seine Pflicht, mir zu helfen. Wie er das gemacht hat, dafür kann ich nichts. Also was ist nun mit dem Drachen?“ Crimson hielt Fire zurück, der sich auf den Bengel stürzen wollte. „Ich burn ihn, lass mich los! Rösten wird er! Braten wie'n Hahn!!“ „Nicht doch, dann hat dein Vater alles umsonst ertragen!“ versuchte Crimson ihn zu beruhigen, während er ihn mühsam am linken Arm festhielt. „Dann burn ich'en eben nich zu Asche, aber ne Lektion kriegter, die hatter verdient!“ Das konnte Crimson nicht leugnen, und vielleicht hatte er seinen unbewussten Wünschen in dem Moment freien Lauf gelassen, oder vielleicht war es Sorcs Wunsch, auf jeden Fall ging plötzlich die Tür nach innen auf und stieß den Jungen von sich. Leider hatte Kihnaf so gute Reflexe, dass er sich abfing und auf den Füßen blieb. Dafür materialisierte sich Cathy und schlug ihn nieder. „Du bist ein ungehobelter Klotz!“ fuhr das Schlossherz den Burschen an. Auffälligerweise hatte er momentan blaue Rosen an statt rote und sein Haar war dunkler, nicht ganz so rosenförmig geordnet wie sonst. „Nichts gibt dir das Recht, so abfällig über einen Magier zu reden!“ „Was soll das?“ rief Kihnaf verärgert und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. „Was wollt ihr von mir? Dass ich dankbar auf Knien rumrutsche? Okay, ich bin dankbar für die Hilfe, aber jetzt will ich nach Hause!“ „Nicht, bevor du uns einige Dinge erklärt hast,“ bestimmte Crimson. „Ich will wissen, warum du überhaupt in eine Lage gekommen bist, die so ausarten konnte! Komm mit!“ Crimson half ihm energisch auf die Beine. Er warf einen Blick auf Sorc, der nicht protestierte, also schleifte er Kihnaf zu seinem Büro. Vindictus folgte ihm, Fire jedoch zog es anscheinend vor, bei seinem Vater zu bleiben. Cathy schwebte hinter der Gruppe her und bekam unterwegs noch dunklere, unordentlichere Haare und einen deutlichen Rotstich in den Augen. Die Stiele der Rosenranken färbten sich von dunkelgrün zu fast schwarz. Crimson wusste, dass Sorc mithörte und vielleicht auch zusah. Kihnaf wurde im Büro auf einen der Besucherstühle komplimentiert. Crimson hatte noch keine Zeit gehabt, sich mit ihm zu befassen, weil es ihm wichtiger gewesen war, an Sorcs Seite zu sein. Aber nun war er fällig, besonders nach seinem Benehmen eben. Es war ja nun nicht nötig, sich übertrieben zu bedanken, aber etwas Bescheidenheit und Respekt hätten dem Jungen gut zu Gesicht gestanden! Irgendein Zeichen eben, dass er zu schätzen wusste, was für ihn getan worden war. Oha. Crimson bemerkte, dass dieser Gedanke nicht sein eigener war, aber er stimmte voll zu. Vindictus baute sich mit ernstem Gesicht an der Seite auf, denn er war kaum groß genug, über den Schreibtisch zu schauen. So wie jetzt wirkte er viel bedrohlicher. Er hatte auch seine Heilertasche dabei, die er bedächtig neben sich platzierte. Cathy schwebte vorerst hinter Crimson. Er berührte seinen Herrn unauffällig im Nacken, so dass ein Direktlink zu Sorc entstand. Eigentlich ging es einfacher, aber Sorcs Telepahie war im Moment nicht auf der Höhe. „So, Kihnaf... ich bin froh, dass wir endlich Zeit füreinander finden...“ begann Crimson. Kihnaf setzte sich betont gerade in seinem Stuhl zurecht. „Wenn Ihr mich einschüchtern wollt, könnt Ihr das vergessen! Ich bin ein stolzer Krieger, und Ihr würdet mir nichts antun, nachdem ich unter dem Schutz von Prinz Soach stehe!“ Crimson hob die Augenbrauen. „Ach wirklich! Ich dachte, ihr seid quit! Er hat keine Verpflichtung mehr dir gegenüber.“ Gut, Sorc hatte ihn gerade quasi adoptiert. Auch dieses unmögliche Benehmen brachte ihn nicht davon ab, wenn er einmal so entschieden hatte. Aber das wusste Kihnaf ja nicht. Doch der Junge war mit allen Wassern gewaschen. „Ihr würdet mir trotzdem nichts tun, oder soll er mir umsonst geholfen haben?“ Crimson seufzte innerlich. Das war natürlich ein Punkt für den Gegner. Aber er behielt sein ernstes Gesicht bei. „Ich würde dein Leben nicht gefährden, das bezieht sich aber nicht auf deine Gesundheit. Die kann mein Heiler leicht wieder herstellen.“ Vindictus nickte bedeutungsvoll und strich sich über den nicht vorhandenen Bart. „Heiler unterstützen sowas nicht!“ widersprach Kihnaf. „Ich bin vor allem Necromant,“ teilte Vindictus ihm mit und lächelte nachsichtig – was bei ihm eher einer Bedrohung ähnelte. „Aber davon abgesehen spricht ja gar keiner davon, dass dir etwas angetan wird... wir wollen doch nur wissen, wie es zu dieser Situation gekommen ist.“ „Genau,“ nickte Crimson. „Wie konntest du das Artefakt stehlen, obwohl der Besitzer es doch sicherlich bewachen lassen hat? Hattest du Helfer?“ Kihnaf hob trotzig das Kinn. „Ich bin gut in dem, was ich tue! Was ist daran so schlimm?“ Crimson erhob sich von seinem Stuhl und beugte sich über den Tisch. „Schlimm daran ist, dass es zu Sorcs Nachteil war. Er hat wenigstens das Recht zu wissen, warum er das durchmachen musste, was er für dich erduldet hat!“ „Außerdem kannst du so gut nicht sein, schließlich haben sie dich anscheinend erwischt,“ fügte Vindictus spitzfindig hinzu. „Hast du es nötig, dich als Dieb zu betätigen?“ „Er war es mir schuldig, also was soll die Aufregung?“ „Er war es deinem Vater schuldig,“ korrigierte Crimson. „Aber mit so etwas sollte man nicht leichtfertig umgehen.“ Kihnaf zuckte mit den Schultern und lehnte sich lässig auf seinem Stuhl zurück. „Ich hatte Ärger mit ein paar Typen aus meinem Dorf. Sie haben immer auf mich herabgesehen, weil ich nur adoptiert bin. Sogar meine Brüder haben mich immer abfällig behandelt, obwohl sie so taten, als wären wir alle eine glückliche Familie... also wollte ich ihnen zeigen, dass ich auch ein Held bin, und diesem dunklen Herrscher in seinem gruseligen Turm etwas abjagen. Mein bester Freund hat mir geholfen, aber seinen Namen sage ich nicht. Vater will nicht, dass ich mit ihm verkehre, aber das geht ihn nichts an. Jedenfalls ist mein Freund Magier und hat sich um die magischen Sicherungen gekümmert. Ging alles glatt. Doch als wir schon fort waren, hat wohl jemand den Diebstahl bemerkt und uns verfolgt... Mein Freund wurde verletzt und ich versteckte ihn in einer Hütte im Wald, um dann Hilfe aus dem Dorf zu holen. Als ich Vater traf, sagte ich ihm alles, denn er weiß eigentlich immer Rat. Er gab mir den Armreif und kümmerte sich um meinen Freund, während ich mit der Beute floh. Wir wollten das Teil zuerst einfach zurückgeben, doch Vater meinte, dafür sei es zu spät, weil Lord Arae immer einen Sündenbock will. Er hätte vielleicht aus Rache unser Dorf vernichtet, wenn er mich erwischt hätte, und auch, wenn er niemanden gefunden hätte, den er beschuldigen konnte. Also sollte ich mit dem Artefakt davonlaufen und Prinz Soach um Hilfe bitten. Vater tat so, als wäre ich eine Art Opferlamm... wäre ja besser gewesen, es erwischt mich als das ganze Dorf. Aber ich wusste, dass ich es schaffen würde.“ Er wirkte jetzt sehr stolz darauf, was aber an jenem Tag noch anders ausgesehen hatte. „Mit anderen Worten... das alles geschah wegen einer Mutprobe. Weil du fandest, dass deine Leute dich unterschätzten,“ fasste Crimson zusammen. „Was spielt das für eine Rolle? Schuldigkeit ist Schuldigkeit, und nun ist sie beglichen.“ Crimson hätte am liebsten über den Tisch gegriffen, um den Bengel am Kragen zu packen, aber dafür war die Tischplatte zu breit. „Es spielt sehr wohl eine Rolle! Sorc hat dich und dein Dorf beschützt, aber das wäre ohne deine Mutprobe nicht nötig gewesen, und ihr hättet seinen Gefallen für etwas Sinnvolleres einsetzen können, was ihn dann vielleicht auch nicht seine Magie gekostet hätte! Doch er hat ohne zu zögern seine Existenz als Magier geopfert und hätte auch sein Leben gegeben, um dir aus der Patsche zu helfen! Findest du es angemessen, wie du es ihm dankst?“ Vor Aufregung war Crimson aufgestanden und lehnte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, um Kihnaf besser anschnauzen zu können. Dieser schien nach wie vor der Meinung zu sein, dass Sorc nur seine Pflicht getan hatte und dass nichts weiter dabei war. Er hatte einen hochmütigen Blick wie jemand, der die ganze Diskussion nicht nachvollziehen konnte. Anscheinend hatte es auch keinen Sinn, ihm zu erklären, welche Schmerzen Sorc auf sich genommen hatte und wie sehr er noch unter dem Verlust litt und immer leiden würde. Ganz davon abgesehen hatte das Schloss einen fähigen Magier verloren. Für Kihnaf war das reine Pflichterfüllung. Crimson hatte keine Ahnung, was er mit ihm machen sollte. „Du bleibst hier, bis Sorc in der Lage ist, dich zu deinem Vater zu begleiten, wie er es sich wünscht,“ beschloss er. „Versuch nicht, vorher wegzulaufen. Dieses Gemäuer hat ein Schlossherz und würde dich aufhalten.“ Kihnaf seufzte. „Von mir aus. Ich geh auf mein Zimmer.“ „Nein, du kannst in der Küche helfen, dort wird um diese Zeit das Frühstück zubereitet. Jeder Schlossbewohner muss seinen Beitrag leisten.“ „Aber...“ „Wenn du jetzt sagst, dass du hier nur Gast bist, zeige ich dir die Gästezimmer im Keller, und glaub mir, die haben keine so schöne Aussicht.“ Es vergingen drei, vier Sekunden, in denen Kihnaf anscheinend abschätzte, wie ernst Crimson das meinte, und schließlich gab er nach und begab sich in die Küche. Sorc hatte das Geschehen verfolgt und war erschüttert. Nicht dass es irgendetwas änderte. Rahzihf hatte den Gefallen eingefordert, da spielten die Umstände keine Rolle. Dennoch... es war wie ein Schlag ins Gesicht, den er nicht verdient hatte. Oder hatte er das? Strafte so das Schicksal jemanden, der selber Opfer in Kauf genommen hatte, um seine Ziele zu verwirklichen, während sein eigenes Kind gerettet worden war? Zugegeben... seine bisherige Strafe des Rehabilitationsprogramms Stufe drei war nicht unbedingt schlimm ausgefallen. Wenn alles aus einem bestimmten Grund geschah – und davon war ein Chaosmagier überzeugt – dann sollte es vielleicht so sein. Und doch wurde ihm die Gnade zuteil, dass er nicht allein damit klarkommen musste. Er beschloss, mit seinem Schicksal nicht zu hadern, und rief sich Rahzihf in Erinnerung, der den Verlust seines rechten Armes hingenommen und weitergemacht hatte mit dem Arm, der ihm geblieben war. Sorc wurde erst jetzt klar, dass der Krieger mit seinem Verhalten einen Teil seiner Persönlichkeit geprägt hatte. Als Prinz der Eisigen Inseln und Sohn der Chaosjägerin war er generell durch eine harte Schule gegangen, aber dieser Mann hatte ihn gelehrt, sich über das zu freuen, was ihm blieb. Was ihm nach dem Ausbrennen seiner Magie geblieben war, musste Sorc allerdings erst noch ergründen. Damit Lily und Fire sich nicht über sein geistesabwesendes Verhalten wunderten, hatte er die beiden unter einem Vorwand weggeschickt. Fire in die Küche und Lily zurück an ihre Arbeit, denn davon wollte er sie nicht abhalten. Sie waren beide gleich gegangen, dachten wohl, er bräuchte etwas Zeit alleine. Kihnafs Reaktion hatte ihn auch gelinde gesagt etwas... überrascht. Fire tauchte nach einer Viertelstunde wieder auf. Zu diesem Zeitpunkt war das Gespräch im Büro auch schon vorbei, und so konnte sein Sohn ihm gleich mitteilen: „Ey ich hab die Hackfresse unterwegs getroffen, der kann froh sein, dassich die Hände voll hatte!“ Da war Sorc auch froh, schließlich wäre der Bursche ja sonst als Arbeitskraft wieder ausgefallen. „Crimson hat ihn zum Küchendienst geschickt. Verdirb ihm das mal nicht.“ „Oh... gute Idee, soll ruich wat tun für sein Brot.“ Fire stellte das Tablett auf den Nachttisch und reichte Sorc eine Schale mit Obst, Gemüsestreifen und Brot. Dazu gab es klare Brühe. „Die Küchenmädels meinten, das wär' gesund.“ „Ach herrje... die Küchenmädels. Hoffentlich haben die nicht schon an deine Oma gepetzt.“ „Kannst davon ausgehen, dasses irgendwer macht.“ „Lässt sich wohl nicht vermeiden.“ Seine zeternde Mutter gehörte derzeit nicht zu den schönsten Zukunftssaussichten. Andererseits... er freute sich ja immer, sie zu sehen. Sorc bemühte sich, die Brühe zu verbrauchen und zugleich das Brot zu essen, indem er es hinein tunkte. Heute konnte er wieder fester zupacken, obgleich die Gelenke von der gestrigen Beanspruchung noch immer schmerzten. Doch das hielt Sorc locker aus, ebenso die Schmerzen, die der Ausbrennzauber hinterlassen hatte. Schmerzen gingen normalerweise irgendwann weg... „Ich hab... keinen Hunger...“ meinte er schließlich und schob das Tablett in Fires Richtung. „Du hast ja außer'm Stück Brot nix geschafft!“ schimpfte dieser. „Trink wenigstens was. Vindictus hat gesagt, dassis gut für dich!“ „Ja, da hat er wohl Recht,“ stimmte Sorc zu. Im Moment wirkte Fire etwas fehl am Platze, denn er konnte das Problem nicht mit roher Elemantarmagie aus der Welt schaffen. In solchen Fällen wurde er immer gleich viel stiller. „Ich ess deine Suppe auf,“ verkündete der Junge. „Wär schade drum, wennse kalt wird. Aber's Gemüse kannste vielleicht später essen. Und da hat's Beeren...“ „Ja, lass das ruhig stehen.“ Niemand kam, um Fire zum Unterricht zu beordern, als es an der Zeit war. Dabei hätte er jetzt bei Ujat in Runenkunde sitzen müssen, wie Sorc wusste, und der Sohn von Vindictus galt eigentlich als sehr streng und pflichtbewusst. „Hat jemand die Schlossbewohner über meine... Situation... informiert?“ erkundigte er sich. Fire nickte. „Vindy hat's gemacht.“ „Vindy?“ „Najaaa...“ „Stell die leere Suppenschüssel zurück aufs Tablett. Muss ja nicht sein, dass Vindy dumme Fragen über mein Essverhalten stellt.“ Fire verstand das und half ein bisschen mit dem Obst. Stengel und Kerne ließ er absichtlich auf dem Tablett, damit es aussah, als hätte sein Vater die Sachen gegessen. „Wennde morgen auch nix Gescheites essen kannst, sachich's ihm aber. Villeicht biste krank oder so von...“ Er räusperte sich und blickte starr auf einen Punkt vor sich in der Luft. „Naja von de Ausbrennung.“ „Du kannst das Wort ruhig benutzen,“ versicherte Sorc ihm. „Nützt ja nichts, die Sache zu verschweigen. Aber vielleicht könntest du mir Literatur zu dem Thema besorgen. Vindictus lässt mich hier nicht weg, und ich langweile mich.“ Fires Gesicht hellte sich auf, als er eine konkrete Aufgabe bekam. „Klar, kein Ding... ich besorch dir alles von überall!“ „Das wäre gut. Wenn ich verstehe, wie es gemacht wird, finde ich vielleicht einen Weg, doch noch wieder Magie zu benutzen.“ „Dann machich mich gleich auf'n Weg zur Bibliothek...“ „Nein, erst gehst du in deinen Unterricht.“ „Ey du gehs' vor! Unterricht brauchich eh nich mehr richtig, hab doch schon nen klein'n Uniabschluss.“ Sorc widersprach seinem Sprössling nicht weiter, schließlich war dieser auch alt genug für solche Entscheidungen. Also verschwand Fire Richtung Bibliothek. Crimson wartete, bis Fire das Feld räumte, dann begab er sich zur Krankenstation zurück, denn er wartete schon auf eine Gelegenheit, mit Sorc reden zu können – dabei wusste er nicht einmal genau, worüber. Er verspürte einfach das Bedürfnis, dem Freund jetzt so gut wie möglich beizustehen. Vindictus kam auch wieder mit. Er warf kurz einen skeptischen Blick auf das Essenstablett. Sorc nahm schnell ein Stück Gemüse zur Hand und knabberte daran herum. „Wann hattest du deine letzte richtige Mahlzeit?“ fragte der Heiler ihn. „Gestern früh, bevor die Verhandlung fortgesetzt wurde.“ „Nun ja... wenig Appetit ist vielleicht in Anbetracht der Umstände normal, aber ich dachte, du wärst heute hungrig, weil du ja gestern nichts mehr bekommen hast. Sieh zu, dass du viel trinkst.“ Er ging in den hinteren Bereich der Krankenstation und machte sich an den Medizinvorräten zu schaffen. Crimson setzte sich auf den Stuhl, der noch von Fire vorgewärmt war, und fragte: „Also... du hast alles mitbekommen, ja?“ „Vielleicht hätte ich lieber darauf verzichten sollen,“ meinte Sorc. „Aber nur weil Kihnaf ein frecher Flegel ist, habe ich immer noch mein Versprechen gehalten... insofern spielt es keine Rolle. Ich werde ihn nach Hause bringen, sobald Vindictus mich aufstehen lässt. Ich wünschte nur, ich müsste Rahzihf nicht noch länger warten lassen, sicher macht er sich schon Sorgen.“ „Soll ich jemanden hinschicken?“ schlug Crimson vor. „Oder doch den Jungen erstmal gehen lassen?“ Sorc starrte einige Sekunden lang das Gemüsestück in seiner Hand an und legte es dann zurück. „Nein, ich werde meinen Entschluss nicht ändern,“ antwortete er schließlich. „So kann ich Rahzihf selbst sagen, was mir widerfahren ist, und er muss es nicht von anderen erfahren. Außerdem... habe ich das Gefühl, dass es so richtig ist. Ich will mich jetzt nicht im Schloss verstecken.“ „Soll ich dich dorthin begleiten?“ fragte Crimson als Nächstes. „Also wirklich, das schaffe ich schon,“ entgegnete Sorc. „Einer von uns beiden sollte bei Cathy bleiben. Und ich werde ja mit Gandora fliegen, bin also nicht völlig hilflos.“ „So... war das nicht gemeint,“ stammelte der Schlossherr verlegen. „Ich, um... will dich nur nicht in dieser schwierigen Phase alleine irgendwo hin lassen. Das ist noch... neu für dich.“ „Ich werde nach Inseltradition bis an die Zähne bewaffnet sein, und du weißt, dass ich mit den Sachen umgehen kann,“ versicherte Sorc. „Du brauchst dich nicht zu sorgen, schließlich besuche ich einen erfahrenen Krieger.“ „Es könnte aber sein, dass der Mann inzwischen nicht mehr im Geschäft ist, oder vielleicht ist er krank,“ gab Crimson zu bedenken. „Kihnaf hat zwar nichts dergleichen erwähnt, aber es ist lange her, dass du Rahzihf zuletzt gesehen hast.“ „Kihnaf hat erwähnt, dass seine Brüder Krieger sind. Crimson, ich fliege da hin, liefere den Jungen ab, unterhalte mich mit seinem Vater und bleibe vielleicht zum Essen. Aber dann komme ich gleich wieder her. Ist das für dich in Ordnung?“ „Ja, sicher... entschuldige, ich benehme mich wie eine Glucke.“ Sorc lächelte, aber nur mit dem Mund. Seinen Augen fehlte noch immer der Glanz. „Schon gut, lass dich nicht davon abhalten. Übrigens... ich glaube, ich sollte den Namen Sorc ablegen, das ist mein Chaoshexer-Name. Außerdem verbinden den immer noch viele mit negativen Erfahrungen. Und, naja, so toll klingt er nun auch nicht.“ Crimson zuckte mit den Schultern. „Man hat sich aber daran gewöhnt, es wird eine Weile dauern, das zu ändern.“ „Es ändert sich derzeit so einiges,“ entgegnete Sorc ernst. „Vielleicht werde ich wieder dein loyaler, persönlicher Chaoshexer. Aber bis es soweit ist, verteidige ich dieses Schloss und alle, die darin leben, mit allem, was ich habe. Sag mir, was du brauchst, und ich finde einen Weg. Du hast das Wort von Soach, Prinz der Eisigen Inseln.“ Crimson spürte plötzlich starken Druck hinter den Augen. „Für's Erste... komm wieder zu Kräften,“ presste er hervor. Er wünschte sich den Freund zurück, der wie ein Fels hinter ihm stand und ihm Sicherheit gab. Doch im Moment musste er selbst der Fels sein, eine Rolle, die er bisher gerne dem Älteren überlassen hatte... Kapitel 5: Unerfreuliche Neuigkeiten ------------------------------------ Soach fühlte sich krank. Kein Wunder eigentlich, aber genau genommen kam es ihm so vor, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Seltsamerweise ging es ihm erst seit dem Frühstück so – obwohl er kaum etwas gegessen hatte. Also schlich er zum stillen Örtchen und erledigte das Notwendige. Kein Grund, Lily zu beunruhigen oder Vindictus Anlass zu geben, ihn noch länger als drei Tage hier zu behalten. Seit den letzten Umbaumaßnahmen verfügte die Krankenstation über ein eigenes kleines Bad und eben das Privatorium, wie es die Schüler scherzhaft nannten. Soach blieb etwas länger, um die Privatsphäre auf sich wirken zu lassen. Eigentlich wollte er auch gerne ein Bad nehmen, denn der Schweiß von gestern schien noch an ihm zu kleben, aber vorerst zog er sein Bett vor. Sobald er sich von der Übelkeit erholte, konnte er immer noch gehen, und vielleicht kam ja Lily mit. Auf dem Rückweg musste er sich tatsächlich an der Einrichtung abstützen, und erwartungsgemäß kam die gute Fee der Krankenstation angeschwirrt und nahm seine freie Hand, um ihm Halt zu bieten. „Was ist los, Sorc? Geht es dir gut?“ Für sie zwang er sich zu einem Lächeln, obwohl er sich nicht danach fühlte. „Klar... ich war nur mal für kleine Prinzen. Du sollst mich doch jetzt Soach nennen.“ „Oh... das vergesse ich zur Zeit noch, tut mir Leid.“ „Macht ja nichts. Wird ne Weile dauern, bis es alle drauf haben.“ „Schmerzen die Knöchel und Handgelenke noch?“ „Sicher, aber das ist normal nach der Beanspruchung, der sie ausgesetzt waren.“ Soach ließ sich von ihr zurück zum Bett geleiten. Seine Finger zitterten leicht, und es strengte ihn an, auf den Füßen zu stehen. Doch er schwieg dazu. Lily schüttelte gewissenhaft sein Kissen auf. „So, zurück ins Bett mit dir. Du siehst gar nicht gut aus. Willst du noch etwas essen? Vielleicht etwas Süßes?“ „Nein,“ antwortete er etwas zu schnell und zu bestimmt. „Ähm... ich meine, nicht jetzt. Es gab ja gerade Frühstück.“ „Das ist schon wieder eine Stunde her.“ „Oh... wirklich?“ Reste vom Frühstück – Obst und Gemüse – standen noch auf seinem Nachttisch. Er verspürte nicht den geringsten Hunger und auch keinen Appetit. Um vom Thema abzulenken, kroch Soach erst einmal ins Bett zurück und ließ sich von Lily verpacken. Die Übelkeit ließ allmählich nach, und sein Magen zeigte kein Verlangen nach neuer Befüllung. Dafür fühlte er sich von dem kleinen Ausflug völlig fertig und schloss kurz die Augen... oder zumindest dachte er das, aber in Wirklichkeit schlief er sogleich wieder ein. Der Tag entwickelte sich für Crimson ziemlich hektisch. Die Leute gaben sich praktisch in seinem Büro die Klinke in die Hand. Ujat, sein Lehrer für Wahrsagerei, Siegelmagie und Runenlehre, kam gleich nach seiner ersten Unterrichtseinheit zu ihm. Crimson stellte seine Teetasse weit von ihm weg. „Ujat, guten Morgen, was kann ich für Euch tun?“ begrüßte er ihn. Der Älteste unter seinen Lehrern setzte sich und legte die Fingerspitzen gegeneinander. „Mein Vater hat das Kollegium noch gestern Abend über die Situation informiert... Direktor, ich bedaure, sagen zu müssen, dass ich dies vorhergesehen habe. Nämlich an dem Tag, als wir uns kennen lernten. Jedoch konnte ich die Details nicht deutlich sehen, nur, dass es einen großen Einschnitt in Sorcs Leben geben wird, der mit einer harten Prüfung für Euch zusammenhängt. Ich sah, dass es sich dabei um einen Verlust handelt, sah Schmerzen, Angst und Konflikte. Diese Sache ist noch nicht ausgestanden. Ich hoffe, Ihr habt starke Nerven.“ Crimson runzelte die Stirn. „So genau habt Ihr es damals nicht beschrieben.“ „Das ist manchmal besser,“ sagte Ujat. „Und um ganz ehrlich zu sein, kam nicht alles aus dem Tee. Ich gab Euch nur die Informationen aus der Tasse, alles andere ist zu ungenau und nicht zuverlässig.“ „Dann könnt Ihr doch hellsehen.“ „Sicher, aber da Visionen oft irreführend sind, habe ich mir angewöhnt, diese Dinge nicht weiterzugeben. Ich hoffte, dass ich mich irre.“ Dies überraschte Crimson nicht, schon des Öfteren im Laufe des letzten Jahres war ihm der Verdacht gekommen, dass der Mann nicht unbedingt Hilfmittel brauchte. Andererseits gab er ihm Recht, denn er kannte Ray, den zweiten Prinzen der Eisigen Inseln. Dieser hatte eine leichte Hellsehergabe, die aber meistens keine deutliche Warnung hervorbrachte, sondern manchmal nur unnötig beunruhigte. Crimson fand, dass jeder Hellseher selbst entscheiden musste, wie er sich verhalten sollte – er war froh, dass er nicht vor diesem Problem stand. „Ich spüre seit gestern Nachmittag starke Erschütterungen im Schloss,“ fuhr Ujat fort. „Auch die Kollegen haben es bemerkt, die einen mehr, die anderen weniger, aber im Großen und Ganzen ist wohl jeder irgendwie beunruhigt. Die Schüler sind unkonzentriert im Unterricht. Manche wirken gereizt, andere traurig oder generell verstört. Ich bin dafür, dass wir für eine Woche den Unterricht ausfallen lassen und dann die Situation neu bewerten. Unter den gegebenen Umständen ist jedenfalls kaum noch Unterricht möglich.“ „Das klingt sinnvoll,“ gab Crimson zu. „So sollten wir es machen. Vielleicht wäre es sogar am besten, wenn besonders sensible Personen das Schloss für eine Weile verlassen.“ „Das wiederum erscheint mir im Moment noch etwas voreilig. Die Kinder mögen Sorc, und auch die Kollegen wissen ihn zu schätzen. Wir werden versuchen, ihn zu unterstützen, so gut wir können. Und Euch, denn Ihr als Schlossherr tragt vermutlich die schwerste Bürde.“ „Vielen Dank, Ujat. Und... er möchte nicht mehr Sorc genannt werden, sondern Soach.“ Crimson fühlte, wie es ihm leichter ums Herz wurde, nachdem er nun wusste, wieviel Unterstützung er bekam. Der Ältere erhob sich. „Ich gehe es den Kollegen und Schülern sagen. Und ich glaube, die Schüler haben auch noch ein Anliegen, entschuldigt mich...“ Als er den Raum verließ, schloss er die Tür nicht, sondern ließ sie für Veiler und Elfuria offen. Die beiden feenhaft anmutenden Magierschüler waren zu Schulsprechern gewählt worden, möglicherweise gerade wegen ihres Aussehens – Feen sagte man ja nach, besonders diplomatisch und einfühlsam zu sein. Veiler gehörte zu den ersten Schülern an der Lotusschule, aber er überließ dem jüngeren, blonden Mädchen den Vortritt. Sie zögerte, als Crimson den beiden anbot, sich zu setzen, doch dann folgte sie Veilers Beispiel. „Ähm, Direktor, wir... also... wir wollten doch zum Jubiläum der Beseelung ein Schulfest veranstalten, aber nun... also, wir haben uns gefragt, ob das noch... angemessen ist.“ Daran hatte Crimson gar nicht mehr gedacht. Er musste kurz darüber nachdenken. „Ich glaube, das wird schon gehen,“ meinte er schließlich. „Der Jahrestag ist in drei Wochen. Bis dahin wird es Soach besser gehen.“ Elfuria wirkte etwas verwirrt. „Soach?“ „Das ist Sorcs Geburtsname,“ klärte Veiler sie auf. „Er möchte jetzt wieder so genannt werden, weil Sorc der Name ist, den er als Chaoshexer benutzt hat,“ teilte Crimson ihnen mit. „Sagt es bitte den anderen.“ „Also machen wir einfach normal mit der Planung weiter,“ schloss das Mädchen. Crimson nickte. „Genau. Nur berücksichtigt, dass Soach nicht mehr zaubern kann. Plant also keinen magischen Einsatz von ihm ein.“ „Ähm... natürlich nicht.“ Die Schüler schwiegen einen Moment, als suchten sie nach Worten. Crimson wartete geduldig. Anscheinend traute Elfuria sich nicht, denn Veiler sprach an ihrer Stelle weiter: „Wir fragen uns alle, wie das ist, wenn die Magie ausgebrannt wird... Könnt Ihr uns das sagen? Tut es weh?“ Mit dieser Wendung hatte Crimson schon gerechnet, jedoch gehofft, das Thema vermeiden zu können. Aber die jungen Leute spekulierten natürlich, malten sich allerhand Szenarien aus. Da sollte er sie wohl besser aufklären. Die Erinnerung fiel ihm schwer, daher sammelte er sich einen Moment. „Es ist... ein unschönes Ritual,“ eröffnete er ihnen. „Der Verurteilte wird in einem Raum angekettet, wo Bannkreise auf dem Boden sind und viele Magier Beschwörungen murmeln, damit er sich nicht wehren kann. Zwei Magier setzen abwechselnd einen Zauber ein, der die Magie vernichtet... es sieht aus wie ein silbriger Blitz, der in der Brust verschwindet...“ Crimson griff sich unbewusst an die Stelle. „Ich... weiß nicht, wie es genau funktioniert, aber der Zauber verbraucht nicht nur alles an magischer Energie, was derjenige hat, sondern sorgt auch dafür, dass nichts neu gebildet werden kann. Das lässt sich nicht rückgängig machen. Der Vorgang dauert eine Weile. Sie haben es vorher auf etwa zehn Minuten geschätzt, aber mir kam es länger vor. Soach hat sich gewehrt... dadurch wurde es schlimmer. Er hat vor Schmerzen geschrien.“ Seine Schüler starrten ihn an, als hätte er drei Köpfe. „Ihr habt... zugesehen?“ „Es war schwierig, das könnt ihr mir glauben. Aber ich wollte ihn nicht allein lassen. In so einer Lage braucht jeder einen Freund. Merkt euch das. Es könnte der Tag kommen, an dem ihr jemandem beistehen müsst, auch wenn euch das unangenehm ist. Ich bin froh, dass ich dort war, denn ich habe das Gefühl, dass es so ein bisschen leichter für ihn war.“ Die Schüler schwiegen mehrere Minuten lang. Zögerlich ergriff Elfuria wieder das Wort. „Können wir... ihn besuchen?“ „Vielleicht erst einmal nicht,“ überlegte Crimson. „Er zeigt ungern Schwäche. Aber ich werde ihn fragen, ja?“ „Ja, bitte macht das... Ähm, stimmt es, dass der Unterricht ausfällt? Die Lehrer haben angedeutet, dass es vielleicht dazu kommt.“ „Ja, ich habe es gerade mit Ujat besprochen. Soachs Zustand beeinflusst das Schloss und damit euch. Wir machen vorerst eine Woche lang keinen Unterricht.“ Die beiden schienen sich nicht darüber zu freuen – dafür war der Grund wohl zu ernst. Crimson entließ die beiden, als sie keine weiteren Fragen mehr hatten, und erhielt kurz darauf die Meldung, dass Marquis Belial vor der Tür stand. „Cathy, hast du ihn nicht eher bemerkt?“ beschwerte er sich. Das Schlossherz gab sich unangenehm berührt. [„Also... ich war unaufmerksam...“] „Schon gut, schick ihn rein.“ Den Unterweltler erwartete er schon mit Spannung – und ein bisschen Angst. Hoffentlich kam er mit ihm zu einer Einigung, allerdings konnte der Marquis vermutlich nicht allein entscheiden, sondern nahm erst einmal die Daten auf. Cathy materialisierte sich auf dem Gang, um den Unterweltler zu empfangen, und nur wenige Sekunden später betrat dieser das Büro. Crimson erhob sich zur Begrüßung, und sie schüttelten sich über dem Schreibtisch die Hände. Dann setzte sich der Abgesandte des Zirkels und kam ohne große Umschweife zur Sache. „Ich habe hier die Anmeldepapiere für Euch mitgebracht, Direktor.“ Er reichte einige Zettel hinüber. „Ich habe mir erlaubt, sie schon auszufüllen, soweit ich konnte, bitte kontrolliert meine Angaben und ergänzt die Lücken.“ Crimson machte sich gleich an die Arbeit. Hauptsächlich musste er noch eintragen, wie er einen Rehabilitanden der Stufe vier einzusetzen gedachte. Er bemühte sich dabei um Sachlichkeit, denn für Sentimentalitäten gab es keinen Platz. Doch der Marquis konnte ihm da vielleicht helfen. „Es wäre für uns alle ein großer Verlust, wenn Sorc uns verlassen müsste,“ begann er, wobei er noch Soachs Magiernamen benutzte, da er unter diesem in den Akten des Zirkels geführt wurde. „Die Kinder hängen an ihm und die Kollegen haben sich gut mit ihm arrangiert. Er gehört irgendwie dazu... und für mich ist er ein guter Freund geworden.“ Marquis Belial lächelte. „Sicherlich auch, weil das Schloss mit ihm verbunden ist, nicht wahr?“ „Woher...“ Das Lächeln wurde breiter. „Ich bin ein Unterweltler, ich sehe, wenn jemand keine Seele besitzt. Zugleich ist das Schloss von einer gewissen Aura erfüllt, die es nur in beseelten Schlössern gibt, und nicht zuletzt spricht sich so etwas herum, Direktor.“ „Oh... ja, sicher. Es ist ja nicht direkt ein Geheimnis...“ „Diese Tatsache hat für hitzige Debatten gesorgt, Direktor. Wir haben keine gesicherte Information, ob die Verbindung freiwillig oder unter Zwang geschah, doch die meisten von uns, mich eingeschlossen, sind der Meinung, dass sich so die Loyalität erklärt, die Euch mit dem Rehabilitanden verbindet“ erläuterte der Marquis. „Es gab allerdings auch Stimmen, die meinten, dass jemand wie Sorc solch eine Verbindung ausnutzen könnte, um Euch zu korrumpieren.“ „Nun, wenn Ihr es wissen wollt, Marquis... ich habe ihm erlaubt, diese Verbindung herzustellen, weil ich ihm vorher schon vertraute. Es gab Zweifel in meinen Reihen, glaubt mir, aber die konnte ich ausmerzen. Ihr hättet mich doch einfach fragen können.“ Crimson legte eine kleine Pause ein, um das Formular noch einmal zu überprüfen, bevor er es unterschrieb und dann zurückgab. „Uhm... was wären das denn für andere Stellen, wo er hingeschickt werden könnte?“ Sein Gegenüber wirkte amüsiert. „Ich dachte mir schon, dass Ihr fragen würdet. Nun ist das keine Information, die ich einfach herausgeben darf, andererseits aber auch nicht geheim. Also... es gibt immer Gesuche, die sich speziell auf ein Individuum beziehen, diesen geben wir natürlich den Vorrang, wenn wir das gutheißen können. Andere liegen uns generell vor, zum Beispiel sucht Professor Kozaky aus der Maschinenstadt immer einen Gehilfen. Da er ein verrückter Wissenschaftler ist, wäre jemand wie Sorc gut geeignet, denn sein Körper besitzt die nötige Widerstandskraft.“ „Ah... okay.“ Crimson fragte lieber nicht nach. Belial blickte auf einen Punkt in der Luft und rieb sich das Kinn. „Hmmm. Für diesen Klienten haben wir noch ein Gesuch der Harpyien vorliegen... ich glaube vom Schwarm des Wolkenberges, kann mich aber irren. Harpyien pflanzen sich mit beliebigen männlichen Individuen fort, um eine Harpyie zu gebären. Männer sind in ihrer Spezies sehr selten. Sorcs Aufgabe wäre also die Aufstockung der Population.“ Lustsklave, dachte Crimson, doch er ließ seinen Gast weiter reden und nickte nur. „Lord Arae kann einen Bediensteten gebrauchen. Dann hätten wir das Kristallschloss, wo eine Stelle als allgemeiner Helfer zu besetzen wäre... ähnlich wie bei Euch.“ „Was? Das Kristallschloss?“ Diese Information erstaunte Crimson. Aber danach konnte er die Schlossherren selbst fragen, denn etwas anderes erregte noch mehr seine Aufmerksamkeit. „Moment... Lord Arae? Ist das nicht der mit dem Artefakt?“ „Der Geschädigte in diesem Prozess, ja. Er hat sich bereits bei Sorcs letzter Anklage beworben, genau wie die meisten anderen.“ „Aber... dahin könnt ihr ihn doch nicht wirklich schicken!“ „Ich bin sicher, mein Kollege würde diese Sache ganz neutral behandeln, wie gesagt hat er sich ja nicht erst jetzt beworben, deshalb schließe ich Rache als Motiv aus.“ „Inzwischen könnte er aber neue Motive haben!“ „Der Zirkel wird diese Möglichkeit bei seiner Entscheidung sicherlich bedenken. Wollt Ihr nicht wissen, wer noch zur Wahl steht?“ „Äh... sicher.“ „Da wäre zum Einen die Fee Lucranda, sie sucht einen Gehilfen mit Alchemiekenntnissen, da sie nicht mehr so gut alles alleine machen kann. Dann das Volk der Meeresbewohner vom südlichen Inselgürtel... sie brauchen stets Körper, in denen sie ihren Geist an Land schicken können. Dies wäre sehr passend... Sorcs Körper verfügt über keine Seele und eignet sich damit hervorragend für die Zwecke dieser Leute.“ „Aber das Bewusstsein lebt noch in ihm!“ widersprach Crimson, dem es gruselte bei der Vorstellung, dass sein Freund von einem Meeresbewohner besessen werden könnte. „Sie werden ihn gut behandeln, während sie ihn nicht benutzen,“ versicherte der Marquis. „Ihr solltet Euch mehr darum sorgen, dass der Geheimbund der Necromanten den Zuschlag kriegen könnte. Bei denen ist es nicht ausgeschlossen, dass sie ihn um das ein oder andere Körperteil erleichtern. Sie haben nicht klar definiert, wofür sie jemanden brauchen; ein seelenloser Körper wäre gewiss auch für sie sehr interessant. Aber beruhigt Euch, uns liegen auch Bewerbungen von einzelnen Amazonen vor. Sie haben erklärt, dass sie sich eigentlich für den Sohn interessieren, aber auch mit dem Vater Vorlieb nehmen würden, zumal sie dann den Vorteil hätten, dass er sich ihnen nicht verweigern kann.“ Unwillkürlich stellte Crimson sich einen gefesselten Prinzen der Eisigen Inseln vor, auf dessen Unterleib eine Amazone saß, während weitere darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen. Er schob das Bild schnell weg. Dieses Schicksal wirkte gnädig, doch für einen stolzen Mann wie Soach wäre es nur schwer zu ertragen. „Ich habe ja ziemlich viel Konkurrenz,“ stellte er fest. „Wird mein Antrag denn überhaupt in Erwägung gezogen?“ „Selbstverständlich!“ versicherte sein Gast. „Es kommt nicht auf das Datum an, sondern auf die Umstände. Der Zirkel wird darüber urteilen, wo der Rehabilitand am besten aufgehoben wäre. Er soll zwar bestraft werden, indem er zu so einer Arbeit eingeteilt wird, aber die Hauptstrafe ist ja schließlich das Ausbrennen der Magie, daher werden wir auch sein Wohl im Blick haben.“ „Wenn es so ist, kann ich ja beruhigt sein,“ lenkte Crimson ein. „Das könnt Ihr,“ bestätigte der Marquis. „Wie ist denn sein Zustand? Er müsste sich nach einer Ruhepause gut erholen. Der Körper passt sich erfahrungsgemäß schnell an die neuen Umstände an.“ „So? Habt Ihr das schon oft beobachten können?“ „Aber ich bitte Euch, Direktor... dieses Thema wird doch schon ewig erforscht, und davon abgesehen habe ich tatsächlich persönliche Erfahrungen mit der Materie machen dürfen, ja. Allerdings kann es durchaus ein paar Tage dauern, abhängig von der körperlichen und seelischen Verfassung des Betroffenen.“ Crimson nahm die Information einfach nur zur Kenntnis. „Sorc befindet sich auf Anweisung meines Heilers noch zur Beobachtung auf der Krankenstation. Es schien ihm ganz gut zu gehen, als ich ihn das letzte Mal sah, aber möglicherweise verstellt er sich.“ Das wiederum schien Belial nicht zu überraschen. „Ja, das würde passen, ich habe ihn stets als einen Mann eingeschätzt, dem es wichtig ist, sein Gesicht zu wahren. So jemand ist nur ungern auf Hilfe angewiesen und zeigt auch nicht gern Schwäche. Doch er wird sich nun ein bisschen umgewöhnen müssen.“ „Ich bin sicher, er findet einen Weg,“ entgegnete Crimson. „Mein Heiler meinte schon, Sorc könnte ja Krieger werden oder Gelehrter, sowas in der Art.“ „Das will ich mal nicht ausschließen. Hier sind übrigens seine Waffen, die wir ihm abgenommen haben – nicht dass ich es noch vergesse...“ Belial reichte einen kleinen Lederbeutel über den Schreibtisch und erhob sich. „Ich muss mich jetzt verabschieden.“ Das war Crimson auch ganz recht. Er begleitete den Mann höflich bis zum Haupttor, aber hauptsächlich, um sicher zu gehen, dass er nicht heimlich zur Krankenstation ging. Auch wenn die Leute vom Zirkel stets einen ehrbaren Eindruck machten, konnte man nie wissen, und derartigen Besuch wollte er Soach jetzt nicht zumuten. Da er nun schon einmal in der Nähe war, ging Crimson nicht gleich in sein Büro zurück, sondern eben dahin, wohin er Belial nicht gelassen hatte. Er verspürte eine leichte Unruhe – vielleicht wusste Soach von dem Besuch. Doch bevor Crimson sein Ziel erreichte, landete ein Drache vor dem Tor – er kehrte um und sah nach, wer ihn besuchte. Schon nach wenigen Sekunden hatte er die Information von Cathy, und dann kam ihm auch schon der Chaosmagier von Burg Drachenfels entgegen. Für Blacky, genau wie für alle Kinder von Soach, stand das Tor des Schlosses immer offen. Crimson wurde Zeuge, wie der Besucher mit dem Schlossherz sprach: „Sag ihm nicht, dass ich hier bin. Er soll keine Zeit haben, sich auf mich vorzubereiten, denn er muss sich vor mir nicht verstellen.“ „Das macht er trotzdem,“ prophezeite Cathy. Crimson begrüßte seinen Gast. „Blacky... willkommen. Weißt du, was mit deinem Vater passiert ist?“ „Unterschätze nie die Kommunikation zwischen Schlossherzen. Draconiel hielt es für angebracht, mir genau zu schildern, was für ein Schock das für Cathy gewesen sein muss.“ Der Schwarzhaarige strich mit einer Hand tröstend über den Rücken des Geistes, etwas, das auch Soach manchmal machte. „Draconiel findet es unverantwortlich, dass du das nicht verhindert hast, er lässt dir ausrichten, dass du in seiner Achtung jetzt ganz unten stehst, bla, bla, bla. Nicht dass er jemals einen Menschen besonders geachtet hätte.“ Meras, die große Schlosskatze, kam aus einem Gang auf Blacky zu gestürmt und warf sich mit der Schulter gegen seine Hüfte. Als der Magier anfing, sie im Nacken zu massieren, schnurrte sie so laut, dass es von den Wänden widerhallte. Dabei strich sie immer wieder um ihn herum und stieß ihn mit der Nase an. Obwohl das ein vertrauter, erfreulicher Anblick war, erfüllte er Crimson mit Trauer. „Meras hat Soach immer geliebt, weil er so viel magische Energie zu geben hatte...“ Blacky blickte auf. „Du denkst, sie mag ihn jetzt nicht mehr? Lass uns einfach nachsehen. Komm mit, Meras.“ Blacky betrat die Krankenstation des Schlosses mit gemischten Gefühlen. Sein Vater wollte ihn jetzt vielleicht nicht sehen. Andererseits empfand er es als seine Pflicht, ihm in dieser Lage beizustehen, auch wenn in dieser Familie das Beschützen eines anderen normalerweise vom Älteren zum Jüngeren ging. Aber wen interessierte schon normalerweise. Als Chaosmagier setzte sich Blacky gerne mal darüber hinweg. Das konkrete Problem der ausgebrannten Magie störte ihn seltsamerweise nicht. Blacky glaubte daran, dass es so etwas wie Heilung gab, und er vertraute darauf, dass auch Soach es so sah. Allerdings machte er sich klar, dass Heilung manchmal darin bestand, den Verlust zu akzeptieren. Wie auch immer es ausging, Soach würde in der Übergangsphase jede Hilfe gebrauchen können. Als sie das Ziel erreichten und sich dem Bett näherten, sprang Meras sofort darauf und fing an, den Patienten zu beschnüffeln. Soach öffnete die Augen einen Spalt breit. Meras maunzte ihn an und leckte zaghaft sein Kinn. Er hob schwerfällig eine Hand und streichelte die Katze an den Ohren, was sie sich schnurrend gefallen ließ. „Siehst du... kein Problem für die Kleine,“ sagte Blacky zu Crimson. Sie traten gemeinsam näher. „Hallo, Papa.“ Soach schaute stirnrunzelnd zur Seite. „Kay?“ Er schaffte ein kleines Lächeln. „Muss ich meine Magie verlieren, damit du mich so nennst?“ Sein Ältester zog Meras von ihm herunter, so dass sie neben ihm zu liegen kam und nicht mehr mit ihrem Gewicht auf ihm. „Nun... wie ich erfuhr, willst du nicht mehr Sorc genannt werden. Ich könnte Soach zu dir sagen, aber ich weiß, dass es nicht dein Wunsch wäre.“ „Also entscheidest du dich für Papa, weil du Vater immer zu Talimecros gesagt hast?“ Blacky zuckte mit einer Schulter. „Papa ist viel persönlicher.“ „Ja... finde ich auch,“ murmelte Soach. Blacky hatte den Eindruck, dass es ihm schwerfiel, die Augen offen zu halten. Noch nie hatte er ihn so bleich gesehen. Die Haut erinnerte ihn an das fahle Mondlicht in der Welt des Blauen Lichts. Die Haare klebten strähnig am Kopf und auf der Stirn glitzerte ein feiner Schweißfilm. „Etwas stimmt mit dir nicht,“ teilte er ihm mit. „Deine Aura ist zu schwach, selbst für einen frisch ausgebrannten Magier. Sie erinnert eher an einen Sterbenden...“ „Wenn ich doch noch sterben muss, hätte ich mir das Ritual ersparen können,“ murmelte Soach. „Sogar eine Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen kann nicht viel schlimmer sein. Schließlich bringt sie dich beizeiten um.“ Er wandte seinen Blick Crimson zu. „Hättest du mich nicht vorwarnen können? Ich hasse es, Besuch zu kriegen, wenn ich schlafe. Ich muss schrecklich aussehen. Konnte mich in letzter Zeit nichtmal richtig waschen.“ Crimson grinste. „Wir haben dich auch nur ungern geweckt, aber Meras war eben schneller.“ „Wie spät ist es?“ „Früher Nachmittag.“ „Wie bitte? Ich hab doch nur kurz die Augen zugemacht. Außerdem fühle ich mich, als wäre das gerade vor fünf Minuten gewesen...“ „Eher vor fünf Stunden. Hast du Hunger?“ fragte Crimson. „Nicht so wirklich...“ antwortete Soach zögernd. Fast schlief er schon wieder ein, doch Meras krallte seinen Arm und holte ihn zurück in den Wachzustand. Crimson befühlte seine Stirn. „Du könntest ein bisschen Fieber haben. Ich gehe mal nachsehen, ob Lily oder Vindictus hier ist.“ „Als ob du das nicht durch Cathy erfahren kannst,“ bemerkte Soach, aber Crimson ging trotzdem. Blacky vermutete, dass er ihm einen Moment allein mit seinem Vater gönnen wollte. Und mit Meras, um genau zu sein. „Es ist gut zu sehen, dass du hier in guten Händen bist,“ begann er. „Aber auch deine Familie wird für dich da sein, ob es dir passt oder nicht.“ Die letzte Bemerkung brachte erneut ein kleines Lächeln auf Soachs Gesicht. „Warum sollte es mir nicht passen?“ „Weil du ein störrischer Prinz der Eisigen Inseln bist. Aber ich bin dein Sohn und genau so störrisch. Ich werde hier sein, bis du mich nicht mehr brauchst. Ich bin deine Magie, so lange du keine eigene hast.“ Soachs Augen weiteten sich. „Kayos... du kannst nicht wegen mir deinen Partner vernachlässigen. Für jedes Kind kommt die Zeit, sich von den Eltern abzuwenden und eigene Wege zu gehen, und in deinem Fall...“ Blacky hielt ihm einen Finger vor den Mund und brachte ihn zum Schweigen. „Für Eltern kommt auch manchmal die Zeit, Hilfe von ihren Kindern anzunehmen. Natürlich hast du Crimson an deiner Seite, aber normalerweise stützt er sich auf dich, nicht umgekehrt. Ich dagegen kenne mich in der Rolle des treuen Helfers gut aus, daher werde ich überwachen, ob er der Aufgabe gewachsen ist.“ Sein Vater diskutierte nicht weiter, und das hätte Blacky auch gewundert. Chaosmagier stellen keine Fragen, wenn die Umstände zu ihren Gunsten ausfallen. In diesem Fall allerdings überwog seine Besorgnis, ob Soach vielleicht einfach nur zu erschöpft war. Er dachte schon, der Ältere wäre eingeschlafen, als dieser seinen Unterarm ergriff. „Kayos... könntest du etwas für mich tun?“ „Na sicher.“ „Lenke Lily für eine Weile ab. Eine Stunde oder so. Ihr könntet zusammen mit Meras an den Strand gehen... sie hat auch etwas zu erzählen.“ Blacky runzelte verwundert die Stirn. „Du benimmst dich verdächtig.“ „Ich muss etwas mit Vindictus besprechen. Er ist gerade auf dem Weg hierher. Lily soll sich nicht aufregen.“ „In Ordnung...“ Soachs Gestalt sackte in sich zusammen, als hätte er eine letzte Aufgabe erfüllt. „Gut... und, Kayos, ich werde mich bemühen, nicht zu sterben. Andernfalls hätte ich mich vor dem Ausbrennritual dafür entschieden.“ Blacky nickte verstehend. „Das freut mich. Also ich meine... dass du dich nicht aufgegeben hast.“ „Das würde all meinen Prinzipien widersprechen. Allerdings wünschte ich mir während des Vorgangs oft, dass es vorbei ist, egal wie... dass einfach die Schmerzen aufhören...“ Soach schloss für einen Moment die Augen und ließ Blackys Arm los. „Geh jetzt, Kay. Sonst kann ich meine Rolle als starke Vaterfigur bald nicht mehr wahrnehmen, sondern verliere vor dir die Beherrschung.“ „Wenn du das offen sagst, muss es wirklich schlimm sein.“ Blacky strich ihm übers Haar. „Ich verlasse das Gelände nicht. So wirst du wissen, wo ich zu finden bin.“ Sodann begab er sich zum hinteren Bereich der Krankenstation, wo Lily in ein Gespräch mit Crimson vertieft war. Beide verfielen jedoch in Schweigen, als er dazu kam. Die Fee wirkte mit ihren geröteten Augen sehr mitgenommen. „Stimmt es, dass du mir etwas zu erzählen hast?“ fragte Blacky sie. „Wie wär's, ich wollte gerade mit Meras an den Strand gehen, komm doch einfach mit.“ Lily warf einen Blick auf Crimson, dann wieder auf ihn. „Naja... okay.“ Sie folgte ihm, aber an Soachs Bett blieb sie kurz stehen. Er schien eingeschlafen zu sein, und so sprach sie ihn nicht an. Meras sprang vom Bett und lief den beiden nach. Als sie die Krankenstation verließen, betrat Vindictus sie gerade mit ernster Mine. „Komm mit nach hinten, Jungchen.“ Der untersetzte Magier winkte Crimson, ihm zu folgen. Sie verzogen sich in den hintersten Bereich der Krankenstation, dorthin, wo die Alchemistenarbeitsplätze waren. Der Alte rieb sich das Kinn. „Ich mache mir Sorgen. Soach geht es heute schlechter als erwartet.“ „Nun ja... ihn hat es eben schwer getroffen. Das ist sicher kein Wunder, oder?“ Das hoffte Crimson jedenfalls. „Was genau... stimmt denn nicht?“ „Offensichtlich hat er Fieber. Als ich ihn vorhin untersuchte, schien er mich kaum zu bemerken. Eigentlich hätte er sich nach einer ordentlichen Nachtruhe ein bisschen erholen sollen. Aber sein Zustand verschlechtert sich rapide. Gut, mir war klar, dass er einen Sonderfall darstellt, typisch Chaosmagier. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht... Ich nehme an, dass sein Körper verzweifelt versucht, den Merasbestand aufzufüllen. Das ist ein natürlicher Vorgang für einen Magier, nur dass Soach kein Magier mehr ist – der Ort, wo sein Meras gebildet wird, ist zerstört. Oder fast. Er funktioniert nicht mehr richtig, und deshalb wird er so lange völlig vergeblich Soachs Lebenskraft verbrauchen, bis keine mehr bleibt. Ich gebe ihm noch maximal bis heute Abend.“ „Kann man denn nichts dagegen tun?“ fragte Crimson entsetzt, ahnte aber im gleichen Moment, worauf das hinaus lief. „Oh nein. Bestimmt... muss das Haus fallen, nicht wahr? Der Ausbrennvorgeng muss vollendet werden.“ Vindictus seufzte und blickte auf seine Hände. „Scheint so. Ich, ähm... wusste es eigentlich. Mir war klar, dass es Probleme geben würde, aber ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde. Es hätte ja auch sein können, dass jemand wie er... es irgendwie schafft. Nun ja. Einen Patienten bewusst einem solchen Risiko auszusetzen, gehört sich eigentlich nicht. Aber als Necromant denke ich etwas anders. Es war eine große wissenschaftliche Gelegenheit, diesen Fall zu erforschen.“ Crimson fühlte Panik in sich aufsteigen. Sollte er seinen Freund erneut Cosmea oder Thaumator aussetzen? Konnte er rechtzeitig einen der beiden herschaffen? „Bleibt uns denn überhaupt genug Zeit, um... alles in die Wege zu leiten?“ „Da gibt es nichts in die Wege zu leiten. Ich kann es tun,“ sagte Vindictus. „Was?“ Crimson starrte ihn überrascht an. Der Alte setzte einen milde amüsierten Gesichtsausdruck auf. „Das wusstest du nicht, was? Auch Soach wusste es bis gestern nicht. Aber er hat mich auch nie zuvor gefragt.“ „Darüber brauchen wir wohl nicht zu diskutieren,“ bemerkte Crimson. Er atmete tief durch, denn die nächsten Worte fielen ihm nicht leicht. „Wenn du ihm helfen kannst, dann... solltest du es wohl tun.“ „Ich habe gehofft, dass du so denkst,“ nickte Vindictus. „Ich brauche wahrscheinlich deine Hilfe dafür. Sicherlich weißt du, dass jeder starke Geist einen Heiler abwehren kann, ebenso einen Ausbrenner. Aus diesem Grund kommen bei einer Ausbrennung zahlreiche Bannzauber zum Einsatz, die den Widerstand des Opfers brechen. Aber den Aufwand können wir uns vielleicht ersparen, denn ich glaube, dass Soach gegen dich nicht ankämpfen wird.“ Da musste Crimson ihm Recht geben. „Aber... er vertraut mir. Soll ich ihn so hintergehen?“ „Jetzt hör mal zu, Jungchen. Du bist mit Soach auf eine mehr als brüderliche Art verbunden. Du warst gestern in seiner schwersten Stunde bei ihm. Glaubst du nicht, dass er es verstehen wird? Vertrauen muss Krisen aushalten. Du willst doch sein Leben retten, oder?“ Crimson rang mit sich. Er überlegte, ob sich nicht zum Beispiel Blacky oder Fire besser für diese Aufgabe eignete, oder sonst jemand, der Soach nahe stand. Doch im Prinzip kannte er die Antwort schon. Soach hielt stets eine schützende Hand über seine Nachfahren, und ansonsten stand ihm von den anwesenden Personen nur noch Lily besonders nahe. Sie war denkbar ungeeignet, gerade weil sie ihm nahe stand. „Dein Sohn warnte mich, dass ich starke Nerven brauchen werde,“ sagte er zu Vindictus. „Also... erkläre mir bitte, was ich tun kann.“ Kapitel 6: Ruinen der Magie --------------------------- Crimson hatte sich das Haus größer vorgestellt. Aber es handelte sich um ein schnuckeliges kleines Ding ohne Obergeschosse, bestenfalls geeignet für eine kleine Familie. Und aus irgendeinem Grund war es rund oder zumindest oval, ohne richtige Kanten. Die ursprüngliche Farbe ließ sich schwer erahnen, denn natürlich war es ausgebrannt und deswegen baufällig. Das Dach fehlte fast völlig. „Das reichte mal aus, um alles Wissen eines Magiers wie Soach unterzubringen?“ staunte der Weißhaarige. „Es kommt nicht auf die Größe an. Wenn eine Gruppe von Schülern eine Seite zu einem Thema schreiben soll, hat auch jeder am Ende unterschiedlich viele Wörter, weil alle anders schreiben. Manche Magier beschränken sich auf das Wesentliche,“ erläuterte Vindictus neben ihm. Der alte Heiler zeigte sich auf der Astralebene als Jugendlicher, weshalb Crimson aufpassen musste, dass er ihn nicht anstarrte. Er rief sich seine Aufgabe in Erinnerung und näherte sich dem Haus. Soach, in Gestalt eines Kindes von vielleicht acht Jahren, saß im Inneren in der Asche, die Arme um seine Knie geschlungen, und bot ein Bild des Jammers. Sein Gesicht war nicht zu sehen, denn die Stirn lag auf seinen Armen. Eine Hand zeigte üble Verletzungen. Crimson näherte sich ihm und fragte sich, ob der Junge ihn überhaupt bemerkte. Vindictus wartete vor der nicht mehr vorhandenen Tür. „Es gehört sich nicht, in die Astralwelt eines anderen einzudringen und dessen Heiligtum zu betreten,“ sagte der Junge, ohne sich zu rühren. „Mag sein,“ räumte Crimson ein. „Aber für mich machst du sicher eine Ausnahme, oder?“ Der Kleine blickte zögernd auf. Sein schulterlanges Haar fiel ihm ins Gesicht. Verbarg er Tränen? Crimson fühlte sich schuldig, besonders im Hinblick auf das, was er noch zu tun gedachte. Obwohl er wusste, dass diese Gestalt nur hier existierte und der Junge eigentlich längst ein Mann war, erwachte in ihm der Beschützerinstinkt. „Ich weiß, was du hier willst,“ murmelte Soach mit anklagender Stimme. „Dann kommst du freiwillig?“ erkundigte Crimson sich. Eine rein rhetorische Frage. Soach antwortete ihm dementsprechend auch nicht. „Was ist mit deiner linken Hand passiert?“ fragte Crimson weiter, um das Gespräch in Gang zu halten. „Ich habe nicht aufgegeben,“ erklärte das Kind kryptisch. Crimson konnte nur vermuten, wie Soachs Kampf, den er von außen beobachtet hatte, hier auf der Astralebene ausgesehen haben mochte. Bei näherem Hinsehen entdeckte er Ruß und Asche überall auf der kleinen Gestalt. Die Kleidung war beschädigt und sah schäbig aus. Die blaue Haut wies gerötete Stellen auf. „Komm mit mir vor die Tür, wir können dort weiter reden,“ schlug er vor. Der Junge kam umständlich auf die Füße, doch statt das Haus zu verlassen, wich er weiter nach hinten zurück und hob in einer Geste der Aufmüpfigkeit das Kinn. „Ich gehe nicht raus.“ Und sie wussten beide, warum er sich weigerte, obwohl Soachs Leben davon abhing. Seine Magierseele konnte dies nicht geschehen lassen, deshalb brauchte er jemanden, der ihn dazu zwang – eine Rolle, die Crimson missfiel. „Ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg,“ teilte er dem Kind mit. „Aber du hast keine Zeit mehr. Komm...“ Er hielt ihm seine Hand hin. Der Junge wich bis gegen die Wand zurück. „Ich komme nicht mit! Geh weg!“ „Du musst und du weißt es.“ Crimson überwand die restliche Entfernung, packte ihn am rechten Oberarm und versuchte, ihn zum Ausgang zu ziehen. Soach stemmte sich dagegen. „Nein! Wenn ich das Haus verlasse, macht ihr es kaputt!“ Das war nur eine Frage der Zeit. Crimson zog es vor, dass es früher passierte statt später. Er schnappte sich das unwillige Kind, warf es sich über die Schulter und marschierte hinaus. Soach sträubte sich, zappelte, schlug und trat um sich. „Lass mich runter! Ich will nicht! Du hast kein Recht dazu!“ Seine Fäuste trommelten auf Crimsons Rücken, und als das nichts brachte, versuchte er zu kratzen, zog an den weißen Haaren und versuchte, mit Knien und Füßen empfindliche Stellen zu treffen. Doch der Magier blieb hart. Er beeilte sich, Abstand zum Haus zu gewinnen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Vindictus sich bereit machte, dem Gebäude den letzten Schlag zu verpassen. Soach, der über Crimsons Schulter zurück blicken konnte, musste ihn auch gesehen haben. Er sog hörbar die Luft ein und verstärkte seine Gegenwehr. „Wag es nicht, dich an meinem Haus zu vergreifen! Hörst du, Vindictus? Crimson, lass mich los!“ Crimson hielt ihn mit aller Kraft fest. Als er glaubte, weit genug weg zu sein, drehte er sich um, damit das Kind in eine andere Richtung blickte. So wurde er selbst Zeuge, wie das Bauwerk in einer flammenden Explosion verging, bis nicht einmal Mauerreste übrig blieben. Der Vorgang dauerte nur wenige Sekunden. Neben seinem Ohr schrie klein Soach hysterisch auf. Crimson ließ ihn hinunter und ging vor ihm in die Hocke, um ihn zu trösten. Der Junge schubste ihn, doch es war kaum Kraft dahinter. „Fass mich nicht an!“ Crimsons Hand schnellte vor und bekam den rechten Oberarm zu fassen. Er zog Soach zurück in seine Arme, wobei er gnadenlos ausnutzte, dass er ihm in seiner erwachsenen Gestalt körperlich überlegen war. „Es tut mir so Leid,“ sagte er leise, streichelte mit zittrigen Fingern über das staubige schwarze Haar. „Ich weiß,“ entgegnete Soach mit schwacher Stimme. Inzwischen fiel die Gegenwehr auch eher dürftig aus und hörte dann auf. Crimson war froh, dass er ihm gerade nicht in die Augen blicken musste. „Ich habe das Gefühl, dich hintergangen zu haben.“ „Das war nötig,“ versicherte Soach ihm. „Ich wollte mit Vindictus reden, weil ich es schon ahnte... aber ich konnte nicht. Es ging schließlich um meine Magie... ich hätte ihn nie darum bitten können... und ich kann auch jetzt nicht aufgeben, Crimson... ich kann meine Magie nicht aufgeben.“ Zum Schluss wurden die Worte immer leiser, so als wüsste er selbst, wie sinnlos seine Haltung war. Es gab keine Magie mehr, um die er kämpfen konnte. Er musste den Verlust akzeptieren und einen neuen Sinn im Leben finden. Noch während Crimsons Gedanken sich in diese Richtung bewegten, spürte er Soachs Trotz gegen sein Schicksal. Vielleicht war der Prinz deswegen noch ein Kind in seiner Gedankenwelt – jemand, der die Realität nicht mit der Logik eines Erwachsenen bewertete, sich gängigen Regeln widersetzte und noch an Wunder glaubte. Crimson wollte ihm sagen, dass er aufwachsen und den Tatsachen ins Auge sehen musste, aber er brachte es nicht übers Herz. Vindictus hatte nicht erwartet, dass er auf seine alten Tage noch einmal bedauern würde, jemanden ausbrennen zu müssen. Dabei beschränkte sich sein Anteil auf die Vollendung des Vorgangs. Er hatte tatsächlich gehofft, dass Soach aus den Ruinen seines Hauses noch etwas machen konnte, was für einen alten Heiler und Necromanten ein hervorragendes Forschungsprojekt gewesen wäre. Er hätte der Nachwelt ein Buch zu dem Thema hinterlassen können, denn bisher gab es kein Werk von ihm, das ihn überdauern würde. Wünschte sich nicht jeder, dass etwas von ihm blieb, wenn er ging? Nun ja. Im Prinzip hatte er vor über zehn Jahren derartige Ambitionen aufgegeben, aber ein Mann durfte träumen. Viele meinten ihre Kinder, wenn sie davon sprachen, etwas zu hinterlassen. Da konnte er sich nicht beklagen. Es war schön, mit Ujat an der selben Schule zu arbeiten und ihn um sich zu haben. Fast monatlich kam irgendjemand aus seiner Familie zu Besuch und Vindictus bekam Gelegenheit, seine Qualitäten als Großvater und Urgroßvater zu erproben. Ironischerweise stellte er manchmal fest, dass inzwischen sogar der aufmüpfige Jungspund und der idiotische Chaoshexer einen wertvollen Platz in seinem Herzen einnahmen. Im Grundsatz war er mit seinem Lebensabend ganz zufrieden. Während er darauf wartete, dass einer der beiden die Augen aufschlug, überprüfte er den generellen Gesundheitszustand seines Patienten. Soachs Atmung beruhigte sich allmählich wieder und auch der Herzschlag nahm einen gemäßigten Rhythmus an. Der Körper konzentrierte sich nun nicht mehr auf Merasproduktion, sondern auf Selbsterhaltung. Die Umstellung ging erstaunlich schnell, so als hätte der Organismus bisher wissentlich etwas Gesundheitsschädliches getan und hörte jetzt damit auf, da keine Möglichkeit mehr bestand. „Vollidiot,“ murmelte Vindictus mit einem nachsichtigen Lächeln. In gewisser Weise konnte er es ja schon verstehen. Weiter hinten im Schrank klirrten Glasgefäße gegeneinander, als das Schloss von einem leichten Beben erschüttert wurde. Die Steine der alten Mauern rieben sich knirschend aneinander. Vindictus verspürte einen unerklärlichen Adrenalinschub. Generell lag seit ein paar Tagen eine gewisse Spannung und Unruhe in der Luft, aber seit Soachs Ausbrennung spürte es selbst der unsensibelste Bewohner ganz deutlich. Das Schloss reagierte auf das Leid seiner Seele. Der alte Magier fand das nicht einmal überraschend, zumal Soach selbst niemals zeigen würde, dass es ihm schlecht ging. Das Schloss jedoch wusste nicht, wie es sich verstellen sollte. Es konnte nicht so tun, als wäre alles in Ordnung, nicht lächeln, wenn ihm zum Weinen zumute war. Vindictus ließ die Stimmung auf sich wirken. Vielleicht kann ich doch noch ein Buch zu einem noch nie behandelten Thema schreiben, überlegte er. Auf der anderen Seite des Bettes schreckte Crimson aus seinem tranceähnlichen Zustand hoch und kippte fast vom Stuhl. Er hatte die ganze Zeit kameradschaftlich Soachs Hand gehalten und ließ sie auch jetzt nicht los. Hätte Vindictus es nicht besser gewusst, hätte er die zwei für ein Pärchen gehalten, oder für enge Verwandte. „Ich lasse ihn schlafen,“ teilte er dem Schlossherrn mit. „Er braucht die Ruhe. Wenn er aufwacht, sieh zu, dass er was trinkt und isst.“ „Natürlich. Ich kümmere mich darum.“ Das Erlebnis hatte Crimson offenbar sehr mitgenommen. Ihm konnte man es ansehen. „Soach hat mir immer Kraft gegeben... dabei wirkt er als Kind in seiner Astralgestalt so... verletzlich.“ „Das täuscht. Immerhin hat dieses Kind einem Ausbrenner getrotzt... wenn auch vergeblich. Du als Schlossherr, der mit Soachs Seele verbunden ist, solltest am besten wissen, wie es um ihn steht. Sei wachsam. Die Großen fallen am tiefsten.“ Vindictus kletterte von seinem Stuhl und zog sich taktvoll zurück. Crimson blieb bei Soach sitzen, aber er spürte, dass dessen Bewusstsein den Körper verlassen hatte, um sich zum Schlossherz und damit zu seiner Seele zu gesellen. Das geschah häufig, wenn der Chaoshexer schlief... der ehemalige Chaoshexer. Nun war es wohl an der Zeit, sich den Tatsachen zu stellen, es gab nichts mehr, was noch erledigt werden musste. Keine Ablenkung mehr. Der Schlossherr vermutete, dass der emotionale Schmerz, den er spürte, nicht der seine war. Zu eng war die Bindung zu Soach, als dass er sich hätte davon distanzieren können. Auch Cathy litt, und sein Körper, das Schloss selbst, zeigte Symptome seelischen Leidens. Der Geist beschwerte sich nicht. Stillschweigend reparierte er Schäden, die durch Soachs Verfassung entstanden. Hochstende Bodenfliesen bildeten da noch das kleinste Übel. In der Küche fiel fast ein Hängeregal von der Wand. Zahlreiche Fenster ließen sich kaum öffnen und schließen oder wurden undicht, weil sich der Rahmen verzog. Zwei der bunten Scheiben splitterten tatsächlich. Im großen Bad entstand ein großer Sprung in der Bodenverzierung. Ein Treppengeländer wackelte gefährlich. Crimson wusste, dass es an ihm war, die nötige Stärke aufzubringen, um Stabilität in das Konstrukt zu bringen. Doch er hatte sich lange auf Soach verlassen, der ihm nun nicht mehr helfen konnte, sondern im Gegenteil, seinen Beistand brauchte. So wie er Soach kannte, wollte dieser niemanden belasten, doch es gehörte mehr dazu, als ein falsches Lächeln aufzusetzen. Das täuschte vielleicht einen Außenstehenden, aber niemanden, der ihm nahe stand. Soach machte es sich leider immer unnötig schwer, weil er zu stolz war und nicht gerne Hilfe annahm. Crimson schloss die Augen und atmete ruhig. Sein Geist wanderte in die Schlossmauern und prüfte die Situation, wie er es als Schlossherr regelmäßig tat. Doch dieses Mal suchte er außerdem den anderen Geist. Normalerweise gab Soach sich ihm zu erkennen oder kam ihm sogar entgegen, doch dieses Mal verbarg er sich. Crimson verzichtete darauf, ihn aufzuspüren, zumal er selbst spürte, das er in dieser Angelegenheit an seine Grenzen stieß. Wenn er er Starke sein sollte, brauchte er ein bisschen Ruhe. Er ließ Soach wissen, dass er für ihn da war, falls er ihn brauchte. Die Botschaft wurde nicht in Worten übermittelt, sondern als eine Art Empfindung. Diese Art der Kommunikation war Crimson bis zur Beseelung seines Schlosses völlig unbekannt gewesen, dennoch hatte er nie groß darüber nachgedacht. Dieses Mal erhielt er keine Antwort, obwohl er sonst immer das Gefühl bekam, dass Soach ihn verstanden hatte. Doch jetzt schien es, als wäre der andere gar nicht mehr da. Crimson seufzte und kehrte mit seinem Bewusstsein in die materielle Welt zurück. Wahrscheinlich wollte Soach nur eine Weile nachdenken und seine Gefühle unter Kontrolle bekommen. Letzteres musste Crimson durchaus auch. [Da ist Besuch in deinem Büro,] meldete Cathy ihm. [Es ist dein Vater.] [Shiro?] Überrascht schlug Crimson die Augen auf. [Ich komme sofort.] Er legte Soachs Hand auf dem Laken ab und stellte sicher, dass mit dem schlafenden Mann alles in Ordnung war, ehe er sich von seiner Seite entfernte. Er fand, dass das Gesicht schon eine bessere Farbe angenommen hatte. Zwar befand sich Soach nicht zum ersten Mal in einem dieser Krankenbetten, aber selbst mit einer lebensgefährlichen Schwertwunde vor fast einem Jahr hatte er nicht so schlecht ausgesehen. Wenigstens schwebte er nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr. Crimson eilte zu seinem Büro. Die Aussicht, seinen Vater zu treffen, beflügelte seine Schritte, handelte es sich doch um den Mann, dem er neben Soach am meisten vertraute. Bei ihm scheute er sich nie, Schwäche zu zeigen oder um Hilfe zu bitten. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wunderte er sich, wann es dazu gekommen war, dass er einen ehemaligen Feind als so vertrauenswürdig einstufte wie seinen Vater. Vor allem, weil er das nicht erst seit der Beseelung tat. Die Tür schleifte wohl neuerdings auf dem Boden, so dass er sich fast den Kopf anstieß, als er sie öffnen wollte. Ohne weiter darauf zu achten, presste er sich durch den Spalt. „Paps!“ Shiro erhob sich von einem der Sessel in der Sofaecke und breitete die Arme aus, in die er dann seinen Sohn schloss, der die Umarmung mit Nachdruck erwiderte. „Du kommst wie gerufen, Paps,“ sagte Crimson dann. „Aber sag mir zuerst, was dich herführt.“ Shiro tätschelte ihm den Rücken, ehe er von ihm abließ. „Du. Ich bin gekommen, um nach dir zu sehen, nachdem ich erfuhr, was hier passiert ist.“ „Oh... ja, du hast es durch die Schlossherzen erfahren, nicht wahr? Da fällt mir ein, ich habe Onkel Kuro noch gar nicht gesehen, seit ich wieder hier bin...“ „Ich habe ihn gebeten, mit mir die Plätze zu tauschen. Er stimmte sofort zu und kam ins Kristallschloss, da er eh etwas in der Bibliothek nachsehen wollte. Ich nahm seinen Drachen und flog hierher.“ „Seltsam, er hat mir nichts gesagt. Aber Hauptsache, du bist jetzt hier.“ Crimson nahm auf dem Sessel neben seinem Vater Platz. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich tun soll, Paps. Mein Schloss leidet mit Soach, und ich kann nichts daran ändern. Ich bin... nicht stark genug.“ Shiro lächelte verstehend. „Dafür schlägst du dich aber recht gut, wie mir scheint. Ich weiß, dass du Saoch als deine Stärke betrachtet hast, aber du warst es, der ihm Vertrauen geschenkt hat, als die meisten anderen gegen ihn waren. Möglicherweise bist du dir nicht im Klaren darüber, was es für einen Mann bedeutet kann, wenn du ihm diese Chance gibst. Er konnte deine Stärke sein, weil du ihn dazu gemacht hast.“ So hatte Crimson es noch nicht gesehen. „Ich weiß bis heute nicht, warum ich das tat... es erschien mir einfach richtig.“ „Dann solltest du auch weiterhin deinem Gefühl trauen,“ schlug sein Vater vor. „Und ich habe dich nicht zu einem Schwächling erzogen. Sonst hättest du nicht an Soachs Seite sein können, als er dich am meisten brauchte.“ „Du... weißt davon?“ „Ist ja nicht gerade ein Geheimnis. Außerdem hat mein Schlossherz Kontakt zu deinem... und meine Eltern waren dort, wie du weißt.“ „Allerdings. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Großmutter... dass sie sowas kann. Hast du mit ihr gesprochen?“ „Sie kam auf der Durchreise bei uns vorbei. Old Sage und dieser andere Magier, Thaumator, waren auch dabei. Wahrscheinlich kommen alle drei dich noch besuchen. Ich bestand jedoch darauf, dass sie sich bis morgen im Kristallschloss ausruhen, und konnte Kuro dazu überreden, dass er sie nicht vor einem reichhaltigen Frühstück weg lässt.“ „Danke, Paps. Aber warum erzählst du mir das?“ „Sie werden kommen, um zu prüfen, ob die Ausbrennung planmäßig verlaufen ist. Es kann wohl theoretisch vorkommen, dass irgendetwas übrig bleibt, was dann zu gesundheitlichen Problemen führt. Aber wenn so etwas der Fall wäre, hätte ich es vermutlich schon erfahren.“ Shiros Blick nach zu urteilen hatte er das, was wohl sein Verhalten gegenüber seinen Eltern erklärte. „Vindictus hat schon... er hat sich schon davon überzeugt, dass alles so ist, wie es sein soll,“ erklärte Crimson. „Er kann nämlich auch ausbrennen und ist der beste Heiler, den ich kenne. Dagegen wüsste ich nicht, dass Großmutter als Heilerin ausgebildet ist. Wie würde sie feststellen, ob alles planmäßig ist?“ Shiro zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Ich habe nicht gefragt.“ Crimson konnte sich das in etwa vorstellen: Sie würde in Soachs Astralwelt eindringen und nachsehen. „Großmutter soll mit Vindictus reden.“ „Ich fürchte, sie wird darauf bestehen, sich selbst davon zu überzeugen.“ „Das kann sie gerne versuchen.“ Shiro lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Mir gefällt, dass du so genau weißt, was du willst. Jetzt bleib bei deinem Standpunkt, auch wenn dich jemand bedroht.“ „Das hatte ich vor.“ „Siehst du, und du hieltest dich für schwach. Sagt Soach dir nicht immer, dass du nicht zweifeln sollst?“ „Nun... ja. Aber im Moment hat er eine etwas verzerrte Wahrnehmung. Er kann sich nicht eingestehen, dass seine Magie verloren ist. Soll ich ihm das ausreden oder ihn in dem Glauben bestärken, dass er sie zurück bekommt?“ „Du weißt besser als ich, was er braucht, mein Junge. Ich glaube, er muss nur erst den Schock überwinden.“ Crimson nickte nachdenklich. Dann fiel ihm etwas ein, was er seinen Vater fragen wollte: „Ach, sag mal... du hast dich für das Rehabilitationsprogramm beworben?“ „Wir. Das war Kuros Idee.“ „Ach!“ „Ja, ich glaube, am Anfang war es Rachsucht. Möglicherweise wäre es Soach sehr viel schlechter ergangen als hier, wenn wir ihn bekommen hätten. Falls er jetzt zu uns geschickt wird... nun, ich denke, da brauchst du keine Sorge mehr zu haben.“ Die Worte seines Vaters beruhigten Crimson etwas. Aber wie euch immer der Zirkel des Bösen entschied, er hatte da schon seinen Entschluss gefasst. Vielleicht hatte Shiro Recht und er war stärker, als er sich selbst einschätzte. Soach machte sich in diesem Moment vorsichtig wieder in seinem Geist bemerkbar. [Crimson... ähm, hast du gerade Zeit?] „Sicher, Soach... was gibt es?“ [Also... Kay und Lily sind auf dem Weg hierher. Ich wollte sie nicht beunruhigen und wach sein, wenn sie ankommen. Aber wie es scheint, hat Vindictus vorhin vergessen, den Fesselzauber zu beenden, mit dem er mich zur Sicherheit belegt hat. Kannst du herkommen und ihn ausschalten, bevor es peinlich für mich wird?] Crimson musste fast lachen. „Tut mir Leid, dass ich das witzig finde... ich komme sofort...“ Er stand auf. „Paps, ich muss auf die Krankenstation...“ „Ja, das dachte ich mir,“ bemerkte Shiro. „Schließlich hast du laut gesprochen.“ „Ups...“ „Du scheinst bessere Laune zu haben als vor unserem Gespräch. Ich werde Soach morgen besuchen, wenn er nichts dagegen hat.“ „Das hat er sicherlich nicht.“ Soachs Bewusstsein kehrte in seinen Körper zurück, als er sah, dass Blacky und Lily mit Meras von ihrem Spaziergang zurückkamen. Aber er konnte sich nicht bewegen, daher war er froh, dass Crimson schneller war als die Dreiergruppe. „Du siehst viel besser aus,“ stellte der Schlossherr fest. „Ist wohl kein Kunststück, wenn man am Rande des Todes war. Nun befrei mich schon.“ Crimson bewegte seine Hand durch die Luft über Soachs Körper, und der Fesselzauber wich von ihm. Soach rieb sich die bandagierten Handgelenke . So ein einfacher Bann hätte ihn früher nicht aufgehalten. Er ließ das mal unkommentiert und war froh, dass sein Magen in diesem Moment vernehmlich knurrte. „Ich besorge dir was zu essen,“ bot Crimson an. „Aber erwarte nichts Besonderes. Alle sind zur Zeit etwas angeschlagen.“ „Vielleicht... wäre es besser, wenn du die Bindung zu mir abbrechen würdest. Meine Gedanken und Emotionen beeinflussen das Schloss und seine Bewohner sonst zu sehr.“ Aber wenigstes fühlte er sich aufgefangen und geborgen in dieser Konstellation. Crimson drückte ermutigend seine Schulter. „Du weißt doch, dass ich das nicht machen werde. Ich weiß eigentlich auch gar nicht, wie.“ „Nun ja... ich musste es vorschlagen. Um das Schloss zu schützen. Aber ich wüsste auch nicht, wie das zu machen wäre.“ Cathy materialisierte sich neben Crimson auf der rechten Seite des Bettes. „Gar nicht! Was denkst du dir eigentlich?“ „Ich dachte nur, es wäre besser für dich... für die Bewohner...“ begann Soach. „Das hättest du dir vorher überlegen sollen, aber du hast mir deine Seele überlassen, damit bist du für immer gebunden! Merk dir das!“ schimpfte das Schlossherz. „Lieb von dir, Cathy,“ seufzte Soach. „Ich habe gehofft, dass du es so siehst.“ Der Geist schnaubte, verschränkte die Arme und reckte trotzig das Kinn vor. „Ist ja nicht so, als könnte ich es mir aussuchen. Aber Crimson würde wahrscheinlich sagen, dass wir einen Freund nicht fallen lassen, wenn er anstrengend wird.“ „Ja, so würde ich mich wohl ausdrücken,“ bestätigte der Schlossherr. „Ich bin sicher, dass du deinen Weg gehen wirst, wie steinig er auch sein mag. Und ich begleite dich.“ Soach fühlte sich fast zu Tränen gerührt, was zweifellos an seinem angeschlagenen Zustand lag. Er rang sich ein Lächeln ab und vermied es zu blinzeln. „Ihr seid unmöglich!“ „Kommt das Wort in deinem Vokabular vor?“ neckte Cathy ihn. „Sollte es eigentlich nicht.“ Allerdings erschien ihm sein bisheriges Motto in weiter Ferne. Zum Glück besaß Crimson genug Taktgefühl, dass er sich in die Küche verzog, so dass Soach Zeit hatte, sich über die Augen zu reiben, ehe sein Sohn und seine Geliebte eintrafen. Auch Meras war wieder mit von der Partie. Die große Katze sprang auf das Bett und legte sich ans Fußende, Soachs Beine wärmend. Lily kam auf ihn zugelaufen und nahm gleich sein Gesicht in beide Hände. „Soach! Du siehst viel besser aus, den guten Geistern sei Dank!“ „Ich fühle mich auch besser... glaube ich.“ Rein körperlich auf jeden Fall, und über das andere dachte er derzeit lieber nicht nach. Eins nach dem anderen. „Lilyschatz, kannst du mir einige zusätzliche Kissen besorgen, dass ich nicht so flach liege?“ „Sicher. Ich bin gleich zurück.“ Sie eilte zu einem der Schränke im hinteren Bereich. Kayos nutzte die Gelegenheit. „Was ist mit dir passiert?“ fragte er geradeheraus. „Du hast vorhin noch ausgesehen, als lägst du im Sterben!“ „Lass es dir von Crimson erklären,“ bat Soach ihn. „Ich möchte nicht darüber reden. Jedenfalls im Moment noch nicht.“ „Wie du meinst, Papa. Aber ich kann davon ausgehen, dass dieser Zustand anhält, oder?“ Soach nickte. „Dies ist kein letztes Aufbäumen vor meinem Tod, falls du das meinst.“ „Das beruhigt mich. Herzlichen Glückwunsch übrigens.“ Der Chaosmagier grinste und deutete mit dem Kopf in die Richtung, in die Lily verschwunden war. „Ich kriege ein Geschwisterchen, das mein eigenes Kind sein könnte.“ „Onkel wirst du auch,“ bemerkte Soach. „Aber mehr sage ich dazu jetzt nicht.“ „Ach, so viele Möglichkeiten gibt es da ja nicht.“ „Naja, doch... theoretisch schon. Schließlich hast du genug Brüder und Schwestern im paarungsfähigen Alter.“ „Aber nur wenige davon paaren sich auch regelmäßig.“ Nach dieser Bemerkung wurde Soach neugierig, woher Kay das so genau wusste, wurde jedoch von Lily abgelenkt, die ihm die gewünschten Kissen brachte. Dann kam Crimson mit dem Essen, und beim Anblick der Speisen übernahm in Soachs Hirn der Selbsterhaltungstrieb das Kommando. Er bekam am Rande mit, dass sein Sohn den Schlossherrn zur Seite nahm und leise mit ihm tuschelte, worauf die zwei sich zurückzogen – vermutlich ins Büro. Nun gut – sollte Crimson ihm ruhig mitteilen, was vorgefallen war. Das hatte er ja schließlich selber vorgeschlagen. Lily sah ihm zu, wie er eine Handvoll Gemüsestreifen, ein Stück Brot, eine Schale mit Brühe und drei Teile Obst verschlang. Dies befriedigte seinen Magen vorläufig, aber noch nicht vollständig. Er bat Cathy, in der Küche Bescheid zu sagen. „Du musst wirklich hungrig gewesen sein,“ murmelte Lily. Wahrscheinlich fiel ihr nichts Besseres zu sagen ein, aber das war ja legitim. Soach zögerte mit der Antwort und überspielte dies, indem er seinen Teebecher leerte. „Ja... aber vorher muss wohl die Erschöpfung stärker gewesen sein.“ Sie griff nach seiner Hand und schmiegte ihre Wange daran. „Ich hatte solche Angst, als du fort warst... wie sollte ich denn ohne dich mit dem Kind fertig werden? Weißt du... früher habe ich immer allen gesagt, dass ich gar keine will. Aber in Wahrheit wollte ich einfach nicht versagen. Meine Familie war bereits enttäuscht von meiner Berufswahl.“ „Ich dachte, Heilerin sei so ein typischer Feenberuf.“ „Ja, aber die Variante mit Handauflegen, Kräutern und Ritualen.“ „Hast du es ihnen schon gesagt?“ „Nein... ich wollte warten, bis du es weißt, und bis ich über die kritische Anfangsphase hinaus bin. Aber nun werde ich ihnen wohl eine Nachricht schicken müssen, bevor sie es irgendwie anders erfahren.“ Lily wirkte nicht gerade glücklich darüber. „Was interessiert es dich, was sie denken? Ich habe den Eindruck, dass du dich nicht unbedingt gut mit ihnen verstehst, dann musst du auch keine Erwartungen erfüllen,“ meinte Soach. Die Fee wirkte innerlich zerrissen. „Ich erfülle keine Erwartungen... aber ich will sie auch nicht enttäuschen. Mein Wunsch ist, dass sie mich und mein Leben einfach respektieren. Würde ich Erwartungen erfüllen, dann wäre ich bereits mit einem angesehenen Feenmann verbunden, vielleicht mit einem der Sendboten. Und ich würde Kräuter anbauen und Salben herstellen.“ „Tust du letzteres nicht trotzdem?“ „Nein, eigentlich baut Kuro Kräuter an und Crimson macht daraus Salbe, auch wenn ich weiß, wie es geht.“ „Nun, ehm...“ Soach biss sich auf die Unterlippe, sprach dann aber doch weiter: „Vielleicht kann ich das ja in Zukunft übernehmen. Ich hatte eine Eins in Alchemie, als ich noch zur Schule ging. Und in Heilkunde. Du musst mir nur ein, zweimal erklären, wie es geht.“ Für sowas brauchte er schließlich keine Magie. „Das ist eine gute Idee,“ freute sich Lily über seinen Vorschlag. Das angeschnittene Thema erwies sich als heikel. Wie von selbst kamen weitere Erinnerungen aus seiner Jugend an die Oberfläche. Solche aus seiner Zeit an der Eisigen Universität. Seine Leistungen hatten seiner zweifelnden Mutter bewiesen, dass eine Karriere als Magier richtig für ihn war. Einen Bonus für Prinzen gab es an der Eisigen Universität nicht, und er wollte keinen haben. So hatte er sich respektiert gefühlt für das, was er leistete, nicht für das, was er war. Obgleich man ihn sicherlich einen Streber nennen konnte, hatte er damals einen großen Freundeskreis besessen. Die Erinnerungen waren willkommen, erfüllten Soach aber im Licht der aktuellen Ereignisse mit Trauer. „Worüber denkst du nach?“ fragte Lily ihn, da er seit einer Weile schwieg. „Über meine Jugend, die Schule, alte Freunde...“ antwortete er. „Ich schätze, auch meine Familie sollte von unserem Kind erfahren.“ „Darum kümmere ich mich,“ bot sie an. „Ich wollte eh deiner Mutter schreiben. Der Brief ist schon fast fertig.“ Er öffnete den Mund, hakte dann aber doch nicht nach. Welchen Grund konnte sie gehabt haben, seiner Mutter zu schreiben? Sollte sie es ihr ruhig mitteilen. Dann konnte er darauf verzichten, sein Schicksal selbst niederzuschreiben. „Ja, tu das bitte,“ stimmte er zu. Cathy materialisierte sich und teilte ihnen mit, dass eine der Köchinnen vor der Tür stand und mehr Essen brachte. Lily stand auf und ging das Tablett holen, ohne das Mädchen herein zu lassen. Sie gewährte ihr nicht einmal einen Einblick. „Danke,“ murmelte Soach und machte sich über den Nachschlag her. Anschließend lehnte er sich gesättigt zurück. „Ah, das tat gut... jetzt wäre ein Bad noch ganz schön. Dann kann ich morgen auch wieder Besuchern unter die Augen treten.“ „Ich helfe dir,“ erbot Lily sich. „Das hoffte ich.“ Soach zog vorsichtig seine Beine unter Meras hervor und kroch aus dem Bett. Er stand erst wackelig auf den Füßen, wurde jedoch mit jedem Schritt sicherer. „Bist du auch nicht zu müde?“ hakte sie nach. Doch Soach wollte endlich den Schweiß der letzten Tage von sich abwaschen, als könnte er dadurch die Ereignisse ungeschehen machen. Lily half ihm dabei, auf andere Gedanken zu kommen. Für eine Weile konnte er sich einbilden, alles sei wie früher... Kapitel 7: Besuch ----------------- „Solltest du dich nicht noch etwas ausruhen? Du kannst noch nicht lange geschlafen haben.“ Crimson trat neben Soach an die niedrige Brüstung der Dachplattform. Von hier ging es tief nach unten. Aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass der Prinz deswegen mitten in der Nacht hier war. Für einen Selbstmord hätte er sich vermutlich anders gekleidet als in Nachthemd und Morgenmantel. „Ich wollte nur... etwas frische Luft schnappen,“ antwortete Soach. „Ich konnte nicht mehr in diesem Krankenbett liegen. Aber keine Sorge... vor dem Morgengrauen gehe ich wieder hin, niemand wird etwas merken. Außer Lily vielleicht, sie sieht alle paar Minuten nach, ob es mir gut geht. Es ist... schwierig.“ Er seufzte tief und schlenderte ein Stück am Rand entlang. Scheinbar unbewusst rieb er sich die Handgelenke. „Die Schmerzen haben nachgelassen. Rein körperlich geht es mir wohl wieder ganz gut. Ich fühle mich auch besser. Aber nun... tut es erst richtig weh.“ Soach schloss die Augen, schlang die Arme um sich und erbebte sichtbar. Crimson war unschlüssig, was er unternehmen konnte. Im Prinzip gab es da nichts. Also schwieg er einfach und hörte dem anderen zu, da dieser offenbar in der Stimmung war zu reden. „Es ist gut, dass Lily gerade jetzt schwanger ist,“ begann Soach, als er sich wieder besser unter Kontrolle hatte. „So habe ich etwas, worauf ich mich freuen kann... etwas, das mir hilft, stark zu bleiben. Für meine Familie, besonders für meine Kinder, werde ich immer stark sein. Wie ein Fels, der sie vor dem Sturm schützt.“ „Ich kenne dich nicht anders,“ bemerkte Crimson. „Aber mute dir nicht zu viel zu. Auch ein Felsen verwittert, wenn er ständig dem Sturm ausgesetzt ist.“ „Dieser Felsen fällt noch lange nicht. Meine Eltern haben mich so erzogen, dass ich standhaft bleibe. Von mir als dem Ältesten wird erwartet, dass ich meinen Geschwistern ein Vorbild und ein sicherer Hafen bin. Ein Prinz der Eisigen Inseln jammert nicht.“ Ein tiefer Atemzug, wie um sich zu sammeln. „Und doch ist jammern genau das, wonach mir zumute ist. Du weißt es – dir kann ich nichts vormachen. Das ist irgendwie... beruhigend. Zu wissen, dass es einen Menschen gibt, der mich völlig durchschaut. Da muss ich mich nicht verstellen.“ „Nun... wenn du jammern willst, tu dir keinen Zwang an,“ erbot Crimson sich. Soach lächelte, aber es erreichte nicht seine Augen. „So weit bin ich noch nicht. Vielleicht in ein paar Tagen.“ „Ich werde da sein.“ „Ja. Danke.“ Soach ging an Crimson vorbei in das Gebäude und kehrte in sein Krankenbett zurück. Er tat es nicht auf direktem Wege. Crimson verfolgte seine Schritte und konnte beobachten, dass der Prinz oft stehen blieb, um aus einem Fenster zu schauen, eine Wanddekoration zu betrachten oder die für die meisten Leute unsichtbaren Runen an der Wand zu berühren. Er wirkte wie jemand, der sich von seinem Zuhause verabschiedete. *** Seine Großmutter Cosmea kam früher am nächsten Morgen, als Crimson erwartete. Vielleicht hatte sie sich nicht so lange aufhalten lassen, wie Shiro das geplant hatte. Andererseits frühstückten manche Magier auch schon fast noch in der Nacht. Großvater Sage und der Magier Thaumator begleiteten die alte Dame. Sobald die Gruppe das Schlossgelände betrat, konnte Crimson eine Anspannung in der Luft spüren, die beinahe greifbar war. Er brauchte einige Minuten, um zu erkennen, was es bedeutete, obgleich ihm klar war, dass Soach zweifellos etwas damit zu tun hatte. Dieser fürchtete die Frau buchstäblich wie ein gebranntes Kind das Feuer. Gleiches galt für ihren Kollegen. Crimson empfing die Besucher am Haupttor, wo sich eine einzelne, normale Tür neben dem eigentlichen, großen Tor öffnen ließ. Letzteres war verschlossen. „Großmutter, Großvater! Wie nett, dass ihr mich besucht. Und Ihr seid... Thaumator, nehme ich an.“ Der Magier aus dem Zirkel des Bösen neigte grüßend das Haupt. „Freut mich, Euch kennen zu lernen, Direktor Crimson. Wir wurden uns ja leider noch nicht vorgestellt.“ Er war blauhäutig und jünger als Cosmea, was vielleicht Mitte fünfzig bedeutete. Sein Kleidungsstil bestand aus einer förmlichen, weinroten Robe mit goldbestickten Säumen und einem passendem Hut. Das schwarze Haar trug er kurz. Anders als bei der Ausbrennung konnte Crimson ihn nun genauer betrachten, denn zu jenem Zeitpunkt hatte er nicht weiter auf ihn geachtet. Er fand, dass der Mann harte Gesichtszüge besaß. Die dunklen Augen ließen kaum eine Emotion erkennen und er trug eine sehr sachliche Mine zur Schau. Aber vielleicht, dachte Crimson, bin ich auch vorbelastet und schätze ihn falsch ein. Vielleicht versucht er nur, seinem Posten als Zirkelmagier gerecht zu werden. Trotzdem... Cosmea trug ihre Haare als Dutt unter einer bunten Kopfbedeckung. Sie mochte das Extravagante, deshalb war auch ihre Magierrobe mehrfarbig und erinnerte an ihre Spielkarte. Während ihr Partner stets Ruhe ausstrahlte, ging von ihr immer ein Gefühl der Energie aus, in der Hinsicht, dass man sich mit ihr besser nicht anlegte. „Habt ihr schon gefrühstückt?“ fragte Crimson, um irgendetwas Höfliches zu sagen. „Nein, wir sind vor dem Frühstück abgereist, obwohl Kuro uns angeboten hat zu bleiben,“ entgegnete Sage. „Aber wir würden uns gerne mit dir unterhalten, und was eignet sich besser dafür als ein Essen?“ „Ja... gehen wir doch in mein Büro,“ schlug Crimson vor. Die drei schienen nichts dagegen zu haben. Einige Sekunden verstrichen. „Willst du nicht vor gehen?“ forderte Cosmea ihn schließlich auf. Crimson stellte fest, dass er sich nicht von der Stelle gerührt hatte und somit auch sonst niemand. Er blockierte den Eingang. „Ja... sicher.“ Er wandte sich um und ermöglichte es ihnen damit, die Schwelle zu überschreiten. Als Cosmea und Thaumator eintraten, hatte Crimson das Gefühl, dass das Schloss sie nur um seinetwillen gewähren ließ. Ein Schimmern huschte über den Boden, wo für einen kurzen Moment die Symbole des Seelenzaubers aufleuchteten. Der Effekt war so deutlich, dass auch die Gäste es spürten. Sie blickten sich alarmiert um, suchten wachsam nach einer Bedrohung. „Dies ist wirklich ein interessantes Schloss,“ befand Thaumator. „Eines, das anscheinend seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat. Stimmt es, dass es nachträglich beseelt wurde... mit der Seele des Rehabilitanden?“ „Ja, das ist korrekt,“ gab Crimson Auskunft. Er führte die Gruppe zu seinem Büro, wo Shiro zu ihnen stieß. „Hallo, Eltern. Seid gegrüßt, Thaumator,“ sagte er. „Ich dachte, ihr kommt später.“ „Man könnte glatt an eine Verschwörung glauben,“ merkte Sage an. „Da hast du Recht,“ gab Shiro zu Crimsons Überraschung unumwunden zu. Der Schlossherr öffnete die Tür. Sie klemmte schlimmer als am Vortag, als ob die Scharniere sich geneigt hatten, so dass das Holz auf dem Boden schleifte. Er musste sich mit Kraft dagegen stemmen und ließ sie dann offen, damit die Küchenhilfen das Frühstück für fünf Personen bringen konnten. Crimson überließ seinen Gästen die Polstermöbel in der Sitzecke und holte für seinen Vater und sich selbst einen Stuhl vom Schreibtisch. Eins der rothaarigen Mädchen kam kurz darauf mit einem großen Tablett, auf dem sich außer Geschirr und Besteck aber nur eine Schüssel mit warmem Getreidebrei und eine Kanne Tee befand. „Es tut mir Leid, wir haben nicht mit Besuch gerechnet,“ sagte sie mit einem verlegenen Lächeln. „Das macht doch nichts, ich esse morgens eh nicht viel,“ meinte Shiro und nahm ihr freundlich das Tablett ab. „Wenn der Brei gut ist, gibt es doch nichts einzuwenden.“ „Was ist das für ein Tee?“ erkundigte Cosmea sich naserümpfend. „Strandlotus,“ stellte Crimson anhand des gewöhnungsbedürftigen Geruches fest. „Eine Spezialität des Lotusschlosses.“ Das Getränk weckte unangenehme Erinnerungen und schmeckte scheußlich, aber er verzog keine Mine, als er einen Schluck nahm. „Etwas heiß ist er noch.“ „Der Honig zum Süßen ist leider alle,“ lächelte das Mädchen, scheinbar peinlich berührt. „Wir haben vergessen, welchen anzufordern.“ Obwohl das Szenario kein gutes Licht auf die Organisation in seinem Schloss warf, amüsierte Crimson sich. Neugierig beobachtete er die Gesichter seiner Gäste und vermutete, dass sie sich inzwischen wünschten, im Kristallschloss gefrühstückt zu haben. „Gibt es eigentlich einen bestimmten Grund für euren Besuch?“ wandte er sich schließlich an seine Großeltern. „Und dafür, dass ihr einen Zirkelmagier mitbringt?“ „Stell dich nicht dumm, Junge“ mahnte Cosmea. „Du weißt, dass Thaumator nicht irgendein Magier ist. Wir wollen sicherstellen, dass es mit dem Rehabilitanden Sorc keine Komplikationen gibt. Manchmal können gesundheitliche Schäden auftreten, und das wollen wir ja nicht.“ „Ich werde meinen Heiler herbitten. Er wird euch über Sorcs beziehungsweise Soachs Gesundheitszustand Auskunft geben können.“ Ein Teil von Crimson hoffte, dass sie ihn herausforderten. „Wir werden uns lieber persönlich davon überzeugen,“ tat Thaumator ihm den Gefallen. „Das werdet Ihr nicht,“ widersprach Crimson. „Vindictus ist wahrscheinlich schon unterwegs, da ihn mein Schlossherz inzwischen wohl verständigt hat.“ Natürlich hätte es eine diplomatischere Formulierung gegeben, aber er bevorzugte die direkte Ansage. Mit Befriedigung nahm Crimson zur Kenntnis, dass sich Schweigen breit machte. Sein Vater hob eine Augenbraue. Der Schlossherr schenkte sich Tee nach und tat so, als fiele ihm nichts auf. „Direktor Crimson... sicher wollt Ihr mit uns zusammenarbeiten, schließlich hat bis jetzt alles gut geklappt,“ begann Thaumator. Cosmea war etwas energischer. „Stell dich nicht so an, wir wollen ihn doch nur kurz besuchen und überprüfen, ob alles in Ordnung ist!“ „Dafür wird das Wort meines Heilers wohl reichen,“ beharrte Crimson. „Crimson, also wirklich!“ Cosmea sprang von ihrem Sessel auf. Sie war eine beeindruckende Persönlichkeit. Als kleines Kind hatte Crimson sie einschüchternd gefunden, und erst recht, seit er besser wusste, was Magie alles vermochte und zu was sie deswegen fähig war. Dadurch hatte er sich in ihrer Gegenwart aber auch immer beschützt und sicher gefühlt. Sie konnte die beste aller Großmütter sein, liebevoll und herzlich, doch wenn sie sich so verhielt wie jetzt... Crimson spürte, wie er innerlich wankte, doch er rief sich Soachs Schreie bei der Ausbrennung in Erinnerung und konnte sie dadurch als eine Fremde betrachten, eine Zirkelmagierin von vielen. Seine geliebte Großmutter wäre nie in der Lage, einem fühlenden Wesen wehzutun. Die Zirkelmagierin schon. Er stand ebenfalls auf und bot ihr die Stirn. „Setz dich, Großmutter. Rede mit meinem Heiler.“ Niemand mischte sich ein, während die beiden es unter sich ausmachten. Crimson glaubte, alle müssten sein Herz pochen hören. Nach scheinbar endlosen Minuten lenkte Cosmea ein. „Na schön. Ich rede mit dem Mann, aber wenn mir seine Aussage nicht ausreicht, werde ich persönlich den Gesundheitszustand des Rehabilitanden überprüfen.“ „Einverstanden,“ kam Crimson ihr entgegen. Vindictus würde sie schon überzeugen. Fürs erste atmete Crimson auf. Er hatte eine erste Schlacht gewonnen. „Was denkst du, wo du hingehst?“ Soach fühlte sich ertappt. Er war gerade dabei gewesen, etwas zum Anziehen aus dem Bestand herauszusuchen, den er sich in der Nacht aus seinem Zimmer geholt hatte. „Ich, ähm... will in Crimsons Büro gehen, um mich den Zirkelmagiern zu stellen, ehe sie herkommen.“ „Papperlapapp. Nirgends gehst du hin. Catherine hat mich dorthin bestellt, damit ich die alte Cosmea und ihren Kollegen davon überzeuge, dass sie dich in Ruhe lassen.“ „Ich weiß, aber...“ „Nichts aber. Leg dich wieder hin.“ Vindictus ergriff seinen Arm und drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück auf das Bett. „Das mag gegen deine prinzliche Ehre gehen, aber sei vernünftig. Du bist dazu nicht bereit. Du legst doch immer so großen Wert auf einen starken Eindruck. Was wäre wohl, wenn du ihnen gegenüber die Selbstbeherrschung verlierst? Geh das Risiko nicht ein. Sie werden nicht herkommen.“ Soach musste sich eingestehen, dass es ihm auch lieber war, die Konfrontation zu vermeiden. Und er wollte auf keinen Fall hier von den Besuchern aus dem Zirkel erwischt werden und sich deshalb am liebsten irgendwo verstecken. Das Gefühl war ihm gänzlich neu und gefiel ihm nicht. Eigentlich pflegte er sich stets seinen Ängsten zu stellen, aber Vindictus hatte Recht. Es konnte passieren, dass er sich blamierte, wenn er hinging. „Ihr jungen Leute,“ murmelte Vindictus vor sich hin. „Es fällt euch so schwer, euren Stolz zu überwinden, selbst wenn er euch in Gefahr bringt.“ Er schlenderte zur Tür und begab sich zum Büro des Direktors. Soach verfolgte ihn mit Hilfe des Schlossherzes und sah dann auch zu, wie der untersetzte alte Magier den Anwesenden sachlich erklärte, dass der Rehabilitand keiner weiteren Untersuchung durch die beiden Ausbrenner bedurfte. „Ich kann ebenfalls Magie ausbrennen und habe in meiner Eigenschaft als Schlossheiler bereits sichergestellt, dass Soach keinen gesundheitlichen Schaden zurückbehalten hat. Jedoch habe ich zur Vorsicht verfügt, dass er sich ausruht und mindestens drei Tage zur Beobachtung auf der Krankenstation bleibt,“ beendete er seine Erläuterungen. Thaumator blickte zwischen ihm und Crimson hin und her. „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir aus irgendeinem Grund von dem Rehabilitanden ferngehalten werden sollen.“ Vindictus lächelte erhaben. „Natürlich. Unser Direktor hier möchte seinem Freund die Begegnung mit Euch ersparen, schließlich... war das letzte Mal nicht gerade angenehm.“ Cosmea schüttelte seufzend den Kopf. „Warum sagst du das denn nicht gleich, Junge?“ „Ich dachte, dass meine persönlichen Beweggründe für den Zirkel des Bösen nicht relevant sind,“ sagte Crimson. „Deshalb wollte ich mich lieber anders durchsetzen.“ „Nun... das ist lobenswert. Ich darf dir verraten, dass ich mich freiwillig für die Ausbrennung gemeldet habe, weil ich wusste, dass es um einen Freund von dir geht. Natürlich konnte ich ihm nicht ersparen, was geschehen musste, aber ich wollte irgendetwas für dich tun...“ „Sentimentaler Quatsch, wenn du mich fragst,“ wandte Thaumator ein. „Cosmea, wir müssen irgendetwas in unseren Bericht schreiben, damit die Akten in Ordnung sind. Sollen wir sagen, dass wir unsere Pflicht nicht getan haben, weil ein Heiler uns gesagt hat, dass er sich schon darum gekümmert hat?“ „Warum nicht?“ erwiderte sie. „Vindictus ist vielen Magiern bekannt. Seine Meinung wird anerkannt werden.“ Der Jüngere schien noch etwas einwenden zu wollen, beugte sich dann aber der erfahreneren Magierin. „Wie du meinst, Cosmea.“ „Ich freue mich, dass wir uns einigen konnten,“ lächelte Crimson in die Runde. „Noch Tee?“ Das lehnten alle höflich ab, und die Dreiergruppe verabschiedete sich dann auch. „Wir müssen dem Zirkel schnellstmöglich Bericht erstatten,“ sagte Cosmea. „Heute oder morgen wird wohl auch darüber beraten werden, wo wir den Rehabilitanden hinschicken. Ich hörte, dass du ihn behalten willst.“ „Ja doch,“ bestätigte Crimson. „Kannst du dich ein wenig für mich einsetzen?“ „Ich werde sehen, was ich tun kann,“ versprach seine Großmutter. Crimson begleitete seine Besucher zur Tür, und auch Shiro ging mit, um seine Eltern zu verabschieden. Soach war erleichtert, als er sah, wie sie sich entfernten. Shiro wandte sich seinem Sohn zu. „Also wirklich. Getreidebrei und Heiltee?“ „Naja...“ Crimson grinste. „Ich hatte damit nichts zu tun, aber vielleicht das Schlossherz.“ „Vermutlich. Ist es wohl in Ordnung, wenn ich Soach jetzt besuchen gehe?“ „Ich denke schon.“ Soach protestierte nicht, und wahrscheinlich hatte er auch schon unbewusst sein Einverständnis gesendet. Und so kam es, dass Shiro wenig später bei ihm auftauchte. Da es sich um Crimsons Vater handelte und dieser ihn immer fair behandelt hatte, fand Soach es relativ unproblematisch, dass er ihn im Bett empfangen musste. Wenigstens trug er ein vernünftiges Nachthemd und hatte genug Kissen, um halb zu sitzen. Insgesamt fühlte er sich einigermaßen präsentabel. Davon abgesehen... wenn er keine Besucher erlaubte, wirkte das auch seltsam. „Hallo, Soach.“ Shiro schloss die Tür hinter sich und trat näher. Er setzte sich auf Vindictus' Stuhl und ließ seinen Blick über den Patienten schweifen. „Wie mir zu Ohren kam, hast du das, was dir am wichtigsten war, für ein Versprechen geopfert. Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte,“ eröffnete er das Gespräch. „Die Geschichte hat sich herumgesprochen?“ hakte Soach nach. „Ach... sicherlich hat Cathy es Turmalinda erzählt.“ „Es scheint, dass ein Schlossherz mit einer leidenden Seele sich manchmal aussprechen muss, wo vielleicht etwas mehr Diskretion angebracht wäre,“ räumte Shiro ein. „Andererseits hilft uns das, deine Handlungen zu verstehen. Für meinen Sohn ist das alles sehr schwer. Er ist der wichtigste Mensch in meinem Leben, deshalb möchte ich ihm helfen.“ „Na dann hast du doch die Antwort,“ stellte Soach fest. „Ja, du hättest es gekonnt. Für deinen Sohn. So wie ich: Ich ehrte ein Versprechen an jemanden, der meinen Sohn gerettet hat, somit war es indirekt für meinen Sohn.“ Shiro bekam einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Ja, so ist es wohl. Weißt du... damals, als Crimsons Magie gebannt war, da wünschte ich, an seiner Stelle zu sein, um es ihm zu ersparen. Vielleicht sind alle Eltern so. Es wäre jedenfalls wünschenswert. Dein Opfer hat weitreichende Folgen, ich hoffe, das ist dir klar. Das Schlossherz leidet mit dir, weil es deine Seele besitzt. Der Schlossherr leidet darunter, dass er dir nicht helfen kann, und auch das merkt das Schlossherz. Die Situation schwappt auf das Kristallschloss über, weil ich mir Sorgen um meinen Sohn mache. Kuro hingegen sorgt sich um Dark, weil dieser auf seinen Geliebten verzichten muss, der hier bei dir ist. Daher ist Dark ein wenig mürrisch. Unsere Schlossherzen bekommen außer unserer auch noch Catherines Stimmung mit, wenn sie mit ihm in Kontakt stehen. Und da Dark sich meistens im Kristallschloss aufhält, solange seine neue Burg noch nicht bewohnbar ist, hat auch er Anteil an der Misere. Das wiederum färbt auf Draconiel ab, der das natürlich nie zugeben würde. Jetzt stell dir eine Drachenseele vor, die schlechte Laune hat...“ „Ach herrje... aber was willst du erwarten, wenn das Chaos involviert ist.“ Soach gelang ein ehrliches Lächeln. „Solch eine Verbundenheit, wie die drei Schlösser sie haben, bringt auch Nachteile mit sich. Jetzt wird sich zeigen, wer an dieser Stelle die nötige Kraft aufbringen kann. Aber ich fürchte, ich bin nicht derjenige.“ „Setz dich nicht selbst unter Druck, Soach. Überlass es Kuro und mir. Wir werden unseren Söhnen den Rücken stärken. Und dir.“ Soach hob überrascht die Augenbrauen. „Mir?“ „Du brauchst es am meisten, oder nicht?“ „Also... nein, ich... uh...“ Shiro lachte freundlich. „Stolze Männer nehmen ja so ungern Hilfe an.“ Dem konnte Soach nicht widersprechen, zumal er einen solchen Spruch heute schon einmal gehört hatte. „Nun gut. Bleibst du noch länger, Shiro?“ „Einige Tage schon... solange Kuro beim Kristallschloss ist.“ „Muss immer einer von euch dort sein?“ „Nicht unbedingt, aber die Schlossherzen werden unleidlich, wenn nicht wenigstens ein Schlossherr anwesend ist. Besonders zur Zeit.“ Soach blickte auf seine Hände, die sich in die Bettdecke krallten. Er ließ den Stoff los. „Es tut mir Leid, so viel Ärger zu verursachen, aber ich hatte nicht so recht Gelegenheit, es mir vorher zu überlegen.“ „Wir werden damit fertig, mach dir keine Sorgen,“ versicherte Shiro. „Wenn ich dir sonst irgendwie helfen kann, lass es mich wissen.“ Soach nickte einfach, denn er befand, dass es nicht der rechte Moment war, um niemandem zur Last fallen zu wollen. Wenn er dies überstehen wollte, brauchte er Hilfe. „Ich möchte die Bibliothek des Kristallschlosses sichten, sobald ich wieder dazu in der Lage bin,“ sagte er schließlich. „Alles, was einen Hinweis enthalten könnte, wie ich mit meiner Situation umgehen könnte.“ „Selbstverständlich,“ stimmte Shiro zu. Soach hatte das Gefühl, dass der Lichtmagier sein Vorhaben für sinnlos hielt, dies aber verschwieg. Möglicherweise war es wirklich sinnlos. Aber er musste es einfach versuchen. Solange er hoffen konnte, in den Büchern etwas zu finden, blieb die Verzweiflung auf Distanz. Crimson trieb sich am Strand herum, als Eria ihn abfing. „Ich habe dich gesucht,“ begann sie. „Aber... vielleicht ist es gerade ungünstig...“ „Lass nur,“ erwiderte er. „Du weißt doch, dass du mich immer stören kannst.“ „Also... ich wollte Soach besuchen, aber ich frage mich, wie ich ein Gespräch mit ihm beginnen soll. Fire hat ihm wohl schon erzählt, dass ich... wir... ähm...“ Sie räusperte sich. „Wir bekommen ein Kind. Oder besser... ich. Das wollte ich dir sagen, ehe du es durch Cathy oder irgendwen anders erfährst.“ Crimson blieb stehen und starrte sie an, irgendwie nicht überrascht und doch überrascht. Er hatte es nicht gewusst, aber die Information schien schon latent in seinem Gedächtnis zu existieren. Vielleicht, weil Soach es bereits wusste. „Du meinst... von Fire? Du bekommst... Soachs Enkelkind?“ Er grinste, das war irgendwie amüsant. „Eigentlich habe ich nicht mit dieser Reaktion gerechnet, aber ich bin froh, dass du es witzig findest,“ murmelte Eria. Crimson zog sie in seine Arme und drückte sie an sich. „Hast du gedacht, ich bin sauer? Ach, es ist doch... mal zur Abwechslung eine gute Nachricht. Wusstest du, dass auch Lily schwanger ist?“ „Oh... ja, das hat mir Fire vor kurzem erzählt... gestern oder so. Ich hab ihn kaum gesehen, seit Soach wieder hier ist, er hängt die ganze Zeit in der Bib rum. Die Homies sind schon ganz verunsichert deswegen.“ „Fire ist in der Bibliothek und vernachlässigt dafür seine Kumpels? Sehr seltsam.“ Beide mussten kichern, was die bedrückte Stimmung ein wenig auflockerte. Soweit Crimson wusste, vermied Eria noch immer Soachs Gesellschaft, und er ging ihr nach Möglichkeit aus dem Weg, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Vor fast einem Jahr hatte Eria Soach das Leben gerettet, als er auf dem Schlachtfeld verletzt worden war. Das bedeutete aber nicht, dass sie ihn seitdem mochte. „Ich wollte mich bald mit Soach aussprechen,“ sagte sie, schon wieder ernst. „Schließlich wird er sein Enkelkind ja mal sehen wollen. Aber nun... ich habe das Gefühl, ich wäre daran schuld, dass er... also... weil ich ihm damals gewünscht habe, dass er zumindest das Programm der Stufe vier kriegt. Ich habe mir immer vorgestellt, dass es die gerechte Strafe für ihn wäre und dass ich mich besser fühlen würde, wenn es so wäre...“ „Du musst dir jetzt gewiss keine Vorwürfe machen,“ versicherte Crimson ihr eilig. „Hast du deine Meinung nicht ohnehin längst geändert?“ „Vielleicht nicht... vielleicht wollte ich es immer noch... tief drinnen...“ Sie sprach leise und blickte beschämt zu Boden. „Aber wir alle spüren ein bisschen davon, wie schlimm das ist. Veiler und Elfuria haben erzählt, was du ihnen berichtet hast. Und Fire hat mir erzählt, warum Soach das auf sich genommen hat. Für den Mann, der Fires Leben gerettet hat, als er noch nicht einmal geboren war. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, jemandem dermaßen dankbar zu sein und seinen Sohn so zu lieben, dass man bedingungslos dazu bereit ist, solch ein Opfer zu bringen. Ich glaube... ich glaube, ich kann mir keinen besseren Großvater für mein Baby wünschen.“ „Dann ist doch alles in Ordnung, oder?“ hakte Crimson nach. Anscheinend hatte sie ihre Meinung über Soach grundlegend überdacht. Sie fuhr sich nervös mit den Händen durchs Haar und erinnerte ihn damit an Lily. „Aber ich weiß nicht, wie ich mich jetzt ihm gegenüber verhalten soll, nachdem ich ihm so etwas Schlimmes gewünscht habe. Eigentlich wollte ich ihn bitten, uns mit dem Baby zu helfen, weil er doch schon mehrere großgezogen hat... das kann er wahrscheinlich zur Zeit nicht gebrauchen.“ „Doch, Eria, ganz im Gegenteil. Ich kann mir vorstellen, dass es genau das ist, was er braucht: Einen Sinn im Leben. Die Kinder dürften ihn gut beschäftigen. Und ich glaube, er wird sich freuen, wenn du ihn in deinem Leben haben willst.“ „Naja... ich kriege sein Enkelkind, da kann ich ihn kaum ausschließen,“ murmelte das Mädchen. „Schon Fire zuliebe. Aber trotzdem wäre es mir lieber, Fire wäre nicht sein Sohn.“ „Du wirst bemerken, was für ein guter Freund er sein kann,“ meinte Crimson zuversichtlich. „Ich werde mich bemühen,“ versprach sie ihm mit einem Lächeln. „Kannst du feststellen, ob er Zeit hat, Besuch von mir zu bekommen?“ „Shiro ist bei ihm, aber geh ruhig.“ „Kommst du mit? Er kann mir zwar jetzt nichts mehr tun, aber... nun ja. Als moralische Unterstützung.“ Da Crimson seine Aufgaben als ihr Lehrmeister ernst nahm, begleitete er sie natürlich. Er fand es verständlich, dass sie sich davor scheute, mit Soach allein zu sein. Zu viel war zwischen ihnen vorgefallen, was leider nie geklärt worden war. Als sie auf die Krankenstation zu schritten, trafen sie Fire. Er trug einen Stapel aus Büchern, der sehr schwer aussah und ihm fast die Sicht nahm. „Eria, da biste ja. Ey tut mir voll Leid, dassich so zu tun hab,“ keuchte er. „Schon gut... das verstehe ich doch,“ entgegnete sie in zärtlichem Tonfall. „Soll ich dir etwas abnehmen? Oder lass das doch schweben!“ „Du darfst nix schwer schleppm in deim Zustand, weißte doch. Und ich hab ne Schwebeschwäche.“ „Bitte was?“ Crimson musste lachen. „Gehören Schwebezauber nicht zu den Dingen, die jeder zuerst lernt? Neben Stillezaubern, Reinigungszaubern und Leuchtfunken?“ Fire zuckte mit den Schultern, so gut es ihm möglich war. „Bin schlecht mit Luftmagie. Aba Lord der Flammen.“ Crimson nahm ihm die oberen drei Bände ab, das ließ für den Jüngeren immer noch sechs. Eria nahm sich das obere davon – es handelte sich um ein ziemlich kleines. „Sieht schlecht aus in de Bib,“ meinte Fire. „Nix über Ausbrennung. Nix Richtiges. Nur mal Kapitel da, Anmerkung hier. Vadder wird nix damit anfang könn.“ Eria erreichte die Tür als Erste und legte die Hand auf die Klinke. So blieb sie stehen. „Ich hätte ihn... einmal fast umgebracht,“ murmelte sie. Crimson klemmte sich seine Bücher unter den Arm und tätschelte mit der freien Hand ihre Schulter. „Keine Sorge deswegen. Er hat mir einmal verraten, dass du das nicht geschafft hättest.“ „Echt ma, Prinz von Eisige Inseln wird nich von Schülerin umgebracht. Machste jetzt auf odda was?“ Fire fasste das unterste Buch seines Stapels fester, da seine Hand abzurutschen drohte. „Ich gehe vor, wenn du willst,“ schlug Crimson vor. „Dann kannst du so tun, als wärst du mit Fire gekommen.“ Er schob sich an dem Mädchen vorbei und dabei die Tür auf. Oder zumindest versuchte er das. Sie klemmte. [Moment noch, Crimson. Ich muss zumindest meine Frisur in Ordnung bringen,] teilte Soach ihm mit. Dieses Mal achtete der Schlossherr darauf, dass er nicht laut redete. [Also wirklich, Fire und ich haben dich schon in schlechterem Zustand gesehen, und vor meinem Vater machst du auch nicht so einen Aufwand.] [Du wirst es bald verstehen...] Eria sah ihn abwartend an, hatte offenbar nichts gegen ihres Lehrers Vorschlag und wartete darauf, dass er hinein ging. Crimson tat so, als hätte er abgewartet, ob sie Einwände hatte. „Gut, dann kann es ja losgehen.“ Die Tür ließ sich nun wieder öffnen. Zwar konnte Soach nicht zaubern, aber um das Schloss zu beeinflussen, war das auch nicht nötig. Shiro befand sich noch im Zimmer und machte den Stuhl frei, als Eria und Fire an das Bett traten und ihn mit gebührender Höflichkeit grüßten. Crimson nahm an, dass sein Vater Soach mit seinen Haaren geholfen hatte, denn dessen geflochtener Zopf sah viel zu ordentlich aus, als dass jemand, der sich sonst nie die Haare zusammenband, das so gut hingekriegt haben könnte. Er dachte da nur an Blacky, der sich manchmal so einen Zopf machte, der dann aber wie gewollt und nicht gekonnt aussah. „Hab ein paar Bücher mitgebracht, aba de Bib hat nix Tolles zum Thema,“ sagte Fire. Er packte seinen Stapel an das Fußende. „Kannste dir ja mal angucken, vielleicht isses besser als gedacht, aba ich glaub wir müssn woandas suchen.“ „Ich schaue sie mir einfach mal durch,“ entgegnete Soach, als sprächen sie über Schularbeiten. „Hast du die ordentlich ausgeliehen, Fire?“ Der Rothaarige verdrehte die Augen. „Sicha.“ Crimson legte die Bücher, die er getragen hatte, zu den anderen, während Eria sich noch an ihrem festhielt wie an einem Schutzschild. Er beobachtete, wie Soach das Mädchen ansprach. „Herzlichen Glückwunsch, Eria. Lass es mich wissen, wenn ich euch irgendwie helfen kann... falls du das willst.“ Sie antwortete nicht sofort, sondern starrte auf einen Punkt weiter unten in der Luft, also beschloss Fire wohl, ihr aus der Verlegenheit zu helfen. „Klar, hab ihr schon gesacht, was für ein kompetenter Kinderhüter de bist, Vadder. Nich, Eri?“ „Ähm... sicher,“ murmelte sie, blickte zögernd auf und lächelte Soach an. Es war nur ein sehr schmales Lächeln, aber immerhin. „Ihr seid die Ersten, die mich zum Großvater machen,“ plauderte der Ältere. „Dabei dachte ich ja, dass Ruin schneller sein würde, aber sie hat wohl doch andere Interessen im Moment.“ „Die wollt'doch noch nie Kinder, wie kommste darauf?“ lachte Fire. „Naja ich hab auch nich gedacht, dasses so kommt.“ Er grinste und legte einen Arm um Erias Schultern, um sie an sich zu ziehen. „Der Kleene wird mit dem eigenen Onkel spieln könn.“ „Woher willst du wissen, dass es beides Jungs werden?“ stieg die Wassermagierín erstmals in das Gespräch ein. „Die Wahrscheinlichkeit ist doch eher gering.“ „Es könnten Zwillinge dabei sein,“ warf Soach ein. „Ich weiß ja nicht einmal, wie man ein einzelnes Baby versorgt, geschweige denn mehrere!“ rief Eria mit übertriebenem Entsetzen. „Wir können uns abwechselnd um die Kleinen kümmern,“ bot Soach an. Crimson beobachtete völlig erstaunt, wie der Prinz der Eisigen Inseln die Stimmung langsam auflockerte. Er verzog sich aus der Szene, denn er fühlte sich komisch... etwas lief völlig verkehrt. Als er an der Seite stand und sich die Schläfen rieb, gesellte sich Shiro zu ihm. „So würde ich es auch machen... die jungen Leute nicht beunruhigen,“ bemerkte er. „Umso weniger gefällt es mir, dass du in dieser schwierigen Lage bist. Wenn du Hilfe brauchst – du hast mich.“ Er zog sich vorerst zurück. Crimson blieb noch und beobachtete misstrauisch weiter. Vindictus tauchte aus dem hinteren Bereich auf. „Ah, Jungchen. Hast du kurz Zeit?“ „Sicher, was gibt es?“ „Ich möchte zeitweise eine weitere Heilerin einstellen,“ begann der Alte ohne Umschweife. „Lily ist schwanger, sie wird nicht ewig weiter arbeiten können. Außerdem kann sie sich nicht selbst medizinisch betreuen, und ich bin Necromant, ich habe keine Ahnung von Schwangerschaften. Aber ich kenne eine erfahrene Heilerin in annähernd meinem Alter, die sich mit dem Thema auskennt. Sie wird sicher gerne herkommen, wenn ich sie darum bitte.“ „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Tu das ruhig,“ stimmte Crimson zu. Vindictus nickte. „Ich werde eine der Schülerinnen als Botin hinschicken.“ „Warum ausgerechnet eine Schülerin? Was ist zum Beispiel mit Veiler?“ „Wirst du ja dann sehen.“ Crimson ließ es dabei bewenden. Aus dem Augenwinkel verfolgte er, wie Fire und Eria mit Soach über etwas lachten und sich dann verabschiedeten. „Ich mache mich dann mal auf die Suche nach einer geeigneten Kandidatin,“ teilte Vindictus ihm mit. „Du kümmere dich um deinen Stellvertreter.“ „Was? Wieso...“ Als Crimson sich zum Bett umdrehte, sortierte Soach gerade sachlich die Bücher. Er machte einen sehr konzentrierten Eindruck, geradezu angespannt. Crimson ging zu ihm. „Es hat mit Eria besser geklappt, als ich dachte,“ murmelte Soach, ohne von den Seiten aufzusehen, die er gerade durchsah. „Hast du ihr geraten, zu mir zu kommen?“ „Naja, ich habe sie ermutigt, aber sie wollte von sich aus mit dir reden.“ „Jetzt hat sie ja auch keinen Grund mehr, sich vor mir zu fürchten. Ich bin gespannt, ob Fire den Bund mit ihr schließen möchte. Oder sie mit ihm.“ „Du hast nie eine deiner Frauen dauerhaft an dich gebunden, oder?“ vergewisserte Crimson sich. Soach schüttelte den Kopf. „Es waren aber auch meistens Frauen, die darauf keinen Wert legten. Fires Mutter zum Beispiel, Fuega. Sie gehört zu einem Hexenzirkel. Männer werden dort nur bedingt geduldet. Eine Tochter hätte sie vielleicht bei sich behalten, da sind sie den Amazonen ähnlich.“ Er legte das Buch neben sich, als er die gesuchte Seite fand, und schlug das nächste auf. „Hm, hier scheinen überall nur kleine Beiträge drin zu sein. Erwähnungen, Thesen... Fire hatte Recht, nichts besonders Hilfreiches. Aber wer hat schon Lektüre zu dem Thema im Regal stehen...“ Crimsons Blick fiel auf ein Buch mit deutlichen Gebrauchsspuren, das Soach noch nicht durchgesehen hatte: Kapall und Meras. Magiesysteme im Vergleich. Das erinnerte ihn an die Zeit, als sie Merasfresser im Schloss gehabt hatten. Meras, die Katze, hielt sich im Moment nicht bei Soach auf, vermutlich lief sie Blacky hinterher. Gab es wohl auch Kapallfresser? „Hm, hier ist wieder eine Erwähnung, aber auch ein Verweis auf ein anderes Buch. Das haben wir aber nicht da...“ Soach suchte nach einem Platz für das momentan aufgeschlagene Buch, aber neben ihm und auf seinen Beinen war schon alles voll. Er legte es neben sich in die Luft. Crimson sprang zurück, als das schwere Werk ihm mit einem dumpfen Knall fast auf die Füße fiel. Soach indessen starrte mit großen Augen auf seine Hand, die das Buch losgelassen hatte und noch in der Luft verweilte. Er sog hörbar den Atem ein. Die Mauern bebten, dass es hinten in den Regalen nur so klirrte. Crimson kam sich vor, als hätte ihn jemand aus einem schützenden Raum in den Regen geschubst, als plötzlich Soachs Emotionen heftig auf ihn einstürmten. „Du hast dich für deinen Sohn und Eria verstellt...“ begriff er endlich. Kein Wunder, dass ihm die Szene so falsch vorgekommen war. „Sie ist schwanger, Aufregung schadet ihr. Soll sie nur denken, es wäre alles in Ordnung.“ Soach ließ endlich seine Hand sinken, lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. „Ich habe es fast selbst geglaubt.“ Er versuchte offensichtlich, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber die Erschütterungen ließen nur langsam nach. Crimson hob das Buch auf. Der Titel lautete Magie bannen und auslöschen: Artefakte, Siegel und Rituale. Er legte es auf den Nachttisch und zog sich einen Stuhl heran, um einfach durch seine Gegenwart Trost zu spenden. Kapitel 8: Der unerwartete Bruder --------------------------------- Soach verbrachte wieder einen Teil seiner Nacht auf dem Turm. Auch Crimson war da, aber sie wechselten kein Wort. Soach war noch nicht so weit, dass er jemandem sein Herz ausschütten wollte; es reichte ihm völlig, dass die Möglichkeit bestand. Zwar konnte er dem Schlossherrn nichts vormachen, aber dieser akzeptierte, wenn er nicht zum Reden aufgelegt war. Mit Lily sah das schon anders aus. Sie erkundigte sich ständig nach seinem Wohlbefinden und stellte sicher, dass es ihm an nichts fehlte. Doch ohne seine Magie verloren andere Dinge an Bedeutung. Er konnte sich beispielsweise nicht mehr richtig am Essen erfreuen und generell schien ihm die Freude abhanden gekommen zu sein. Eventuell renkte sich das bald wieder ein, aber derzeit wusste er nichts mit sich anzufangen, außer sich zu beschäftigen und vom eigentlichen Problem abzulenken. Kein Wunder – die Magie hatte einen großen Teil seines Lebens eingenommen. Er sah sich nicht als ihr Beherrscher, sondern als Mittel, mit dem sie sich ausdrücken konnte. Möglicherweise zürnte sie ihm dafür, dass er jetzt nicht mehr zur Verfügung stand und zugelassen hatte, dass man sie durch ihn verletzte. Der Verlust tat weh. Er konnte den Schmerz kaum beschreiben, denn er war nicht vergleichbar mit einer körperlichen Wunde, nicht einmal mit den Qualen des Ausbrennzaubers. Es gab kein Schmerzmittel, das dagegen half. Er musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es der Preis für das Leben seines Sohnes war. Soach drehte sich zu Crimson um und begegnete seinem Blick. „Ich werde morgen früh mit Kihnaf zu seinem Vater aufbrechen. Je früher ich das hinter mir habe, desto eher kann ich mich um wichtigere Dinge kümmern.“ „Sind die drei Tage schon um?“ „Ach, vergiss die drei Tage. Das, weswegen Vindictus mich dabehalten wollte, ist doch bereits eingetreten. Ich fliege bei Tagesanbruch, ob es ihm passt oder nicht. Dann ist Cathy auch endlich den Bengel los. Ich muss schon sagen, dass ich mir von Rahzihfs Sohn einen anderen Charakter versprochen habe, aber was soll's. Es ist wie Kihnaf sagte: Der Gefallen wurde eingefordert und ich habe meine Schuld beglichen.“ „Ich hoffe nur, dass es nicht umsonst war,“ sagte Crimson. „Brauchst du einen Schuldrachen?“ „Nein, Gandora ist schneller, auch wenn er zwei Personen trägt.“ „Na gut. Cathy kann Kihnaf Bescheid sagen.“ „Meinetwegen.“ Es dauerte danach keine zwei Sekunden, da wurde er auch schon mit einem Teil seines Bewusstseins Zeuge, wie Cathy Kihnaf aus dem Bett warf und ihm voller Schadenfreude die Entscheidung mitteilte. Der Junge kam aber rasch zu sich und gab seine Zustimmung. Er wirkte allerdings angemessen müde, denn die Bewohner hatten ihn tagsüber munter zu verschiedenen Arbeiten eingeteilt. „Ich gehe noch etwas schlafen. Wir sehen uns sicher nochmal, und wenn nicht, dann morgen Abend, wenn ich zurück bin. Sollte es länger dauern, lasse ich es dich durch Cathy wissen.“ Soach wandte sich zum Gehen. Crimson folgte ihm ins Schloss zurück. „Brauchst du noch irgendwas?“ „Nein, außer vielleicht... eine schriftliche Bestätigung, dass du darüber Bescheid weißt, dass ich vom Schloss weg bin. Wahrscheinlich werde ich niemandem vom Zirkel begegnen, aber nur für den Fall.“ Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack auf Soachs Zunge. Nicht nur, dass er seine Magie verloren hatte, er war auch wieder an den Anfang des Rehabilitationsprogramms zurückgefallen. „Ich gehe gleich ins Büro und schreibe etwas Passendes,“ stimmte Crimson zu. „Bist du sicher, dass dich niemand begleiten soll?“ „Gandora ist doch dabei. Es ist wirklich keine große Sache.“ Der Weg nach unten dauerte eine Weile. Die beiden Männer machten einen Umweg, um bei den Schülern nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Überraschend trafen sie dort auf Ujat, obwohl dieser seine Unterkunft ganz woanders hatte. „Oh... eine gute Nacht wünsche ich,“ begrüßte der Lehrer sie. „Das trifft sich gut, ich habe nach dir gesucht, Soach.“ Sie blieben stehen. „Echt? Hat es irgendetwas mit meinem Tee zu tun?“ entgegnete Soach. „Du weißt doch, dass es zu meinen obersten Prinzipien gehört, niemanden verrückt zu machen, selbst wenn ich etwas gesehen habe,“ wich Ujat der Frage aus. „Ich bin überzeugt davon, dass nur alles noch schlimmer wird, wenn jemand versucht, seinem Schicksal zu entgehen.“ Er räusperte sich umständlich. Crimson und Soach tauschten Blicke aus. „Soach, ich will im Silbergebirge nach Schleimborke suchen. Möchtest du mich nicht begleiten? Du kennst dich doch dort ein bisschen aus, oder?“ fragte Ujat. „Momentan ist es gerade schlecht. Kann das ein paar Tage warten?“ „Nein, leider nicht. Ich will so schnell wie möglich aufbrechen. Bist du ganz sicher, dass du die Zeit nicht erübrigen kannst? Ich wäre wirklich... erleichtert, wenn ich dich dabei hätte.“ Soach sah ihn sekundenlang prüfend an, doch die Mine des alten Mannes blieb unbewegt wie immer. Dies beherrschte er sogar noch besser als der Prinz. „Von hier ist es ungefähr eine halbe Tagesreise zum Silbergebirge. Ich möchte Kihnaf so schnell wie möglich zu Hause abliefern. Danach hätte ich Zeit, wenn es dir so wichtig ist.“ Ujat rieb sich den Bart, möglicherweise ein Zeichen, dass er ein wenig nervös war. „Nein... das kann nicht warten. Crimson, was ist mit Euch? Als Alchemist interessiert Euch das doch sicher.“ „Schleimborke? Ich kenne keine alchemistische Verwendung dafür.“ Crimson schaute nachdenklich zur Decke. „Nein, ich denke, ich komme nicht mit, auch wenn ich dort gerne nachsehen würde, was es sonst noch so gibt. Aber wenn Soach aus dem Schloss ist, bleibe ich lieber bei Cathy.“ Auch Soach fiel nichts ein, wofür ein Alchemist das Zeug verwenden konnte. Hingegen begrüßte er Crimsons Entscheidung. Der Schlossherr würde etwas Zeit haben, seine Angelegenheiten zu sortieren und ein bisschen Büroarbeit nachzuholen. Ujat legte seine Hände in den Ärmeln seiner Robe vor dem Körper zusammen und seufzte. „Nun gut. Dann werde ich unverzüglich aufbrechen. Sagt bitte meinem Vater Bescheid, falls er fragt.“ Er begleitete die beiden noch ins Erdgeschoss, wo er sich dann von ihnen verabschiedete. „Das war... seltsam,“ kommentierte Crimson. „Ob er uns etwas mitteilen wollte?“ „Dann soll er sich deutlicher ausdrücken,“ winkte Soach ab. „Im Silbergebirge habe ich jedenfalls nichts mehr zu schaffen.“ Er warf einen Blick auf das verblasste Mal auf seinem linken Unterarm. Auch ein Verlust, den er hatte hinnehmen müssen, aber keiner, der besonders an ihm nagte. „Vielleicht reise ich bei nächster Gelegenheit mal hin,“ räumte er ein. Er begleitete Crimson in dessen Büro, um das besagte Schriftstück gleich an sich zu nehmen. Während er darauf wartete und sich ausmalte, wie das Treffen mit Rahzihf ablaufen mochte, kam er ein bisschen zur Ruhe. Anscheinend tat es ihm gut, wieder etwas zu unternehmen, statt untätig im Krankenbett zu liegen. Außerdem freute er sich darauf, den Krieger wieder zu sehen, selbst unter diesen Umständen. Immerhin handelte es sich um den Mann, dem er Fires Leben verdankte. Crimson faltete und versiegelte seinen Brief und reichte ihn ihm. „Ich habe auch reingeschrieben, dass du Waffen tragen darfst. Wenn sich jemand beschwert, schick ihn zu mir.“ „Danke.“ Soach kehrte noch einmal auf die Krankenstation zurück, um die Bücher zu holen. Es war viele Jahre her, dass er zuletzt stapelweise Bücher hatte tragen müssen. Zuerst wollte er sie instinktiv in der Luft verschwinden lassen, doch er überlegte es sich rechtzeitig anders. Crimson kam nicht, um ihm zu helfen, und das fand er auch besser so. Soach wählte am Morgen praktische Reisekleidung. Er konnte problemlos in einer Magierrobe reisen, aber er trug eine lederne Hose und kniehohe Stiefel, dazu ein helles Hemd und darüber einen Umhang. Er schnallte ein kurzes Schwert auf Hüfthöhe hinter seinen Rücken, während schon diverse andere Klingen und Helferlein in seiner Kleidung steckten. Dazu band er sich die Haare lediglich zusammen, weil er sie sich selbst nicht besonders gut flechten konnte. Man hielt ihn eher für einen Krieger als für einen Magier. Derzeit wohl angemessen. Seufzend räumte er die formelle Robe, die er zuletzt am Tag der Ausbrennung getragen hatte, ganz unten in die Kleidertruhe. Obwohl an diesem speziellen Kleidungsstück unangenehme Erinnerungen hingen, konnte er sich nicht davon trennen. Vielleicht... brauchte er sie irgendwann ja mal wieder. Was er gewiss nicht mehr brauchte, waren die Verbände an Händen und Füßen. Die Verletzungen heilten noch, mussten aber nicht mehr verbunden werden. Vindictus mochte anders darüber denken, aber ihn fragte er nicht. Als Soach sich vor dem Tor einfand, wartete Kihnaf zu seiner Überraschung schon dort. Diszipliniert war er ja, das musste man ihm lassen. Er zuckte auch nicht, als dicht bei ihnen Gandora auf dem Boden aufkam. „Ihr müsst wirklich nicht mitkommen,“ sagte der Junge. „Was ist mit deinen Haaren passiert?“ fragte Soach, ohne darauf einzugehen. Kihnaf zupfte an seinen jetzt sehr kurzen, leicht rußigen Zotteln und verzog das Gesicht. „Ach... nichts...“ Soach reimte es sich zusammen und stieg auf seinen Drachen. Er beugte sich hinunter und half dem Jungen hoch. Anders als erwartet ließ dieser sich das gefallen und schlang die Arme von hinten um ihn. „Wo müssen wir hin?“ „Zum Dorf Schwarzbach im Donnertal. Nahe bei den Donnerbergen.“ Gandora breitete umständlich die Flügel aus und kratzte sich hinter den Augen. Soach streichelte seinen Hals. [Alles in Ordnung, mein Freund. Kann losgehen.] Darauf stieß Gandora sich ohne weitere Umschweife ab. „Uaaaaah!“ schrie Kihnaf, was in Soach eine gewisse Genugtuung hervorrief. Er merkte, dass Gandora auf den Mitreisenden keine Rücksicht nahm, sondern so flog, wie er es immer mit seinem langjährigen Freund tat. Wenigstens das blieb beim Alten. Soach versuchte, während des Fluges an nichts zu denken. Die Reise dauerte mit seinem schnellen Drachen gut drei Stunden. Durch das Geräusch des Windes, das ihm um die Ohren pfiff, konnte er sich nicht mit dem Jungen unterhalten. Das machte ihm allerdings nichts aus, denn anscheinend hatten sie einander ohnehin kaum etwas zu sagen. Und so drängte sich ihm allmählich ein ungewollter Gedanke auf: Hätte es auch eine einfachere Lösung gegeben? Es gelang ihm nicht, diese Frage zu verdrängen, so sehr er es auch versuchte. Der Schaden ließ sich nicht mehr rückgängig machen, und nun, da er unterwegs zu Rahzihf war, fürchtete er zu erfahren, dass das Problem vielleicht doch nicht so ernst gewesen war. Als sie sich schließlich dem Ziel näherten, bewegte sich Kihnaf hinter ihm und deutete nach unten. Soach hatte es auch schon gesehen: An den Hang eines Berges kuschelten sich mehrere Hütten mit Weiden davor. Weiter unten gab es landwirtschaftliche Felder, Gärten und Obstplantagen. Soach war überrascht, dass Rahzif in einem Bauerndorf lebte, andererseits kam das oft vor, wenn Krieger sesshaft wurden. Was ihn noch viel mehr überraschte, war der durchscheinende Magieschild, der das ganze Dorf überspannte. Kihnaf sah ihn wahrscheinlich nicht. Soach erinnerte sich, dass der Junge einen Magierfreund erwähnt hatte, mit dem zusammen er in Schwierigkeiten geraten war. In diesem Zusammenhang suchten seine Augen den Berg und die nähere Umgebung nach einem dunklen Turm ab, aus dem die beiden angeblich das Artefakt gestohlen hatten. Gandora flog eine weite Schleife, während sein Reiter sich umsah. Den Turm eines dunklen Herrschers vermutete er am ehesten auf dem Berg. Aber er konnte nicht einmal ein Haus entdecken. Dafür jedoch einige Stellen, wo Magie wirkte, möglicherweise Unterweltlermagie, was passen würde, immerhin ging es um Lord Arae vom Zirkel des Bösen, der bekanntlich ein Unterweltler war. Vielleicht erwies es sich noch als gute Sache, dass er ein Schreiben von Crimson dabei hatte. Er hatte wohl die Wahrscheinlichkeit, jemandem vom Zirkel zu treffen, ein bisschen unterschätzt. Das Dorf lag möglicherweise näher an Araes Wohnort als gedacht. Er entschied sich, Gandora etwas weiter unten am Hang landen zu lassen, um niemanden zu erschrecken. „Zieh dich ein bisschen zurück, damit die Bauern nicht in Panik geraten,“ bat er ihn. „Kann auch gut sein, dass der Schutzschild gegen Drachen ist.“ Kihnaf hob die Augenbrauen in seine Richtung. „Ihr habt den Schild bemerkt? Äh... der ist wirklich gegen Drachen, hätte ich Euch vielleicht sagen sollen.“ „Oh... haben sie Euer Vieh geräubert?“ mutmaßte Soach. Kihnaf zuckte mit den Schultern. „Vorsichtsmaßnahme.“ „Und ich dachte schon, jetzt wirst du gesprächig.“ Soach folgte dem Jungen einen schmalen Trampelpfad hinauf. Er wollte noch spitzfindig fragen, ob sich das Donnertal auf einem Berg befand, aber darauf verzichtete er dann doch. An der Grenze des Schildes deutete nichts darauf hin, dass dieser eine Auswirkung auf Menschen hatte. Kihnaf ging einfach hindurch und bemerkte es anscheinend überhaupt nicht. Auch Soach hatte keine Probleme, dabei hatte er zumindest ein Leuchten auf seiner Haut erwartet, als er das magische Feld durchdrang. Manche Schilde entlarvten auf diese Art einen Magier. Er blieb kurz stehen und nahm einen tiefen Atemzug. Natürlich passiert mir dann nichts. Als er sich wieder in Bewegung setzte, achtete er nur bedingt auf den Weg, da er in Gedanken war. Kihnaf ging ein paar Meter vor ihm, und als Soach sich bemühte, ihn einzuholen, blickte er auf den Rücken des Jungen und sah, dass über ihn ein Schimmern lief, wie er es eben noch bei sich selbst erwartet hatte. Noch ein Schild innerhalb des anderen? Ja, auf dem Boden ließ sich die Grenzlinie erkennen, doch wer immer dafür verantwortlich war, musste sich sehr um Verschleierung bemüht haben. Oder ich war unvorsichtig. Wer rechnet schon mit sowas in einem Bauerndorf... Soach trat durch den Schild und bekam seine Antwort. Drei Lanzenspitzen richteten sich auf ihn. „Willkommen, Prinz Soach. Bitte kommt widerstandslos mit, dann wird mein Herr vielleicht darüber hinwegsehen, dass ihr unbefugt sein Gelände betreten habt,“ sagte ein Mann, den er wiedererkannte. Rahzihf hatte sich kaum verändert. Sein Haar trug er jetzt kürzer und es war ein wenig ergraut. Am Kinn prangte eine Narbe. Aber am meisten fiel sein rechter Arm auf, den er gar nicht haben dürfte. Der Arm steckte in goldfarbenen, magisch verstärkten Rüstungsteilen. Soach hob seine Hände auf Schulterhöhe und ließ zu, dass ihn ein jüngerer Krieger um sein Schwert erleichterte. Rahzihf seufzte. „Dass Ihr bewaffnet unbefugt sein Gelände betreten habt,“ korrigierte er sich. „Kihnaf, komm her, Junge...“ Er nahm sich die Zeit, seinen Sohn zu umarmen und dann prüfend zu betrachten. „Bist du in Ordnung?“ „Sicher. Es... verlief alles nach Plan. Naja fast. Er hat nicht auf mich gehört und wollte mich unbedingt begleiten.“ Der Krieger nickte bedächtig und seufzte erneut. Die Hütten waren nicht mehr da, statt dessen erhob sich eine prachtvolle Villa am Hang – samt finsterem Turm. Selbiger sah aus wie nachträglich angebaut und trug offenbar ein paar Zauberbanne auf sich. Möglicherweise konnte durch ihn ein so starker Schutzschirm über dem Gebiet errichtet werden. Rahzihf drückte Kihnafs Schulter. „Geh und erstatte dem Lord Meldung.“ Der Junge warf noch einen Blick auf Soach und rannte dann auf das Gebäude zu. Die drei Lanzenträger traten ein wenig zurück, als Rahzihf sich dem Gefangenen zuwandte. „Prinz Soach... wie soll ich nur anfangen... bitte nehmt doch erstmal die Hände runter. Ich schulde Euch eine Erklärung...“ Soach ließ die Hände sinken und folgte dem Krieger, als dieser sich langsamen Schrittes auf die Villa zu bewegte. Rahzihf war deutlich kräftiger als der ehemalige Magier, allerdings ein wenig kleiner. Dennoch hatte Soach ihn größer in Erinnerung. Womöglich ging der Mann leicht gebeugt. [Crimson? Ich glaube, ich habe ein kleineres Problem...] Noch während Soach die telepathische Botschaft sandte, merkte er, dass er nicht zu ihrem Empfänger durchkam. [Gandora?] Auch der Drache hörte ihn nicht, obwohl er nicht weit weg sein konnte. Jemand hatte sich anscheinend große Mühe gegeben. Nur seinetwegen, oder schotteten die sich hier generell so ab? Rahzihf ergriff wieder das Wort: „Wir haben Eure Geschichte sozusagen aus erster Hand erfahren... und es tut mir wirklich Leid, dass Ihr so weit gehen musstet für Euer Versprechen. Lord Arae hoffte eigentlich, Euch in seine Gewalt zu bekommen, statt Euch vor dem Zirkel abzuurteilen. Aber danach spekulierte er darauf, dass Ihr mit Kihnaf kommen würdet. Wie Ihr seht, seid Ihr in die Falle gegangen...“ „Also arbeitet Ihr für Lord Arae...“ stellte Soach fest. „Aber ich verstehe nicht... wusste er von dem Armband und meinem Versprechen an Euch?“ „Also... ja.“ Das war Rahzihf deutlich unangenehm. „Wisst Ihr... er ist mir seit siebzehn Jahren ein guter Herr, hat mich angeheuert, als ich Arbeit brauchte. Er gab mir und meiner Familie ein Dach über dem Kopf. Und er besorgte mir das hier...“ Er hob den rechten Arm und machte eine Faust mit dem Panzerhandschuh, ehe er ihn langsam wieder sinken ließ. „Er zeigte sich immer großzügig. Vor ein paar Jahren saßen wir bei einem Gelage zusammen. Es floss ein bisschen Alkohol, die Stimmung war locker... Als er mich nach dem Armband fragte, so aus reiner Neugier, da sagte ich es ihm. Ist ja nicht so, als wäre es ein Geheimnis gewesen.“ „Nein, das war es nicht,“ bestätigte Soach. Rahzihf seufzte einmal mehr. „Vor gut drei Monaten nun kam Kihnaf in Schwierigkeiten. Vielleicht hat er Euch eine Geschichte aufgetischt, wie er und sein Freund Nizahr ein wichtiges Artefakt von Lord Arae gestohlen haben...“ „Allerdings. Er sagte, Euer Dorf sei in Gefahr gewesen, aus Rache zerstört zu werden. Er berichtete von einem verletzten Freund, den er zurückließ, und wie er fliehen musste...“ „Ja, das stimmt ungefähr, jedenfalls der Anfang. Kihnaf trieb sich andauernd mit dem Sohn des Alchemisten herum, das gefiel mir nicht, weil die Burschen sich oft gegenseitig zu Dummheiten anstifteten. Kihnaf glaubt auch immer, er müsse mir etwas beweisen... Sie stahlen jedenfalls tatsächlich ein magisches Artefakt aus Araes Turm, und Nizahr, der junge Magier, wurde dabei verletzt. Die beiden Lümmel konnten dennoch entwischen und kamen zu mir, weil sie Angst hatten, es dem Lord zu sagen. Also ging ich hin und redete mit ihm. Lord Arae war wütend, ließ sich aber von mir beschwichtigen, zumal ich ihm sein Eigentum zurück brachte.“ Soach wurde hellhörig. „Ihr brachtet es ihm zurück? Das habe ich anders gehört.“ Der Krieger nickte bedächtig. „Ja... Lord Arae verlangte, dass ich den Gefallen von Euch einfordere. Anderenfalls wollte er die Jungen schwer bestrafen. Er sagte es nicht deutlich, aber ich kenne ihn. Er belohnt großzügig und bestraft streng. Seine Strafen sind stets abschreckend und nicht selten tödlich. Ich befürchtete, dass zumindest bleibende Folgen entstehen würden.“ „Verstehe. Also war die Geschichte wenigstens teilweise wahr.“ „Ja... Lord Arae plante, dass Ihr Euch für Kihnaf einsetzen würdet, wenn er mit dem Armreif zu Euch kommt. Er rechnete allerdings nicht damit, dass Ihr Euch dem Gericht des Zirkels stellt, sondern wollte, dass Ihr Euch in seine Gewalt begebt, um die Strafe an Stelle meines Sohnes auf Euch zu nehmen. Nun... letztendlich hat er sein Ziel erreicht. Hat Kihnaf denn nicht klar gemacht, dass er allein zurück reisen kann?“ „Doch... mehrmals. Er benahm sich richtig unverschämt.“ Soachs Magen krampfte sich zusammen. Warum hatte er den Hinweis nicht erkannt? „Deutlicher konnte er es nicht sagen. Wir sind Lord Arae treu ergeben. Kihnaf hat sein erstes Schwert von ihm bekommen... Er darf sich erstmal keinen weiteren Schnitzer erlauben.“ Rahzihf seufzte. „Und deshalb kann auch ich Euch nicht helfen, so gern ich es täte.“ Sie passierten ein eisernes Tor und gelangten über einen gepflasterten Weg zum Eingang der Villa. Dort trafen sie auf einen anderen Mann, den seine grüne Robe als Magier kennzeichnete. Der braune Bart zeigte graue Ansätze und fehlte auf einem Teil der rechten Wange, wo eine Narbe wie von einer ätzenden Substanz zu sehen war. Aus demselben Grund trug er wohl eine Augenklappe auf dieser Seite. „Prinz Soach, dies ist Fawarius, Nizahrs Vater,“ stellte Rahzihf den Magier vor. „Er arbeitet als Alchemist für Lord Arae, versteht sich aber auch auf Banne und Schilde.“ „Oh... dann ist das wohl Eure Arbeit.“ Soach deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Fawarius neigte höflich den Kopf zur Begrüßung. „Ganz Recht, Eure Hoheit.“ „Oh, bitte!“ winkte Soach ab. „Erlaubt mir, Euch zum Verlust Eurer Magie mein Beileid auszusprechen,“ sagte Fawarius. „Ich bedaure, dass dies geschehen musste, zumal es so unnötig war... allerdings haben wir dadurch leichtes Spiel mit Euch.“ „Unnötig?“ wiederholte Soach, den Rest des Satzes ignorierend. „Bitte sagt mir nicht, dass es einen einfacheren Weg gegeben hätte.“ „Nun... nicht direkt...“ Fawarius warf Rahzihf hilfesuchende Blicke zu. Der Krieger wirkte untröstlich. „Es wäre einfacher für Euch gewesen, hätte der Zirkel Euch gleich zum Tode verurteilt. Denn das ist es, was Lord Arae tun wird.“ *** Crimson glaubte schon, dass Soach bereits so früh am Vormittag zurückkehrte, als ein gigantischer Drache auf das Schloss zu kam. Doch sobald Cathy ihm ein genaueres Bild zuspielte, erkannte er, dass es sich nicht um Gandora handelte. Der golden glänzende Drache war jedoch nicht minder imposant, und imposant traf auch ganz gut den Reiter, der nach der Landung mit einer fließenden Bewegung von seinem Rücken stieg. Dieser hüllte sich in weiße, wallende Gewänder mit ein paar eher zierenden Rüstungselementen aus blitzendem Metall: Beinschienen, Armschienen, Brust- und Schulterpanzerung sowie einen Helm. Auf letzterem prangte das Wappen der Eisigen Inseln. Der Mann blickte sich interessiert um, während hinter ihm ein weiterer, silbrig-blauer Drache landete und Prinz Lichal, auch bekannt als Ray, absetzte. Als ein weiterer Drache dieser Art dazu kam und sechs weitere über dem Schloss kreisten und dann in einiger Entfernung nieder gingen, wurde es Crimson etwas mulmig. Zunächst einmal begrüßte er die Gäste vor dem Haupttor, oder plante das zumindest. Der erste Fremde trat ihm sogleich entgegen, noch ehe er etwas sagen konnte. „Lord Crimson vom Lotusschloss?“ Crimson nickte. „Und Ihr seid...?“ Statt einer Antwort zog der Krieger ein beeindruckend großes Schwert, stieß einen Angriffsschrei aus und ging auf den Schlossherrn los. Crimson trat einen Schritt zurück und brachte gleichzeitig eine Hand nach vorne, mit der er eine Schwarze Magie Attacke entließ. Das dunkel leuchtende Geschoss krachte auf die Brustpanzerplatte, schickte allerdings den Angreifer überraschenderweise nicht zu Boden: Er taumelte lediglich, griff jedoch nicht mehr an. Er überprüfte seine Rüstung auf Schaden und lachte. „Wie zu erwarten von jemandem wie Euch... Ihr haltet Euch nicht mit der Verteidigung auf, sondern greift ebenfalls an.“ Crimson blieb wachsam. „Sollte ich Euch kennen?“ Er kam ihm tatsächlich irgendwie bekannt vor. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Ray sich näherte, ohne besondere Wachsamkeit an den Tag zu legen. Ihm folgte ein weiterer Krieger in einer bläulich gehaltenen Rüstung, ebenfalls mit dem Wappen der Eisigen Inseln verziert. Der erste Krieger schulterte lässig sein Schwert und grinste breit. „Ich bitte um Verzeihung, ich wollte nur Eure Reaktion testen. Das ist eine Marotte von mir, wenn ich die Leute kenne. Euch kenne ich allerdings nur durch Erzählungen, Lord Crimson. Mein Name ist Ishzark.“ Crimson durchsuchte sein Gedächtnis nach diesem Namen und fand eine Erinnerung, die eventuell nicht seine eigene war. „Ishzark... von den Eisigen Inseln?“ „Ganz genau! Ich möchte meinen Sohn besuchen. Rilly wollte ja auch kommen, aber sie regt sich immer so auf, deshalb habe ich sie dazu gedrängt, zu Hause zu bleiben.“ „Rilly?“ Auch das glaubte Crimson schon einmal gehört zu haben. „Vater, ich glaube, Mutter würde nicht wollen, dass du sie vor anderen so nennst,“ warf Ray ein. Ishzark warf ihm einen strengen Blick zu. „Soll Rilly mich nur davon abhalten.“ Der Prinz zuckte mit den Schultern. „Nun ja, du bist vermutlich der einzige Mensch im Schattenreich, der ihr die Stirn bieten kann. Crimson, dieser junge Mann hier ist Raiho, General der Eisbarriere. Er hat darauf bestanden, uns mit seinen Leuten zu begleiten.“ Crimson wandte sich dem Krieger in der eisblauen Rüstung zu. „Ah ja... willkommen, General. Lasst doch Eure Leute ins Schloss kommen, Ihr müsst ja eine weite Reise hinter Euch haben.“ Crimson ging voraus und Cathy öffnete das große Tor. Ray schloss sogleich zu ihm auf. „Wo ist Soach?“ fragte er mit ernster Mine. „Er bringt Kihnahf nach Hause... Ehm, bist du informiert über seine... Situation?“ Der Blonde seufzte. „Ich war es schon zwei Tage, bevor es passierte. Meine Visionen von ihm sind derzeit sehr klar. Aber meine Eltern haben mir mal wieder nicht geglaubt... möglicherweise liegt das daran, dass ich widersprüchliche Dinge sehe.“ „Wir haben die Spioninnen kontaktiert und erfahren, dass Soach beim Zirkel des Bösen war, aber niemand genau wusste, wieso,“ verteidigte Ishzark sich. „Rilly war davon überzeugt, dass er sich nie die Magie ausbrennen lassen würde, und im Falle einer Hinrichtung hätten wir Zeit gehabt, ihn zu befreien.“ Crimson konzentrierte sich auf Ray. „Inwiefern widersprüchlich?“ „Ich träumte viel und lebhaft in letzter Zeit,“ berichtete der Prinz. „Vor einigen Tagen sah ich Soach in Ketten und unter furchtbaren Schmerzen leidend. Ich fühlte mich sehr unwohl, wusste aber, dass es sich nicht um eine Hinrichtung handelte, zumal der Traum ihn später in einem Krankenbett zeigte. Diese Szene ähnelte stark einer anderen, von der ich vor etwa einem Jahr hier im Schloss geträumt habe...“ „Oh... daran erinnere ich mich,“ nickte Crimson. Ray fuhr fort: „In derselben Nacht sah ich eine Kampfszene mit Schwertern und Lanzen. Mir war beim Aufwachen übel, als wäre ich krank. Ich hatte Schmerzen wie von Muskelkrämpfen. Unser Hofmagier gab mir einen Trank, so dass ich weiterschlafen konnte. Aber entgegen seiner Beteuerung, dass es ein fester Schlaf sein würde, träumte ich wieder. Erneut sah ich Soach, blutend auf seinen Knien. Dann Soach voller Verzweiflung in Tränen aufgelöst. Er hielt jemandes Hände fest umklammert und sagte etwas, das ich aber nicht verstehen konnte. Ich glaube, er sprach mit dir, denn die Hände trugen einen goldenen Ring...“ Er griff nach Crimsons linker Hand, an der er einen magischen Goldring mit einem roten Stein trug. „Ja... den sah ich ganz deutlich. Aber meine Eltern glaubten mir nicht, bis wir erfuhren, dass der Zirkel ihn zur Ausbrennung verurteilt und das Urteil auch vollstreckt hat.“ „Lichal ist davon überzeugt, dass Soach noch immer in Gefahr ist,“ warf Ishzark ein. „Wir kamen, um es Euch zu sagen, denn wenn seine Visionen stimmen, werdet Ihr gebraucht, Lord Crimson. Soweit ich hörte, steht Ihr ihm sehr nahe.“ „Ja, das... kann man sagen,“ nickte Crimson ernst. „Er ist seit zwei, drei Stunden unterwegs, um den Jungen wegzubringen, der ihn in den Schlamassel gebracht hat, den Sohn eines Kriegers, dem er etwas schuldig war.“ „Oh... diese Geschichte,“ murmelte Ray. „Der Mann, der Fire und seine Mutter gerettet hat. Der einzige Schwur von ihm, der noch vor deinem kam. Deshalb ist es also geschehen. Der Grund offenbarte sich mir nicht.“ Crimson musste an Ujats Meinung denken, dass man sich als Hellseher auch verrückt machen konnte. Vielleicht sorgte Ray sich umsonst, aber er wollte das Risiko nicht eingehen. „In deinen Visionen, ist Soach da schwer verletzt oder krank? Du hast von Blut gesprochen... Wir sollten ihm nachreisen, aber nicht ohne angemessene Vorbereitung.“ „Wenn du fragst, ob wir einen Heiler mitnehmen sollten, so denke ich, dass es auf keinen Fall schaden kann. Mein Gefühl sagt mir, dass er sich in Lebensgefahr befindet. Können wir bitte schnell aufbrechen?“ Crimson musterte Ray kurz. Der blonde Prinz trug seine Maske der Selbstbeherrschung, wie sie denen von den Eisigen Inseln zu eigen war, aber seine Stirn lag in leichten Falten und seine Haltung wirkte angespannt. Er versuche anscheinend, sich zu beherrschen. „In Ordnung. Cathy... sag Lily... nein, sag Vindictus Bescheid. Dann finde heraus, wo Soach---.“ Crimson unterbrach sich, denn Cathy schrie in seinem Geist auf, so sehr, dass er sich die Hände an die Schläfen drückte und fast in die Knie ging. Ray stützte ihn reaktionsschnell. [Ich habe die Verbindung zu ihm verloren!] ließ der Schlossgeist ihn wissen. Crimson versuchte, Soach telepathisch zu erreichen, kam aber auch nicht durch. Er gab sich alle Mühe, nicht wie Cathy in Panik zu verfallen. „Ray... es sieht ganz so aus, als wäre an deinen Ahnungen was dran. Ich hole nur schnell meinen Reisemantel...“ *** „Sagtet Ihr nicht, der Lord würde darüber hinwegsehen, dass ich sein Land betreten habe?“ Soach übergab seinen Umhang an Fawarius, ehe er seine Hände vor sich hielt, damit Rahzihfs Männer sie in Ketten legen konnten. Auf die gleiche Art verfuhren sie mit seinen Füßen. „Es tut mir Leid. Das sagte ich aus Gewohnheit... und damit ihr keine Dummheiten macht,“ entschuldigte der Krieger sich. „Er möchte Euch tot sehen, seit Ihr zum ersten Mal vor Gericht standet. Er konnte jedoch den restlichen Zirkel nicht davon überzeugen.“ „Bevor Ihr fragt, wir wissen den Grund nicht,“ kam Fawarius einer Frage des Gefangenen zuvor. „Aber er wird es Euch sicherlich erklären... das ist das mindeste, würde ich sagen.“ „Sicherlich kann ich die Sache mit ihm klären, es muss sich um ein Missverständnis handeln,“ meinte Soach, um die beiden Männer zu beruhigen. Er selbst fühlte sich trotzdem unwohl, denn er musste auf dem Gelände von Schloss Lotosblüte sterben, wenn sein von der Seele getrenntes Bewusstsein nicht für alle Zeiten verloren gehen sollte. Vermutlich würde der Hausherr sich aber nicht auf solche Sonderwünsche einlassen. Fawarius öffnete für ihn die großzügig bemessene Eingangstür und ließ ihn mitsamt den Kriegern eintreten. Sie durchquerten einen Windfang, dann die Eingangshalle und schließlich einige Gänge. Im Normalfall hätte Soach wohl die Einrichtung bewundert, denn Arae schien sein Haus gerne mit Kunst und Zierrat zu schmücken. Gemälde, Kerzenhalter und Schwerter an den dunkel vertäfelten Wänden ergänzten Vasen und Statuen, die je nach Größe auf dem Boden oder auf teuer wirkenden Holzkommoden standen. Hübsch gemusterte Teppichläufer dämpften alle Schritte. Soach fand die Sachen teilweise unnötig, aber ganz hübsch. Manche strahlten eine magische Aura aus, dienten also möglicherweise dem Schutz. In seiner momentanen Situation bewertete er die Gegenstände jedoch mehr danach, wie gut sie sich als Waffen eigneten. Er prägte sich den Weg durch die Gänge ein, falls er Gelegenheit zur Flucht bekam. Schließlich erreichten sie Lord Araes Arbeitszimmer. Zu Soachs Enttäuschung unterschied sich dieses in seiner Nüchternheit sehr vom Rest des Hauses: Zwar gab es auch hier Gemälde und Teppiche, doch außer einem großen Schreibtisch, hinter dem der Unterweltler thronte, befanden sich keine Möbel darin, möglicherweise, weil er des öfteren Gruppen von Besuchern empfing, so wie jetzt. Sie betraten den Raum und sahen sich dem Gastgeber gegenüber. In dessen Rücken befand sich ein großzügig bemessenes Fenster und ließ Tageslicht herein. Soachs Augen erkannten einen Zauber, der das Buntglas gegen Einbrecher schützte... oder Fluchtversuche verhindern sollte. Lord Arae war ein kräftiger, großer Kerl mit blassblauer Haut und ordentlich kurzem, schieferfarbenem Haar, das zwischen zwei gebogenen, knochenweißen Hörnern hervor schaute. Wie viele Mitglieder des Zirkels des Bösen trug er vornehme Kleidung und schien dabei die Farben Schwarz, Rot und Dunkelgrau zu bevorzugen. Soach hatte ihn schon mit grau schattierten Flügeln gesehen, diese trug er im Moment aber nicht. Jedoch zeigte sein Mund ein zähnebewehrtes Grinsen, und die schmalen roten Augen vervollständigten den triumphierenden Gesichtsausdruck. Neben dem Schreibtisch stand Kihnaf, der ihm vermutlich gerade Bericht erstattet hatte. „Willkommen, Prinz Soach. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“ Lord Arae lehnte in einem bequemen Stuhl. „Es ist nett von dir, dass du mir so in die Hände spielst. Ich muss mich nicht einmal vor irgendjemandem rechtfertigen, schließlich habe ich das Recht, Eindringlinge auf meinem Land zu töten, wenn ich den berechtigten Verdacht habe, dass mein Eigentum gefährdet ist. Oder gar mein Leben.“ Soach nahm aus dem Augenwinkel zur Kenntnis, dass sich Fawarius wie ein Bewacher zu seiner Linken aufbaute, während Rahzihf zu seinem Sohn ging und leise mit ihm sprach. Seine drei Männer gruppierten sich hinter dem Gefangenen. „Du willst sicher wissen, warum ich einen Groll gegen dich hege,“ fuhr Arae fort. „Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es eigentlich nur indirekt etwas mit dir zu tun hat. Die Person, die ich so abgrundtief hasse, dass ich ihr auf jede erdenkliche Art wehtun will, ist deine Mutter, Lady Charoselle von den Eisigen Inseln, auch bekannt als die Chaosjägerin.“ Soach hob eine Augenbraue. „Ihr scheint sie gut zu kennen. Haltet Ihr es für weise, ihren Sohn zu bedrohen? Wenn sie erst erfährt, dass ich hier bin, werdet Ihr bald nichts mehr zu lachen haben.“ „Das mag sein,“ gestand der Unterweltler ihm mit einem Schulterzucken zu. „Aber sie wird dich verlieren, selbst wenn sie dieses Haus dem Erdboden gleich macht. Ich hoffe doch sehr, dass sie herkommt, um dir beim Sterben zuzusehen. Eigentlich hatte ich geplant, dass der Zirkel dich zum Tode verurteilt – schon bei deiner ersten Verhandlung, sobald ich wusste, wer du bist. Dein Verlust hätte Lady Charoselle angreifbar gemacht, und ich hätte endlich meine Rache bekommen!“ „Rache? Ich erinnere mich nicht, was sie Euch getan haben könnte. Obwohl sie sich natürlich in ihrer aktiven Zeit viele Feinde gemacht haben dürfte.“ Arae knallte eine Faust auf die Tischplatte. „Sie hat unseren Vater getötet und den Thron der Eisigen Inseln an sich gerissen!“ „Unseren Vater?“ wiederholte Soach. „Gibt es hier noch jemanden?“ Lord Arae sammelte sich einen Moment. „Ah... sie hat es dir nie gesagt,“ stellte er fest. „Sie hat den Chaoshexer getötet, der vor ihr die Eisigen Inseln beherrscht hat. Von Anfang an wollte sie dieses Gebiet für sich haben, doch um ihren Anspruch zu sichern, verführte sie den Herrscher und wurde schwanger, erst dann brachte sie ihn um. Hast du dich nie gewundert, warum sie unbedingt dich als ihren Erben will, statt Lichal oder Iquenee zu benennen? So ist es doch, oder? Die Antwort ist ganz einfach: Du bist mein Bruder, Soach! Der legitime Erbe sowohl der jetzigen Herrscherin als auch des früheren Herrschers der Eisigen Inseln!“ Arae machte eine ausladende Geste zur rechten Seite des Zimmers, wo ein Portrait hing, dem Soach bisher nicht viel Beachtung geschenkt hatte. Als er jetzt hinsah, erkannte er die harten Züge eines Mannes, der ihm durchaus ähnlich sah, vor allem, da seine Haut blau und die langen Haare schwarz waren. Rote Augen starrten den Betrachter verächtlich an. Der Mann trug die dunkle, protzige Kleidung eines dunklen Herrschers. Was auch immer Soach erwartet hatte... das war es nicht. Kapitel 9: Großmutters Segen ---------------------------- Cathy projezierte eine schematische Landkarte in die Luft, auf der er die Reiseroute von Soach so weit wie möglich verfolgt hatte. Ray, Ishzark und Crimson sowie General Raiho betrachteten das Bild. Hinter ihnen versammelten sich Bewohner des Schlosses, mehrere von ihnen reisefertig. „Das ist Araes Gebiet,“ identifizierte der Herrscher der Eisigen Inseln die markierte Stelle. „Ich weiß, dass er in diese Gegend wollte,“ bestätigte Crimson. „Der Junge sagte, er wohnte in einem Dorf in der Nähe von Araes Turm. Aber warum bricht dort die Verbindung ab?“ „Könnte das geschehen, wenn Soach zu weit weg ist oder wenn er bewusstlos ist?“ hakte Ishzark nach. „Er hat mit der Entfernung kein Problem mehr, und bewusstlos kann er nicht werden ohne seine Seele,“ antwortete Cathy. „Möglich wäre ein starkes, natürliches Magiefeld, das abschirmend wirken könnte, aber dort gibt es so etwas nicht. Es muss sich um einen Zauber handeln, der dies bewirkt, und dann hat es jemand absichtlich getan.“ „Eventuell hat es gar nichts zu bedeuten und seine Lordschaft ist einfach nur paranoid, so dass er überall Schutzbanne errichtet hat,“ meinte Ishzark. „Aber ich werde mich nicht darauf verlassen. Crimson, wie schnell sind Eure Drachen im Vergleich zu Gandora?“ „Ich fürchte, sie können mit ihm nicht mithalten, teilweise sind es Jungtiere. Sie werden mindestens eine Stunde länger brauchen, und Soach meinte, er müsse etwa drei Stunden fliegen.“ „Von dem Augenblick, als er hier abgeflogen ist, bis die Verbindung zu ihm abbrach, vergingen fast dreieinhalb Stunden,“ informierte der Schlossgeist die Gruppe. „Er hat den Drachen nicht gehetzt.“ Crimson missfiel der Gedanke, Cathy allein zu lassen, denn diesem fiel es ohne den Schlossherrn schwer, mit negativen Emotionen umzugehen, dafür war die Beseelung auch nach fast einem Jahr noch zu neu, zumal es selten solch schwerwiegende negative Emotionen gegeben hatte. Doch zugleich verlangte Cathy von Crimson, dass er nach dem Rechten sah, insofern gab es gar keine Diskussion. Allerdings zu einem anderen Thema. „Fire, es ist besser, wenn du hier bleibst, denn schließlich...“ „Ey, jetz sach gefälligst nich, dassich der Grund für das alles bin und deshalb überlebm muss. Ich kann jedn Tach krepiern! Aber hier geht's um mein Vadder!“ Crimson nickte, nicht gewillt, unnötig Zeit zu verschwenden. „Na gut. Paps...“ „Ich halte hier die Stellung.“ Shiro hatte sich der beiden Schwangeren angenommen, die nun wirklich zu Hause bleiben mussten. „Komm bloß heile wieder, Fire!“ verlangte Eria. Lilys Stimme klang verdächtig belegt. „Hoffentlich ist das alles falscher Alarm...“ Doch Crimson musste an Ujats Auftritt in der Nacht denken, und im Nachhinein erschien es ihm, als hätte der Mann Soach von seiner Reise abhalten wollen. Dazu kamen Rays Träume und die Tatsache, dass Lord Arae bei allen Verhandlungen für eine Hinrichtung plädiert hatte. Konnte das Zufall sein, wenn ein Chaosmagier involviert war? „Ich komme mit euch,“ teilte in dem Moment Blacky ihm mit. „Schattensturm ist hier noch in der Nähe, und sicherlich kann Mava Silberschwinge herbeirufen...“ Crimson wünschte sich wirklich einen schnelleren Drachen, obgleich er seine eigenen nicht beleidigen wollte. Kaum war der Gedanke geformt, erklang ein Brüllen in der Ferne, als sich ein neuer Besucher ankündigte. Die Drachen der Eisigen Inseln hoben die Köpfe und brüllten ihrerseits. Crimson trat durch das offene Haupttor uns Freie, als der Chaos-Imperatordrache über das Schloss hinwegschoss, gefolgt von einigen weiteren Exemplaren. „Der Drachenhauchorden!“ stellte General Raiho fest. „Unglaublich,“ entfuhr es Crimson. „Die kommen ja wie gerufen!“ „Nun ja... es sind Helden. Helden kommen immer wie gerufen, allerdings meistens gerade noch rechtzeitig,“ bemerkte Ishzark. Hinter ihm schlug sich Blacky eine Hand vor die Stirn, ohne die Sache zu kommentieren. Immerhin gab es in diesem Fall keinen Grund, sich zu beschweren. Der Chaos-Imperatordrache Drache kreiste über dem Schloss, als suchte er nach einem Landeplatz. Letztendlich kam er direkt auf den Eingang zu, fing sich kurz davor ab und machte genug Wind, dass den Anwesenden die Augen tränten. Er faltete die Flügel an den Körper und ließ sich aus gut zehn Metern Höhe fallen, nahm dabei die Gestalt eines rothaarigen Mannes mit olivgrüner Haut an und landete, indem er elegant in den Knien federte und sich kurz mit einer Hand abstützte. Anschließend richtete er sich schwungvoll zu seiner ganzen imposanten Größe auf und schenkte seinem Publikum ein blitzendes Lächeln. „Hallo!“ „Uiuiui, ist der etwa nackig? Woooaaah!“ quietschte eine weibliche Stimme im Hintergrund. Als Schlossherr wusste Crimson sogleich, dass es Milla war, und auch die meisten anderen Damen waren ganz hingerissen, wie das bei Black Luster üblich war. Crimson ignorierte diesen Umstand, denn es gab Wichtigeres. „Blacky! Wie gut, dass du hier bist!“ rief er, wobei er begrüßend die Arme ausbreitete, als er auf den Krieger zu ging. Er hütete sich jedoch davor, ihn zu umarmen, schließlich brauchte er seine Rippen noch. Statt dessen schüttelte er ihm nach Kriegerart die Hand und legte die Linke bekräftigend oben drauf. „Ich dachte gerade, dass ich einen sehr schnellen Drachen gebrauchen könnte!“ Luster brach ihm fast das Handgelenk, als er auf den Gruß einging. „Crimson! Lange nicht gesehen!“ Er schlug ihm kumpelhaft die freie Hand auf die Schulter. Crimson zwang sich, weiter zu lächeln, obwohl er sicher war, dass er ein neues Schlüsselbein brauchte. Anscheinend hatte jemand, der gerade aus seiner Drachengestalt kam, seine Kraft nur bedingt unter Kontrolle. „Darf ich?“ fragte er eher rhetorisch und schnappte sich ein paar Schuppen, die auf der muskulösen Brust und am Hals zurückgeblieben waren. „Wir wollten eigentlich gerade zu unserer jährlichen Monsteranbetung,“ erzählte Luster. „Aber als wir all die silbrigen Drachen in deine Richtung fliegen sagen, änderten wir unsere Route und sahen lieber mal nach, ob alles in Ordnung ist. Ist dir denn von denen keiner schnell gen... oh.“ Crimson blinzelte verwundert, denn gerade noch hatte Luster erhaben in die Runde geblickt, nun aber bekam er so große Augen, dass sein Gesicht richtig jungenhaft wirkte. Unvermittelt ließ er den Schlossherrn einfach stehen und wandte sich einem anderen zu. „Ich kann es nicht fassen, aber Ihr seid es wirklich und wahrhaftig, Lord Ishzark!“ Luster schüttelte dem Herrscher der Eisigen Inseln nun seinerseits die Hand. „Ihr seid von jeher mein großes Idol! All die Legenden, die sich um Euch ranken!“ Crimson klappte der Mund auf. Um Soachs Vater rankten sich Legenden? Black Luster, Held des Drachenhauchordens, war sein größter Fan? Ishzark nahm es mit herrschaftlicher Gelassenheit, aber seine Haltung wurde noch etwas gerader. „Das ist lange her, dass ich als Held unterwegs war. Aber heute muss ich eventuell meinen ältesten Sohn retten.“ „Ah, dann müsst Ihr schnellstmöglich an ein bestimmtes Ziel!“ schlussfolgerte Luster. Indessen betraten die beiden Gilfords, die mit ihren Drachen weiter weg hatten landen müssen, die Szene. Der Blitz reichte seinem Kollegen eine schlichte Robe, eigentlich nur ein besonders langes Hemd. Luster winkte ab. „Das lohnt sich nicht, ich breche gleich mit Ishzarks Leuten auf. Sie brauchen frische, schnelle Drachen für einen Notfalleinsatz.“ Die Brüder nickten und gingen alles Notwendige organisieren. „Wir leihen Euch unsere Drachen, und ich komme persönlich mit Euch,“ wandte sich Luster wieder an den Inselherrscher. „Ich wage kaum zu fragen, aber würdet Ihr mit mir fliegen, Lord Ishzark?“ Soachs Vater nickte feierlich. „Sehr gerne, danke.“ Luster grinste wie ein Schuljunge. „Kann gleich losgehen!“ Er sprintete zurück zu seinem Landeplatz, brachte noch etwas mehr Sicherheitsabstand zwischen sich und die Gaffer und verschaffte selbigen dabei einen Blick auf seine knackige Kehrseite, bis er sich wieder umdrehte, um sich zurück in den Drachen zu verwandeln. Crimson war aus anderen Gründen fasziniert, denn er hatte diesen Vorgang noch nicht besonders oft sehen dürfen. „Heißt das jetz, dasser alleine mitkommt und sonst keiner von den Typen?“ fragte Fire. Blacky der Magier nickte bedächtig. „Ja, weil sonst die Gegenseite gar keine Chance hätte, das wäre ja völlig unfair.“ *** Soach starrte seit Minuten das Gemälde an. Vielleicht wäre er auch so geworden, wenn sie ihn nicht aufgehalten hätten. Dann hätte ihn irgendwann seine eigene Mutter umgebracht... auch wenn es ihr das Herz gebrochen hätte. Er schauderte bei dem Gedanken und wandte den Blick auf den Teppich zu seinen Füßen. Arae fehlinterpretierte seine Handlung. „Ich sehe, du bist geschockt, das verstehe ich vollkommen. Würde mir auch so gehen.“ „Warum fällt Euch erst jetzt ein, dass Ihr Rache wollt? Meine Mutter hat demnächst fünfzigstes Thronjubiläum,“ erkundigte Soach sich. Der Unterweltler seufzte dramatisch. „Zum einen habe ich erst vor ein paar Jahren erfahren, von wem ich abstamme – als meine Mutter starb. Dann kam ich nicht an dich oder deine Geschwister heran. Jedenfalls nicht, ohne den Groll des Zirkels heraufzubeschwören. So wie es jetzt gelaufen ist, muss es Schicksal gewesen sein. Du hast dich selbst in eine Lage manövriert, in der ich dich sozusagen völlig legal töten kann, und weder deine Mutter noch sonst jemand kann etwas dagegen sagen. Schade ist nur, dass der Zirkel dich nicht zum Tode verurteilt hat, weil beim ersten Mal dein Sohn so sehr für dich gesprochen hat. Beim zweiten Mal... nun, da wurde ich erneut überstimmt. Dabei wäre es ein Genuss für mich gewesen, wenn deine Mutter bei deinem Tod zugesehen hätte. Sie hätte nicht einmal etwas unternehmen können, schließlich wäre es völlig rechtens gewesen. Aber nun ja... das jetzige Ergebnis ist fast noch besser. Vielleicht wird sie nicht dabei sein, aber was auch immer passiert... ich werde meine Rache haben. Sie wird lernen, wie es ist, eine geliebte Person zu verlieren.“ „Denkt Ihr wirklich, dass sie das nicht weiß?“ zischte Soach ihn an. „Mal angenommen, Ihr kommt damit durch, was habt Ihr danach vor? Werdet Ihr sie auch noch umbringen?“ „Das wird einfach sein,“ lächelte Arae. „Sie wird wütend bei mir einfallen und ich werde mich lediglich verteidigen. Und im Anschluss besteige ich den Thron der Eisigen Inseln!“ „Ich warne Euch, Lord Arae. Ihr bedroht meine Familie; dafür werde ich Euch töten, und wenn es das Letzte ist, was ich tue! Ihr habt das Wort von Soach, Prinz der Eisigen Inseln!“ Rahzihf atmete scharf ein, als er das hörte. Vielleicht ahnte er, wie ernst die Lage nun war. Der Lord offenbar nicht, denn er gab sich ganz gelassen. „Schön gesprochen, Bruder, aber das wird dir nicht mehr gelingen. Ich habe hier eine kleine Flasche...“ Er lehnte sich kurz zur Seite und holte sie aus einem Fach in seinem Schreibtisch. „Es ist ein langsam wirkendes Gift, das dich töten wird, selbst wenn dich vorher jemand befreien kommt. Oh... da fällt mir ein, ist deine Seele nicht an das Schloss gebunden, in dem du Rehabilitand bist? Wie interessant. Keine Bewusstlosigkeit für dich, so wirst du alle Phasen der Wirkung voll auskosten können. Niemand weiß, ob dir sonst Schmerzen erspart geblieben wären, denn noch konnte niemand darüber sprechen...“ Soach hob trotzig das Kinn. „Jedes Gift hat ein Gegenmittel, und ich habe einen der besten Alchemisten des Schattenreiches als Schlossherrn!“ „Oh, bitte!“ winkte Arae ab. „Crimson, der Sohn des Weißen Magiers aus dem Kristallschloss... der ist nur ein Hobbyalchemist, der zu früh von der Schule geflogen ist, um sein Handwerk richtig zu verstehen! Wusstest du nicht, dass echte Alchemisten über ihn lachen? Und er ist weit weg, hat die Zutaten nicht und ihm fehlt die Zeit, selbst wenn er wüsste, was zu tun ist.“ Da hatte er einen Punkt. „Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass er mir ein Schreiben mitgegeben hat, in dem er mir erlaubt, das Schloss zu verlassen und Waffen bei mir zu tragen. Damit Ihr später nicht sagen könnt, Ihr hättet das nicht gewusst.“ „Das interessiert mich nicht. Jeder kann sich auf diese Weise absichern und dennoch unlautere Absichten haben. Außerdem hat Crimson diese Befugnisse gar nicht mehr. In Anbetracht der aktuellen Sachlage hättest du brav im Schloss bleiben müssen, bis feststeht, wohin du versetzt wirst. Ich habe gehört, dass derzeit die Meeresbewohner ganz hoch im Kurs stehen. Insofern ist dein Schicksal doch gnädig, nicht wahr?“ Besagtes Schicksal spielte Soach in die Hände, als jemand an die Tür klopfte und diese dann ohne auf Antwort zu warten geöffnet wurde. „Edeh? Oh, bist du in einer Besprechung?“ fragte eine Frauenstimme. Arae war für einen Moment abgelenkt. Auch die meisten anderen Personen im Raum horchten auf oder sahen sich sogar um. Soach erkannte eine Chance, wenn das Schicksal sie ihm bot. Ketten halten mich nicht. Mit einem metallischen Klirren fielen die Ketten von seinen Füßen. Die Handfesseln lösten sich im selben Moment, doch diese hielt er mit der linken Hand fest und wirbelte herum, um sie Fawarius gegen die Stirn zu schlagen. Getroffen ging der Magier zu Boden. Soach hielt sich nicht mit ihm auf, sondern nahm sich anschließend seine Bewacher vor. Bewaffnet mit Lanzen waren sie in einem Zimmer im Nachteil gegen jemanden mit einer Waffe, die mehr Wendigkeit erlaubte, und davon abgesehen hatten sie nicht mit seinem Angriff gerechnet und überlegten noch, wie sie zu reagieren hatten, als er bereits die Lanze des einen ergriff und nach unten zog, um ihm im Hochkommen den Ellenbogen unters Kinn zu rammen. Soach griff mit der freien rechten Hand in seinen Stiefel und zog einen Dolch, mit dem er den nächsten Wächter am Arm verletzen konnte, ehe er auch ihm die Ketten um die Ohren schlug. Dem dritten rammte er die Schulter in den Magen. Dies erwies sich als nicht ganz so schlau, denn der Mann trug eine Lederrüstung, aber die Wucht ließ ihn zumindest taumeln. Soach stieß ihm den Dolch in den Oberschenkel und ließ ihn dort. Er erhaschte einen Blick zur Tür und stellte fest, dass jemand davor stand, der Größe nach musste es Kihnaf sein. Aber sein Ziel war ohnehin der Schreibtisch, hinter dem Lord Arae ganz lässig das Geschehen verfolgte. Er zog ein kleines Messer aus seinem linken Ärmel, das würde reichen, um dem Lord die Kehle durchzuschneiden. Er stieß sich ab und sprang auf den Schreibtisch. Doch er war so auf sein Vorhaben konzentriert, dass er den goldenen und braunen Schatten, der ihm von der anderen Seite entgegenkam, zwar aus den Augenwinkeln wahrnahm, aber nicht bewusst registrierte, ehe er auch schon durch den halben Raum flog, ohne zu wissen, was ihn eigentlich getroffen hatte. Hart schlug er auf der rechten Schulter auf, rollte sich ab und wollte wieder auf die Füße kommen, doch ein fester Tritt brachte ihn noch in der Bewegung erneut zu Fall. Im nächsten Moment drückte ein Fuß auf seine Brust und eine Schwertklinge an seine Kehle. Soach versuchte noch einige Atemzüge lang, sich zu befreien, doch der Besitzer des Fußes verlagerte mehr Gewicht auf diesen und bewegte das Schwert so, dass er den Kopf weit in den Nacken legen musste, um sich nicht an der Schneide zu verletzen. Besiegt ließ Soach seinen Körper erschlaffen. „Ich hab's Euch gesagt,“ sprach Rahzihf. „Ich bin meinem Herrn treu ergeben und kann Euch nicht helfen. Ich werde Euch nicht helfen, so Leid es mir tut. Im Gegenteil, ich werde alles tun, damit Ihr Euren neuesten Schwur nicht einhalten könnt.“ „Das war wirklich höchst unterhaltsam!“ rief Lord Arae. „Nichts anderes erwartet man von einem Prinzen der Eisigen Inseln, nicht wahr? Es hätte mich gewundert, wenn du ohne Widerstand untergegangen wärst, mein Bruder. Vielen Dank übrigens – ich habe jetzt Zeugen, die dabei waren, als du mich umbringen wolltest. Sie alle werden das bestätigen, nicht wahr, Kommandant Rahzihf?“ „Ja, Herr. Der Gefangene wollte Euch töten, ich habe es deutlich gesehen.“ Die Antwort kam ohne das geringste Zögern. Soach konnte keinen von beiden sehen, denn er musste seinen Kopf in der derzeitigen Haltung belassen. So schwieg er, starrte an die Decke und wartete, wie es weitergehen sollte. Aber eins stand für ihn fest: Dies blieb nicht sein letzter Versuch. „Lass ihn aufstehen, Rahzihf,“ befahl der Hausherr nun. Darauf löste sich zuerst die Klinge von Soachs Hals, dann nahm der Krieger den Fuß weg. „Aufstehen, aber ganz langsam,“ warnte er ihn. Soach erhob sich langsam und hielt dabei die Hände stets so, dass Rahzihf sie sehen konnte. Er stellte fest, dass er unter dem Porträt des ehemaligen Herrschers der Eisigen Inseln gelegen hatte. Im Raum kehrte rasch wieder Ordnung ein. Fawarius stand nun an Araes Seite und hielt sich ein Tuch an die Stirn. Einer der Soldaten blutete aus der Stichwunde von Soachs Dolch und verband diese gerade notdürftig. Die anderen beiden standen auch schon wieder, die Waffen fest in den Händen. Kihnaf bewachte die Tür von innen, indem er den Gefangenen genau im Auge behielt. „Weg von der Wand,“ ordnete Rahzihf an. Er dirigierte Soach in die Mitte des Raumes, etwa dorthin, wo er zu Anfang gestanden hatte, nur etwas weiter weg vom Schreibtisch. Seine Soldaten nahmen hinter und neben ihm Aufstellung. Rahzihf blieb zwischen ihm und seinem Herrn, trat aber weit genug zur Seite, dass er dessen Blick nicht behinderte. Sein Schwert zeigte einsatzbereit auf den Prinzen. Soachs Dolch und Messer lagen vor Lord Arae auf dem Tisch. „Hast du noch mehr davon? erkundigte sich der Unterweltler. „Selbstredend.“ Soach konnte sich ein leicht ironisches Lächeln nicht verkneifen. „Hervorragend,“ kommentierte Arae. „So hielt es auch deine Mutter, kam mir zu Ohren. Nun denn. Ausziehen. Wirf alles, was du am Leibe trägst, auf einen Stapel neben dich. Weit genug weg, bitteschön. Vergiss das Haarband nicht. „Ihr müsst mich ja wirklich fürchten,“ murmelte Soach. Er fing unzeremoniell mit dem Hemd an, gefolgt von Stiefeln, Hose, Unterkleidung. Zum Schluss entfernte er noch einige Schnallen und Bändchen, mit denen er Waffen unter seiner Kleidung verborgen gehalten hatte, und löste sein Haarband. Ohne Aufforderung unterzog Rahzif ihn einer gründlichen Überprüfung. Inzwischen legte Kihnaf alle gefundenen Waffen zu den beiden ersten auf den Tisch und brachte dann die Kleidung weg. Dabei vergas er auch nicht den Umhang, den Soach am Eingang Fawarius übergeben hatte. Kurz darauf tauchte er wieder auf und nahm seinen Platz an der Tür ein. Der Lord sah zu und wartete, bis sein Krieger zufrieden nickte, ehe er das Wort ergriff: „Meine Güte, das ist ja schon eine nette Sammlung. Zwei Dolche, vier Messer, ein kleines Stilett. Und wahrscheinlich versteckt sich noch mehr Zeug in den Falten deiner Kleidung! Ich werde sie verbrennen lassen und abwarten, was übrig bleibt. Vielleicht ein paar Nadeln oder Drahtschlingen?“ „Meine Mutter hätte sowas zweifellos,“ meinte Soach ausweichend. „Immer noch eine große Klappe, wie ich sehe“ Der Lord erhob sich von seinem Stuhl und kam um den Schreibtisch herum. Er betrachtete den Gefangenen aus der Nähe. Erst von vorne, dann wanderte er gemächlich um ihn herum. „Haltet Euren Blick nach vorne gerichtet,“ flüsterte Rahzihf Soach deutlich hörbar zu. Der Mann dachte an alles. „Glaubst du, dass er mit bloßen Händen noch gefährlich ist?“ erkundigte Lord Arae sich. „Ich möchte kein Risiko eingehen, Herr.“ Soachs Mundwinkel zuckten nach oben. Er starrte auf den jetzt leeren Stuhl des Lords. Ein edles Stück mit Samtbezug. Sah bequem aus. „Eins möchte ich noch wissen,“ hörte er Araes Stimme in wechselnden Richtungen hinter sich. „Wie hast du dich aus den Ketten befreit?“ „Glück gehabt,“ behauptete Soach. Arae tauchte links von ihm auf. „Und was ist das für ein Mal?“ Er berührte die betreffende Stelle, da sein Gefangener ja nicht hinsehen durfte. „Sagtet Ihr nicht, Ihr wolltet nur noch eins wissen?“ erwiderte Soach. „Du bist nicht in der Position, mir freche Antworten zu geben,“ ließ der Unterweltler ihn wissen. „Also. Erzähle mir von dem Mal und wie du aus den Ketten freikommen konntest.“ Soach zog in Erwägung, die Antworten weiter zu verweigern, aber damit hätte er nur härtere Maßnahmen provoziert. Er brauchte seinen Körper möglichst intakt, wenn er seinen Schwur einhalten wollte. „Das Mal... ist das Zeichen von Aceria, einem Turmherz der Stufe eins, dessen Herr ich früher einmal war,“ offenbarte er. „Aceria und ich waren... nicht kompatibel. Es wurde dadurch zerstört.“ „Oh... interessant. Aber vergiss die andere Frage nicht. Wie kannst du dich aus den Ketten befreien, obwohl du keine Magie haben dürftest? Für einige Sekunden dachte Soach darüber nach, ihm eine Lügengeschichte aufzutischen, doch ihm wollte auf die Schnelle keine glaubwürdige einfallen. Davon abgesehen spielte der Grund keine Rolle, da ohnehin alle Anwesenden gesehen hatte, dass er es konnte. „Das ist ein Segen. Meine Großmutter gab ihn mir zu meiner Geburt. Ketten halten mich nicht.“ „Ach. Das ist ja faszinierend. Aber nur, wenn du es nicht willst, hm?“ „Ja. So kann ich einen günstigen Moment abwarten.“ „Dann muss es dich viel Überwindung gekostet haben, diese Gabe bei der Ausbrennung nicht einzusetzen.“ Soach erbebte bei der Erinnerung. „Das... ist richtig. Aber es hätte am Endergebnis nichts geändert, selbst wenn es bei all den Zauberbannen in dem Raum funktioniert hätte.“ Was Soach nicht bezweifelte. Er hatte es auch heute nicht bezweifelt. Aber es genügte nicht, daran zu denken. Er musste es bewusst nach außen senden. „Da hast du sicher Recht,“ pflichtete ihm Lord Arae bei. „Sie hätten dich einfach auf andere Art gefesselt. Ich fand es faszinierend, wie du die ganze Zeit darum bemüht warst, deine Würde zu bewahren, wenn du schon deine Magie nicht retten konntest. Nun... wir werden sehen, wieviel davon am Ende des Tages noch übrig ist. Ich werde dir zeigen müssen, dass man sich mir nicht widersetzt.“ „Mit anderen Worten, Ihr wollt mich dafür bestrafen, dass ich etwas dagegen habe, von Euch umgebracht zu werden.“ „Wenn du es so nennen willst.“ Arae trat vor ihn und berührte die Stelle, wo der Ausbrennzauber aufgetroffen war. Dort wies die Haut eine etwas hellere Farbe auf, wie eine Brandnarbe. „Ich wünschte, Charoselle hätte dich gesehen... deine Schreie gehört... vielleicht hätte das schon gereicht, um aus ihr eine verzweifelte alte Frau zu machen.“ „Eher eine tobende Furie,“ presste Soach hervor. Der Unterweltler sah ihm in die Augen. „Ist es dir unangenehm, wenn ich dich da berühre? Traumatische Erfahrungen hinterlassen ihre Spuren auf Körper und Seele, nicht wahr? Das heißt... gilt das auch, wenn die Seele nicht im Körper wohnt, hm?“ „Es scheint so.“ „Hm, du musst ja noch eine gewisse Verbindung zu ihr haben, sonst könntest du nicht wie gewohnt weiterleben. Ich würde annehmen, dass du dich nicht weit vom Schloss entfernen kannst.“ „Das... war am Anfang so.“ Die rote Iris des anderen besaß schlitzförmige Pupillen wie eine Schlange. Soach hielt dem Blick stand, weigerte sich, zuerst wegzusehen. Seine Finger zuckten, wollten dem Lord an den Hals. Doch er konnte deutlich die wachsamen Blicke von Rahzihf, Fawarius, Kihnaf und den drei Soldaten auf sich spüren. „Nun ja... es tut im Prinzip nichts zur Sache,“ sinnierte Arae. „Um sicher zu gehen, dass sie hier erscheint, möchte ich ihr etwas von dir schicken. Etwas, das sie auch wiedererkennt. Vielleicht einen deiner Dolche. Ich dachte auch an etwas noch persönlicheres... sei so gut und knie dich hin.“ „Ich glaube nicht,“ zischte Soach. Der Lord verdrehte die Augen und seufzte theatralisch. Dabei drehte er sich um und holte sich einen der Dolche vom Schreibtisch. „Soach, Soach, Soach. Du wirst mich doch nicht zwingen, den Jungen zu bedrohen, den du um jeden Preis beschützen wirst, oder? Kihnaf, komm zu mir.“ Das tat der Junge, ohne zu zögern. „Gib mir deine rechte Hand,“ befahl Arae. Kihnaf blickte erschrocken von einem zum anderen, gehorchte jedoch. Der Lord ergriff geradezu zärtlich sein Handgelenk und platzierte die Klinge wenige Zentimeter über der Handfläche. Soach wandte sich entgeistert an Rahzif. „Lasst Ihr das einfach zu?“ Der Krieger presste die Lippen aufeinander, die Stirn lag in angestrengten Falten und er stand geradezu krampfhaft gerade. Aber er griff nicht ein. „Du brauchst nicht zu denken, dass meine Leute spontan die Seiten wechseln, nur weil ich einem der Söhne einen Dolch durch die Hand stechen will,“ teilte Lord Arae ihm mit. „Schließlich liegt es ja auch an dir, ob das passiert oder nicht. Angenommen, du lässt es geschehen. Dann zwingst du mich, mir weitere Schritte zu überlegen. Beispielsweise ein Stück vom Finger abzutrennen. Wir verstehen uns.“ Soach öffnete den Mund zu einer Erwiderung, brachte aber nichts hervor. Kihnaf atmete durch zusammengebissene Zähne schneller als gewöhnlich ein und aus, hielt die Hand widerstandslos vor sich unter die Klinge des Dolches und starrte schicksalsergeben in die Luft. „Ja... wir verstehen uns,“ gab Soach nach. „Ich werde tun, was Ihr verlangt.“ Für den Anfang kniete er sich hin, setzte sich auf seine Fersen und starrte auf seine Hände. Hier blieben ihm keine Verbündeten. Er konnte nur hoffen, dass Cathy und Crimson bemerkten, dass er keine Verbindung mehr zu ihnen hatte. Er hörte das Rascheln von Kleidung, als Lord Arae ihm näher kam und zu seiner Rechten stehen blieb. Ohne Vorwarnung packte der Unterweltler ihn bei den Haaren und zerrte seinen Kopf nach hinten. „Bitte nimm es nicht persönlich, Bruder. Aber ich habe derzeit nur dich, um meine Rachegelüste zu befriedigen. Also wird es mir ein Genuss sein, dich zu demütigen und deinen Willen zu brechen.“ Soach wagte kaum zu atmen, als die Dolchspitze seinen Unterkiefer entlang strich, ohne ihn zu verletzen. Schließlich konnte er das kühle Metall in seinem Nacken spüren. Er biss sich auf die Lippe, um nicht zu protestieren, denn er ahnte, was kommen würde. Sekunden später ließ Araes Griff tatsächlich nach, als er die Haare, die er hielt, dicht am Kopf abtrennte. Das waren bei weitem nicht alle. Er wiederholte den Vorgang, bis keine der langen Strähnen mehr übrig blieb. Soachs Rücken fühlte sich plötzlich ungeschützt an. Der Lord trat in sein Blickfeld und legte die abgeschnittenen Haare auf den Schreibtisch, behielt aber den Dolch. „So. Ohne deine Magie brauchst du auch keine typische Magierfrisur mehr. Und nun... gib mir deine linke Hand.“ Soach hob sie zögernd. Er erwartete, dass ihm jetzt das blühte, was Kihnaf erspart geblieben war. „Ein Souvenier für deine Mutter!“ verkündete Arae – und stach die Klinge neben dem Mal von Aceria in die Haut. „Nicht!“ entfuhr es Soach. Arae hielt inne und hob eine Augenbraue. „Sch-schon gut,“ murmelte Soach. Er richtete den Blick starr auf seine andere Hand, welche verkrampft auf seinen Oberschenkeln lag. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er zu, dass ihm auch das letzte Überbleibsel seines Turmherzes genommen wurde. Der Schmerz ließ sich überraschend leicht ertragen – gerade so, als wäre nach der Ausbrennung seiner Magie alles andere nur noch harmloses Kleinkram. Er fand ihn sogar seltsam befriedigend. Körperliches Leid schien das Leid seiner Seele zu beschwichtigen. Soach war so vertieft in seine Überlegungen, dass er überrascht aufblickte, als auf einmal Fawarius neben ihm stand und die Wunde verband. Der Magier wich seinem Blick aus. Araes Stimme drang von hinten an sein Ohr, wahrscheinlich stand er an der Tür: „Und beeil dich. Ich will, dass Charoselle es heute noch erhält. Pause kannst du machen, wenn du angekommen bist und es ihr gegeben hast.“ Eine jung klingende Stimme bestätigte den Befehl, dann entfernten sich Schritte, und die Tür fiel ins Schloss. „Euer Sohn?“ mutmaßte Soach. Fawarius nickte. „Nizahr ist zur Zeit einer der Boten.“ Soach ersparte es sich zu erwähnen, dass der Bote, der Lady Charoselle die Haare und ein Stück Haut von ihrem Sohn brachte, vielleicht eine ziemlich lange Pause vor sich hatte. „Danke,“ sagte er statt dessen nur, da Fawarius mit dem Verband fertig war. „Herr, lasst mich ihm doch etwas Kleidung zur Verfügung stellen,“ bat Rahzihf. „Wozu?“ Arae kam zurück in Soachs Blickfeld. „Er kann ins Jenseits eh nichts mitnehmen. Und damit wären wir ja auch schon beim Thema...“ Das Fläschchen mit dem Gift stand immer noch dort, wo er es vorhin platziert hatte. Kapitel 10: Das Ende der Hoffnung --------------------------------- Lord Edeh Arae wusste, dass er die Loyalität seiner Leute arg strapazierte, aber sie blieben ihm treu, wie es ihrem Schwur entsprach, obwohl besonders Rahzihf deutlich missfiel, was mit dem Gefangenen geschah. Allerdings konnte der Krieger wohl kaum das langjährige Vertrauensverhältnis zu seinem großzügigen Arbeitgeber mit einem vor vielen Jahren gegebenen Versprechen vergleichen. Dieses Versprechen verlangte keine Loyalität gegenüber Prinz Soach von ihm. Umgekehrt sah das hingegen anders aus. Seinem Versprechen folgend hatte der Magier seine Magie für den Sohn des Mannes geopfert, der damals sein ungeborenes Kind und die Mutter gerettet hatte. Und offensichtlich beschützte er den Burschen noch immer – logisch, wenn sein Opfer nicht umsonst gewesen sein sollte. Dem Lord kam das sehr gelegen. Da sein Gefangener unter den gegebenen Umständen brav gehorchte, musste er Kihnaf auch nichts antun, was das Risiko minimierte, dass Rahzihf die Seiten wechselte. Nicht dass der Krieger das jemals tun würde. Arae war völlig von der Treue seiner Untergebenen überzeugt, hatte er sie sich doch geduldig erarbeitet, mit einer kleinen Gabe hier, einer netten Geste dort. Dazu kam, dass Rahzihf ihm etwas schuldig war, ebenso wie Fawarius, nachdem die Söhne der beiden ihren Herrn bestohlen hatten. Das Schicksal spielte ihm in die Hände. Er war immer ehrgeizig gewesen, jedoch hatte er für sich in letzter Zeit keine Möglichkeit mehr gesehen, wie er seine Macht erweitern konnte. Mitglied im Zirkel des Bösen zu sein brachte viele Vorteile, aber auch Regeln und Beschränkungen. Dann, vor fast drei Jahren, hatte ihm seine Mutter auf dem Sterbebett erzählt, dass er der Sohn eines Königs war und einen Halbbruder hatte. Prinz Soach, der ironischerweise bald darauf begann, unter dem Namen Sorc auf sich aufmerksam zu machen. Der von einem Knilch aus der Welt des Blauen Lichts geschlagen wurde und vor dem Gericht des Zirkels landete. Der jetzt besiegt vor ihm kniete, um endlich das verdiente Todesurteil entgegen zu nehmen. Natürlich verdiente er das weniger wegen seiner Untaten als vielmehr wegen seiner Verwandtschaft. Sohn der Usurpatorin, empfangen durch einen miesen Verführungstrick! Arae allein gebührte der Thron, dem Sohn des Königs und seiner rechtmäßigen Partnerin! Im Prinzip konnte Soach nichts dafür, aber so entledigte er sich gleich des Rivalen. Denn wenn jemand wie Lady Charoselle sich die Mühe machte, das Blut des rechtmäßigen Königs in ihrem Sohn zu bewahren, gab es sicherlich einen Grund dafür, zum Beispiel, dass das königliche Schloss der Eisigen Inseln auf magische Weise nur dieses königliche Blut auf seinem Thron anerkannte – oder eben die Mutter des Erben. Als Unterweltlerin wusste sie das sicherlich ganz genau. Aber das würde ihr bald nichts mehr nützen. Arae trat neben Soach und zog dessen Kopf an den jetzt kurzen Haaren nach hinten, um ihm das Gift einzuflößen. „Trink, mein Bruder. Es bringt dich nicht sofort um, du hast noch einige Stunden. Schließlich möchte ich, das deine Mutter dabei sein kann, wenn du deinen letzten Atemzug tust.“ Soach presste für einen Moment noch die Lippen zusammen und sah zu ihm auf, doch jemand wie er flehe erwartungsgemäß nicht um Gnade. Er hatte zugestimmt zu tun, was von ihm verlangt wurde, aber würde er Gift trinken? Er tat es tatsächlich und verzog das Gesicht wegen des Geschmacks. Oder vielleicht war es ein Ausdruck der Verzweiflung, weil er nach und nach jede Hoffnung verlor? Vermutlich hoffte er noch, dass jemand ein Gegengift aus dem Ärmel zauberte. Was das anging, gab es noch weitere schlechte Nachrichten, die zu überbringen Arae gerne auf sich nahm. Er ließ Soach los, und der Prinz sank vornüber, stützte sich keuchend mit den Händen ab. „Wie ich sehe, wirkt es bereits,“ stellte der Lord fest. „Wird dir etwas schwindelig? Vielleicht hast du Schmerzen? Meinen Informationen zufolge werden die Symptome in den ersten paar Stunden erträglich bleiben. Später fallen die Opfer normalerweise ins Dilirium, aber bei dir werden wir uns mal überraschen lassen, nicht wahr?“ „Wie... lange?“ ächzte Soach. Sein Körper wurde von einem krampfartigen Zittern heimgesucht. „Oh... etwa zwölf Stunden ist der Durchschnitt, habe ich mir sagen lassen. Aber du kannst diese Zeit um etwa eine Stunde verlängern... indem du mich um das Gegenmittel anbettelst.“ „Was?“ Soach blickte auf, fasste sich jedoch gleich an den Kopf und kniff die Augen zu. Arae lächelte hinterhältig. „Du hast mich richtig verstanden. Bitte mich um das Gegenmittel, und ich werde es dir geben. Küss meine Füße, während du es tust. Mit dem Mittel wirst du gut eine Stunde länger leben... und wir können den Vorgang wiederholen, so oft du es schaffst, bevor das Gift dich doch noch dahinrafft.“ Sein Gefangener zeigte sich außerstande, länger eine gelassene Fassade zur Schau zu tragen. „Aber... rettet mich das Gegenmittel denn nicht?“ „Nicht wirklich,“ lächelte der Lord. „An dieser Stelle müssen wir zwischen einem Gegenmittel und einem Heilmittel unterscheiden. Das Gegenmittel habe ich im Haus. Es wirkt wie eine Medizin, welche die Symptome einer tödlichen Krankheit temporär aufhalten kann und dabei den Verlauf verlangsamt. Ein Heilmittel gibt es hier hingegen nicht... vielleicht in der Gegend, woher das Gift kommt, aber die Reise dahin dauert zu lange, um es zu holen. Oh... da fällt mir ein, auch das Gegenmittel habe ich nur in begrenzter Menge. Du du wirst innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden sterben, und niemand kann das verhindern. Ich lasse dich nur bis dahin am Leben, damit Lady Charoselle dein Ende miterleben kann.“ Er beobachtete den anderen genau, um sich daran zu weiden, wie die Erkenntnis in dessen Kopf ankam. Seine Hoheit starrte ächzend in die Luft, presste eine Hand auf den Mund und schien um seine Fassung zu ringen. Waren das Tränchen, die da in seinen Augen glitzerten? Oh, welch ein Anblick! Wenn nur Lady Charoselle das sehen könnte! Doch es wurde noch besser. Prinz Soach von den Eisigen Inseln überwand auf Händen und Knien die kurze Entfernung zu ihm und unklammerte seine Knöchel. Dabei senkte er den Kopf auf Araes Schuhe, wobei der Lord aus seiner Perspektive leider nicht sah, wie er sie küsste. „Gebt es mir... ich bitte Euch!“ Der Unterweltler ließ sich einige Sekunden Zeit mit der Antwort. „Nun gut,“ erbarmte er sich schließlich. „Fawarius, du hast doch eine kleine Probe des Mittels dabei, gib sie ihm. Dann bring ihn in das Zimmer, das ich für ihn habe herrichten lassen. Rahzihf, hilf ihm dabei.“ Er trat Soach von seinen Füßen weg, weil er es konnte, und genoss, wie der Prinz wimmernd zur Seite fiel. Zwar wäre er gerne noch geblieben, aber er platzte fast vor Schadenfreude, deshalb verließ er den Raum mit herrschaftlicher Miene. Erst, als er sich allein in seinem privaten Gemach befand, ballte er triumphierend die Faust. „Ja! Jaaa!“ Er wandte sich breit grinsend dem Portrait einer schönen Frau reiferen Alters zu. „Mutter... ich räche endlich das Unrecht, das unsere Familie erfahren hat!“ *** Crimsons Drache flog hinter dem Chaos-Imperatordrachen her. Dagegen protestierte er nicht, nur hätte der Weißhaarige lieber etwas mehr Kontrolle über die Reiseroute gehabt. Aber dafür ging es schneller voran, als es mit den Schuldrachen der Fall gewesen wäre. Schattensturm und Blacky hielten ganz gut mit, ebenso wie die anderen Mitreisenden, die einen der Drachen vom Drachenhauchorden benutzten. Dabei handelte es sich um General Raiho und seine Männer, Ray, Fire, Vindictus und einen Praktikanten des Heldenordens. Letzterer erschien gerade in seinem Blickfeld. Crimson mochte den Burschen nicht, vielleicht weil er möglicherweise nur im Weg sein würde. Oder wegen seines Geschmacks an Kleidung, obwohl gegen eine schwarze Rüstung eigentlich nichts einzuwenden war. Das Gesicht blieb hinter einem Visier verborgen, in dem lediglich Schlitze für die Augen einen Einblick gewährten. Doch Crimson wollte ihn nicht zu offensichtlich anstarren oder ihm zu nahe kommen, dazu fehlte ihm auch die Zeit. Er tat seine Abneigung als Einbildung ab, die wahrscheinlich daher rührte, dass er sich um Soach sorgte. Sie reisten mit der höchsten möglichen Geschwindigkeit, daher in großer Höhe, wo die Luft kalt und dünn war. Aber der Drachenkörper gab etwas Wärme ab und Crimson nahm ein paar Unannehmlichkeiten gerne auf sich, wenn er schnell ans Ziel kam. Er versuchte immer wieder, den Freund telepathisch zu erreichen, hoffte, dass Soach vielleicht nur seiner Neugier nachgegeben hatte und irgendeine Zone betreten hatte, in der er durch einen natürlichen Bann abgeschirmt war. Jedoch wusste er von keiner solchen Zone in dieser Gegend. Plötzlich brüllte der Chaos-Imperatordrache und ging tiefer. Erst glaubte Crimson, dass ihn etwas verletzt hatte, auch wenn die Vorstellung geradezu absurd war. Wie sich herausstellte, stimmte das auch nicht. Weit unter ihnen fand ein Überfall statt. Ein Reisender wurde von ein paar Kriegern angegriffen, gegen die er sich kaum wehren konnte, deshalb versuchte er zu fliehen. Allein die Ankunft des Drachen brachte die Feiglinge aber zur Flucht. Luster in seiner Drachengestalt war weithin bekannt, weswegen der Gerettete auch keine Furcht vor ihm zeigte, sondern sich immer wieder dankbar verneigte. Vindictus ließ seinen Drachen in der Nähe landen, um den Fremden auf Verletzungen zu untersuchen. Crimson bekam gar nicht wirklich mit, was vor sich ging, denn sein Drache landete etwas abseits vom Geschehen, während der Praktikant näher dran blieb und die Gepäckstücke des Opfers zusammensuchte. „Ey geht’s hier bald ma weiter oda was?“ motzte Fire, dessen Drache ebenfalls am Boden war, und etwas weiter hinten der von Ray. Lediglich Schattensturm blieb in der Luft und segelte langsam voraus, nur konnte auch er nicht wirklich weiterreisen, weil er den Weg nicht kannte. Kurzum, sie verloren etwa zwanzig wertvolle Minuten. Natürlich hätte Crimson die Hilfe nicht verweigert, wenn die Entscheidung bei ihm gelegen hätte, aber er fühlte sich unruhig und unter Zeitdruck. Der Praktikant fing an, ein Messer zu schärfen. Das Geräusch nervte. „Ich würde ja helfen, wenn es dadurch schneller ginge, aber ich sehe nicht, was ich tun könnte,“ grummelte Crimson an Fire gerichtet. „Kannste was spürn? Von Vadder meinich.“ „Nein. Die Verbindung ist nach wie vor abgebrochen. Aber er ist nicht tot, das wüsste ich.“ Fire nickte bedächtig und wartete schweigend, bis die Helden fertig waren. Crimson beobachtete den Praktikanten und runzele die Stirn. Er kam ihm immer mehr bekannt vor... wie er sich bewegte... der Kerl hatte eine gewisse Arroganz an sich, die ihn unglaublich störte. Als hätte er Crimsons Gedanken gehört, drehte er sich in diesem Moment gemächlich zu ihm um. Den Magier gruselte es aus unerfindlichen Gründen. Er konnte die Augen des Kriegers durch das Visier nicht sehen, war aber sicher, dass er ihn direkt ansah und dass der Kerl wahrscheinlich auch grinste. „Wer isn das, kennste den?“ fragte Fire, der den Vorgang mitbekommen hatte. „Ich könnte schwören, dass ich den kenne,“ murmelte Crimson. „Dabei kann ich sein Gesicht gar nicht sehen...“ Der Praktikant schlenderte mit einer hochmütig anmutenden Gangart zu ihnen hinüber. „Hallo, Crimson. Hab gehört, du bist jetzt ganz dicke mit Sorc!“ Die Stimme! Crimson sprang von seinem geliehenen Drachen, trat dem Typen in den Weg und schleuderte eine magische Attacke auf ihn, die ihn nach hinten katapultierte und zu Fall brachte. Dabei flog der Helm weg, und zum Vorschein kamen platinfarbene Haarstoppeln und ein hämisches Grinsen. Er trug eine andere Frisur, aber das Gesicht änderte sich dadurch nicht. „Malice! Wie kommst du in den Drachenhauchorden?“ „Na ich bin Praktikant, weißt du doch,“ entgegnete Malice. „Das ist fast das gleiche wie Rehabilitand, nur nicht so streng überwacht.“ „Wie ist das denn passiert?“ regte Crimson sich auf. „Standest du nicht ebenso vor Gericht wie Soach?“ „Soach... ist das der richtige Name von Sorc?“ Malice strich sich übertrieben nachdenklich am Kinn entlang. „Soweit ich weiß, hat ihn der Zirkel des Bösen abgeurteilt, mich aber der Drachenhauchorden. Sie haben sich untereinander abgesprochen, aber ich und Sorc hatten keinen Kontakt. Doch habe ich durchaus mitbekommen, was aus ihm geworden ist. Helden sind sehr redselig, wenn man sie nur nett genug fragt, weißt du.“ „Das beantwortet nicht meine Frage! Wie konntest du diese Leute glauben lassen, dass es sich lohnt, dich als Praktikant in den Drachenhauchorden aufzunehmen?“ „Darauf kamen sie ganz von selbst, mein Lieber. Ich habe mich einfach nur bei meinen Aussagen etwas zurückgehalten und auf Fragen sehr bedacht geantwortet.“ „Du meinst, du hast Soach die Hauptschuld zugeschoben.“ „Ach... haben sie es so ausgelegt? Dafür kann ich nichts, ich habe mich lediglich nicht unnötig selbst belastet. Es ist auch nicht meine Schuld, dass dein Rehabilitand so loyal ist, dass er mich nicht reingeritten hat. Naja... ich sollte ihm wohl danken. Anscheinend denkt niemand mehr an mich, wenn von demjenigen die Rede ist, der das Schattenreich erobern oder gar zerstören wollte.“ Malice kicherte leise. Bis Ishzark bei der Gruppe erschien. „Wir sind hier fertig, Jungs. Es kann weitergehen.“ Malice sah Crimson an und ließ ihn beobachten, wie sich sein Gesicht änderte. Es wurde zu einer freundlichen, ja geradezu besorgt wirkenden Fassade – etwas, das auch Soach konnte, nur... anders. Seine Stimme verlor den üblichen hämischen Klang, als er sagte: „Lord Ishzark, haben wir alles getan, was wir konnten? Vielleicht sollten wir diesen Mann zu seiner Familie bringen, oder zumindest ins nächste Dorf.“ „Nein, nein,“ winkte der Herrscher der Eisigen Inseln ab. „Er war nur leicht verletzt, und Vindictus hat sich darum gekümmert, es kann weitergehen.“ Sein Blick streifte Crimson, und der Magier erkannte, dass auch Ishzark jede weitere Verzögerung ablehnte. Was Malice betraf... wollte der etwa absichtlich Zeit verschwenden? Crimsons Hass gegen den Kerl flammte erneut auf. Nicht dass er jemals erloschen wäre... Ishzark ging zurück zum Chaos-Imperatordrachen. Malice hingegen ließ sich noch einen Augenblick Zeit, bis der Held außer Hörweite war. „Hast du eigentlich noch manchmal Rückenschmerzen?“ fragte er, grinste breiter, als es einem normalen Menschen möglich sein sollte, und klappte das Visier wieder herunter. „Wir sehen uns bestimmt mal wieder.“ Crimson kletterte ebenfalls auf den Rücken seines Leihdrachens. „Doch, ich kenne ihn,“ murmelte er mit einem Seitenblick auf Fire. „Er ist es, der mir den Rücken aufgeschnitten hat. Er hat Kuro dazu gebracht, mich gefangen zu nehmen. Das war nicht dein Vater.“ „War aber dabei,“ meinte Fire schulterzuckend. „Vadders Beitrach war schlimm genuch, ne?“ „Ja, schon...“ Aber Soach trug er es nicht nach. Vielleicht, weil Soach Verantwortung übernahm und seine Strafe akzeptierte. Er hatte nie um Verzeihung gebeten oder großartig Reue gezeigt, aber er rühmte sich auch nicht so offen mit seinen bösen Taten wie Malice. Dieses schadenfrohe Gelächter raubte Crimson den letzten Nerv. „Wenn wir es nicht eilig hätten... es kann nichts Gutes dabei rauskommen, dass wir ihn dabei haben, aber wir haben keine Zeit, mit Luster zu diskutieren. Ich kann mir schon denken, wie das ausgeht.“ Crimson machte Black Lusters Stimme nach: „Aber Crimson, ich bitte dich. Dieser Mann hat einen neuen Anfang gewagt, verdient er nicht ebenso eine Chance wie Soach?“ Fire lachte, aber weiter kamen sie nicht, denn ihre Drachen flogen hinter ihrem Anführer her und erhöhten den Abstand zu weit, als dass eine Unterhaltung möglich gewesen wäre. *** Soach ließ sich widerstandslos wegbringen, froh über das vorläufige Ende der Demütigung durch den Lord. An sein unvermeidlich erscheinendes Dahinscheiden wollte er erst einmal nicht denken. Zunächst musste er noch einen Schwur erfüllen. Rahzif stellte sich von innen vor die Tür des Gästezimmers, welches Soach für die Dauer seines restlichen Aufenthaltes bewohnen sollte. „Ich hatte keine Ahnung, dass er es auch auf Eure Mutter und deren Thron abgesehen hat... Ich dachte, er hätte etwas Persönliches gegen Euch aus der Zeit, als Ihr das Schattenreich erobern wolltet.“ „Ja, das würde auch dazu passen, dass er immer für die Todesstrafe plädiert hat,“ bemerkte Fawarius, der im Schrank ein Nachtgewand in Soachs Größe heraussuchte. „Hier... das könnt Ihr überziehen. Der Lord stattet alle Gästezimmer gut aus...“ Soach kannte das so auch von Lord Genesis, dementsprechend wunderte er sich auch nicht über die Rüschen an den Ärmeln des knielangen, blütenweißen Gewandes. Er krempelte die Ärmel etwas hoch, so dass die Rüschen nicht störten. „So wie ich das verstehe, war Euch klar, dass er mich töten wollte, und dass mein Tod Eure Söhne vor Bestrafung retten sollte. Welch ein Glück, dass ich zur Verfügung stand, stellt Euch nur vor wenn nicht.“ Die beiden Männer tauschten einen langen Blick aus. „Was ist es, was der Lord mit Heranwachsenden macht, die ihm Schätze stehlen?“ wollte Soach wissen. „Hackt er ihnen eine Hand ab?“ „Das würde ich nicht ausschließen,“ murmelte Rahzihf. „Aber da das Diebesgut wieder auftauchte, wäre es nicht so gekommen, vielleicht zu körperlicher Züchtigung... Kihnaf hatte natürlich den Auftrag, das Euch gegenüber etwas schlimmer darzustellen und zu behaupten, dass er das Objekt noch besitzt.“ „Ihr müsst Euch gar nicht weiter rechtfertigen.“ Soach probierte aus, was für Schritte er in dem Nachthemd machen konnte. „Nur wäre es mir lieber, wenn es tatsächlich etwas Persönliches zwischen mir und Arae wäre statt zwischen ihm und meiner Mutter. Schließlich habe ich noch zwei Geschwister, mehrere Kinder, Nichten und Neffen. Wenn er es auf den Thron abgesehen hat, muss er bei denen weitermachen.“ „Der Lord hatte zuvor nie solche Ambitionen,“ warf Fawarius ein. „Er ist im Zirkel des Bösen und war damit zufrieden, und wir hatten einen sicheren Job bei ihm. Dann starb seine Mutter, und von da an veränderte er sich langsam, wurde launischer und grübelte oft. Doch er sprach nicht mit uns darüber, erwähnte nur einmal, dass er Eure Strafe zu lasch fand... deshalb dachten wir, dass er das korrigieren wollte und sonst nichts. Wir brachten das gar nicht mit dem Tod seiner Mutter in Verbindung, erst heute erfuhren wir davon.“ „Im Nachhinein scheint es mir aber, dass der Diebstahl durch unsere Söhne ihm ein willkommener Zufall war,“ meinte Rahzihf. „So konnte er ausnutzen, dass Ihr mir etwas schuldet.“ Soach hob eine Augenbraue. „Ich glaube nicht an Zufälle. Hätte er nicht auch einfach von Euch verlangen können, mich durch mein Versprechen in die Falle zu locken, ohne einen Grund?“ „Schon, aber ich bin sicher, das hätte er nicht getan,“ sagte der Krieger im Brustton der Überzeugung. Soach hatte das Gefühl, dass da jemand einfach nichts Schlechtes an seinem Herrn finden wollte.„Warum seid Ihr so loyal zu ihm, wenn ich fragen darf? Hättet Ihr zugelassen, dass er Eurem Sohn die Hand durchbohrt?“ Rahzihf sog hörbar die Luft ein und schloss einen Moment die Augen, ehe er Soach wieder ansah. „Vielleicht ist das schwer für Euch zu verstehen nach allem, was Ihr erlebt habt. Er ist nur hart zu denen, die sich etwas zuschulden kommen lassen, etwa... ihn bestehlen. Eine durchbohrte Hand wäre geheilt. Doch ich glaube fest daran, dass er es nicht getan hätte.“ „Das sehe ich anders,“ widersprach Soach. „Er hätte es tun müssen, wenn ich mich geweigert hätte, ihm zu gehorchen. Denn sonst hätte ich ihn nicht mehr ernst genommen.“ „Nun... ja, Ihr habt Recht,“ musste Rahzihf ihm zugestehen. „Aber er hätte es auch tun können, obwohl Ihr nachgegeben habt, um Euch eine Lehre zu erteilen. Das hat er nicht.“ „Damit hätte er wirklich Eure Loyalität aufs Spiel gesetzt,“ unterstellte Soach. „Oder hättet Ihr auch das hingenommen?“ Rahzihf zögerte mit der Antwort, rang sichtbar mit sich. „Vielleicht. Ich bin froh, dass es nicht dazu kam. Versteht mich bitte, Eure Hoheit! Der Lord hat mich aufgenommen, gab meiner Familie ein Dach über dem Kopf... er besorgte mir einen neuen Arm. Ich schwor ihm Treue bis in den Tod, und er versprach mir, bis an mein Lebensende für mich zu sorgen. Er kümmerte sich um die Ausbildung meiner Söhne und versicherte mir, dass meine Familie versorgt wäre, falls mir etwas zustoßen sollte.“ „Habt Ihr das schriftlich?“ konnte sich Soach nicht verkneifen zu fragen. Rahzihf blinzelte. „Wie bitte?“ „Schon gut,“ winkte Soach ab. „Was ist mit Euch, Fawarius?“ „Auch ich habe meinem Herrn Treue geschworen bis an mein Lebensende,“ gab der Magier ihm bereitwillig Auskunft. „Jedoch tat ich es, weil bereits mein Vater für die verstorbene Lady Arae gearbeitet hat, als ich noch jung war. Edeh und ich wuchsen quasi zusammen auf. Ich war sein Alchemist, seit er zwölf war und ich vierzehn. Natürlich war ich zu der Zeit noch kein besonders großer Alchemist. Die Lady ließ mich auf die Akademie gehen, damit ich meiner Aufgabe gewachsen sei. Ich tat mein Bestes.“ Dagegen ließ sich im Grunde nichts einwenden. Schließlich hatten auch die grausamsten Herrscher treue Untertanen, wenn sie es nur richtig anstellten. Soach lag es fern, die Treue dieser Männer zu ihrem Herrn zu untergraben, nur blieb er dabei leider auf der Strecke. „Ich halte Euch zugute, dass Euer Sohn versucht hat, mir dieses Schicksal zu ersparen,“ sagte er schließlich. „Und es tut mir Leid, dass wir Feinde sein müssen. Euer Lord Arae ist für mich schlicht und einfach derjenige, der meine Familie bedroht. Die Familie kommt für uns von den Eisigen Inseln an erster Stelle. Es gibt für mich nur noch eine Ausnahme, einen Mann, an den ich durch mein Wort gebunden bin. Und durch innige Freundschaft. Schickt Euren Sohn lieber weit weg, bevor er hier eintrifft, Rahzihf. Es sei denn, Euer Herr lässt mich dann einfach laufen.“ „Das werde ich nicht tun,“ widersprach der Krieger sofort. „Wir sind Lord Arae treu ergeben und werden für ihn kämpfen, gegen wen auch immer er uns führt.“ „Ich bitte Euch, Rahzihf,“ versuchte Soach es erneut. „Ich habe für Euren Sohn meine Magie geopfert, und nun sterbe ich für ihn. Lasst mir wenigstens die Gewissheit, dass es nicht umsonst war. Gewährt mir diesen letzten Wunsch.“ Rahzihfs Kiefermuskeln arbeiteten einige Sekunden lang. „Nun gut,“ nickte er schließlich. „Ich lasse mir etwas einfallen. Kihnaf wird das Haus verlassen.“ Er wandte sich zur Tür. Soach atmete auf. „Danke.“ Gerne hätte er zusammen mit dem Sohn auch den Vater in Sicherheit gewusst, schon weil Crimson dann auf weniger Widerstand treffen würde. Aber zumindest verlor Arae sein bestes Druckmittel. „Seid Ihr sicher, dass das Euer letzter Wunsch ist?“ erkundigte Fawarius sich, als sein Kollege fort war. „Gibt es nicht etwas Persönlicheres, vielleicht eine Nachricht, die Ihr an jemanden überbracht haben wollt?“ „Vielleicht... das würde ich dann aber als einen Gefallen bezeichnen, um den ich Euch bitte.“ „Nur zu, sagt mir, wenn es etwas gibt. Aber erst einmal würde ich Euch etwas zu essen besorgen, wenn Ihr möchtet.“ „Das wüsste ich sehr zu schätzen.“ „Mein Herr hat ja nicht verboten, Euch zu verpflegen. Ich nutze das lieber aus, bevor er es nachholt.“ Fawarius ließ den Prinzen alleine, schloss die Tür von außen ab. Zum ersten Mal seit seiner Gefangennahme konnte Soach durchatmen, ohne sich verstellen zu müssen. Doch er erlaubte sich lediglich ein unterdrücktes Schluchzen, ehe er sich energisch mit einem Ärmel über die Augen wischte. Ihm blieb nicht viel Zeit, bis er den Lord wieder um das Gegenmittel anbetteln musste. Er trat ans Fenster, doch es ließ sich nicht öffnen. Hinter dem Buntglas konnte er Gitterstäbe erahnen. Sicherlich dienten die eher dem Schutz gegen Einbrecher, aber Soach wollte darauf nicht wetten. Weder im Schrank noch auf dem Tischchen vor dem Fenster gab es irgendwelche Dekorationsgegenstände, wenn man mal von der Tischdecke absah. Auf einem von zwei Sesseln befand sich ein Zierkissen mit aufwändigen Stickereien. Ein kleines hängendes Bücherregal musste vor kurzem leergeräumt worden sein, denn dort war die hölzerne Wandverkleidung heller. Andere solche Stellen wiesen darauf hin, dass auch ein paar Bilder entfernt worden waren. Im Zimmer gab es einen mannshohen Standspiegel, in dem er sich selbst nicht wiedererkannte. Er sah aus wie... nun ja, wie ein sterbender Mann mit einer schwachen, schwarzen Aura. Seine Haut war eher grau als blau, die Augen mattrot statt leuchtend rubinfarben, und er schien Gewicht verloren zu haben. Das konnte unmöglich alles heute passiert sein. Andererseits war es das erste Mal, dass er sich genauer im Spiegel betrachtete seit der Ausbrennung. Soach straffte ein bisschen die Schultern, gab sich aber ansonsten keine Mühe, sein Erscheinungsbild zu verbessern. Statt dessen klopfte er auf die Spiegelfläche und betrachtete das gute Stück von hinten. Die Spiegelfläche bestand aus poliertem Silber mit Standfüßen, die sich nicht davon lösen ließen. Der Nachttisch bot nicht einmal eine Kerze und die Schublade war leer. Das breite Himmelbett lud zu ausgedehnten Ruhephasen ein, aber Soach interessierte sich mehr für den Nachttopf darunter. Fehlanzeige – er bestand aus lackiertem Metall und ließ sich nicht zerbrechen. Jemand hatte dieses Zimmer sorgfältig für ihn hergerichtet, denn auf den ersten Blick fand sich nichts, was sich als Waffe verwenden ließ. Frustriert seufzend ließ er sich aufs Bett sinken und blieb dort sitzen, bis er hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, dann trat Fawarius ein – und er brachte das versprochene Essen und Wasser mit. Soach ging ihm entgegen und riss dem Magier die Karaffe vom Tablett, noch ehe er es irgendwo abstellen konnte, und trank sie direkt halb aus. Das Wasser befreite Zunge und Rachen von dem widerlichen Geschmack des Giftes und spülte die Restaromen des Gegenmittels weg. Erst danach sah er nach, was es an Essen gab, schnappte sich ein Stück Wurst und schlang es ziemlich unzivilisiert hinunter. Dabei hielt er die ganze Zeit die Karaffe fest, als könnte sie ihm jemand stehlen. Den Inhalt sparte er sich auf, bis er auch noch ein Stück Brot, eine Handvoll Obst und ein paar Nüsse gegessen hatte. Erst als alles weg war, sank er auf einen Sessel und entspannte sich einigermaßen. Fawarius lächelte. „Wie schön, dass ich Euch damit eine Freude machen konnte. Es überrascht mich, dass ihr nicht vorsichtiger seid.“ „Wozu.“ „Auch wieder wahr.“ „Was für ein Gift habe ich da getrunken, Fawarius? Gibt es wirklich kein Heilmittel?“ Soach hatte sich nie Gedanken um den Unterschied zwischen den Worten Gegenmittel und Heilmittel gemacht, und nun offenbarte er sich ihm von selbst. „Falls es noch etwas gibt, hat es mir der Lord nicht verraten. Er brachte das Gift und auch das Gegenmittel von einer Reise mit. Ich vermute, dass beides von einem Tier oder einer Pflanze stammt und dort in der Gegend häufiger verwendet wird, so dass er ungefähr weiß, wie es wirkt.“ Der Magier setzte sich zögernd auf den anderen Sessel. „Ihr habt gedacht, es müsste etwas geben, nicht wahr? Deshalb habt Ihr Euch nicht geweigert, das Gift zu trinken. Ihr habt all Eure Hoffnung auf Euren Alchemistenfreund gesetzt.“ „Ja. Ich tat es, um Kihnaf zu schützen und weil ich sicher war, Crimson würde etwas zusammenrühren können. Er kennt Mittel gegen Schlangenbisse, Pilzvergiftungen, verdorbenes Essen... es muss etwas geben. Aber ich weiß nicht, womit ich es zu tun habe.“ „Er hat es weder mir noch Rahzihf gesagt, und wir haben nicht gefragt. Bis vorhin ging ich davon aus, dass das Gegenmittel auch das Heilmittel ist und dass er es Euch geben würde, wenn er Euch genug gedemütigt hätte. Vermutlich habe ich mir gewünscht, dass es so wäre, denn dann könnte ich guten Gewissens weiterhin loyal sein.“ „Nicht zu fragen ist auch eine Art, die Augen vor der Realität zu verschließen,“ stellte Soach fest. „Also... was erwartet mich? Nachdem ich das Gift geschluckt hatte, wurde mir etwas schwindelig, wie wenn man zu sehr dem Alkohol zugesprochen hat. Und ich fühlte leichte Muskelschmerzen, wie nach zu viel körperlicher Arbeit. Wird das schlimmer?“ „Das weiß vermutlich nicht einmal der Lord so genau.“ Insofern erübrigten sich alle weiteren Fragen zu dem Thema. Zum Beispiel, wie lange das Gegenmittel diese Symptome zurückhielt, oder ob das Opfer bis zum Schluss Herr seiner Sinne blieb. Der Gedanke, vor seinem Tod den Verstand zu verlieren, war Soach zuwider, allerdings erschien ihm die Aussicht auf Schmerzen und Übelkeit auch nicht besonders verlockend. „Es muss etwas geben,“ wiederholte er, sprach aber hauptsächlich mit sich selbst. „Es gibt immer etwas...“ Bitte lass es etwas geben... Kapitel 11: Ein geschlagener Hund --------------------------------- Als Soach feststellte, dass das Gift erneut anfing zu wirken, klopfte er an die Tür, um es Fawarius zu sagen, der auf dem Gang Wache hielt und auf seinen Einsatz wartete. Leider hatte er vorhin die Glaskaraffe wieder mitgenommen, ebenso alles andere an Geschirr, was vielleicht als Waffe getaugt hätte. Soach hatte nicht protestiert, um keinen Verdacht zu erregen. Der Alchemist ließ ihn auf den Flur und führte ihn nach rechts. „Der Lord ist nicht mehr in seinem Verhörzimmer,“ bemerkte er, als der Gefangene direkt die benachbarte Tür ansteuerte. Es ging ein Stück weiter den Gang entlang. Zum Ausgang führte der Weg in die andere Richtung. Doch Flucht war momentan nicht in Soachs Sinne. Früher hatte er sich oft überlegt, was er täte, wenn er wüsste, dass er nur noch einen Tag zu leben hätte. Nun gab es nur noch eins. Von vorne kam ihnen jemand entgegen, eine ältere Frau in einfacher Kleidung, vielleicht ein Dienstmädchen. Sie sah sich suchend um, öffnete Türen und rief in die Zimmer: „Junger Herr! Kommt bitte heraus!“ Als sie die beiden Männer erblickte, musterte sie Soach kurz und nickte Fawarius respektvoll zu, wobei sie eilig vorbei huschte. „Junger Herr! Bitte, es gibt doch gleich Essen! Jetzt ist nicht die Zeit für Spiele!“ Fawarius nahm das Gespräch wieder auf, als die Frau um eine Ecke bog. „Bitte wisst, dass ich es nicht befürworte, wie mein Herr mit Euch umspringt. Doch das ändert nichts an meiner Treue zu ihm. Bestimmt wird er wieder normal, wenn diese Sache vorbei ist...“ „Darauf würde ich nicht wetten,“ bemerkte Soach. Er musste relativ langsam gehen, damit der Boden nicht zu sehr wackelte. „Und für mich zählt nicht, wie der Lord früher mal war, sondern nur, wie er jetzt ist.“ Der Magier seufzte. „Wie auch immer... Ich werde Euch nicht helfen, wenn ich dafür die Befehle meines Herrn untergraben müsste. Höchstens... wenn Ihr später an diesem Tage beschließt, dass Ihr es Euch leichter machen wollt, könnte ich vielleicht... also...“ Soach runzelte verwundert die Stirn. „Was meint... oh. Verstehe. Das weiß ich zu schätzen, aber wenn ich mit einer solchen Bitte an Euch herantreten sollte, erinnert mich an diese Unterhaltung. Daran, dass ich meine Familie schützen muss, und zwar bis zum letzten Atemzug.“ „Das werde ich. Eins noch... ich konnte dem Lord einreden, dass Euer Zustand zu instabil ist, als dass er Euch körperlich misshandeln sollte. Ihr könntet sonst vor der Zeit sterben. Also... hört auf, so zu tun, als ginge es Euch gut, sonst stehe ich als Lügner da. Übertreibt es ruhig ein bisschen, das wird ihn freuen, und vielleicht ist er dann gnädiger zu Euch.“ Soach rang sich ein Lächeln ab. „Sagtet Ihr nicht gerade, Ihr würdet mir nicht helfen?“ „Nicht wenn ich seine Befehle untergraben müsste. Ich habe meinem Herrn nur einen medizinischen Rat gegeben, was zu meinen Aufgaben als Alchemist gehört. Von mir wird erwartet, dass ich mich mit Giften auskenne. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Thema. Ihr braucht das Gegenmittel.“ Sie blieben vor einer Tür auf der linken Seite stehen. Soach ließ seine Schultern erschlaffen und senkte den Blick, um möglichst leidend und frustriert auszusehen, was ihm nicht besonders schwerfiel. Wenn er ehrlich war, entsprach das seinen Empfindungen, die er aber unter anderen Bedingungen nie gezeigt hätte. Doch sein Ziel bestand in Araes Tod, nicht darin, seinen Stolz zu bewahren. Darauf kam es jetzt nicht mehr an. Der Magier hielt ihn nicht länger hin, sondern öffnete die Tür und trat hinter ihm ein. „Herr, ich bringe Prinz Soach.“ Arae legte ein Buch zur Seite. Sie befanden sich in einer kleinen, gemütlichen Bibliothek, dementsprechend gab es vor allen Wänden Regale mit Büchern. Vor dem Fenster standen drei einfache braune Ledersessel um einen runden Tisch herum, auf dem sich außer einigen schmalen Bänden die Kristallkaraffe mit dem Gegenmittel und ein passender Kelch befanden. Der Lord lehnte in einem der Sessel, den er so gedreht hatte, dass er die Tür im Blick und den Tisch zu seiner Linken hatte. Erhaben lächelte er den Ankömmlingen entgegen. „Ah ja... ich habe mich schon gefragt, wie lange das wohl dauert. Das müssten fast neunzig Minuten gewesen sein, ich bin gespannt, ob das nach und nach weniger wird.“ Den Sessel direkt am Fenster belegte eine junge Frau mit rotem Haar, die ihr Buch noch aufgeschlagen vor sich hielt und über den Rand hinweg die beiden Männer ansah. Lady Arae? Soach wollte es lieber nicht erfahren, denn darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er vermied es, sie genauer zu betrachten. „Ich lasse euch lieber allein,“ sagte die Dame und erhob sich graziös. „Ja, das ist mir auch lieber,“ stimmte der Lord zu. „Prinz Soach mag ein bisschen gezähmt sein, aber ich habe dich lieber nicht mit ihm im selben Raum.“ Er wartete, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, ehe er sich besagtem Prinzen zuwandte. „Es ist ganz einfach, lieber Bruder. Knie vor mir nieder und erbitte den nächsten Schluck. Dann werde ich darüber nachdenken.“ Widerstrebend näherte Soach sich dem Hausherrn bis auf drei Schritte. Der Teppich unter seinen bloßen Füßen fühlte sich zu weich an, und der Raum wankte ein bisschen. Aber noch hielten sich die Symptome in Grenzen. Soach sank auf ein Knie und senkte das Haupt. „Lord Arae. Ich bitte Euch um einen Schluck des Gegenmittels.“ Die Worte brannten wie Säure auf der Zunge. Hoffentlich erfuhr Lady Charoselle nie davon. „Guter Junge,“ spottete Arae. „Komm auf allen Vieren zu mir wie ein braver Hund und mach Männchen, dann kriegst du auch eine Belohnung.“ Soachs Magen verkrampfte sich, und es lag nicht am Gift. Er biss sich auf die Lippe, während er das zweite Knie senkte und die Hand, die auf diesem geruht hatte, neben die andere auf den Boden legte. Beide krallten sich in den Teppich. Er musste seinen eigenen Körper dazu zwingen, seinem Willen zu gehorchen, doch vorher musste sein Wille noch von der Vernunft überzeugt werden, die darauf bestand, den Schwur zu erfüllen. Na los... du hast es doch schon einmal geschafft! Soach versetzte eine Hand nach vorne, gefolgt vom gegenüberliegenden Knie. Er hörte seinen eigenen Herzschlag schnell und laut, spürte einen Adrenalinschub, mit dem er dieser Situation entgehen wollte, aber er widerstand der Versuchung. Den Schwur erfüllen. Bleib am Leben, bis die Gelegenheit da ist. Er krabbelte bis kurz vor Araes Füße, und jede Bewegung war ein Kampf gegen sich selbst. Fast bereute er, einen Schwur geleistet zu haben, aber andererseits trieb der Gedanke daran ihn weiter, verhinderte, dass er sich aufgab. Fawaruis' Rat folgend, gab er ein unterdrücktes Stöhnen von sich, als er den Oberkörper aufrichtete. Die Bewegung schmerzte tatsächlich, als würde das Gift nach und nach Scherben in seine Muskeln pumpen, aber das war noch lange kein Grund zum Jammern. Er biss die Zähne zusammen und legte die Stirn in Falten, aber weniger vor Schmerz als vielmehr vor Anstrengung, in seiner Rolle zu bleiben. Vielleicht würde Arae ihn bald für geschlagen und harmlos halten. Es gab nichts Besseres als einen Feind, der einen unterschätzte. Er starrte eine Minute auf Araes Knie, welche in einer feinen Brokathose steckten, und stellte sich vor, wie er ihn in einem Moment der Unachtsamkeit erledigte. Dabei atmete er tief durch und ließ es so aussehen, als hätte er sehr starke Schmerzen, die ihn zwangen, sich erst einmal zu sammeln. Dann hob er langsam die Hände auf Brusthöhe und hielt sie wie ein Hund, der sich auf die Hinterbeine hockte. Den Blick ließ er weiterhin gesenkt, um das schadenfrohe Gesicht nicht sehen zu müssen. Doch Lord Arae war unerbittlich: Er griff unter sein Kinn und hob es an, bis er ihm in die Augen blickte. „Sehr brav. Dafür gibt es ein Leckerli. Fawarius, füll den Kelch zur Hälfte.“ Der Magier trat an den Tisch heran und tat es mit sachlicher Mine. Wie ein guter Diener reichte er seinem Herrn das Trinkgefäß. Soach schielte zu ihm hin, eine willkommene Ausrede, um den Blickkontakt zu brechen, den er lieber trotzig gehalten hätte. Arae streichelte ihn grinsend am Unterkiefer und hielt ihm den Kelch an die Lippen. „Da, mein kleines Hundchen. Trink nur. So ist's fein.“ Das farblose Mittel schmeckte in etwa so, wie man sich den Geschmack von überaltertem Blumenwasser vorstellte, und rann beißend die Kehle hinunter. Auch im Magen machte sich ein Brennen breit, doch Soach trank weiter, bis er den letzten Tropfen geschluckt hatte. Auf seiner Zunge blieb ein säuerlicher Geschmack zurück. Der Lord tätschelte seinen Köpf und ließ die Finger durch die unregelmäßig kurzen Haare gleiten. „Na bitte, es geht doch, guter Kerl. Fawarius, bring meinen Hund zurück in seinen Zwinger.“ Soach wollte sich erheben, doch der Unterweltler drückte ihn zurück nach unten. „Nein, nein... geh auf allen Vieren wie der Hund, der du bist. Und wenn du das nächste Mal dein Leckerli haben willst, komm so herein und leck mir vor Wiedersehensfreude die Finger ab.“ Soach sah ihn fassungslos an, ehe er sich beherrschen konnte. Sein Gesicht wurde ganz heiß. Sein Feind lachte und machte eine wegscheuchende Geste mit einer Hand. Soach wich vor Lord Arae zurück und stieß gegen das Tischchen. Die Karaffe schwankte bedrohlich. Fawarius, der noch beim Tisch gestanden hatte, verhinderte ein Unglück. Das Gegenmittel wirkte. Soach konnte klarer denken, da der Nebel, der den Fußboden in ein wankendes Floß verwandelt hatte, aus seinem Gehirn verschwand. Die Muskelschmerzen wurden für den Moment betäubt. „Vorsicht, Hundchen. Du willst doch nicht dein Lebenselixier verschütten,“ verhöhnte Arae ihn. Die Karaffe gehörte zu der Sorte ohne Griff, mit hübschen geschliffenen Mustern und einem zierenden Verschluss. Sie hatte einen langen, schmalen Hals und bestand zu einem Drittel aus einem bauchigen Behälter, der etwa zwei Liter Flüssigkeit fasste. Etwas mehr noch passte in den Karaffenhals, aber dieser Anteil war bereits verbraucht. Soach wich ein wenig zurück, so dass er wiederum vor des Unterweltlers Füßen hockte, aber die Karaffe im Blick behielt. Er atmete sichtbar und hörbar auf. „Das war knapp...“ Fawarius ging an ihm vorbei. „Kommt bitte mit, Prinz Soach...“ „Nenn ihn nicht so, er ist das Hundchen,“ grinste Arae. Der Magier seufzte. „Komm, Hundchen.“ Soach stellte sicher, dass Fawarius ihm den Rücken zuwandte, während er zur Tür schritt. Der Lord amüsierte sich prächtig. Er nahm seinen Gegner nicht ernst. Eine bessere Gelegenheit gab es vielleicht nicht, auch wenn... auch wenn es vielleicht wirklich das letzte war, was er tat. Soach stieß sich ab, packte die Karaffe und wuchtete sie mit all der Kraft seines Zorns herum. Gefüllt war sie relativ schwer, zumal die Qualität des Gefäßes auch ihr Gewicht hatte. Das Riffelmuster gab seiner Hand guten Halt. Der Unterweltler reagierte, indem er eine Hand hob und sich zugleich wegdrehte, aber das Kristallglas traf seinen Kopf und zerschellte an einem der Hörner. Splitter und Flüssigkeit spritzten in alle Richtungen weg. Als Sohn einer Unterweltlerin wusste Soach, dass Hörner ziemlich empfindlich sein konnten, obwohl sie wie Waffen aussahen. Im Moment brummte diesem Exemplar vermutlich ordentlich der Schädel. Es kniff die Augen zusammen, um die Flüssigkeit nicht hinein zu bekommen. Soach holte mit dem abgebrochenen Stück aus, das er noch in der Hand hielt, und zielte auf den Hals, alternativ das Gesicht. Er spürte, dass er etwas traf, aber im nächsten Moment traf etwas ihn. Der Lord kam mit einem wütenden Brüllen auf die Füße und entlud einen Schwall seiner Macht. Die Wucht katapultierte den Angreifer von ihm weg. Soach klammerte sich an seine Waffe, kam wieder auf die Füße, kaum dass er gelandet war, und stürzte sich erneut auf den Feind. Dieses Mal riss ihn ein magischer Angriff von Fawarius von den Beinen. Der Magier schrie ihm etwas zu, was er aber nicht beachtete. In seinem Eifer spürte Soach keinerlei Schmerz. Seine Hand hielt noch immer das Stück von der Karaffe, als wäre sie damit verwachsen, und sein ganzer Körper spannte sich zu einer letzten Anspannung an. Plötzlich ragte der Lord über ihm auf. Er trat so brutal auf seinen Unterarm, dass die Knochen knackten. Soach packte das Bein mit der freien Hand und biss mit aller Kraft zu, ganz wie ein Hund, den sein Herr einmal zuviel geschlagen hatte. Arae zog reflexartog sein Bein zurück, doch Soach klammerte sich mit den Zähnen und Fingern daran fest. Seine andere Hand kam frei. Zwar schmerzte der Unterarm, doch er rammte dem Feind das gebrochene Glas in die Wade. Die feine Hose bot kaum Widerstand. Voller Genugtuung hörte er Arae fluchen. Eine mächtige Pranke packte ihn hart im Nacken und drückte zu. Als er daraufhin nicht sofort den Kiefer lockerte, trat ihn der Lord mit seinem anderen Fuß in den Magen, worauf Soach mit einem Keuchen die Luft ausstieß und nachgeben musste. Arae entzog ihm das verletzte Bein und schleuderte ihn von sich. Soach prallte gegen ein Bücherregal. Seine Waffe entglitt ihm und kullerte aus seiner Reichweite. Hastig griff er nach einem willkürlichen Buch und schleuderte es dem Lord entgegen. „Du weißt nicht, wann du genug hast, oder?“ knurrte der Lord. Er bewegte eine Hand in Soachs Richtung und entließ einen Energiestrahl. Soachs Schmerzwahrnehmung kehrte wie ein Donnerschlag zurück. Er krümmte sich schreiend am Boden. Nach wenigen Sekunden legte Arae eine Pause ein. Mit rot glühenden Augen sah er auf ihn herab. „Vielleicht ist es besser so... es wirkt viel glaubwürdiger, wenn du auf diese Art stirbst...“ Mit zitternder Hand griff Soach nach einem weiteren Buch. Doch es flog nur wenige Zentimeter weit. „Herr! Bitte beruhigt Euch!“ Fawarius legte eine Hand auf die drohend erhobene des Unterweltlers, als diese bereits erneut aufleuchtete. „Erinnert euch an Euren Plan! Lady Charoselle soll doch dabei sein, wenn ihr Sohn dem Gift erliegt.“ „Falls er bis dahin durchhält, nun da das Gegenmittel verloren ist,“ zischte der Lord. Aber er senkte die Hand und trat zurück. Soach sah Blut in Araes Gesicht, konnte aber nicht beurteilen, wie schlimm es war. Das interessierte ihn auch zweitrangig, denn er erkannte eine letzte Chance: Während Fawarius versuchte, seinen Herrn zu beruhigen, rollte er sich von den beiden weg und kam in der Bewegung auf die Füße. Dieses Mal nahm er die Beine in die Hand – so gut er das vermochte. Bei der Tür angekommen, zog er sie mit der unbeschädigten Hand auf. „Nein, lass ihn nur,“ hörte er Araes Stimme hinter sich. „Lauf, Soach. Aber dann werde ich meinen Leuten sagen, dass sie dich nicht unbedingt lebend ergreifen müssen. Es wäre vielleicht gnädiger als der Tod durch Gift, der dich ohnehin erwartet.“ Soach zögerte und drehte sich um. Offenbar hätte Fawarius ihn längst aufhalten können, stand jedoch noch bei seinem Herrn und behandelte eine Verletzung an dessen Schläfe. „Wenn sie dich lebend kriegen, werde ich dich töten,“ fuhr Arae fort. „Schmerzhaft, aber es wird nur wenige Minuten dauern, das verspreche ich.“ Er grinste böse, als hätte er eine konkrete Vorstellung davon, was er jemandem alles in wenigen Minuten antun konnte. „Und wenn ich... bleibe?“ fragte Soach. Arae zuckte mit den Schultern. „Dann wirst du in spätestens zwölf Stunden tot sein. Aber immerhin... bleibt dir die Zeit noch.“ Soach überdachte rasch seine Möglichkeiten. Vielleicht konnte er entwischen, zumindest bis hinter den ersten Schild, so dass er um Hilfe rufen konnte. Falls er es weiter schaffte, konnte Gandora ihn wegbringen. Er konnte es bis zu Schloss Lotusblüte schaffen. Andererseits befand sich Crimson vielleicht schon auf dem Weg. Zwölf Stunden, um seinen Schwur zu erfüllen... zwölf Stunden, in denen er immer noch Fawarius bitten konnte, es zu beenden, wenn das Gift ihn in die Knie zwang. „Ich gehe... in mein Zimmer,“ entschied Soach und trat auf den Flur. „Warte! Knie vor mir nieder und bitte mich um Vergebung!“ rief Arae hinter ihm her. „Soach!“ Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, als er bereits einige Schritte entfernt war. Er gelangte zu dem Zimmer, das sie ihm zugeteilt hatten, und trat ein. Schwer atmend lehnte er sich von innen gegen das Holz. Wie lange blieb ihm jetzt noch, bevor die Schmerzen und die Schwindelanfälle wieder anfingen? Wie lange, bis es noch schlimmer wurde? Inzwischen wurden ihm die von Araes Tritt schmerzenden Rippen bewusst, sein Körper war generell etwas mitgenommen. Er starrte in die Luft und presste die sich Hand auf den Mund, damit ihm kein weinerlicher Laut entkam. Er zweifelte nicht daran, dass Crimson rechtzeitig zu ihm kommen würde, so dass noch alles gut wurde und sein Bewusstsein nicht verloren ging. Warum konnte er nicht auch daran glauben, dass der Alchemist ein Heilmittel finden würde? Er konnte auf das Wissen von vier Schlossherzen zurückgreifen, und vielleicht war das alles nur eine Lüge und Arae besaß doch etwas. Möglicherweise ließ sich das Gift mit bloßer Willenskraft überstehen. Das würde er dann wohl herausfinden. Soach grübelte, bis er auf ein Geräusch im Zimmer aufmerksam wurde. Schnell wischte er sich mit dem Ärmel durchs Gesicht und sah sich wachsam um. Das Zimmer war großzügig eingerichtet, wie zu erwarten in einem solchen Haus. Teuer aussehende Einrichtung aus dunklem Holz, unter anderem ein Bett, in dem zwei Personen locker zusammen Platz hatten. Soach schlich sich an, griff nach dem Zipfel der Tagesdecke und zog sie mit einem Ruck weg. „Waaaargh!“ kreischte ein kleines Kind und kugelte sich lachend zum anderen Rand, um sich zu Boden plumpsen zu lassen und unter das Bett zu verkriechen. „Na wenn das nicht der junge Herr ist,“ murmelte Soach. Vielleicht half das Schicksal ihm ja doch. *** Crimson hatte eine Festung, ein Schloss oder eine Villa erwartet, doch es gab nichts dergleichen, als seine Gruppe das Zielgebiet erreichte. Leider hatte Soach sich nicht noch einmal gemeldet, bevor die Verbindung abgebrochen war. Es gab daher keine Erinnerung von ihm, die geholfen hätte, schließlich las Cathy nicht ständig seine Gedanken. Es gab allerdings ein paar Dörfer. Soweit sie wussten, hatte sich Soach zum Dorf Schwarzbach im Donnertal aufgemacht, nun mussten sie nur herausfinden, welches das war. Logischerweise eines in einem Tal, sollte man meinen. Insofern protestierte Crimson nicht, als seine Gruppe eine Siedlung in einem Tal ansteuerte. Die Drachen brüllten, um sich anzukündigen. Menschen kamen neugierig aus ihren Hütten oder hielten bei der Feldarbeit inne. Furcht zeigten sie nicht. Ishzark gestikulierte seinem General, dass er mit den Soldaten etwas außerhalb bleiben sollte, und landete selbst am Dorfrand, gefolgt von Ray, Vindictus, Crimson, Blacky und Fire. Black Luster blieb in seiner Drachengestalt und wartete bei den anderen Drachen, während ihre Reiter das Dorf betraten. „Ich finde es seltsam, dass diese Leute nicht ängstlich wirkten, obwohl wir mit einer kleinen Armee anrücken,“ bemerkte Crimson. Einer der Einwohner hatte ihn gehört und kam ihnen lachend vom Feld entgegen, die Hacke zurücklassend. „Aber nicht doch, wir haben doch den Chaos-Imperatordrachen bereits erkannt und auch die Drachen des Ordens.“ „Ey voll krass,“ rief Fire. „Haste auch von mir gehört?“ Der Mann musterte ihn und rieb sich das Kinn. „Nein, tut mir Leid. Bist du ein berühmter Held, den ich kennen sollte?“ „Offmbah nich,“ grummelte Fire. „Ach, macht doch nichts,“ fand der Bauer. „Du bist ja noch jung. Ich heiße Grylos. Willkommen in Schwarzbach. Kann ich etwas für Euch tun, Reisende? Wollt Ihr hier rasten? Ich kann Euch frisches Brot anbieten und einen Schluck Selbstgebrannten. Und meine Frau könnte Eier braten.“ „Ich weiß nicht, ob wir hier richtig sind,“ sagte Blacky zu seiner Gruppe. „Da hinten habe ich etwas gesehen, ein Schutzfeld, das den ganzen Berg überspannt. Ist das nicht seltsam für ein Bauerndorf?“ Grylos zuckte mit den Schultern. „Normalerweise wohl schon, aber wir haben uns daran gewöhnt. Die Siedlung am Berg heißt Donnerfels. Dort wohnt Fawarius, der Magier. Er übt wahrscheinlich nur. Ein bisschen unter Verfolgungswahn leidet er auch, wenn Ihr mich fragt, denn er meint immer, er könnte von Drachen angegriffen werden. Ihr solltet nichts darauf geben.“ „Sollten wir nicht, he?“ Crimson wandte sich um. Die Hütten am Hang, von hier aus ein paar braune Gebilde, wirkten harmlos, bäuerlich. „Warum wohnt ein Magier in einem Bauernhaus?“ „Wahrscheinlich will er sich vor seinem früheren Orden oder sowas verstecken.“ Grylos winkte ab. „Er stört uns nicht, im Gegenteil. Manchmal ist es ganz praktisch, ihn zu haben.“ „Wir suchen jemanden, einen Mann, der aussieht wie eine ältere Version von Blacky hier,“ fuhr Crimson fort. „Habt Ihr ihn gesehen? Er wollte einen gewissen Rahzihf besuchen, den Vater eines Jungen Namens Kihnaf.“ Das Gesicht des Bauern hellte sich auf. „Ah, natürlich! Die beiden wohnen am nördlichen Dorfrand. Folgt mir.“ „Sind sie denn auch zu Hause?“ wandte Ray ein. Er machte keine Anstalten, Grylos zu folgen, und auch die anderen hatten sich nicht bewegt. Crimson stand unschlüssig dabei. Sein telepathischer Kontakt zu Soach fehlte nach wie vor. In Schwarzbach gab es aber keinen ersichtlichen Grund dafür. „Blacky... bring mich zu dem Schild, den du gesehen hast,“ beschloss er. „Das erscheint mir wahrscheinlicher...“ Zu dem Bauern sagte er freundlich: „Mein Freund besucht anscheinend diesen Fawarius. Er interessiert sich für alles, was mit Magie zu tun hat. Wir werden nachsehen.“ Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, zumal Ray deutlich auch für diese Variante war. Grylos hingegen schien sich große Sorgen um seine Gäste zu machen. „Aber Ihr habt doch sicher Hunger, wollt Ihr nicht erst einmal was essen?“ „Danke, vielleicht später,“ antwortete Ishzark. Die Gruppe folgte Crimson Richtung Berg. In einiger Entfernung schlugen die Soldaten ein provisorisches Lager auf, aber General Raiho sah seinem Herrn nach, bereit, auf dessen Zeichen einzugreifen. „Der Bauer kam mir etwas sehr freundlich vor,“ merkte Vindictus an, als sie Schwarzbach hinter sich ließen. „Man könnte meinen, er wollte uns von dem Berg da fernhalten. Ich war zu weit weg, aber seine Pulsfrequenz und Atmung schienen erhöht zu sein.“ „Is das ein Zeichen dasser lügt?“ wollte Fire wissen. „Möglich,“ nickte der Heiler. „Kann natürlich auch sein, dass er nur gerade hart gearbeitet hat.“ Als sie dem Weg den Berg hinauf folgten, kam der Chaos-Imperatordrache zu Fuß hinter ihnen her. Plötzlich knurrte er ein Gebüsch an, in dem sich etwas bewegte. Ein Vogel schoss heraus, nein... Gandora in seiner verkleinerten Gestalt. Er landete auf Crimsons Schulter und nahm Kontakt zu ihm auf. Wahrscheinlich verstand niemand den schwarzen Drachen besser als Soach, Crimson jedenfalls fand es generell gewöhnungsbedürftig, wie diese Wesen kommunizierten. Gandora übermittelte ihm keine Worte, sondern die Information manifestierte sich im Gehirn des Empfängers wie dessen eigene Idee oder Erkenntnis. Crimsons Zeigefinger deutete wie von selbst nach vorne. „Soach ist dorthin gegangen und aus Gandoras Blickfeld verschwunden, kurz nachdem er den ersten Schild durchdrungen hatte. Dabei brach auch die telepathische Verbindung ab.“ „Dann hatte ich ja Recht,“ stellte Blacky fest. „Moment... heißt das, es gibt mehr als einen Schild da oben?“ „Sag du es mir, du bist doch derjenige von uns, der das sieht,“ entgegnete Crimson. Sie beschleunigten ihre Schritte, verharrten aber an der Grenze des ersten Schildes, oder jedenfalls dort, wo Blacky sagte, dass diese Grenze sich befände. „Wir sollten diesen Schild einfach einreißen,“ schlug Ishzark vor. Crimson hob eine Augenbraue in seine Richtung. „Und das von Euch, Lord Ishzark? Vielleicht handelt es sich hier nur um ein Missverständnis.“ „Geh halt nachsehen,“ drängte der Ältere ihn. „Ich komme mit dir mit,“ setzte Blacky fest, während Gandora zu Ray wechselte, da er den Schild nicht durchdringen konnte. Crimson nickte, denn wie Soachs Vater hatte auch er es recht eilig. „Gut, wir gehen rein und kommen in fünf Minuten wieder, um euch allen zu berichten, ob etwas Ungewöhnliches dahinter ist. Wenn nicht, macht es auf Eure Art, Ishzark.“ Ja, das erschien ihm eine gute Lösung zu sein. Sollten sie in Schwierigkeiten geraten, dauerte es nicht lange, bis Hilfe kam, und wenn nicht, sprach nichts dagegen, das den anderen schnell genug zu sagen. Crimson ging als Erster. Er konnte nichts erkennen, deshalb vermutete er nur, wo sich die magischen Barrieren befanden. Einen Augenblick lang spürte er etwas, als wäre an der einen Stelle die Luft wärmer. Als er sich kurz umblickte, sah er die anderen noch, und sie ihn anscheinend auch, denn Ray winkte und lächelte aufmunternd. „Vorsicht jetzt,“ warnte Blacky ihn. „Noch zwei Schritte.“ Der Chaosmagier schloss zu ihm auf, und im selben Moment durchdrangen sie zusammen den zweiten Schild. Crimson bemerkte den Übergang optisch daran, dass sich die Aussicht änderte, doch er kam nicht dazu, das neue Bild zu betrachten, denn die telapatische Verbindung zu seinem Freund rastete wieder ein. Soachs Gedanken schwappten wie Wasser aus einem umgekippten Fass in seinen Kopf. Erinnerungen manifestierten sich in wenigen Sekunden, Emotionen des anderen stürmten auf ihn ein. Crimson konnte erst wieder klar denken, als er einen Schrei hörte – seinen eigenen. Er sah alles verschwommen, denn er hatte Tränen in den Augen. Doch er stand auf den Füßen, da sein Begleiter ihn stützte. „Blacky! Ishzark soll den Schild mit aller Brutalität einreißen!“ ordnete er an. „Das würde ich ihm nicht empfehlen,“ erwiderte eine fremde Stimme. Crimson blinzelte die Tränen weg und starrte auf drei Lanzenspitzen, an deren Ende sich jeweils ein Krieger befand. Kapitel 12: Aus dem Weg! ------------------------ Der junge Herr erwies sich als ziemlich vertrauensselig. Rote Augen mit geschlitzten Unterweltlerpupillen deuteten darauf hin, dass er wirklich Araes Sohn war. Ansonsten musste er nach der Mutter kommen, er wirkte auf den ersten Blick menschlich, vielleicht etwas blass mit rotbraunem Haar. Ungefähr so konnte auch Lilys Kind einmal aussehen. Soach wurde es schwer ums Herz, denn er würde sein Kind von der Fee niemals in den Armen halten können... „Weinst du?“ fragte ihn der Junge und hörte auf, auf dem Bett zu hüpfen. Älter als drei Jahre war er vermutlich nicht. Soach saß auf der Bettkante, ließ ein Bein heraushängen, während das andere auf den Laken angewinkelt war. Er setzte ein Lächeln auf. „Nicht richtig... ich musste an meine Familie zu Hause denken...“ „Warum bist du nicht bei denen?“ „Ich habe Kihnaf hergebracht. Wie heißt du denn?“ „Edin. Aber nur meine Eltern nennen mich so, alle anderen sagen Junger Herr zu mir. Und du?“ „Mein Name ist Soach. Manche Leute nennen mich Eure Majestät Prinz Soach.“ Die strahlenden Kinderaugen wurden ganz groß. „Dann bist du ein echter Prinz? Ich dachte immer, die haben schöne Kleider an und Kronen auf. Und Schwerter.“ „Ja... normalerweise schon. Aber ich bin krank und muss im Bett bleiben.“ „Ach, das ist ja blöd,“ murmelte der Kleine. „Musst du eklige Medizin nehmen?“ „Das wäre besser, aber die Flasche mit der Medizin ist kaputt gegangen. Deshalb werde ich nicht gesund. Trotzdem muss ich unbedingt noch etwas erledigen.“ „Aber doch nicht, wenn du krank bist!“ protestierte Edin. „Dafür gibt es doch Diener!“ „Du bist deinem Kindermädchen weggelaufen, oder?“ grinste Soach verschwörerisch. „Machst du das oft?“ „Wir haben Verstecken gespielt, und Benja hat mich nicht gefunden!“ sprang das Kind vergnügt darauf an. „Dafür kann ich nichts, oder?“ „Du kennst sicher die besten Verstecke in diesem Haus,“ sagte Soach anerkennend. „Gibt es auch Geheimgänge?“ „Nee, leider nicht, aber ich kann mich ganz leise umher schleichen und schnell rennen! Einmal hat Benja mich erst ganz spät am Abend gefunden!“ „Ui, wie gerissen von dir! Sag mal, kannst du dich auch draußen verstecken oder nur im Haus? Bestimmt wollen deine Eltern nicht, dass du raus gehst.“ „Das wollen sie nicht, wegen den Monstern, aber die tun mir nichts.“ Soach staunte ernsthaft, obwohl er in dem Alter auch schon einen Drachen zum Freund gehabt hatte. „Wirklich? Wie denn das? Fressen die denn keine kleinen Kinder?“ „Nein, nur Leute, die sie nicht kennen. Aber mich kennen sie. Trotzdem soll ich nicht raus.“ „Hm... zeigst du sie mir? Ich habe noch nie ein Monster gesehen. Dabei muss ein Prinz doch tolle Geschichten erzählen können von Wesen, denen er schon gegenüber gestanden hat.“ Edin begann erneut zu hopsen vor Aufregung. „Na klar, ich kann dir sogar von allen den Namen sagen!“ „Das ist ja erstaunlich! Aber sag mal, fressen die mich denn nicht? Muss ich etwas Bestimmtes machen, damit sie mir vertrauen?“ hakte Soach lauernd nach. „Ach, das ist ganz leicht,“ versicherte der Kleine. „Tu einfach so, als hättest du gar keine Angst!“ „Wirklich?“ Soach nahm das erfreut zur Kenntnis. „Dann lass uns mal hingehen...“ Aber in diesem Moment flog die Tür auf und Lord Arae stand in der Öffnung. Er hatte sich anscheinend noch nicht umgezogen, denn sein Hosenbein war aufgeschlitzt und darunter trug er einen Verband. Seine linke Gesichtshälfte zierten einige unterschiedlich große, aber eher harmlose Schnittwunden, sogar das Horn wies leichte Beschädigungen auf. Soachs Stimmung hellte sich auf, als er das sah. Er stand vom Bett auf und nahm Edin auf den Arm. „Ich habe mir überlegt, dass ich gehen möchte,“ teilte er dem Hausherrn mit. „Ohne Drohungen und Verfolger.“ Araes Augenbrauen zuckten. „Du wagst es, meinen Sohn als Geisel zu nehmen? Edin, was hast du hier überhaupt zu suchen?“ „Ich hab mich versteckt,“ gab der Kleine ihm wahrheitsgemäß Auskunft. „Soach wollte gerade mit mir spielen gehen.“ Fawarius trat an dem Unterweltler vorbei. „Edin, das geht jetzt nicht, Benja hat das Essen für dich fertig und deine Mutter wartet schon. Komm...“ „Kann Soach denn mitkommen?“ „Nein, er darf dieses Zimmer nicht verlassen.“ Der Magier kam näher, streckte eine Hand nach dem Kind aus. Soach festigte seinen Griff. „Ihr werdet mich gehen lassen.“ Fawarius lächelte, doch es wirkte gezwungen. „Prinz Soach. Ihr würdet nie einem Kind etwas antun, ganz egal unter welchen Umständen. Komm, Edin. Wir können Soach später wieder besuchen, jetzt gibt es Essen.“ Er nahm den Jungen einfach selbst auf den Arm und trug ihn hinaus. Soach hielt ihn nicht auf. Es stimmte... er hätte nie ein Kind verletzen können. Eine Schwäche, die ihn seines letzten Trumpfes beraubte. Doch er gab sich nicht geschlagen, solange er noch klar denken konnte. „So, jetzt bist du wehrlos, und ich werde dafür sorgen, dass so etwas wie vorhin nicht mehr passiert!“ Arae formte einen Energieblitz in seiner Hand. Soach warf ihm eins der Kissen vom Bett entgegen und das Geschoss verpuffte daran. Federn flogen herum. Er rannte zum Fenster und schnappte sich den Tisch. Dieser hatte nur einen Standfuß, was Soach sehr gelegen kam. Er packte die Tischplatte und wirbelte das Möbelstück herum, um dem Lord mit dem schweren Sockel den Schädel einzuschlagen. Nur kam es dazu nicht, denn auf einmal war Rahzihf zwischen ihm und dem Feind. Soach hatte den Krieger vorher gar nicht bemerkt. Nun gut... dann ließ sich diese Konfrontation wohl nicht vermeiden. Rahzihf konnte den Tisch abwehren und sogar festhalten, deshalb warf Soach anschließend einen Sessel, was er etwas schwieriger fand, aber die Aussichtslosigkeit der Situation weckte alle verfügbaren Kraftreserven in ihm. Zum Glück handelte es sich nicht um schwere Qualität, deshalb wanderte der zweite direkt hinterher. Er versuchte, zur Tür zu kommen, aber Rahzif bewegte sich unglaublich schnell. Anscheinend hatte er alles abgewehrt oder war ausgewichen. Und plötzlich fand sich Soach zwischen ihm und Arae wieder. In Ermangelung von Alternativen holte er mit der Faust aus, um dem Unterweltler mit schlagkräftigen Argumenten seine Meinung zu sagen. Doch er wurde kurz vor dem Ziel von einem stahlharten Griff an seinem Oberarm gestoppt. Soach dachte nicht lange nach, sondern versuchte statt dessen zu treten. Er konnte Arae tatsächlich fast empfindlich treffen, doch der Unterweltler verlagerte ein wenig seinen Stand, so dass der dem Tritt knapp entging. Rahzihf packte auch Soachs anderen Arm, bog ihm mit einer professionell anmutenden Bewegung beide Hände auf den Rücken und hielt sie dort mit seiner künstlichen rechten Hand, die besser funktionierte als jede Fessel. Mit der linken hielt er einen Dolch an Soachs Kehle, und erst dann hörte die Gegenwehr auf. „Halt ihn gut fest, Rahzihf.“ Der Lord blickte ihn mit hasserfüllten Augen an. „Prinz Soach, mein Bruder... im Prinzip wäre ich enttäuscht gewesen, wenn ich mit dir leichtes Spiel gehabt hätte, schließlich hast du es vor das Gericht des Zirkels gebracht. Jedoch nahm ich an, dass die Ausbrennung deiner Magie dich etwas entmutigt hätte.“ Soach lag eine freche Erwiderung auf der Zunge, doch auf einmal war ihm, als hätte jemand die Tür eines finsteren Verlieses für ihn geöffnet, denn sein Geist fand den seines Schlossherrn wieder. Es gab keine Zeit zu vergeuden – er sandte Crimson so viele Informationen wie möglich in Form von Erinnerungsfetzen. Dies war eine leichte Übung, denn er tat es mit Cathy auch ständig. Insofern hatte hoffentlich der Empfänger kein Problem damit. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“ Durch seine kurze Ablenkung hatte Soach verpasst, dass der Lord nun genau vor ihm stand und ihn verspottete. Der Unterweltler packte das Nachthemd und riss auf Brusthöhe ein Loch hinein, so dass er seine Pranke direkt auf die Haut legen konnte. Soach zuckte vor der Berührung zurück, doch hinter ihm stand Rahzihf wie ein Fels. Der Krieger nahm das Messer von seinem Hals, dafür legte er den ganzen Arm auf Schulterhöhe um ihn, so dass er ihn noch fester hielt. [Wir kommen rein, Soach. Halt den Schaden so gut es geht in Grenzen.] [Beeil dich, Crimson... bitte beeil dich.] „Herr... denkt daran, was Fawarius Euch sagte. Folter könnte ihn schneller umbringen, als Euch lieb ist,“ warnte Rahzihf seine Herrn. „Nur einmal werde ich das Risiko eingehen.“ Araes Hand entließ Energie in Form von Schmerzimpulsen, die sich von der Stelle aus in seinem Oberkörper ausbreiteten. Soach tat ihm den Gefallen und schrie, denn so gab der Lord sich vielleicht eher zufrieden. Die Schmerzen blieben eher unbedeutend im Vergleich zur Ausbrennung, allerdings fand Soach sie schlimm genug. Undeutlich vernahm er Rahzifs Stimme, möglicherweise setzte der Krieger sich für ihn ein. Diese Situation bewies einmal mehr, wie lang eine Minute sein konnte... Endlich ließ Arae den Arm sinken, und Soach wurde von seinen Qualen erlöst. Er fand es schwierig, sich auf den Beinen zu halten, aber Rahzihf ließ ihn nicht los. „Sorge dafür, dass der Prinz keinen weiteren Angriff auf mich starten kann,“ befahl Arae. „Brich ihm meinetwegen die Füße, um das zu gewährleisten.“ „Herr? Ist das... eine Anordnung?“ „Ein kreativer Vorschlag. Wenn du Gewissensbisse hast, lass es sein, aber du bist dafür verantwortlich, dass er deine Freundlichkeit nicht ausnutzt.“ „Wie Ihr wünscht.“ Arae wandte sich zum Gehen, und erst, als die Tür hinter ihm zugefallen war, lockerte Rahzihf seinen Griff. Soach sackte zu Boden und blieb dort hocken, um kurz zu verschnaufen. Sein Körper fühlte sich kraftlos an – er hätte nicht aufstehen können, wenn er gewollt hätte. „Ich räume hier ein bisschen auf und helfe Euch dann ins Bett, Prinz Soach,“ sagte der Krieger. „Man könnte glatt annehmen, dass Ihr den Lord dazu provozieren wollt, Euch zu töten.“ Wie zur Antwort erbebte die Luft wie bei einem Gewitter. Mehrstimmiges Drachengebrüll erklang, dann wiederholte sich das Phänomen. Auf dem Flur wurden schnelle Schritte laut, im Haus schrie jemand Alarm. Rahzihf stellte dennoch in Ruhe die Möbel zurück an ihren Platz und benutzte das Kissen von dem einen Sessel, um die Federn etwas zusammenzufegen. Er wirkte auf Soach wie jemand, der eine unangenehme Aufgabe hinausschiebt. „Ich muss mich, wie es scheint, um die Verteidigung kümmern...“ Er wandte sich dem Gefangenen zu. Sein Gesicht verhärtete sich. „Dazu müsste ich Euch aber hier allein lassen. Also... bringen wir es hinter uns.“ *** Für einen Moment fühlte Crimson sich überwältigt von den Informationen, die Soach im telepathisch sendete. Seine wiedergefundene Verbundenheit mit dem Freund zwang ihn fast in die Knie, denn schonungslos prasselten dessen Erinnerungen, Gefühle und Gedanken auf ihn ein. Lediglich Blackys Eingreifen hielt ihn aufrecht. Soach flehte ihn praktisch an, sich zu beeilen. Crimson richtete sich zu voller Größe auf. Zeitgleich bekam er mit, dass Lord Arae den ehemaligen Chaoshexer folterte. Doch er konnte sich weit genug distanzieren, um sich auf die Wut zu konzentrieren, die er jetzt brauchte. „Aus dem Weg.“ Er hob eine Ferse und stampfte damit auf den Boden. Unter den Soldaten erschien ein Erdspalt, der gerade groß genug war, dass die drei Männer mit einem erschrockenen Aufschrei hinein stolperten. Wie auf dem Rücken liegende Käfer versuchten sie, sich zu befreien. „Ich gebe den anderen Bescheid.“ Blacky ließ seinen Zauberstab erscheinen und von der Kristallkugel ausgehend eine rote Lichtkugel in die Luft sausen, die hinter ihm aus dem Schildbereich hinaus flog. Er blieb Crimson auf den Fersen, als dieser mit energischen Schritten das Haus ansteuerte. Von dort trauten sich weitere bewaffnete Soldaten in ihre Richtung, aber einer rief: „Unsere Lanzen sind nutzlos gegen sie – schlagt Alarm! Lasst die Monster raus!“ Man musste ihnen anrechnen, dass sie dennoch die Stellung hielten. Einer blies in ein Signalhorn. Als wäre das ihr Zeichen gewesen, stiegen Gandora und der Chaos-Imperatordrache über ihnen auf und feuerten auf den Schutzschild ein. Die Magie hielt vorerst noch stand, aber die Luft darunter bebte. Crimson ließ einen Raigeki-Zauber auf die Soldaten niedergehen. Zwei wurden direkt niedergestreckt, die restlichen vier konnten mehr oder weniger ausweichen. Crimson eilte an ihnen vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. „Halten wir uns nicht hier auf,“ sagte er. „Dein Vater braucht uns, Blacky. Jemand will ihm den Fuß brechen.“ „Kann er ein Fenster einschlagen?“ fragte der Chaosmagier. Am Eingang standen weitere Wachposten. Crimson kreuzte seine Arme vor der Brust und beschwor den Tausend-Messer-Zauber. Sein Kontakt zu Soach bestand weiterhin, so dass dieser die Frage mitbekommen hatte. Die Krieger sprangen zur Seite, als die Klingen des Zaubers in die Eingangstür einschlugen. Es waren trotz des Namens keine tausend Stück, aber sicherlich hundert. „Er wird es versuchen,“ antwortete Crimson schließlich, als Soach sich im Zimmer nach etwas umsah, das er benutzen konnte. „Es müsste ein Zimmer auf der Rückseite sein, wenn ich seine Erinnerungen richtig deute.“ „Ich kümmere mich darum.“ Blacky nahm die Gestalt eines Raben an. Sein Zauberstab wurde zu einem Fußring des Vogels. Wenige Flügelschläge brachten ihn über das Haus. Crimson trat durch die Tür und hetzte einen Gang entlang, der ihm bekannt vorkam, obwohl er zum ersten Mal hier war. Er verließ sich auf den Chaosmagier und blieb in Gedanken bei dessen Vater. Soach zog den Nachttopf unter dem Bett hervor – den einzigen Gegenstand, den er momentan erreichen konnte und der sich für den Zweck eignete. „Ist es vielleicht möglich, dass Ihr Euch kurz umdreht?“ Rahzihf verschränkte die Arme und blieb zumindest stehen. „Ihr glaubt nicht im Ernst, dass ich Euch den Rücken zuwenden würde, oder? Es sei denn, Ihr könntet mir Euer Wort geben, dass Ihr mit dem Ding keinen Unsinn vorhabt.“ „Ich hatte jedenfalls nicht vor, Euch damit eins überzubraten, aber es ist eine gute Idee.“ Soach quälte sich auf Hände und Füße, dann richtete er sich auf, unsicher wie ein kleines Kind bei seinen ersten Gehversuchen. [Mir tut alles weh... aber ich glaube, das ist noch nicht wieder das Gift...] [Nein. Ich denke, dafür ist Araes Strafmaßnahme verantwortlich,] bestätigte Crimson. [Blacky ist unterwegs, Soach. Gib nicht auf. Du musst die Scheibe einschlagen, damit er weiß, wo du bist!] [Aufgeben kommt in meinem Wortschatz nicht vor. Aber von hier aus kann ich das Teil nicht werfen.] Soach wankte auf das Fenster zu. „Wenn Ihr mich schon beobachten müsst, Rahzihf... dann gehe ich da drüben hin. Ihr könnt ja die Tür bewachen.“ Der Krieger hob eine Augenbraue und verlagerte das Gewicht gelassen auf ein Bein. „Fein, wenn Ihr darauf besteht...“ „Was soll ich denn machen,“ murmelte Soach. „Ihr wollt mir die Füße brechen. Oder einen. Jedenfalls werde ich dann nicht einmal mehr ohne Hilfe meine Notdurft erledigen können, und daher werde ich sterben, während ich die Hose voll habe... naja, Ihr wisst, was ich meine. Wenn ich eine anhätte.“ Diese Argumentation kam wohl bei Rahzihf an, zumindest hielt er den Gefangenen nicht auf. Als Soach nahe genug am Fenster war, nahm er den Deckel ab und schleuderte den Nachttopf so gut er konnte in die Scheibe. Das Buntglas brach vor allem an den Nahtstellen, machte dabei ordentlich Krach. Das Metallgefäß prallte klappernd von den Gitterstäben ab, die hinter dem Glas an der Hauswand befestigt waren, und fiel zurück ins Zimmer. Soach stützte sich auf einen Sessel, um auf den Füßen zu bleiben. „Ich hätte Euch sagen können, dass alle Fenster vergittert sind, aber ich dachte, Ihr wüsstet es,“ kommentierte Rahzihf. Er näherte sich mit entschlossener Mine. „Aber jetzt ist Schluss. Kommt mit zum Bett. Das ist die letzte Gnade, die ich Euch gewähre.“ Soach fuhr herum und warf den Topfdeckel nach ihm, verfehlte jedoch um etliche Zentimeter. Dafür brachte der Schwung ihn fast zu Fall. Rahzihf packte ihn am rechten Oberarm und hielt ihn so aufrecht, doch die Geste wirkte nicht freundlich. Crimson beschleunigte seine Schritte. Er eilte den Weg entlang, den auch Soach gegangen war, durchquerte eine Eingangshalle und mehrere Gänge. Krieger, die ihm begegneten, hetzten in die entgegengesetzte Richtung und ignorierten ihn. Vielleicht lag das auch daran, dass seine geballten Fäuste schwarzviolett leuchteten, bereit, jederzeit eine Attacke dunkler Magie loszulassen. Er kam demnach ungehindert voran, bis sich ihm ein Magier mit einem teilweise vernarbten Gesicht entgegen stellte. „Ich bin Fawarius, Alchemist Lord Araes,“ stellte sich der Fremde vor. „Ich nehme an, Ihr seid Crimson vom---“ „Lasst mich vorbei!“ Crimson wuchtete beide Hände nach vorn und entließ seine finsteren Energiebälle. Die Störung konnte er jetzt nicht gebrauchen, wähnte er sich doch kurz vor dem Ziel. Leider wich Fawarius nicht aus, sondern blockierte weiterhin den Weg und schüttelte lediglich seine Ärmel, worauf ein feines, violettes Pulver heraus kam und sich in der Luft verteilte. Die Schwarze Magie Attacke verpuffte daran. Verblüfft hob Crimson die Augenbrauen. Doch so gern er auch fragen wollte, wie das funktionierte, er musste seine Neugier auf später verschieben. „Ich habe keine Zeit für Euch!“ Damit beschwor er ein Raigeki, direkt danach noch ein paar Standardanfgriffe. Der Alchemist wehrte alle auf die gleiche Weise ab wie beim ersten Mal. „Wenn Ihr es so eilig habt, warum verplempert Ihr dann Eure Zeit mit mir?“ neckte er ihn. „Guter Hinweis,“ grummelte Crimson und versuchte es etwas direkter, indem er mit der Faust auf das Kinn zielte. Er sah gerade noch, dass Fawarius etwas auf den Boden warf, und brach seinen Angriff schnell ab. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm auf, dass sich ausgerechnet in diesem Bereich kein Teppich auf dem Marmor befand, obwohl sonst alle Gänge damit ausgelegt waren. Ein kleines Fläschchen zerschellte am Boden und entließ grünlichen Dampf, der aber niemanden erwischte. Fein, das konnte er auch. Er griff in seine Robe und holte aus einer Innentasche einen Lähmungstrank hervor, den er Fawarius vor die Füße pfefferte. Das zumindest plante er, aber der Alchemist von Lord Arae ging in die Hocke, fing die verkorkte Phiole auf und warf sie direkt zurück – zusammen mit einigen seiner eigenen. Crimson, der schon instinktiv eine Handbewegung angefangen hatte, um seinen eigenen Trank mit Magie abzufangen, starrte entgeistert hinter den winzigen Gefäßen her, die zum größten Teil einige Meter weit hüpften und kullerten. Durch seine Unachtsamkeit wäre der Lähmungstrank fast auf den Boden gefallen, aber er fing ihn noch rechtzeitig auf und ließ ihn in seine Hand schweben. „Mir scheint, diese Phiolen sind aus Keramik und für den Zweck etwas zu stabil,“ stellte er schadenfroh fest. Fawarius zuckte mit den Schultern. „Das ist wohl Pech. Mal sehen, womit ich Euch statt dessen beglücken kann.“ Er verstreute weitläufig den Inhalt eines faustgroßen Lederbeutels. Dabei handelte es sich um feine, weiße bis hellgelbe Krümel. Crimson wich vor dem Zeug zurück, aber es schien keinen Effekt zu haben. „Salz? Ihr habt wohl daneben gegriffen. Gebt endlich den Weg frei!“ „Hm... das ist ja jetzt höchst ärgerlich...“ Fawarius schüttelte auch den letzten Rest aus dem Beutel, als hoffte er, darin noch etwas Besseres zu finden. Ungeduldig griff Crimson ihn erneut an, warf den Lähmungstrank und zugleich eine Schwarze Magie Attacke. Salz knirschte unter seinen Schuhen, als er auf den Gegner losging. Fawarius wehrte den Zauber wieder mit einer Bewegung seiner Ärmel ab, die einen violetten Schleier aus Pulver vor ihm ausbreitete. Doch den Lähmungstrank stoppte das nicht. Das Gefäß fiel ihm klirrend vor die Füße und entließ den grünen Dampf. Der Alchemist führte eine Hand zum Mund und trank etwas, so dass er unbehelligt blieb. Er rührte sich nicht vom Fleck. „Also bitte, lieber Kollege, ich hatte doch Zeit, mich auf den Lähmungstrank vorzubereiten. Ihr hingegen geht etwas planlos an die Sache heran, wenn ich das sagen darf.“ Fawarius lächelte freundlich und steckte die Hände in den jeweils anderen Ärmel. Crimson fühlte sich verspottet. „Es reicht jetzt. Lasst mich vorbei, ich muss zu meinem Freund, der hier festgehalten wird!“ Als er einen Schritt nach vorn machte und sich anschickte, rechts an dem anderen Magier vorbei zu gehen, breitete dieser die Arme wieder aus und hielt in jeder vier alchemistische Glasphiolen, immer eine zwischen zwei Fingern. Die Inhalte zeigten unterschiedliche Farben. Crimson konzentrierte sich auf die linke Hand, da sie ihm näher war. Eine Phiole mit leuchtend gelbem Inhalt war unverkorkt. Fawarius lächelte noch breiter und kippte die Öffnung nach unten. *** Soach versuchte, sich aus Rahzihfs Griff zu winden, und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, zum Bett gezogen zu werden. Er strengte sich vergeblich an. Sein geschwächter Zustand machte ihn quasi wehrlos gegen den breitschultrigen Krieger. „Wenn Ihr Euch so sehr weigert, Euch aufs Bett zu legen, damit ich Euch die Füße brechen kann, kann ich auch alternativ mit Eurem Arm anfangen!“ drohte Rahzihf schließlich, als wohl auch ihm die Geduld ausging. Soach hielt keuchend inne und starrte auf die Metallfinger, die zweifellos sehr fest zudrücken konnten. Dann sah er dem Mann ins Gesicht. „Das ist nicht Euer Ernst, oder? Helden tun so etwas nicht!“ Rahzihf seufzte auf seine typische traurige Art. „Ich bin kein Held, Majestät. Nur ein Söldner mit einer festen Anstellung.“ „Was ist aus dem Mann geworden, dessen Schwert die Schwachen und Hilflosen verteidigt? Der hilft, wo er kann?“ „Und der seine Pflicht tut. Sie besteht darin, meinen Herrn vor weiteren Angriffen Eurerseits zu schützen. Denn hilflos seid Ihr gewiss nicht, wenn auch derzeit etwas geschwächt. Könnt Ihr mir schwören, dass Ihr dieses Zimmer nicht verlasst, wenn ich fort bin?“ Draußen erklangen noch immer die Donnerschläge, die die Luft erzittern ließen. Soach schwieg. „Das dachte ich mir,“ meinte Rahzihf. „Ihr werdet noch auf dem Sterbebett versuchen, Euer Wort zu halten. Wenn ich Euch die Füße breche, werdet ihr auf Knien weitermachen. Breche ich Euch die Hände, werdet Ihr mit den Zähnen nach der Kehle meines Herrn trachten. Es widerstrebt mir, beides zu machen, zumal Euch auch das nicht aufhalten würde.“ „Es ist fast erschreckend, wie gut Ihr mich einschätzen könnt, aber Ihr solltet ja wissen, wie ich zu meinen Versprechen stehe,“ bemerkte Soach. Doch er machte sich keine Illusionen. Rahzihfs Loyalität zu Lord Arae war fast so stark wie seine eigene zu Crimson. Der Krieger änderte seine Taktik, wuchtete Soach gegen die nächste Wand und schloss die Hände um seinen Hals. „Ihr lasst mir also keine Wahl. Um den Befehl meines Herrn zu erfüllen, muss ich Euch töten, auch wenn ihm das nicht gefallen wird.“ Soach packte die Handgelenke und zerrte daran, aber er konnte sie wegen der metallenen Armschienen nicht einmal richtig umfassen geschweige denn von seinem Hals wegziehen. Treten brachte nichts – er war barfuß gegen eine Rüstung. Nicht einmal etwas sagen konnte er mehr. Diese Entwicklung traf ihn unvorbereitet, da er geglaubt hatte, auf jeden Fall durch das Gift sterben zu müssen. Konnte er sein Bewusstsein zu Crimson schicken, wenn es jetzt geschah? „Es tut mir Leid...“ murmelte Rahzihf. Und sackte ohnmächtig zu Boden. Während Soach ihn noch ungläubig anstarrte, ergriff ihn ein anderes Paar Hände, doch der Besitzer zog ihn in seine Arme und drückte ihn fest. „Papa.“ Vor Erleichterung gaben fast seine Knie nach. Soach erwiderte die Umarmung mit aller Kraft, die ihm noch blieb. Er kniff die Augen zu und spürte etwas Warmes auf seinen Wangen, aber zum Glück sah es niemand. Er barg das Gesicht in den langen Haaren seines Sohnes, atmete den Geruch von Lackleder, Schweiß und Chaosmagie ein. „Du hast dir Zeit gelassen,“ brachte er schließlich hervor. „Ich wollte eigentlich einen dramatischeren Auftritt hinlegen, aber so hat er gar nichts gemerkt.“ Kays Stimme klang belegt. Soach musste nicht nachfragen – sein Sohn sah Auren, genau wie er selbst. Im Prinzip gab es ja auch keinen Grund, ihm seinen Zustand zu verheimlichen, aber er wollte das Thema lieber vermeiden. „Was hast du mit Rahzihf gemacht?“ fragte er, wobei er zögernd die Umarmung löste. „Oh, ähm... das ist glaube ich Missbrauch eines Heilzaubers,“ antwortete Kay. Soach hob die Augenbrauen. „Er ist nicht tot, oder?“ „Nein, aber er schläft tief, eigentlich ein Zauber, um Verletzte schlafen zu schicken, während sie behandelt werden. Er sollte mindestens eine Stunde wirken.“ Soach nahm dem bewusstlosen Rahzihf das Schwert und den Dolch ab und überlegte, ob er die Waffen mitnehmen sollte, entschied sich aber zumindest gegen das Schwert. Er fühlte sich nicht stark genug, es in einen Kampf zu führen, deshalb steckte er es am Kopfteil des Bettes hinter die Matratze und legte ein Kissen ordentlich davor. Dort suchte bestimmt niemand danach. Für den Dolch hingegen hatte er vielleicht Verwendung. Er nahm ihn mit. Auf der Fensterbank entdeckte er einige Rabenfedern. Der Abstand zwischen den Gittern mochte für einen solchen Vogel ausreichen. „Gut gemacht. Lass uns den Lord suchen.“ Kay widersprach ihm nicht, obwohl er seinen Vater vielleicht lieber ins Bett gesteckt hätte. „Hier, nimm den,“ sagte er und drückte Soach seinen Zauberstab in die Hand. „In der Kugel müsste noch ein bisschen meiner Magie übrig sein.“ Was ein Chaosmagier so als ein bisschen bezeichnete... *** Vindictus hielt sich etwas im Hintergrund, als die Behemoths aus dem Wald kamen. Ihre Schulterhöhe betrug durchschnittlich drei Meter. Trotzdem stürmte Ishzark mit seinen Männern vor und stellte sich den Bestien. Fire beteiligte sich erfreut an dem Kampf, während der Praktikant des Drachenhauchordens es nicht ganz so eilig hatte. Der alte Heiler rechnete mit einem schnellen Ende, auch wenn die Behemoths über enorme Angriffskraft verfügten. Die Krieger standen ihnen da schließlich in nichts nach. Natürlich ließ sich so ein Ungetüm nicht mit dem ersten Hieb eines Schwertes besiegen, aber sicher doch nach mehreren geschickten Versuchen. Jedoch fiel das anscheinend schwieriger aus als gedacht. Die Krieger der Eisigen Inseln kamen direkt in Bedrängnis, und auch das Feuer des jungen Magiers half da nicht. Merkwürdig. Und wo steckte eigentlich Ray? Vindictus sah sich ein wenig um und wurde auf Kampfgeräusche abseits des Hauptereignisses aufmerksam, als er das Haus rechts herum umrundete. Zwischen gepflegten Blumenbeeten und Obstbäumen lieferte sich der zweitälteste Prinz ein Duell mit Schwert und Magie gegen eine rothaarige Schönheit. Vindictus bekam ganz große Augen. Sie trug eine Rüstung im Samurai-Stil, beschränkte sich aber nicht auf ihr gebogenes Katana, sondern schlug sich auch gut mit Zaubern. Schwer zu sagen, was ihr Hauptgebiet war, Waffe oder Magie. Ray jedenfalls war eigentlich Magier mit einer geschickten Klinge. Ganz offensichtlich machte er bei seinen Gegnern keinen Unterschied wegen des Geschlechts, denn gerade drängte er sie durch einige Rosenbüsche, deren Blätter und Blüten den Kämpfenden dabei um die Ohren flogen. Fast schon romantisch. Vindictus fühlte sich an seine Jugend erinnert. Doch er entschied, dass er hier nicht gebraucht wurde, deshalb ging er lieber zurück zu Ishzarks Gruppe und den Behemoths. Hier kamen die Helden tatsächlich in Bedrängnis, sie hatten gerade mal eine der Bestien getötet. Das aber reichte Vindictus aus, um sich einzumischen. Er murmelte schnelle Worte vor sich hin, wobei grünliche Schlieren aus seinen Fingern kamen und sich auf dem Kampfplatz ausbreiteten. Der tote Behemoth erhob sich schwerfällig, als wäre er gerade aus einem langen Schlaf erwacht. Seine Wunden hörten auf zu bluten, heilten aber nicht. Vindictus grinste. Er war etwas aus der Übung, hatte lange nicht mehr etwas so Großes wiederbelebt. Aber das machte es umso spannender. Auf seinen Befehl hin fiel der Zombi-Behemoth über seine Artgenossen her. Mit dieser Art von Verstärkung konnten die Helden schnell einen zweiten erlegen, auf den die grünen Schlieren schon warteten. Bald verlagerte sich die Streitmacht der Bestien auf die Zombieseite, so dass die restlichen lebenden Exemplare in Schach gehalten werden konnten und sich nach einer Weile sogar in den Wald zurückzogen. Das gefiel Vindictus besser, als alle hinzuschlachten. Damit konnte er seinen necromantischen Zauber auch wieder fallen lassen. Wenn er einmal alle paar Monate Zombies beschwor, machte ihm das nichts aus, dennoch wollte er seinen Körper nicht zu sehr belasten, schließlich ging im Endeffekt alles auf Crimsons Rechnung. Nachdem nun alle Monster besiegt waren, mussten sich die Angreifer den Soldaten stellen, die aus dem Haus kamen. Vindictus kümmerte sich um Verletzte, während jene mit den leichtesten Wunden weiterkämpften. Er hätte sich gewünscht, schneller ins Haus zu kommen, denn etwas sagte ihm, dass er auch dort gebraucht wurde. Ishzark persönlich pausierte, um sich von ihm eine stark blutende Bisswunde provisorisch heilen zu lassen. „Ich bin unvorsichtig gewesen,“ murmelte der Krieger. „Ihr sorgt Euch um Euren Sohn, das ist ganz natürlich,“ sagte Vindictus. „Dennoch ist es auch unprofessionell. Ich muss meinen Leuten ein Vorbild sein, sie sollen sich auf mich verlassen können.“ „Ich bin sicher, dass Ihr noch immer gut genug kämpft, Lord Ishzark.“ Der Herrscher der Eisigen Inseln nickte bedächtig. „Es ist nur leichter, wenn es nicht um den eigenen Sohn geht.“ Er stürzte sich zurück in den Kampf, sobald Vindictus den Heilungsfortschritt der Wunde für ausreichend befand. Der Alte konnte ihn gut verstehen. Denn er hatte selbst einen Sohn, sein einziges Kind. An Tagen wie diesem erleichterte es ihn, dass Ujat kein Krieger geworden war. Plötzlich ließ ein lauter Knall ihn zusammenzucken, und als er sich umblickte, sah er Rauch aus dem Turm kommen. Zugleich flackerte über ihm der Anti-Drachen-Schild und brach stückweise zusammen, ebenso der Tarnschild. Die Drachen brüllten triumphierend. Manchmal zahlte rohe Gewalt sich noch aus... Kapitel 13: Kampfalchemie ------------------------- Crimson riss die Arme vor seine Augen und wandte sich ab. Fawarius kippte Lucidol, auch bekannt als flüssiges Licht, auf den Boden. Oder besser, er kippte es aus. Der Trank hatte es an sich, dass kurzer Kontakt mit der Luft eine Lichtexplosion auslöste, so dass er nicht wirklich auf dem Boden auftraf. Als Finsternismagier konnte Crimson im Dunkeln sehen, doch seine Augen vertrugen kein helles Licht. Etwas passierte in den wenigen Augenblicken, in denen er nicht hinsehen konnte, das spürte er. „Ich enttäusche Euch nur ungern, aber weder das Salz noch die Keramikgefäße waren ein Unfall,“ informierte Fawarius ihn und lächelte, wobei er stolz das Kinn hob. „Die Korken sind lichtempfindlich und zerfallen bei hellem Licht. Das Salz reagiert mit dem Inhalt und beides bildet den Klebebannkreis. Eine Erfindung von mir.“ „Was?“ Crimson sah auf den Boden, wo sich nun in glitzernden Kristallen kreisförmig magische Runen abzeichneten. Er selbst und Fawarius befanden sich in dem Kreis, dessen Durchmesser der Breite des Ganges entsprach, also etwa drei Meter. Im Inneren war alles von einer blauen, glänzenden Schicht bedeckt, die einen feuchten Eindruck machte. Als Crimson versuchte, einen weiteren Magieangriff zu beschwören, passierte nichts. „Falls es Euch noch nicht aufgegangen ist... ich bin ein Kampfalchemist,“ verriet Fawarius ihm. „Ich kann Euch fertigmachen, ohne Magie zu verwenden, und dabei noch Eure Magie negieren.“ Davon hatte Crimson noch nie gehört, zweifelte aber nicht an den Worten seines Gegners. Er hob probeweise die linke Ferse. Es ging, offenbar war das Zeug nicht unter seinen Füßen. Wie weit war es bis zum Rand des Kreises? Vielleicht konnte er springen... Fawarius zog mit den Zähnen den Korken aus einer Phiole. „Denkt nicht einmal dran.“ Er schleuderte den Inhalt in Crimsons Richtung. Der Weißhaarige sprang reflexartig zur Seite und wich aus... worauf er auf die klebenden Stellen trat und festhing. „Verdammt...“ Wo vorher seine Füße gestanden hatten, sah man noch die Bodenplatten, aber das blaue Zeug füllte die Stellen langsam aus. Die Flüssigkeit, mit der sein Gegner auf ihn gezielt hatte, verdampfte zischend, als sie aufkam, und hinterließ schwarze Flecken. „Wollt Ihr Euch denn nicht wehren?“ spöttelte Fawarius. Crimson biss wütend die Zähne aufeinander. Oh ja, er wollte schon, aber in seinem Reisemantel und seiner Robe befanden sich hauptsächlich medizinische Produkte und der ein oder andere Trank, um einen Feind zu stoppen, wie etwa der Lähmungstrank. Er trug auch einige seltene Zutaten bei sich, falls er etwas frisch herstellen musste, sich aber nicht im Schloss befand. Sein Arsenal war folglich für einen Kampf völlig ungeeignet, denn eigentlich bestritt er Auseinandersetzungen immer mit seiner Magie oder einer Waffe. Er holte ein Fläschchen mit gelbem Inhalt hervor. „Ich hätte nur das hier im Angebot. Episches Todesfeuer. Lasst mich vorbei, oder ich vergesse mich und äschere das ganze Haus ein!“ „Episches Todesfeuer hat eine orangerote Farbe,“ belehrte Fawarius ihn. „Ihr blufft, das ist wahrscheinlich nur ein Hustenmittel.“ „Es mag normalerweise rotorange sein, aber nicht bei mir. Es ist mein Hobby, Methoden zu finden, um Tränken eine andere Farbe zu geben. Das ist nützlich, wenn es sich um etwas handelt, das in keine falschen Hände fallen soll, oder wenn ich die wahre Natur eines Gebräus vertuschen will,“ klärte Crimson ihn auf. „Wirklich? Wie interessant... ist das nicht gefährlich?“ hakte der andere Alchemist nach. „Ab und zu ist mir beim Experimentieren was um die Ohren geflogen,“ gab Crimson zu. „Aber das kennt Ihr sicherlich auch...“ „Oh ja, es ist nicht so einfach, einen Weg zu finden, um ein bewährtes Rezept wunschgemäß zu verändern, aber der Aufwand lohnt sich meistens. Vorausgesetzt, die Wirkung wird dadurch nicht zu sehr abgeschwächt. Es hat mich ganze sechs Jahre der Forschung gekostet, bis...“ Fawarius unterbrach sich. „Wir müssen diese Unterhaltung für später aufheben!“ „Ja, fein, zurück zum Thema! Lasst mich zu meinem Freund durch, oder ich entfessele ein Inferno!“ drohte Crimson erneut. „Das würdet Ihr nicht wagen... es ist viel zu gefährlich in geschlossenen Räumen, Ihr gefährdet Euch selbst und Prinz Soach, den Ihr doch befreien wollt! Was mich betrifft, hätte ich kein Problem damit, dass Ihr ihn befreit, aber er würde nicht weggehen, sondern meinen Herrn angreifen, und das lasse ich nicht zu.“ „Ganz wie Ihr meint.“ Crimson warf sein Fläschchen in die Richtung, in der sich der Ausgang befand. Es flog einige Meter weit, kam dort auf dem Teppich auf und blieb heil. „Menno...“ Fawarius stand ungerührt an seinem Platz und lachte verhalten. „Soviel zu Eurem schrecklichen Feuer. Habt Ihr noch etwas auf Lager?“ Zumindest wusste Crimson jetzt, dass Dinge aus dem Bannkreis hinaus fliegen konnten, doch er vermutete bereits, dass auch Personen das Feld verlassen konnten, sonst hätte Fawarius ihn nicht daran gehindert. „Was wäre wenn nicht?“ erkundigte er sich. „Das wäre jammerschade, denn dann müsste ich Euch einfach ausschalten und gefangen nehmen, da ich nicht hier stehen bleiben und warten will, bis Eure Freunde kommen.“ „Oh, wir sind schon da,“ mischte sich eine neue Stimme ein. Soach kam von weiter vorne den Gang entlang, zusammen mit Blacky. Er stützte sich auf den Zauberstab seines Sohnes – Crimson hoffte, dass es nicht schon das Gift war, das ihm Probleme bereitete. Vielleicht war er einfach generell etwas schwach auf den Beinen. „Kommt nicht näher, Soach, sonst bewerfe ich Euren Freund mit einer ätzenden Substanz,“ sagte Fawarius ruhig. „Das gilt auch für Euren Begleiter... Kayos, nehme ich an. Unverkennbare Familienähnlichkeit.“ Soach blieb in gut zwei Metern Entfernung stehen. Obwohl Crimson schon wusste, dass es ihm schlecht ging, schockierte ihn der Anblick des Herrn des Chaos in diesem Zustand. Lord Arae hatte ihm alles genommen – sein langes Haar, das Mal seines früheren Schlossherzes, seine Kleidung und persönlichen Sachen und zu guter Letzt vielleicht das Leben. Er hatte ihn gezwungen, seinen Stolz abzulegen und sich selbst zu erniedrigen, hatte ihn verspottet und wahrscheinlich nur deswegen nicht weiter gefoltert, weil er den Prinzen noch eine Weile lebend wollte. Soach trug lediglich ein Nachthemd mit einem Loch auf der Brust, und er schien es nicht mehr für nötig zu halten, den Starken zu spielen. Entweder das oder er konnte es schlichtweg nicht. Oder... war das etwa seine Maske der Stärke, und es ging ihm noch viel schlechter? Crimsons Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Doch er gab die Hoffnung nicht auf, bevor er nicht alle alchemistischen Register gezogen hatte. Allerdings setzte das voraus, dass er heile aus diesem Duell hervorging. Blacky baute sich an der Seite seines Vaters auf. „Ihr mögt die Magie innerhalb des Bannkreises blockieren, aber ich kann meine benutzen.“ „Das könnt Ihr gerne versuchen. Nur zu,“ forderte der Kampfalchemist ihn heraus. Der Chaosmagier zuckte mit den Schultern und warf ihm eine dunkle Entladung entgegen. Die Magie verpuffte in der Luft auf Höhe des Salzkreises. Somit konnte also drinnen auch keine Magie wirken, die von außen kam. Soach ließ seinen Blick schweifen, als suchte er nach einer Lösung. Vielleicht konnte er etwas sehen, das Crimson entging? „Offenbar arbeitet Ihr ganz ohne Magieeinsatz,“ stellte er im Plauderton fest. „Schade, das hätte ich gerne gelernt... wäre vielleicht eine Möglichkeit für mich gewesen. Kampfalchemist. Klingt gut. Braucht man dafür wirklich gar keine Magie?“ „Doch, wenn ich die Sachen herstelle, muss ich manchmal Magie einsetzen, zum Beispiel, damit sich der Klebebannkreis so aufbaut, wie Ihr ihn hier seht,“ erklärte Fawarius. „Dazu sind lange Vorbereitungen nötig. Theoretisch wäre es wohl denkbar, diese von einem anderen machen zu lassen. Im Kampf selbst kann ich ohne Magie agieren. Ich habe sogar meine Technik darauf ausgelegt, schließlich befinde ich mich mit dem Gegner im Kreis.“ „Darf ich es mir aus der Nähe ansehen? Bitte, ich verspreche auch, dass ich nichts berühren werde. Ich bin nur neugierig.“ „Na gut... aber haltet ausreichend Abstand!“ Soach trat näher, bis er, wenn er sich vorbeugte, die Struktur des Salzes erkennen konnte. „Die klebrige Substanz reicht bis zum Rand des Kreises und bedeckt das Salz wie eine Schutzschicht... wirklich geschickt. Wie eine komplizierte Kartenkombination bei Duel Monsters.“ Crimson fragte sich, ob er ihm einen Hinweis zukommen lassen wollte, indem er den Bannkreis so beschrieb, falls ja, verstand er ihn nicht. „Mit Duel Monsters habe ich keine Erfahrung,“ sagte Fawarius. „Soweit ich weiß, gibt es keine Karte von mir.“ „Schade... der Kampfalchemist wäre doch ein passender Titel. Es würde zahlreiche Karten geben, die Euch unterstützen, um Eure Kampftechnik zu simulieren. Ich persönlich bin immer sehr für Taktiken, bei denen der Gegner vom eigentlichen Vorhaben abgelenkt wird.“ Soach richtete sich wieder gerade auf und lächelte den Alchemisten berechnend an. In dem Moment, als Crimson erkannte, dass Soach irgendetwas mit der Unterhaltung bezweckt hatte, ging das wohl auch seinem Gegner auf, denn diesem entglitten alle Gesichtszüge. Eine schattenhafte Bewegung auf der anderen Seite des Kreises – dann krachte scheppernd eine kleine, bauchige Vase an Fawarius' Hinterkopf, worauf der Mann ganz große Augen bekam, die sich dann schlossen. Er kippte seitlich weg, da er sich ein bisschen verdreht hatte, um Soach ansehen zu können. Sechs verbleibende Glasphiolen rutschten aus seinen erschlaffenden Fingern. Soach sprang vor, konnte jedoch unmöglich alle auf einmal erwischen. Crimson wollte zurückweichen, konnte seine Füße aber nicht heben, so dass er strauchelte und auf den Hintern fiel. Auch die rechte Hand, mit der er sich abstützte, kam auf dem Boden auf und blieb kleben. Er hörte Glas brechen, hob vorsichtshalber den verbleibenden Arm vors Gesicht, hielt die Luft an und kniff die Augen zu. Der Geräuschkulisse nach zu urteilen gab es eine kleine Explosion und Flüssigkeiten, die miteinander zischend reagierten. Mehrere dicke Tropfen landeten auf seiner Kleidung. „Mist,“ murmelte Soach. „Ich bin auf eine Scherbe getreten.“ Crimson nahm vorsichtig seine Deckung runter und wagte einen Atemzug. Ein Geruch wie von Schimmel stieg ihm in die Nase. Fawarius lag mit dem Gesicht nach unten am Boden, Soach dicht daneben. „Du beschwerst dich wegen einer Scherbe? Dabei klebst du doch sicher auch da fest!“ „Naja... schon!“ grinste Soach. „Aber wenigstens hab ich drei gefangen!“ Er hielt eine Hand hoch, die zwei Phiolen hielt, während die andere nur halb so hoch kam, weil der Ellenbogen festklebte. Crimson freute sich, dass Soach noch einen gewissen Sinn für Humor behalten hatte. Aber... wer hatte eigentlich auf Fawarius gezielt? Da stand jemand... Malice klappte sein Visier hoch und kramte umständlich ein winziges Buch aus seiner Gürteltasche. „Oje, oje... ich habe etwas Wichtiges vergessen. Zuerst versuchen, die Angelegenheit diplomatisch zu regeln. Sagen wir einfach, das hättet ihr schon versucht, ja? Dann ist Schritt zwei: Konsequenzen androhen. Hm... das habe ich weggelassen, weil ich dachte, dass dann Schritt drei – Konsequenten ausführen – nicht mehr so effektiv wäre.“ „Ist schon recht,“ sagte Soach. Malice hob den gelben Trank auf, den Crimson geworfen hatte. „Was ist das? Oh... steht drauf. Elixier der Verdammten. Hm...“ Das Fläschchen verschwand in der Gürteltasche. „Hey!“ protestierte Crimson. Dummerweise brachte ihm das die Aufmerksamkeit des Praktikanten. „Ah... Crimson, mein Lieblingsmagier. Das gefällt mir, wie du da klebst. Dumm nur, dass ich es nicht ausnutzen kann, ohne auch festzukleben. Naja das haben wir gleich...“ Er holte aus einer Gürteltasche auf der anderen Seite ein verkorktes Röhrchen hervor und kippte den Inhalt auf das Innere des Bannkreises. Sofort ließ die Klebewirkung von dieser Stelle ausgehend nach, bis alles neutralisiert war. Crimson starrte ihn fassungslos an. „Du hast Zeug gegen Klebefallen dabei?“ „Standardfalle für Helden... kein Problem,“ grinste Malice. Er ging zu Soach und half ihm hoch, als wären sie beste Kumpel. Crimson rappelte sich zähneknirschend alleine auf die Füße. „Rück mein Elixier raus!“ „Aber nicht doch, das ist mein Loot!“ wiegelte der Blondschopf ab. „Kann ich die da auch haben?“ Soach schloss die Hand um seine drei Substanzen. „Die hab ich erbeutet.“ „Na gut.“ Malice hob Hände und Schultern in einer Geste der Gleichgültigkeit und bückte sich nach Blackys Zauberstab, doch das Ding verpasste ihm einen elektrischen Schlag. „Dann nicht...“ Crimson zupfte angewidert an seiner Kleidung, die stellenweise Löcher aufwies, wo sie etwas von einem von Fawarius' Gebräuen abbekommen hatte. Wo er auf dem Kleber gelegen hatte, haftete eine schleimige, bläuliche Masse an dem Stoff. Angesäuert setzte er einen Reinigungszauber ein. Aha, offenbar funktionierte der Bannkreis auch nicht mehr. „Kriege ich auch einen?“ bat Soach. Crimson hatte ihn gar nicht kommen sehen, während er seine Kleidung untersucht hatte. Sein Ärger auf Malice verflog augenblicklich, und er schloss den anderen in die Arme. „Du kriegst von mir, was immer du willst.“ „Nana, sag das nicht zu laut,“ neckte Soach ihn. „Ich könnte das ausnutzen.“ „Würdest du aber nicht, deshalb kann ich das ohne Bedenken sagen.“ Über die Schulter des anderen hinweg sah Crimson, dass Blacky sich abwandte und verstohlen mit einer Hand an seine Augen fasste. Er wusste es also auch. Aber kannte er die ganze tragische Wahrheit? Draußen erklang besonders lautes Drachengebrüll. Kurz darauf konnte er Cathy wieder erreichen. Gerade so, als ob langsam alles wieder in Ordnung kam. „Ich suche hier das Labor dieses Alchemisten und braue dir was zusammen, das deine Zeit verlängert,“ flüsterte Crimson. „Und wir werden den Lord zwingen, dir zu sagen, wo das Gift herkommt, damit wir das Heilmittel holen können.“ Soach widersprach ihm nicht. Den Informationen zufolge, die Crimson von ihm erhalten hatte, war der Weg zu weit, um ihn rechtzeitig zu schaffen. Aber vielleicht konnte man ihn in einen Schlaf versetzen, der den Prozess aufhielt, oder vielleicht log Arae und es gab doch noch etwas anderes, von dem nicht einmal sein Alchemist wusste. Crimson nahm sich vor, gleich Vindictus zu fragen, wenn er ihn sah, und er informierte sein Schlossherz, damit es nachforschte. „Jetzt hast du dich wieder dreckig gemacht,“ bemerkte Soach, während er einen Schritt zurück trat. Schleimiges Zeug von seinem Nachthemd klebte nun an Crimsons Kleidung. „Wenn's weiter nichts ist...“ Der Weißhaarige reinigte sie beide mit einer kleinen Handbewegung. „Schon besser. Lass uns zusammen das Labor suchen und etwas ausprobieren. Ich habe eine Idee...“ „Nein... ich will Lord Arae suchen, solange ich es noch kann. Das Gift wirktt wieder... ich fühle mich wie auf einem Schiff. Alles schaukelt ein bisschen...“ Soach nahm Crimsons Hand und plazierte die drei Phiolen darin. Dann wandte er sich zu Blacky um. „Kannst du Fawarius ebenfalls mit dem Heilzauber schlafen lassen, den du auf Rahzihf angewendet hast? Ich möchte nicht, dass er uns im falschen Moment in die Quere kommt.“ „Ich kümmere mich darum,“ nickte Blacky, hob seinen Stab auf und reichte ihn ihm erneut. Soach nahm das Artefakt entgegen, stellte das untere Ende auf den Boden und stützte sich darauf ab wie auf einen Krückstock. „Gut. Wenn du fertig bist, geh mit Crimson.“ „Aber jemand muss bei dir bleiben!“ protestierte Crimson. „Ich werde Malice mitnehmen.“ „Oh... wirklich?“ fragte Malice, wirkte aber nicht wirklich überrascht. „Doch nicht im Ernst!“ rief Crimson aus. „Krieg dich ein, ich bin genau der richtige für den Job!“ verkündete der Möchtegern-Krieger. „Es geht schließlich darum, ein Dungeon zu klären und den Darklord unschädlich zu machen. Ach ja, kann ich diesen Kerl da looten? Vielleicht könntest du ihn auch mit so einem Reinigungszauber behandeln, damit ich mir nicht die Finger schmutzig machen muss...“ „Du lässt die Finger von seinem Kram!“ Das fehlte noch, kampfalchemistisches Zubehör in den Händen dieses Kerls! Crimson war entsetzt. „Die Sachen könnten uns etwas nützen,“ gab Soach zu bedenken. Da war etwas dran. Aber Crimson gefiel es gar nicht, dass Soach sich mit seinem früheren Kumpanen zusammentat und scheinbar gar nichts daran fand. Aber er lenkte ein und befreite auch Fawarius von den Spuren der Klebesubstanz, oder was das sonst noch alles war. Sogleich kniete Malice neben ihm nieder und fing an, ihn methodisch zu durchsuchen und alles einzustecken, was ihm gefiel. Seine Gürteltaschen schienen unendlich geräumig zu sein. „Da drüben liegt ein Dolch, ist das auch seiner?“ „Den hab ich verloren.“ Soach hob ihn auf, aber er hatte nichts, wohin er die Waffe stecken konnte und erleichterte schlichtweg Fawarius um seinen Gürtel. Er band ihn sich um und steckte den Dolch darin fest. „Wie ich sehe, hast du das Prinzip meiner Arbeit schon kapiert,“ grinste Malice. „Gibt es hier eigentlich einen großen Schatz zu holen? Weißt schon, ein Epic Loot oder irgendein Special Item?“ Langsam wurde es Crimson zu bunt. „Wovon spricht der Kerl da?“ „Oh, das ist Gamersprache, glaube ich,“ sagte Soach. Auch Blacky nickte bestätigend, so dass Crimson sich dumm vorkam. Malice zuckte mit den Schultern. „Was soll ich machen – Marik hat immer diese RPGs am Computer gespielt. Der Held geht in ein Dungeon, erledigt alle Feinde und erhält dafür Items und Loots. Das hier ist meine erste richtige Mission! Gibt es hier irgendwo einen Waffenhändler?“ „Du glaubst nicht im Ernst, dass es hier zugeht wie in einem Spiel, oder?“ regte Crimson sich auf. Blacky kam zu ihm und zog ihn sachte am Arm. „Lass uns den Kampfalchemisten in irgendeinen Raum schaffen und dann das Labor suchen. Wenn Papa sagt, dass er mit dem Heldenschüler klarkommt, vertraue ich darauf, dass sie es zusammen hinkriegen.“ „Aber---!“ [Crimson.] Soach nahm zu ihm Kontakt auf, ohne es sich äußerlich anmerken zu lassen. Er betrachtete mit Malice die Sachen, die der Irre erbeutet hatte. [Ich weiß, dass du derjenige an meiner Seite sein willst. Aber ich werde jemanden umbringen. Das möchte ich weder dir noch meinem Sohn zumuten, zumal Kayos vielleicht Gewissensbisse hätte und einschreiten würde. Malice hingegen...] [Der dürfte damit kaum Probleme haben.] Das sah Crimson ganz genau so. Vielleicht war er auch einfach ein bisschen eifersüchtig, dass ihm so jemand vorgezogen wurde. Es ließ sich nicht ändern, dass er es so empfand, obgleich er wusste, dass es Blödsinn war. Schließlich eignete er sich besser als derjenige, der den Heiltrank braute. Ungern wich er von Soachs Seite, hatte er ihn doch gerade erst wiedergefunden. „Nun gut,“ lenkte er schließlich ein. „Viel Glück, und dass du dich nicht von Arae töten lässt, während ich dir Medizin koche!“ „Ich habe noch einen Schwur zu erfüllen, Crimson.“ Soach wandte sich in die Richtung, aus der er gekommen war, gefolgt von Malice. Der Praktikant drehte sich noch einmal um. „Achte auf deinen Rücken, Crimson!“ „Argh!“ Der Weißhaarige verspürte das kaum zu bändigende Bedürfnis, ihm den Hals umzudrehen. Lord Arae wartete in seinem Thronsaal auf den Helden, der zu ihm vordringen wollte. Es war nicht wirklich ein Thronsaal, schließlich wohnte er nur in einer Villa, aber immerhin... hier konnte er sich schon einmal in seine zukünftige Rolle als Herrscher der Eisigen Inseln einfühlen. Im Grundsatz handelte es sich um ein großes Zimmer im ersten Obergeschoss, das man nur erreichte, wenn man vorher an allen anderen Räumen vorbeiging und dem Gang bis zum Ende folgte. Das wiederum war nur dem möglich, der unten die Treppe fand. Der Raum überspannte die ganze Breite der Etage. Somit gab es große Fenster mit besonders schönen Buntglasscheiben an beiden Seiten, dazwischen mit weißem Marmor verkleidete Wände. Arae dachte noch darüber nach, ob er Vorhänge anschaffen sollte, doch er wollte die Motive auf den Scheiben nicht verdecken. Der Boden bestand aus einem aufwändigen Mosaik kleiner Fliesen in verschiedenen Blautönen, und ein royalblauer Teppich führte von der Tür zu seinem vorläufigen Thron. Dieser bestand aus Metall, veredelt mit Silber, so dass er zur allgemeinen frostigen Atmosphäre passte. Arae selbst trug dem Anlass entsprechend seine Kampfrüstung. Bei ihr hatte er sich nicht den Inseln angepasst, die er zu beherrschen trachtete, sondern war bei seinen eigenen Farben geblieben, Schwarz und Grau mit etwas Rot. Die Rüstung ließ ihn größer und breiter erscheinen, als er ohnehin war. Ein Helm gehörte allerdings nicht dazu, aber natürlich ein mächtiges Schwert, das für einen Menschen zu schwer sein dürfte. Er präsentierte sich breitbeinig sitzend, wobei er das Schwert mit der Spitze auf dem Boden rechts vor sich hielt, während es auf seinen Einsatz wartete. Tatsächlich erschien dann auch bald ein Herausforderer, noch bevor der allgemeine Kampflärm in Haus und Garten nachließ. Zu seiner Enttäuschung handelte es sich dabei um Malice, den Praktikanten aus dem Drachenhauchorden und ehemaligen Komplizen von Prinz Soach. Doch Arae ermahnte sich selbst, den Jungspund nicht zu unterschätzen – solch ein Fehler war ihm heute schon einmal unterlaufen. Er setzte seine gruseligste Mine auf, als Malice sich näherte – und seinen Blick überhaupt nicht beachtete! Statt dessen blätterte der Typ mit hochgeklapptem Helmvisir in einem kleinen Buch, das er mit der Linken hielt, gleichzeitig fuchtelte die Rechte mit dem Schwert herum. „Also... wenn ihr den finsteren Herrscher gefunden habt, gehört es zum guten Ton, ihm noch eine Chance zu geben, die Forderungen zu erfüllen... Ah ja,“ murmelte er vor sich hin, dann wandte er sich an den Hausherrn, indem er das Schwert auf ihn richtete. „Finsterer Herrscher! Lass meine Freunde frei und ergreife die Flucht, dann will ich dein Leben heute noch verschonen!“ Arae hob die Augenbrauen. „Freunde? Wen meinst du denn alles?“ „Oh... richtig, wir sind ja nur wegen einer Person hier,“ fiel es Malice ein. Er zuckte mit den Schultern. „Na fein, was soll's. Gib meinen Freund raus! Und nicht dass wir uns missverstehen, Freund gilt hier synonym für jemanden, der auf der Seite ist, für die ich gerade arbeite. Naja es steht so im Buch, dass man das Wort benutzen soll.“ Arae fragte sich, ob der Typ in all der Zeit, die er beim Orden verbracht hatte, immer noch nichts gelernt haben konnte, zumindest benahm er sich wie ein Anfänger. Vielleicht ließen die Helden ihre Schützlinge erst nach einer gewissen Probezeit aufs Feld. Er stand mit einer, wie er fand, sehr bedrohlichen Bewegung von seinem Thron auf und nahm dabei das Schwert kampfbereit in die Hand. „Im Grunde könnte ich Soach herausgeben, aber ich werde es mir nicht gefallen lassen, dass du mit deinen Begleitern hier einfällst, als gäbe es keinen diplomatischen Weg!“ „Äh... heißt das jetzt, dass wir miteinander kämpfen?“ „In der Tat, davon kannst du ausgehen.“ Malice steckte sein Büchlein in seine Gürteltasche, nicht ohne vorher noch letzte Anweisungen daraus zu entnehmen. „Schwert defensiv halten, auf festen Stand achten. Auf Angriff des Gegners warten.“ Er baute sich umständlich den Anweisungen entsprechend auf. Arae lächelte schief. Die Situation fand er ziemlich lästig. Sie brachten ihren Praktikanten also immer noch bei, erst auf einen Angriff zu warten, weil es sich ja für den Guten nicht geziemte, den ersten Schlag auszuführen. Wenn er jetzt nicht angriff, was würde der Junge dann wohl machen? Er wollte mal nicht so sein, daher tat er, was von ihm erwartet wurde, und führte probeweise einen Schlag gegen Malice aus. Der Praktikant parierte mühsam und stolperte rückwärts. Dann probierte er einen Angriff, den Arae mühelos abblockte. Wenn das so weiterging, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Bursche sich selbst verstümmelte, ehe er gegnerisches Blut forderte. Man musste ihm zugute halten, dass er nicht schon beim Anblick der gegnerischen Waffe die Flucht ergriff. „Okay,“ murmelte Malice. „Sieht aus, als wären wir im Geschäft.“ Bei den letzten Worten änderte sich sein Tonfall von unsicher zu spöttisch. Er nahm eine angriffsbereite Pose ein, die einen durchaus ernstzunehmenden Eindruck machte. Arae schaffte es, sich nicht überrumpelt zu lassen, als der Gegner gleich darauf auf ihn zu stürmte und mit seiner Klinge auf ihn einstach. Er konnte die Angriffe gut wegstecken und sah sich bestätigt darin, dass er ihn besser nicht unterschätzen sollte. Soachs ehemaliger Komplize – er hätte es eigentlich wissen müssen. Malice bewegte sich schnell, obwohl seine Rüstung den Eindruck erweckte, dass sie ihn verlangsamte – aber das kam oft vor. Der Lord ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Der Praktikant versuchte, hinter ihn zu gelangen, aber das konnte er vergessen. Arae parierte einen Schwerthieb und griff dann selber an. Sollte der junge Hüpfer – der auch noch aus der anderen Welt kam – nicht denken, dass er mit ihm so leichtes Spiel hatte! Er stellte sich rasch auf den jüngeren Kämpfer ein und fing an, ihn mit Hieben seiner viel größeren Waffe quer durch den Saal zu treiben. Dabei wurde deutlich, dass er es eben doch nur mit einem Praktikanten zu tun hatte, der gegen einen geübten Schwertkämpfer, noch dazu einen Unterweltler, nichts zu melden hatte. Arae fühlte sich siegessicher. Malice kämpfte verbissen und wollte sicherlich zeigen, was er konnte, aber er würde ihm eine Lektion erteilen! Moment... war da eine Bewegung in seinem Augenwinkel? Aber Helden griffen nicht hinterrücks an, und sie gaben sich gewiss nicht als Ablenkung her, um... Araes Aufmerksamkeit wurde ganz von seinem Gegner gefesselt, der nun noch heftiger auf ihn eindrang. All seine Instinkte schlugen Alarm. Noch jemand befand sich im Raum, ganz sicher! Er musste diesen Kampf beenden, um sich dem Feigling zuwenden zu können, der sich eingeschlichen hatte! Es gelang ihm, Malice zurück zu stoßen, so dass er sich kurz umsehen konnte. So sah er gerade noch das zu allem entschlossene Gesicht von Prinz Soach, und erst, als es schon zu spät war, registrierte er den Zauberstab, den der ausgebrannte Magier in seine Richtung schwang. Obwohl es völlig unmöglich hätte sein sollen, erstrahlte die Kristallkugel am oberen Ende des Stabes in einem so hellen violetten Licht, dass es die Augen des Unterweltlers blendete... bevor es dunkel für ihn wurde, als die Kugel mit all der Kraft der Verzweiflung, die ein sterbender Mann bei seinem letzten großen Vorhaben aufbringen kann, seinen Schädel traf. Kapitel 14: Heimliche Tränen ---------------------------- Der kraftvolle Schwung, mit dem er den Zauberstab geführt hatte, brachte Soach zu Fall. Aber es spielte keine Rolle mehr, was mit ihm geschah – der Lord konnte seiner Familie nicht mehr schaden. Er hoffte nur, dass es keine weiteren Racheakte gegen die Eisigen Inseln gab. Denn auch Edin hatte eine Mutter, die ihm vielleicht später einmal Geschichten vom Mörder seines Vaters erzählen würde. Als logische Konsequenz musste er eigentlich auch den Jungen und die Frau töten, um seine eigene Familie zu schützen. Hatte die Chaosjägerin Charoselle damals vor einer ähnlichen Entscheidung gestanden und klein Edeh verschont? Wenigstens diese Wahl gab es für ihn nicht, denn er würde nie ein Kind töten. Außerdem schaffte er es schlicht und einfach nicht mehr. Seine letzten Kraftreserven hatte er geopfert, um seinen Schwur zu erfüllen. Er lag auf dem Rücken und gab sich damit zufrieden. Malice tauchte in seinem unscharfen Blickfeld auf und hockte sich neben ihm hin. „Hat ja wie am Schnürchen funktioniert. Er hat quasi den Kopf verloren im Angesicht unserer Genialität. Aber das Teil ist auch hin... muss regelrecht explodiert sein, was auch zu der Sauerei hier passt...“ Er hielt die obere Hälfte von Kays Zauberstab hoch. Soach verzog das Gesicht... Kayos würde nicht begeistert sein, aber vermutlich auch nicht sauer. Die Kugel hatte den Zusammenprall mit Araes Schädel nicht überstanden. Nur einige Scherben des Kristalls hafteten noch in der Metallhalterung, und aus irgendeinem Grund war der Stab ungefähr in der Mitte gebrochen. „Oh... ich hab den Rest noch in der Hand...“ Er konnte den Arm kaum heben, um nachzusehen. Seine Augen fühlten sich ganz schwer an. Nun musste er sich mit den Folgen seiner Handlungen auseinandersetzen und sich einer ernüchternden Tatsache stellen: Es war Zeit zu sterben. Einige Stunden blieben ihm wohl noch, aber er hatte das Elixier der Verdammten benutzt, um seinen hinterhältigen Schlag mit der nötigen Kraft ausführen zu können. Helden setzten dieses Wundermittel für gewöhnlich ein, um in einem Notfall noch für bis zu fünf Minuten handeln zu können, doch es forderte einen hohen Preis vom Körper der Person, die es trank, deshalb endete diese Strategie oft tödlich. Darüber konnte er beinahe lachen. „Ich geh mal eben den Oberboss looten, wenn du mich grad nicht brauchst,“ sagte Malice. „Bevor die anderen auftauchen. Geht schnell...“ „Hmmm...“ machte Soach. Malice bewegte sich nicht vom Fleck. Er seufzte dramatisch. „Okay, ich bin anscheinend der Einzige, der dir hier Gesellschaft leistet, und außerdem sieht es ja komisch aus, wenn der Praktikant sich an dem verstümmelten Leichnam vergeht. Also warte ich an deiner Seite auf die Hauptstreitmacht.“ „Mach das... und erinnere mich ab und zu daran, nicht ausgerechnet hier neben dir den Geist aufzugeben.“ Malice setzte sich im Schneidersitz neben ihn und grinste ihn an. Sein Gesicht und seine Rüstung waren voller Blutspritzer. „Kann ich den Dolch haben, wenn du ihn nicht mehr brauchst?“ „Nimm ihn dir von mir aus... glaube nicht, dass ich den noch benutzen werde...“ Soach fühlte sich seltsam leicht. Bestimmt sollte er in seiner Lage eigentlich bewusstlos werden, aber dazu fehlte ihm die Seele. Malice nahm ihm den Dolch ab und verstaute ihn in einer Tasche. „Ich bewahre das für dich auf. Würde mich wundern, wenn du hier tatsächlich abnippeln würdest. Aber vergiss nicht, Crimson zu sagen, dass er mir ein Elixier der Verdammten schuldet.“ Soachs Mundwinkel zuckten unwillkürlich nach oben, „Das wird ihm überhaupt nicht gefallen.“ Sein früherer Komplize zuckte mit den Schultern. „Umso besser.“ Ob Crimson wohl spürte, dass etwas geschehen war? Soach hielt die Verbindung zu ihm absichtlich schwach, damit sich der andere auf seine Aufgabe konzentrieren konnte. Und natürlich hätte Crimson nicht zugelassen, dass er das Elixier der Verdammten benutzte. [Bist du dir da so sicher?] [Crimson... wie...] [Anscheinend hat dein Unterbewusstsein den Kontakt hergestellt, als du an mich dachtest. Ich muss wohl nicht fragen, wie es dir geht. Aber du wirkst so... zufrieden. Hast du geschafft, was du vorhattest?] [Ja... der Lord ist tot. Sag mal... stört dich das gar nicht? Du hast vorhin schon nicht protestiert...] [Ich habe in deinen Erinnerungen gesehen, was er dir angetan hat. Mit ihm habe ich kein Mitleid. Blacky und ich habe eine Hausangestellte gezwungen, uns zum Alchemielabor von Fawarius zu führen. Ich arbeite. Halte noch ein wenig durch. Vindictus ist auf dem Weg.] Der Kontakt wurde wieder schwächer, und Soach fielen fast die Augen zu. Er kämpfte dagegen an, bis zahlreiche Schritte auf dem Flur erklangen und der Raum sich mit Verbündeten füllte. „Showtime,“ murmelte Malice. Wahrscheinlich grinste er immer noch, aber Soach konnte sein Gesicht nur noch verschwommen erkennen. „Ey! Was is hier vorgefallen? Alder! Was hamse mit dir gemacht?“ Fire schien als Erster anzukommen. Er betastete ihn auf der Suche nach Lebenszeichen, schlau genug, ihn nicht zu bewegen, falls er verletzt war. „Hol doch ma einer Vindictus her!“ Soach konnte sich nur auf sein Gehör verlassen, denn seine Augenlider arbeiteten nur bedingt mit ihm zusammen. Er konnte ab und zu kurz die Augen öffnen, schloss sie dann aber lieber wieder. Einige Stimmen redeten durcheinander, doch bald hörte er wieder Malice heraus: „... und als mir das Schwert aus der Hand fiel, wollte ich mich geschlagen geben, aber der Lord wollte mich einfach abstechen! Da hat ihn Sorc von hinten erschlagen, und ich wurde mit Blut bespritzt und irgendwelchem anderen Zeug... mir ist jetzt noch voll schlecht!“ „Das geht uns allen am Anfang so, schäme dich nicht deswegen.“ Black Luster, nahm Soach an, aber er konnte sich auch irren. Er stellte sich vor, wie der berühmte Krieger Malice brüderlich eine Hand auf die Schulter legte. „Ich bin vielleicht doch nicht als Krieger geeignet... dabei war ich so sicher, dass ich schon soweit bin,“ gab Malice in perfekter Manier den geschockten Jungkämpfer zum Besten. Soach hätte das zu gerne auch gesehen. Die Vernunft riet ihm, ein bisschen zu schlafen, was er jedoch verweigerte, weil er dann vielleicht nie wieder erwachte. Er wollte nicht seine Restzeit verschlafen. „Soach. Kannst du mich hören?“ Er erkannte die Stimme. „Vindictus?“ „Ich bin auch hier, mein Sohn.“ „Vater... wie kommst du denn hierher? Der Bote...“ „Da war kein Bote, ich war zufällig zu deinem Schloss unterwegs.“ „Spart euch das für später, Lord Ishzark,“ unterbrach Vindictus unwirsch. „Soach, was hast du alles getrunken?“ „Elixier der Verdammten...“ murmelte Soach. „Und was noch? Es ist nicht das Elixier, was dich umbringt...“ „Was sagt Ihr da, Vindictus?“ Der Heiler ignorierte Ishzark. „Ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet! Was ist es?“ „Weiß... ich nicht,“ presste Soach hervor. „Er wollte... Mutter stürzen... deshalb... gab er mir... Gift... K-Keine Heilung...“ „Junge... bitte gib nicht auf...“ Ishzarks Stimme klang auf einmal ganz belegt. „Bringt mich zum Schloss... ich muss... im Schloss sterben...“ „Du bist im Moment nicht zu so einer langen Reise fähig,“ teilte Vindictus ihm mit. „Lord, wir sollten ihn woanders hinbringen, sicherlich gibt es hier irgendwo einen geeigneten Raum.“ „In Ordnung... Luster, würdet Ihr uns bitte helfen?“ Soach fühlte kurz darauf keinen Boden mehr unter sich und hoffte, dass es nur daran lag, dass er angehoben wurde. Es gab ein metallisches Scheppern, als das Stück Zauberstab, das er festgehalten hatte, auf den Boden fiel. Das Artefakt hatte seinen Zweck gut erfüllt. Danke, Magie. Vindictus organisierte, dass Luster Soach in eins der Gästezimmer trug. Interessanterweise wusste der Drachenkrieger, wo diese sich befanden, aber der alte Heiler handelte wie ein Chaosmagier und stellte diesen Punkt im Moment nicht in Frage, da der Nutzen weit wichtiger war als der Grund. Soach ging es schlecht, das konnte jeder sehen. Doch Vindictus sah auch Auren, wenn er wollte, und spürte schon ohne direkte Berührung, dass es mit dem Prinzen zu Ende ging. Bei seiner ersten groben Untersuchung hatte er festgestellt, dass etwas durch Soachs Kreislauf zirkulierte, das ihn langsam tötete, wie eine Krankheit. Lord Ishzark ging dorthin, wohin Luster seinen Sohn brachte. Seine Soldaten sicherten das Gebäude, einer der Männer nahm seinen Umhang ab und bedeckte den Leichnahm des verstorbenen Hausherrn damit. „Malice.“ Vindictus nahm sich den einzigen Zeugen vor, den er momentan erwischte. „Hör auf mit diesem weinerlichen Gesicht. Hast du eine Ahnung, wo Crimson und Blacky stecken? Sie sind eigentlich vor mir in das Haus eingedrungen, es wundert mich, dass sie nicht bei Soach sind.“ Der Junge grinste auf die altbekannte irre Art, stellte aber sicher, dass er allen anderen dabei den Rücken zuwandte. „Die beiden suchen das Labor, um was für Sorc zu kochen.“ „Er nennt sich nicht mehr Sorc, sondern Soach.“ „Mir egal. Aber es kommt vielleicht besser an, wenn ich mich umgewöhne. Helden machen das.“ „Soso. Hier ist eine Mission, du Held: Finde die Küche und bring was zu Essen in Soachs Zimmer. Er muss sich stärken. Naja das musst du als Held ja kennen, da muss ich nicht betonen, wie wichtig vor allem Wasser ist. Und hier, nimm das...“ Er gab dem Blonden eine kleine Flasche. „Um deine Nerven zu beruhigen nach diesem schrecklichen Erlebnis.“ „Das wird sicher helfen, vielen Dank!“ Malice machte ein Schauspiel daraus, einen Schluck zu nehmen und weiterhin erschüttert auszusehen, ehe er sich auf den Weg machte, nicht ohne noch den ein oder anderen verstört wirkenden Blick auf den Leichnahm zu werfen. Der blaue Umhang war schon ganz mit Blut durchweicht, so dass der Stoff schwer über dem Körper lag und trotz des Stoffes deutlich zu sehen war, dass der Kopf fehlte. General Raiho blickte Malice nach, während er auf Vindictus zukam. „Es hat den jungen Krieger wohl schwer getroffen... aber das geht uns allen am Anfang so...“ „In einem Jahr wird er das stolz am Lagerfeuer erzählen,“ pflichtete Vindictus ihm bei. „So ist es mit schrecklichen Erlebnissen... mit den meisten jedenfalls.“ „Sollen wir hier aufräumen, oder wollt Ihr den Toten noch untersuchen?“ erkundigte sich der General. Der Alte sah sich im Raum um. „Die Todesursache dürfte klar sein. Ich sollte mich besser mit den Lebenden befassen. Ich schlage vor, dass Ihr die Überreste diskret für eine Bestattung vorbereitet, ohne dass noch jemand die Sauerei hier zu Gesicht bekommt.“ „Wir erledigen das,“ nickte Raiho. „Lord Ishzark soll sich ganz um seinen Sohn kümmern. Könnt Ihr noch etwas für ihn tun?“ „Ich werde es auf jeden Fall versuchen,“ versprach Vindictus. Er ging zum Ausgang, folgte dem Gang und gelangte ins Treppenhaus. Dort traf er Fire. Der junge Feuermagier hockte auf der obersten Stufe, lehnte an der Wand und weinte leise vor sich hin. Vindictus räusperte sich. „Ich dachte, du wärst mit den anderen gegangen.“ Fire sprang auf, nahm ein paar Stufen nach unten und wischte sich über die Augen, während er dem Heiler den Rücken zuwandte. „Ich kann mich so nicht sehen lassen. Erst wenn ich mich beruhigt hab, kann ich hingehen.“ „In dieser Familie wird viel zu viel auf eine starke Fassade Wert gelegt, wenn du mich fragst. Aber es ist schon recht – lass deinen Vater etwas ausruhen.“ „Das passiert alles, weil mich vor meiner Geburt jemand gerettet hat! Wäre ich doch damals gestorben... dann hätte mein Vater eine Weile getrauert, sicher, aber er müsste das jetzt nicht alles durchmachen.“ Vindictus seufzte innerlich. Solche Bemerkungen kannte er typischerweise von Angehörigen und Freunden eines Patienten, die sich hilflos fühlten. „Wenn es dir dann besser geht, frag General Raiho, ob er deine Hilfe gebrauchen kann,“ schlug er vor. „Der Leichnahm muss verbrannt werden, und du bist ja gut mit Feuer. Sorg dafür, dass nichts als Asche von ihm bleibt. Ich gehe jetzt nachsehen, wo sie Soach hingebracht haben.“ Den Raum zu finden war nicht schwierig. Die Tür stand offen und Ishzarks silbrige Rüstung zog den Blick auf sich. Der Mann wirkte etwas deplatziert, während er seinen Sohn sorgfältig zudeckte und die Beschaffenheit des Kissens prüfte. Luster hatte wahrscheinlich nach dem Zufallsprinzip ein Gästezimmer ausgesucht. Es war ganz gemütlich eingerichtet mit einem breiten Bett, Büchern auf Regalen und anderen Kleinigkeiten, für die der Heiler momentan keinen Blick hatte. Er schob sich einen Sessel ans Bett heran, um seinen Patienten erreichen zu können. Dummerweise konnte er nicht viel ausrichten außer eventuell auftretende Schmerzen zu lindern. Momentan hielt Soach die Augen geschlossen, was aber nicht zwangsläufig hieß, dass er schlief. „Lord Ishzark, bitte lasst mich einen Moment mit Eurem Sohn allein,“ bat er den Herrscher der Eisigen Inseln. Der Mann wirkte verstört, obwohl er sich sichtbar anstrengte, es mit Fassung zu nehmen. Er zögerte, stimmte dann jedoch zu und verließ den Raum. „So, jetzt können wir ungestört reden,“ sagte Vindictus leise. „Gift ist leider für viele Heiler ein Schwachpunkt, so auch für mich. Man hat für sowas auch meist einen Alchemisten und kommt damit gut aus.“ „Nicht in diesem Fall,“ brachte Soach heraus, wobei er die Augen einen Spalt breit öffnete. Ganz wie erwartet schlief er nicht, aber er musste sehr erschöpft sein. Wahrscheinlich wollte er nicht vor seinem Vater über seine Lage reden. Die Stirn des Prinzen legte sich in Grübelfalten. „Ich hätte etwa zwölf Stunden gehabt. Zweimal habe ich ein Mittel getrunken, das für eine bis anderthalb Stunden die Wirkung aufgehoben hat... aber durch das Elixier habe ich die zusätzliche Zeit wohl wieder verspielt.“ „Nicht unbedingt,“ überlegte Vindictus. „Das Elixier der Verdammten mobilisiert alle Reserven des Körpers, betäubt Schmerzen, gibt zusätzliche Kraft und stillt Blutungen. Mit anderen Worten, es kann einen Mann mit einer tödlichen Verletzung noch kurz einsatzfähig machen, so dass er nicht stirbt, ohne seine Mission zu erfüllen. Manchmal ist die Todesursache aber auch das Elixier, weil es dem Körper zu viel abverlangt. In deinem Fall ist es anders, du hast es genutzt, um die Symptome der Vergiftung aufzuheben, nehme ich an.“ „Ja... ich hätte sonst nicht so stark und zielsicher zuschlagen können.“ „Aber dein Körper ist abgesehen von der Vergiftung in einem relativ guten Zustand. Das Elixier hat dich erschöpft, aber meiner Meinung nach kannst du dich davon erholen, wenn du etwas isst und ruhst. Vielleicht hast du etwas Zeit verloren, aber nicht so viel, wie du denkst.“ „Nett von dir.“ „Das meine ich ernst.“ Vindictus scherzte nie, wenn es um seine Patienten ging. Wie auf Stichwort tauchte Malice auf. Er öffnete die Tür mit dem Ellenbogen, ohne zu klopfen, und schloss sie von innen mit einem Tritt. Kein Wunder, denn er hatte die Hände voll mit einem Tablett voller Essen und einer Wasserkaraffe. „Ah, da sind wir drei Hübschen ja wieder alle auf einem Haufen,“ grinste er. „Sprich nur für dich, Bürschchen, ich war immer nur euer Angestellter.“ Darauf legte Vindictus großen Wert. „Du arbeitest doch immer noch für Sorc... oder Soach, wie auch immer.“ „Ich arbeite für Crimson.“ „Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden...“ „Ach, Klappe. Ich lasse euch zwei mal alleine. Du Held sorgst dafür, dass der Patient isst und trinkt. Gib ihm keine weiteren Zaubertränke.“ Der Heiler stieg vom Sessel und marschierte aus dem Zimmer, froh, als die Tür sich hinter ihm schloss. Er fand es immer schwierig, einen Patienten zu verlieren, zumal er ein Alter erreicht hatte, in dem die meisten davon um einiges jünger waren als er. Doch jemand, den er so gut kannte und mittlerweile als Freund bezeichnete... Warum muss ich das noch erleben? Crimson wünschte sich, ein anderer wäre der Alchemist und er könnte einfach bei Soach sitzen. Er verspürte das dringende Bedürfnis, bei ihm zu sein und sein Bewusstsein zum Schloss zu bringen, wenn es soweit war. Aber davon abgesehen verhielt sich Catherine erstaunlich ruhig, dafür dass er sich so aufgeregt hatte, als der Kontakt abgebrochen war. Es schien den Geist wenig zu belasten, dass sein Seelengeber vielleicht starb, aber für ihn hatte der Tod eben nicht die gleiche Bedeutung wie für Wesen aus Fleisch und Blut. [Soach wird in mir weiterleben,] ließ er Crimson wissen. [Ich besitze bereits seine Seele, und solange du vor Ort bist, um sein Bewusstsein einzufangen und herzubringen, geht er uns nicht verloren.] Diese Information beruhigte Crimson nur wenig. Für ein Geschöpf aus Fleisch und Blut zählte eben nicht nur, dass die Präsenz des Freundes blieb, sondern er wollte mit ihm Zeit verbringen, über Magie philosophieren und Dinge ausprobieren. Er hatte sich daran gewöhnt, den Mann um sich zu haben und jederzeit auf seine Hilfe zurückgreifen zu können. Nicht zuletzt sah er in Soach eine Schulter, an die er sich lehnen konnte. Vielleicht würde Cathy noch lernen, was Verlust bedeutete, nun, da er eine Seele besaß. Oder aber... vielleicht war das nur die Art des Geistes, mit dem Problem umzugehen. Schließlich stammte die Seele von jemandem, der stets bemüht war, andere zu beschützen und sich seine eigenen Sorgen nicht anmerken zu lassen. Irgendwo in seinem Hinterkopf meldeten sich manchmal seine Drachen, die in den Mauern des Schlosses spüren konnten, dass etwas vor sich ging, diesen Zustand aber nicht recht einordnen konnten. Und es gab noch Gandora... Crimson bemerkte ihn in seinem Geist, kannte ihn aber nicht gut genug, um zu beurteilen, ob er ihm etwas mitteilen wollte oder einfach nur die Verbindung hielt. Was Soach selbst betraf... der unterhielt sich gerade mit Malice, so dass Crimson eigentlich wegschauen wollte, aber auch neugierig war, was sie zu reden hatten. Da Soach sich momentan mit Essen beschäftigte, hielt sich das Gespräch in Grenzen. „Gleich bin ich fertig. Wenn das nicht hilft, weiß ich nicht mehr weiter...“ murmelte er, während er sein Gebräu umrührte. „Ich will nicht daran glauben, dass mein Vater einfach so stirbt,“ sagte Blacky, der sich im Hintergund hielt, um den Alchemisten nicht zu stören. „Kann er das Gift nicht einfach durch pure Willenskraft überwinden? So etwas kommt doch hin und wieder vor! Und ich kenne keinen mit einem festeren Willen.“ „Du bist auch ein Chaosmagier, Blacky. Muss ich dir sagen, dass du nicht zweifeln darfst?“ Er hörte den anderen kurz kichern. „Hast Recht. Aber ich habe seine Aura gesehen, und es fällt mir schwer, optimistisch zu bleiben.“ „Cathy kommuniziert mit den anderen Schlossherzen, um vielleicht eine Lösung zu finden. Fawarius hat ein großes Sortiment in seinem Inventar, aber ich werde vielleicht weitere Zutaten brauchen, die jemand herbringen muss. Hier gibt es hauptsächlich Zeug für diese Kampfsachen...“ Crimson gab als letzte Zutat eine Drachenschuppe in seinen Trank und nahm ihn vom Feuer. Sorgfältig füllte er alles in kleine Fläschchen um, die der Kampfalchemist massenhaft auf Lager hatte. Er fühlte sich ein wenig überfordert, so als müsste er zu viel tun in sehr wenig Zeit. Und es gab noch eine wichtige Sache. Selbst wäre er vielleicht nicht darauf gekommen, aber es half, mit einem Prinzen und einem relativ alten Schlossherz verbunden zu sein. „Blacky... du bist derzeit mein Chaosmagier, so ist es doch, nicht wahr?“ vergewisserte er sich und wandte sich zu ihm um. Der Schwarzhaarige nickte ernst. „Ich wünschte, ich könnte die Worte meines Vaters benutzen... Sag mir, was du brauchst, und ich finde einen Weg. Aber es scheint, gegen Gift bin auch ich machtlos.“ Es überraschte Crimson, dass Blacky offenbar den Wortlaut von Soachs Treueschwur kannte, andererseits... es spielte keine Rolle. „Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, was ich brauche. Ein Heilmittel, ja. Aber das ist eine relativ ungenaue Angabe. Nein, von dir brauche ich etwas anderes. Kläre Rahzihf und Fawarius darüber auf, dass Lord Arae tot ist. Befrage sie zum Thema. Vielleicht hat der Lord ihnen gegenüber mal was erwähnt. Ich könnte mir vorstellen, dass Fire dir dabei helfen möchte. Und es gibt eine Frau... die Lady Arae. Auch sie könnte etwas wissen. Und die Angestellten sollen sich in einem Raum sammeln, zum Beispiel... in der Eingangshalle, durch die wir vorhin kamen.“ „Betrachte es als erledigt.“ Beide Magier verließen gemeinsam das Alchemielabor. Blacky schlug eine andere Richtung ein, als Crimson in den Gang einbog, wo er Soachs neues Zimmer vermutete. Es musste ganz in der Nähe seiner früheren Unterkunft sein, wenn er die Erinnerungen seines Freundes richtig interpretierte, aber auf der anderen Seite und nahe bei den Treppen. Crimson kam an der Stelle vorbei, wo er mit Fawaruis gekämpft hatte. Da musste dringend renoviert werden. Vor der gesuchten Tür traf er Vindictus und Ishzark an. Der Herrscher der Eisigen Inseln lehnte mit dem Unterarm und der Stirn an einer Wand und rieb sich die Augen mit der freien Hand. Vindictus betrachtete die Kunstgegenstände auf einer Kommode, die zur Zierde herumstand. „Ich bringe ein Mittel, das uns vielleicht hilft,“ sagte Crimson den beiden Männern. Ishzark löste sich sofort von der Wand und sah ihn hoffnungsvoll an, oh, so hoffnungsvoll. „Wirklich? Wird ihn das heilen oder die Sache nur verzögern?“ „Wir müssen es ausprobieren. Vindictus, ist es risikolos möglich, ihm das Mittel zu geben? Ich habe Drachenschuppen zugesetzt, das bewirkt, dass das Meras des Anwenders nicht verbraucht wird. Und der Trank könnte stärker sein.“ „Du überraschst mich immer wieder mit deiner Umsichtigkeit, Jungchen. Soach ist momentan sehr müde, ich könnte mir vorstellen, dass er mit Hilfe deines Gebräus eine Weile in Ruhe schlafen kann. Welches hast du gekocht?“ „Gundulahs Allheilmittel. Es ist am erfolgversprechendsten, entspricht aber vom Geschmack her nicht dem Gegenmittel, das Soach hier bekam. Möglicherweise handelte es sich dabei gar nicht um eine alchemistische Substanz, sondern etwas, das direkt gewonnen wird, was auch das sehr klare, farblose Aussehen erklären würde.“ „Versuch es. Wir haben nichts zu verlieren.“ Vindictus ging vor. Drinnen hockte zu Crimsons Leidwesen noch Malice auf der Bettkante und erzählte Geschichten von Heldentaten, die er angeblich vollbracht hatte. „Es ist Zeit, dass du dich verabschiedest,“ teilte der Magier ihm mit. Malice schaute zu ihm auf. „Ui... aber ich komme gerade erst in Fahrt...“ „Wenn du nicht gleich aufstehst und die Tür von außen hinter dir schließt, wirst du nirgends mehr kommen,“ lächelte Crimson liebenswürdig, doch seine Augen blickten den verhassten Blondschopf streng an. „Jetzt macht er einen auf hart... ich steh da voll drauf, auf hart, meine ich...“ Malice grinste, aber er erhob sich lässig und schlenderte hinaus. Dabei musterte er den anderen langsam von oben bis unten. Crimson ging darauf nicht ein, ließ seinen erklärten Feind aber auch nicht aus den Augen. Insofern atmete er auf, als das Türschloss einrastete, denn endlich konnte er sich Soach widmen. Dieser lag mit halb geschlossenen Augen im Bett, der Kopf versank tief in dem weichen Kissen. Aber er bekam zweifellos alles um sich herum mit. Crimson zog sich den Sessel an die Seite des Bettes, den Vindictus nicht auf der anderen Seite in Beschlag hatte. „Hier, trink das... es könnte helfen.“ Er hob Soachs Kopf an und hielt ihm das Fläschchen an die Lippen. Der Patient trank ohne Protest. „Widerlich,“ kommentierte er. Auf der anderen Seite des Bettes hielt Vindictus mit geschlossenen Augen seine Hand, als fühlte er lediglich den Puls, aber das täuschte. „Ich glaube, es hat zumindest nicht geschadet,“ stellte der Heiler fest. „Kannst du eine Besserung feststellen?“ „Im Moment bemerke ich keinen Unterschied,“ murmelte Soach. „Könntest du mir einen Gefallen tun, Vindictus? Sag meinen Verwandten, dass sie beizeiten zu mir kommen sollen, wenn sie mich besuchen möchten. Lass niemanden mehr zu mir, wenn es ernst wird, sie sollen nicht solche Erinnerungen an mich haben. Aber Crimson muss hier sein...“ Vindictus nickte bedächtig. „Ich sage es ihnen, aber letztendlich werde ich sie nicht aufhalten. Ich lasse euch zwei mal kurz alleine. Ihr hatten noch gar keine Zeit füreinander.“ Soach widersprach nicht. Es blieb still, bis nur noch die beiden Freunde zurückblieben. „So wie er redet, könnte man meinen, wir wären ein altes Liebespaar,“ murmelte Crimson. Etwas schien in sein Herz zu stechen, als er das sagte, und eilig fügte er hinzu: „Naja, das soll nicht heißen, dass ich dich nicht... liebe, also...“ Seine Wangen wurden ganz heiß. „Crimson... ich liebe dich mit all der Kraft, mit der man ein anderes Lebewesen lieben kann,“ sagte Soach. So einfach. „Du... du bist derjenige, bei dem ich mich gehen lassen kann...“ Seine Stimme verlor ihren festen Klang. Zugleich fiel der Rest der Fassade. Soachs Atem kam unregelmäßig und abgehackt, während Tränen in seine Augen traten. „Hör zu, Crimson... ich will bis zum Schluss dagegen ankämpfen... ganz egal, ob ich Schmerzen habe oder nicht mehr ganz bei mir bin... Vielleicht... kann ich es besiegen! Auf jeden Fall... werde ich... kein leichtes Opfer.“ Eine Erinnerung flackerte in Crimsons Gedanken auf. Sie zeigte Fawarius, der anbot, ihm den Todeskampf etwas zu verkürzen. „Ich verstehe... ich werde dafür sorgen, dass niemand sich einmischt.“ „Du kümmerst dich doch um Lily, nicht wahr?“ Crimson hasste es, dass Soach so redete, aber leugnen brachte nichts. Er konnte auch nur noch flüstern. „Natürlich. Du wirst auch da sein... und wenn es nur als ein Geist im Schloss ist.“ „Zumindest daran zweifle ich nicht,“ schniefte Soach. „Ich werde jetzt... ein bisschen schlafen. Weck mich, wenn du deine Angelegenheiten erledigt hast, ja? Aber bitte... warte nicht zu lange.“ „Okay. Ich beeile mich.“ Crimson blieb an seiner Seite, bis Soach sich beruhigt hatte und einschlief. Er musste noch weitere Minuten ausharren, um selber wieder präsentabel zu sein. Noch wollte er seiner Trauer nicht nachgeben, denn er brauchte eine selbstsichere Fassade, wie sie die Prinzen der Eisigen Inseln so gut beherrschten. Davon abgesehen hoffte er noch auf ein Wunder. Der weißhaarige Magier stand auf und rief sich in Erinnerung, was Soach ihm einmal über Haltung und Körpersprache beigebracht hatte. Er trat vor den Spiegel und stellte sicher, dass er den gewünschten Eindruck vermittelte. Schultern nach hinten, gerader Rücken, fester Stand... „Du bist ein strenger Schlossherr!“ sagte er zu seinem Spiegelbild und hob das Kinn noch ein bisschen an. Das musste reichen. Er trat auf den Flur, wo Ishzark, Vindictus und Malice warteten. Letzterer schärfte lässig sein Schwert, während die anderen beiden Crimson fragend ansahen. „Soach schläft,“ sagte er. „Geben wir ihm eine Stunde. Vindictus, bleib bitte bei ihm. Lord Ishzark, Euch bräuchte ich als Unterstützung, und...“ Bediene dich der Mittel, die du zur Verfügung hast. „Malice. Komm mit. Du bekommst zehn Tränke deiner Wahl als Bezahlung.“ Der Blonde vergaß seine Schleifarbeit. „Und du schuldest mir ein Elixier der Verdammten!“ „Von mir aus.“ Malice grinste sein unnatürlich breites Grinsen. „Dann ist ja alles klar... wie lautet die Mission?“ Crimson ballte die Hände zu Fäusten und ging vor. „Wir nehmen dieses Haus in Besitz.“ Kapitel 15: Traurige Wahrheit ----------------------------- „Was... Prinz Soach!“ „Nicht ganz.“ Blacky lächelte kalt auf den Krieger herab, den er zusammen mit dem Magier gerade aufgeweckt hatte. Beide lehnten an der Wand und trieften von einer Ladung kalten Wassers. „Das muss Kayos sein... sein ältester Sohn,“ sagte Fawaruis. „Er scheint arrogant genug zu sein, uns nicht zu fesseln. Blacky deutete mit dem Daumen hinter sich. „Mein Bruder Fire freut sich schon auf Eure Fluchtversuche, also lasse ich es drauf ankommen.“ Der Feuermagier trat neben ihn und knackte mit den Knöcheln. „Jep, versucht nur abzuhau'n, gebt mir nen Grund... ich mach euch platt!“ Sie hatten die beiden Männer in das Verhörzimmer gebracht, weil es dort außer Araes Schreibtisch und Stuhl keine Möbel gab und damit auch nicht viel, das als Waffe taugte. Jedoch reichte die Menge an Feuerholz für den Lord der Flammen aus. „Also fangen wir doch gleich an, denn Zeit ist kostbar,“ ergriff Blacky wieder das Wort. „Lord Edeh Arae ist tot, sein Eigentum und seine Leute unter neuer Herrschaft. Was wisst Ihr über das Gift, das er unserem Vater gab?“ Die Gefangenen tauschten erschrockene Blicke aus. „Der Lord ist tot?“ hauchte der Magier. „Wir haben versagt...“ stammelte der Krieger. „War es... hat der Prinz das getan?“ „Ey und wenn?“ schritt Fire ein. „Der hat sich ja mal nur gewehrt! Nun spuckt's aus! Was wisst ihr von dem Gift?“ „Mein Bruder nimmt es nicht sehr gut auf,“ bemerkte Blacky. „Wisst Ihr... er fühlt sich dafür verantwortlich und muss seinen Frust abreagieren...“ Fire warf ihm einen giftigen Blick zu, widersprach ihm aber vor den Feinden nicht. Im Gegenteil. „Gebt mir nur nen Grund!“ wiederholte er und schlug mit einer Faust in die andere Hand. „Ich warn' euch, ich kann Feuer machen und schlimmes Zeug damit anstelln!“ Doch Fawarius widersetzte sich gar nicht. „Der Lord hat das Gift und das Gegenmittel von seinen Reisen mitgebracht. Mehr wissen wir nicht, er weihte uns nicht in seine Pläne ein.“ „Habt Ihr irgendeine Vermutung, so als Alchemist?“ erkundigte Blacky sich. „Ich glaube, dass es von einem Tier oder einer Pflanze stammt, denn sonst hätte er es auch mich frisch zusammenbrauen lassen können,“ antwortete Fawarius bereitwillig. „Auch hätte er die Zutaten mitbringen können, falls Bedarf entsteht, aber das hat er nicht. Prinz Soach zerstörte den Vorrat des Gegenmittels, und wir hatten keine Möglichkeit, es neu zu beschaffen. Sonst hätte der Lord es sicher befohlen, da er ja Prinz Soach eine Weile am Leben erhalten wollte...“ Nun war es an Blacky, einen Blick mit Fire auszutauschen. Soach selbst hatte das Mittel zerstört? Nun, sie kannten noch nicht die ganze Geschichte. Das spielte momentan aber auch keine Rolle. „Wohin ist er gereist?“ setzte der Chaosmagier die Befragung fort. „Der Lord war oft wochenlang unterwegs, meist zu verschiedenen Zielen, die er nacheinander aufsuchte. Wir haben nicht gefragt,“ sagte Rahzihf. Er ließ den Kopf hängen, als hätte sein Leben den Sinn verloren. „Das nützt alles nix!“ regte Fire sich auf, drehte sich herum und lief haareraufend im Raum herum. „Hatter denn nicht damit geprollt? Das machen solche Leute doch...“ „Wem könnte er etwas gesagt haben?“ hakte Blacky nach. „Gab es jemanden, dem er nahe stand? Soweit ich weiß, gibt es eine Lady Arae, vermutlich seine Frau...“ „Ihr werdet sie aus dem Spiel lassen!“ brauste Rahzihf auf. Er schien aufspringen zu wollen, aber Fawarius hielt ihn zurück. „Ihr habt von neuer Herrschaft gesprochen... wer?“ „Wir stell'n die Fragen!“ motzte Fire. Blacky hingegen war sicher, dass der Magier reden würde, wenn er wusste, dass die Lady nicht in Gefahr war. Deshalb ging er auf die Frage ein: „Es ist Lord Crimson vom Lotusschloss, Ihr habt ihn kennen gelernt. Alles, was er will, ist ein Mittel, das seinen besten Freund rettet. Also?“ „Die Lady... könnte es wissen,“ räumte nun auch Rahzihf ein. „Sie war die engste Vertraute des Lords. Wenn er es ihr nicht gesagt hat, dann niemandem.“ „Wo ist sie? Spuck's aus!“ verlangte Fire. In diesem Moment wurde gesittet die Tür geöffnet, und eine rothaarige Frau trat ein, nach ihr ein blonder Mann. Beide sahen ziemlich mitgenommen aus: Die Kleidung war dreckig und zerfetzt, teilweise blutgetränkt, Rüstungsteite zerschrammt, Haare zerzaust. „Onkel Ray!“ rief Fire. „Ey wo warste denn die ganze Zeit? Und wer is das?“ Der Prinz legte einen Arm um die Schultern der Frau. „Das, mein Neffe, ist die Lady Getsu Fuma Jagerillia von den Eisigen Inseln, meine Frau. Begrüße deine neue Tante. Fuma, dies sind Nyrador und Kayos, die Söhne meines Bruders, oder zwei davon.“ Alle vier ursprünglichen Anwesenden starrten das Pärchen mit offenem Mund an, völlig sprachlos im Angsicht dieser unerwarteten Entwicklung. „Seit wann denn das?“ brachte Blacky als Erster wieder Worte heraus. „Aber... das ist Lady Arae!“ protestierte Fawarius. Rahzihf stieß ihn mit dem Ellenbogen an, als wolle er sagen, dass es doch nur recht wäre, wenn man das nicht wusste. „Du hast se ja nich alle,“ kommentierte Fire. Blacky räusperte sich. „Das können wir nachher klären. Ähm... Lady... Tante... Was wisst... weißt du über das Gift?“ Die Frau hielt sich fast krampfhaft gerade. „Edeh hat es von seiner letzten Reise mitgebracht. Er war sehr zufrieden mit dem Erwerb, denn es wirkt langsam und kann nicht geheilt werden, wenn man das richtige Gegengift nicht hat.“ Sie versuchte, eine lose Haarsträhne hinter das rechte Ohr zu schieben, aber sie war zu kurz, wie aus Versehen falsch abgeschnitten. „Es gab ein Heilmittel. Aber Edeh hat es weggeschüttet, nachdem Prinz Soach das Gift getrunken hatte. Er hat es nur aufgehoben, falls jemand anderes versehentlich das Gift trinkt.“ „Was für ein Scheißkerl!“ regte Fire sich auf, hielt sich dann aber zurück, als wäre ihm gerade bewusst geworden, dass er mit der Witwe sprach, der Person, von der sie Antworten wollten. „Was ist das für ein Gift? Hat er erwähnt, woher es kommt?“ fragte Blacky ungeduldig nach. „Von einer Schlange,“ sagte die Lady sachlich. „Einer Schlangengottheit aus den tropischen Sümpfen des grünen Kontinents, um genau zu sein. Euch wird auffallen, dass das auf der anderen Seite der Welt ist.“ Oder anders gesagt, zu weit weg. „Stammt das Heilmittel auch von dort?“ wollte Blacky wissen. Er fürchtete sich bereits vor der Antwort. „Sowohl das Gegenmittel, das Edeh dem Prinzen anbot, als auch da Heilmittel, das er vernichtet hat,“ nickte sie. „Das Gegenmittel stammt von einer einfachen Schlange, sofern man in dieser Gegend davon reden kann. Das Heilmittel von einer anderen göttlichen Schlange. Offenbar gibt es zwei, deren Gifte sich gegenseitig neutralisieren. Es ist sehr gefährlich, an sie heranzukommen, und das auch nur für denjenigen, der die richtige Schlange findet und überhaupt erst einmal die Reise unternimmt. Ich fürchte, ihr habt keine Chance.“ Was sie jedoch nicht zu bedauern schien. Fire fiel das kleine Lächeln um ihre Mundwinkel auch auf. Ein Außenstehender hätte vielleicht Verständnis dafür gehabt, immerhin redeten sie davon, wie der Mörder ihres verstorbenen Mannes zu retten war. Doch Fire schrie wütend auf, ließ seine Hand aufflammen und ging auf sie los. Blacky griff nach Fires Arm. Ray stellte sich vor Tante Fuma. Rahzihf und Fawarius sprangen auf, um ihre Herrin zu beschützen. „Mischt euch nicht ein,“ befahl die Lady mit einem Blick auf die Getreuen Araes, die daraufhin innehielten. Sie hatte auch nichts zu befürchten, denn ihr neuer Mann ließ nicht zu, dass sie Schaden nahm. „Beruhige dich,“ zischte Blacky dem jüngeren zu. „So kommen wir doch nicht weiter!“ „Ich polier ihr die Fresse!“ schrie Fire. „Siehste wie sie grinst? Freut sich, dass Vater stirbt! Lass mich los!“ Doch Blacky hielt ihn eisern fest. Sein Bruder kämpfte und fluchte, warf mit Flammen um sich, die aber nichts ausrichteten, weil er sich nicht konzentrierte. Er hielt Fire fest, bis dieser schluchzend zusammenbrach. Da ging er mit ihm in die Knie, ließ die Arme um ihn geschlungen und bemühte sich, ihn etwas zu beruhigen. „Das ist alles meine Schuld,“ jammerte Fire. „Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden!“ „Ich weiß. Aber das hattest du nicht zu entscheiden,“ flüsterte Blacky ihm zu. „Komm... wir gehen zu ihm. Hier haben wir nichts mehr zu tun.“ Zusammen ließen sie das Zimmer hinter sich, und soweit es Blacky betraf, auch die Hoffnung, seinen Vater retten zu können. Er wollte nicht zweifeln, wollte nicht aufgeben, vielleicht doch versuchen, die göttliche Schlange zu finden. Aber das hätte bedeutet, in diesen letzten Stunden nicht bei Soach sein zu können. Die Zeit reichte einfach nicht. Blacky wusste, wann er verloren hatte, auch wenn er sich nicht immer damit abfand. In diesem Fall entschied er, einfach für seinen Vater da zu sein... und danach für Crimson. Vindictus hielt die Stellung an Soachs Bett, was im Prinzip hieß, dass er wartete, bis der Mann aufhörte zu atmen oder jemand mit einem Wundermittel ankam. Blacky und Fire, die sich in den Raum schlichen, sahen jedoch nicht so aus, als hätten sie eins. Wollte Fire nicht helfen, die Leiche zu verbrennen? Vermutlich war es noch nicht soweit oder er hatte andere Aufgaben gefunden. Der Junge ließ sich auf den freien Sessel fallen und barg das Gesicht in den Händen. „Kann er uns hören?“ fragte Blacky mit einem Blick auf den Patienten. „Schon möglich, aber ich glaube nicht. Er schläft fest,“ sagte Vindictus. Blacky sank auf die Bettkannte. „Es ist vorbei... selbst wenn wir uns in das Gebiet teleportieren könnten, wo das Heilmittel zu holen ist, könnten wir es nicht rechtzeitig finden, es sei denn, die göttliche Schlange, von der es stammt, würde auf uns warten und es uns geben. Wie die Dinge liegen, gibt es aber auch noch zwei, und wir wissen nicht, welche wir brauchen.“ Vindictus ließ die Information sacken. „Dann habt ihr Araes Leute befragt?“ „Oh ja... und die Lady. Stell dir vor... Ray hat mit ihr den Bund geschlossen. Oder jedenfalls stellte er sie uns als seine Frau vor.“ „Ich versteh' das nicht, wie konnte er?“ murmelte Fire. „Nun... da sollten wir ihn wohl selber fragen. Was ist mit Crimson, habt ihr was von ihm gehört?“ erkundigte Vindictus sich. „Jemand sollte es ihm sagen. Soll ich gehen?" „Ich habe auf seine Wunsch hin einem der Diener aufgetragen, alle Angestellten in der Eingangshalle zu versammeln, vermutlich spricht er noch mit den Leuten,“ sagte Blacky. „Es ist nicht nötig, dass du hingehst, er wird doch eh herkommen.“ „Auch wieder wahr.“ Vindictus kontrollierte Soachs Lebenszeichen. „Sein Zustand ist stabil... Crimsons Trank scheint die Wirkung des Giftes zu verzögern. Ach ja... Soach möchte nicht, dass ihr bei ihm seid, wenn es mit ihm zu Ende geht... ihr sollt ihn nicht sehen, wenn er leidet oder den Verstand verliert. Ich sag's euch nur...“ Wie er diese Familie kannte, hörten sie darauf ohnehin nicht. „Ich bin sicher, dass er in Wahrheit unseren Beistand gebrauchen kann,“ bestätigte Blacky seine Vermutung. Sie warteten schweigend. Ab und zu bewegte sich Soach im Schlaf oder gab ein leises Geräusch von sich. Nach einer Weile hielt Fire es nicht mehr auf seinem Platz aus und fing an, nervös auf und ab zu laufen. „Waaaah, ich muss hier raus! Ich geh gucken, ob Raihos Leute schon fertig sind...“ Er verließ fluchtartig das Zimmer. Blacky seufzte. „Er gibt sich die Schuld.“ Vindictus wusste das ja schon. „Damit muss er selbst fertig werden. Lass ihn, er ist ein vernünftiger Junge, auch wenn er manchmal nicht so wirkt. Er wird sich irgendwie abreagieren und dann wiederkommen. Es wird jetzt schwierig für uns alle, denn wir können wohl nur noch warten... das ist immer die schlimmste Zeit für Angehörige und Freunde...“ „Es geht auch an dir nicht spurlos vorbei, wie ich sehe.“ „Papperlapapp. Ich bin Heiler, ich fühle mich in meiner Ehre verletzt, weil ich ihn nicht retten kann, das ist alles.“ Vindictus setzte sich auf seinen Sessel, verschränkte die Arme und behielt den Patienten im Auge. Crimson erlebte es zum ersten Mal, dass er mit zwei Handlangern neben sich herumlief und den Eroberer spielte. Seltsam war das, aber es gefiel ihm. Es fühlte sich ähnlich an wie Schloss Lotusblüte unter seine Kontrolle zu bringen, nur dass er dabei auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen war – Soachs Leute hatten das Schloss schnell geräumt, als ihr Boss nicht wiederkam. Hier verhielt es sich etwas anders. Die Bediensteten blieben, nahmen den Herrschaftswechsel zur Kenntnis und schienen sich damit abzufinden. Im Reich der Schatten kam das manchmal vor, und wenn der neue Herr in Ordnung zu sein schien, war meistens auch nichts dagegen einzuwenden, obgleich es natürlich eine gewisse Gewöhnungsphase gab. Crimson war vorsichtig. Vielleicht gab es noch Arae-Treue unter den Leuten, und er hatte mit Rahzihf und Fawarius noch nicht gesprochen. Allerdings hatte er die Lady gefunden... gewissermaßen. Das musste er erst einmal verdauen. Als er sich gerade zu Soachs Zimmer aufmachte, um nachzusehen, ob Blacky und Fire etwas erfahren hatten, kam der junge Feuermagier ihm auch schon entgegen, und er sah ziemlich mitgenommen aus. Fast ging er an Crimson vorbei, ohne ihn und seine Begleiter zu bemerken. „Fire!“ sprach Ishzark ihn an. „Ist alles in Ordnung?“ Sein Enkelsohn blieb abrupt stehen und sah die Gruppe mit geröteten Augen an. „Was? Nein, nichts ist in Ordnung! Vater hat Schlangengift getrunken, und nur ein anderes Schlangengift kann ihn retten, aber wir kriegen es nicht rechtzeitig! Wir können nichts mehr machen... und Onkel Ray, er... er hat die Lady zur Frau genommen, dieser Verräter!“ Ishzark lächelte schief. „Ja, ich weiß. Er tat es unten in der Eingangshalle vor uns und allen Bediensteten. Er bat mich um meinen Segen, und ich gab ihn ihm.“ „Wie bitte, du hast das befürwortet?“ regte Fire sich auf. „In gewisser Weise hat Ray es geschickt angestellt,“ erörterte der Krieger. „Vor all den Leuten wäre es unschön gewesen, wenn ich nein gesagt hätte, und davon abgesehen vertraue ich darauf, dass er Gründe dafür hat. Aber das ist jetzt zweitrangig. Du sagtest, wir können Soach nicht retten?“ „Genau. Das Gift stammt von der anderen Seite der Welt, wo wir niemals rechtzeitig hinkommen werden, selbst wenn das Heilmittel dort an den Bäumen wüchse.“ bekräftigte Fire. „Und Onkel Ray hat nichts Besseres zu tun, als sich die Frau zu schnappen! Ich durfte ihr nichtmal das blöde Grinsen wegpolieren, und Vater krepiert hier, während er sich mit dem Feind verbrüdert! Ich brauch jetzt frische Luft...“ Er eilte weiter, ohne sich noch einmal umzublicken. Crimson verfolgte den Austausch geschockt. Sein Magen schien sich zusammenzufalten. „Es gibt... keine Hoffnung mehr?“ Sofort leugnete sein Herz, doch sein Verstand begann, sich auf den Verlust einzustellen. Ishzark nahm einen tiefen Atemzug. „Habt Ihr noch ein Mittel, um die Wirkung des Giftes zu verzögern?“ „Ja, schon, aber...“ Crimson fragte sich, ob sie unter diesen Umständen Soachs Leiden nicht lieber verkürzen sollten, statt es in die Länge zu ziehen, doch er verdrängte diesen Gedanken schnell wieder. Wenn nun doch noch ein Wundermittel auftauchte und Soach dann schon tot war, weil er eine Gelegenheit nicht genutzt hatte, würde er sich das nie verzeihen. „Bitte tut, was Ihr könnt, vielleicht... kann Rilly sich dann noch von ihm verabschieden. Soach erwähnte einen Boten, sicherlich ist sie auf dem Weg.“ „Soach wird bis zum Ende kämpfen, also ist es gut möglich.“ Ishzark rieb sich die Augen, dann straffte er seine Haltung, und Crimson konnte beobachten, wie er ganz nach Inselmanier eine gelassene Fassade aufsetzte. „Lasst uns nach ihm sehen, und vielleicht treffen wir Ray unterwegs. Ich würde die Frau gerne persönlich wegen des Giftes sprechen.“ „Also... wenn ich dann nicht mehr gebraucht werde...“ begann Malice, doch Crimson warf ihm einen finsteren Blick zu. „Du bleibst und bewachst seine Tür, sobald wir ankommen.“ „Auch gut.“ Den Kerl schien das völlig kalt zu lassen, aber das sollte vielleicht nicht überraschen. Zwar gab es eine alte Zusammenarbeit zwischen ihm und Soach, aber das glich nicht unbedingt einer Freundschaft. Ray begegnete ihnen unterwegs nicht, und auch sonst niemand. Das Haus wirkte geradezu gespenstisch ruhig. Als Crimson das Zimmer von Soach betrat, sah er gleich an Blackys Gesicht Fires Worte bestätigt. Der Chaosmagier, obgleich theoretisch auch ein Prinz der Eisigen Inseln, verfügte nicht über die Fähigkeiten vieler seiner Verwandten, seine Miene völlig unbeteiligt aussehen zu lassen. „Wir haben Fire getroffen,“ sagte Crimson, womit sich jedes weitere Wort zu dem Thema zu erübrigen schien. „Hast du das mit Ray gehört?“ erkundigte Blacky sich. „Allerdings. Wir waren sogar dabei, als er und die Lady ihre Schwüre austauschten. Sie kamen dazu, als ich gerade anfangen wollte, die Leute über den neuen Stand der Dinge zu informieren. Die Reaktionen der Bediensteten sah interessant aus, soviel muss ich zugeben.“ „Dann muss er anschließend zu uns gekommen sein...“ „Ja, scheint so... ich habe dann noch eine kleine Rede gehalten und einige Anweisungen gegeben.“ Crimson beugte sich zu Soach hinunter und rüttelte ihn sanft an den Schultern. „Aufwachen! Du wolltest doch geweckt werden, wenn ich zurück bin.“ „Hmmmm... noch ein bisschen...“ murmelte Soach im Halbschlaf. Dann riss er plötzlich die Augen auf, als erinnerte er sich gerade an seine Situation. Er setzte sich ruckartig auf, stöhnte und ließ sich wieder zurücksinken. „Der Trank scheint nicht mehr zu wirken...“ Crimson holte schnell einen neuen hervor. „Trink, mein Freund... das verschafft dir vielleicht eine weitere Stunde.“ Dieses Mal beschwerte Soach sich nicht über den Geschmack. Er ließ seine Augen durch den Raum wandern, sah alle Anwesenden kurz an und schaffte ein kleines Lächeln. „Hallo, Vater. Kay... ich fürchte, dein Zauberstab ist ruiniert.“ „Ich hätte ihn ohnehin längst ersetzen müssen,“ winkte der Chaosmagier ab. Eine Weile herrschte Schweigen, während niemand etwas zu sagen wusste. Schließlich griff Crimson das Gespräch wieder auf: „Ich habe angeordnet, dass ein Bad für dich vorbereitet wird. Wie ich dich kenne, willst du dir den Kampfdreck abwaschen.“ „Ah... du kannst wohl Gedanken lesen.“ „Deine schon.“ Soach ließ erneut seinen Blick über die Anwesenden schweifen. „Ihr seht so aus, als hättet ihr keine guten Nachrichten.“ Ehe Crimson darauf antworten konnte, sagte Blacky: „Wir konnten noch kein Heilmittel finden, aber wir versuchen es weiter. Ich glaube fest daran, dass wir irgendwas übersehen haben und bald darauf kommen werden.“ „Das hoffe ich... ich habe keine Erfahrung mit dem Sterben und würde mich zweifellos sehr ungeschickt anstellen,“ bemerkte Soach. „Ich beneide fast all jene, zu denen der Tod ganz plötzlich kommt. Andererseits... ich beschwere mich nicht darüber, euch vorher noch sehen zu können. Ihr müsst ein bisschen auf Fire achten... er fühlt sich für alles verantwortlich.“ „Mach dir deswegen keine Sorgen... er kommt schon zurecht...“ Blackys Stimme versagte. Erneut breitete sich Stille im Raum aus. „Ich vertrete mir mal die Beine und geh einen Happen essen, ihr scheint mich im Moment nicht zu brauchen,“ teilte Vindictus ihnen mit und verließ das Zimmer. Crimson drehte sich zu Soachs Verwandten um. „Ähm... ich gehe vielleicht kurz mal nach dem Bad sehen.“ Ishzark nickte, er wirkte dankbar dafür. „Wenn du Fire siehst... vielleicht möchte er auch herkommen.“ „Ich halte nach ihm Ausschau.“ Aber Crimson hatte es vor allem auf Rahzihf und Fawarius abgesehen, als er auf den Flur trat und dabei sicherstellte, dass seine mentale Verbindung zu Soach intakt war, falls etwas passierte. Er wollte jedoch nicht lauschen, daher wandte er seinen Geist von der Szene am Bett ab. Zwei Zimmer weiter stand eine Tür offen und er sah einige Dienstmädchen mit Wassereimern hineingehen und herauskommen. Offenbar füllten sie einen Badezuber. Crimson sah nach. Er fand so etwas wie einen Aufenthaltsraum vor. Darin standen ein Sofa und zwei passende Sessel um einen kleinen Tisch herum, auf dem Tisch ein Tablett mit vier Gläsern und einer Wasserkaraffe. Zudem gab es ein Bücherragal und einen Schrank. Im Vergleich zu den schweren Vorhängen in den Schlafzimmern wirkten die Gardinen hier luftig und die Übergardinen lichtdurchlässig. Der Badezuber stand nahe bei den Sesseln. Die Bediensteten legten Handtücher auf eines der Sitzmöbel. Crimson kontrollierte die Temperatur. Heiß. Am besten sagte er Soach gleich Bescheid, obgleich es ruhig noch etwas abkühlen konnte. „Ah, da seid Ihr ja, Lord Crimson.“ Er erkannte Rahzihfs Stimme und wandte sich zur Tür. Außer dem Krieger trat auch Fawarius ein. Draußen auf dem Flur warteten... Ray und seine neue Frau. „Wir wüssten gerne, was Ihr mit uns vorhabt,“ sagte der Krieger gerade heraus. Crimson wartete noch kurz, bis ein letzter Eimer mit Wasser in den Zuber geschüttet wurde und die Frauen verschwanden. Eigentlich wusste er nicht recht, wie er antworten sollte, doch zumindest für den Alchemisten fiel ihm etwas ein. „Fawarius, Ihr kommt mir gelegen. Ich werde vielleicht mehr von Gundulahs Allheilmittel brauchen, muss aber bei Soach bleiben. Könnt Ihr es herstellen?“ Der Ältere straffte die Schultern. „Selbstverständlich. Sofern ich die Zutaten habe.“ „Nun, das ist ein Problem,“ räumte Crimson ein. „Ich habe gekocht, soviel ich konnte. Das Lavakraut ist alle und ein paar andere Sachen sind nur noch begrenzt vorhanden. Aber mein Schlossherz hat veranlasst, dass Nachschub geliefert wird. Wartet auf den Boten und macht Euch dann an die Arbeit.“ „Jawohl.“ Fawarius neigte leicht den Kopf. Er wollte schon gehen, doch Crimson hielt ihn auf. „Wartet. Wem gehört nun Eure Loyalität, Fawarius?“ Der Mann stoppte in der Bewegung, als fühlte er sich bei etwas ertappt. Er antwortete erst nach einer halben Minute. „Nun... ich denke, das wärt dann Ihr, Lord Crimson.“ „So wie Ihr das sagt, überzeugt es mich nicht.“ Fawarius richtete den Blick seines verbleibenden Auges auf Crimson und nahm eine gerade Haltung an. Dann legte er die Rechte auf seine Brust und neigte den Kopf in einer unterwürfigen Geste. „Ich gelobe Euch Treue und werde Euch loyal dienen, Lord Crimson.“ Das klang schon besser. Crimson nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis. „Dann geht jetzt.“ Fawarius drehte sich schwungvoll um und schritt hinaus. Nachdem er weg war, trat Rahzihf ein paar Schritte näher. „Wenn Ihr erlaubt, Lord Crimson, möchte ich nicht in Eure Dienste treten, sondern bei meiner Lady bleiben. Beziehungsweise... bei Prinz Lichal. Es ist in gewisser Weise meine Pflicht, wie ich finde. Immerhin ist er der Bruder von Prinz Soach. Ich bedaure sein Schicksal, auch wenn er meinen Herrn auf dem Gewissen hat.“ „Ich glaube, dass Ihr Euch vor allem dem Jungen Herrn verpflichtet fühlt... jetzt wo der Vater des Jungen nicht mehr ist,“ bemerkte Crimson. Er bemühte sich um einen strengen Tonfall und fand, dass er es ganz gut hinbekam. „Fawarius wollte das Kind nicht erwähnen, ist es nicht so?“ „Ich... also, nein, das...“ Rahzihf biss sich auf die Lippe. „Wie dumm von mir. Natürlich wisst Ihr es von Prinz Soach.“ „Dachtet Ihr, der Junge wäre in Gefahr? Das würde Soach nicht wollen.“ Crimson blickte zu Ray und der Lady, die das Gespräch an der Tür mitbekommen hatten, und ihm ging ein Licht auf. „Oh... deshalb... deshalb hast du...“ Ray lächelte verlegen. „Ja. Und ich möchte Soachs Segen dafür haben. Wenn sowohl er als mein älterer Bruder als auch Vater zustimmen, kann Mutter kaum noch etwas dagegen sagen.“ „Verstehe. Komm mit.“ Crimson ging an dem Pärchen vorbei und konnte dabei einen Blick auf die Frau werfen. Sie erwiderte den Blick feindselig, und er fragte sich unwillkürlich, was Ray sich da aufgebürdet hatte. „Vater...“ Soach streckte die Hand nach Ishzark aus. Der Krieger ergriff sie, während er neben dem Bett in die Knie ging, und hielt sie gegen seine Wange. „Ich habe nie gezweifelt,“ murmelte Soach. „Weißt du, Arae hat behauptet, ich sei sein Bruder, der Sohn des Mannes, den Mutter entthront hat. Aber es gibt keinen Grund, warum du mir das nicht gesagt hättest, und selbst wenn... Mein Vater bist immer du.“ „Das ist lieb von dir, dass du mir so vertraust, mein Junge, aber du kannst rechnen, nicht wahr?“ Trotz der traurigen Lage, in der er sich befand, musste Soach kichern, und auch Ishzark konnte sich dagegen nicht wehren, während zugleich Tränen in seinen Augen glitzerten. „Arae hätte darauf kommen müssen. Ich bin zu jung, um sein Bruder zu sein. Mutter hat bald fünfzigjähriges Thronjubiläum, aber ich werde dann nichtmal neunundvierzig sein... oder ich wäre... dann nichtmal...“ Soach hatte sich unvorsichtig ausgedrückt, und sich zu korrigieren, ließ eine Welle der Übelkeit in ihm aufsteigen. Oder wirkte das Gift schon wieder? Früher oder später konnte er sein Ende nicht mehr hinauszögern. Ishzark kniff die Augen zusammen, drückte seines Sohnes Hand noch fester gegen sein Gesicht und gab einen leidenden Laut von sich. „Vielleicht hätte auch Großmutters Segen nicht gewirkt, wenn ich nicht blutsverwandt mit dir wäre,“ überlegte Soach. Er erinnerte sich an ein anderes Sterbebett, andere abschied nehmende Verwandte. Wie mochte es für Großmutter sein, hatte er sich damals gefragt. Sie musste von ihnen gehen, ließ sie alle zurück, während ihre Familie nur eine Person verlor. Andere blieben, um sich gegenseitig zu trösten, aber die sterbende Person ging allein... Doch was ihn betraf, so konnte er nur darauf hoffen, dass Crimson sein Bewusstsein zu halten vermochte, bis es sich im Schloss wieder an seine Seele binden konnte. Dann wurde aus ihm vermutlich das Schlossgespenst. „Ich habe mich darauf gefreut, deine Kinder zu segnen, wie meine Mutter es mit meinen tat...“ presste Ishzark hervor. „Die meisten davon kannte ich nicht früh genug... Doch Lilys Kind wird einen Segen bekommen. Ganz sicher.“ „Du könntest versuchen, es bei den anderen nachträglich zu machen,“ schlug Soach vor, obwohl er wusste, dass ein Segen eigentlich im ersten Lebensjahr des Babys gegeben werden musste... oder das zumindest glaubte man in seiner Familie väterlicherseits. „Vielleicht... werde ich das.“ Ishzark warf einen Blick auf Kayos. „Mach dir wegen mir keine Umstände, Opa,“ warf der Chaosmagier ein. „Bei mir weiß man nie, was dabei herauskommt.“ „Wahrscheinlich,“ stimmte Ishzark zu. „Aber ich sehe, wie dein Vater darauf brennt, genau das herauszufinden. Da soll es an mir nicht scheitern.“ Er erhob sich, wobei er sorgfältig Soachs Hand auf die Bettdecke legte. „Komm, Kayos, setz dich dorthin... normalerweise hat ein Elternteil das Baby auf dem Arm...“ Er bugsierte seinen Enkel auf die Bettkante. Dann zog er einen Dolch aus seinem Stiefel. „Dies wird seit vielen Generationen in meiner Familie gemacht. Es ist ein ziemlich schlichtes Ritual, aber deshalb wirkungsvoll.“ Kayos blieb einfach still sitzen. Soach ließ sich von der feierlichen Stimmung ergreifen, die sich für den Moment im Zimmer breitmachte. „Bei Ishzark, Meriel und Wilkin,“ sprach Ishzark und piekte sich mit dem Dolch in den Finger. Seine Augen huschten kurz zu Soach, dann wieder zu Kayos, dem er dann die Fingerspitze auf die Stirn drückte. „Gift tötet dich nicht.“ Er trat zurück. Sein verletzter Finger hinterließ einen kleinen roten Punkt auf Kayos' Stirn. „Das war es schon. Doch sei gewarnt... dieser Segen kann zu einem Fluch werden, denn auch wenn ein Gift dich nicht tötet, kann es trotzdem wirken.“ Kayos presste sich eine Hand auf den Mund und unterdrückte offenbar ein Schluchzen. „Das gäbe mir wenigstens Zeit, das Heilmittel zu finden...“ Soach streichelte ihm mit einer Hand über den Rücken. „Ich habe keine Chance mehr... nicht wahr? Du wolltest es mir vorhin nur nicht sagen. Aber deine Aura hat geflackert.“ Sein Sohn antwortete nicht, was wiederum Antwort genug war. „Aus irgendeinem Grund beruhigt mich das... es wird kein Suchen geben, keinen Wettlauf gegen die Zeit, keine bangen Hoffnungen... nur meine Willenskraft und das Gift,“ sagte Soach. „Seltsam, dass ich so empfinde... aber so ist es nicht ganz so belastend für euch, und ihr könnt in Ruhe noch etwas Zeit mit mir verbringen...“ Er beobachtete, wie Kayos krampfhaft versuchte, sich zu beherrschen, und einen Teilerfolg erzielte: Ihm liefen Tränen über die Wangen, aber ansonsten bewahrte er die Fassung. „Aus irgendeinem Grund weinen sie meistens, wenn sie den Segen erhalten haben,“ kommentierte Ishzark, der selber so aussah, als beherrsche er sich nur knapp. „Wie lautet eigentlich dein Segen, Vater?“ fragte Soach. „Falls du es denn verraten möchtest...“ Ishzark seufzte. „Du hast immer schönes Haar.“ Soachs Mundwinkel zuckten nach oben. „Echt?“ „Jaaa... mein Großvater Wilkin hatte schon in jungen Jahren eine Glatze. Wahrscheinlich wollte er mich davor bewahren.“ Unwillkürlich musterte Soach die Haare seines Vaters und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Kayos das gleiche tat. „Aber eins muss man sagen... sie sehen gepflegt aus.“ Ishzark warf die leicht ergraute Flut mit einer Bewegung seines Kopfes nach hinten. „Tja... wer hat, der hat.“ Die drei Männer lachten, als es an der Tür klopfte und Crimson seinen Kopf herein steckte. „Ich unterbreche hoffentlich nichts? Soach, dein Bruder ist hier. Er möchte deinen Segen für seinen frisch geschlossenen Bund mit Araes Witwe.“ Soach blinzelte. Was hatte er da verpasst? „Oh, wir kamen noch nicht dazu, es zu erwähnen,“ sagte Kayos. „Aber wir sind eh gerade beim Segnen, also sollte es kein Problem sein, oder?“ „Nein... gib mir eine Minute, um aus dem Bett zu kriechen.“ Soso, sein Bruder und die Witwe. Sie gehörte vermutlich zur Kriegsbeute. Doch Soach freute sich für den kleinen Edin – bei Ray war er in sicheren Händen. Er hatte sich schon um den Jungen gesorgt... denn noch einmal würde Lady Charoselle nicht den Sohn eines besiegten Feindes entkommen lassen. Kapitel 16: Die Stunde des Hellsehers ------------------------------------- Soach ließ sich bis zum Hals in das Badewasser sinken, was zur Folge hatte, dass seine Knie herausragten. Er schloss die Augen und genoss die Wärme. Immerhin war es das letzte Mal... wie fast alles, was er tat. „Soll ich dir den Rücken schrubben und die Haare waschen?“ bot Crimson nach ein paar Minuten an. Soach sah ihn an und lächelte. „Gleich. Wir haben es schließlich nicht eilig.“ Der Magier schenkte ihm ein Glas Wasser aus der Karaffe vom Tisch ein. „Hier. Du solltest genug trinken.“ Soach nahm das Glas und leerte es rasch. „Weißt du... als Kayos sagte, dass ihr noch das Mittel sucht, freute mich das, aber als ich erfuhr, dass es keins gibt, schockierte mich das gar nicht. Es war, als könnte ich mich jetzt ganz auf meinen persönlichen Kampf gegen das Gift konzentrieren, ohne noch jemanden mit Botengängen belasten zu müssen.“ „Cathy hat mir verraten, dass Dark hierher unterwegs ist, um neue Zutaten zu bringen. Ich werde dich mit Hilfsmittelchen versorgen, so lange es geht.“ „Nun... dagegen ist nichts einzuwenden. Ich glaube, ich brauche bald etwas neues. Der Raum schaukelt.“ Crimson reichte ihm ein Portionsfläschchen. „Warte nicht unnötig, es ist noch genug da. Fawarius kann neues machen, sobald Dark eintrifft.“ Soach nickte und trank. Die Symptome ließen nach. „Irgendwann wird es vermutlich nicht mehr helfen. Hat die letzte Portion nicht schon für kürzere Zeit gewirkt als die vorherige?“ „Schwer zu sagen, du hast geschlafen,“ meinte Crimson. „Wir wissen nicht, wann genau die Wirkung aufgehört hat.“ „Naja, wie auch immer... Ich hoffe, dass Fire bald wieder auftaucht. Ich möchte noch ein wenig Zeit mit meiner Familie verbringen. Hoffentlich verträgt er sich mit Ray.“ „Die Frau...“ „Fuma.“ „Sie muss ja nicht dabei sein. Er wird sich schon zusammenreißen, und wenn es nur dir zuliebe ist. Außerdem hast du Ray deinen Segen gegeben. Ich hab das noch nicht ganz verstanden, warum hat er sie zur Frau genommen?“ Crimson nahm die Badebürste zur Hand. Soach beugte sich nach vorne und ließ sich den Rücken schrubben. „Eine politische Entscheidung, und eine menschliche... Mutter hat die alte Lady Arae und ihren Sohn Edeh verschont. Aber nachdem ihre Gnade von damals ihr nun den Sohn nimmt, wird sie dieses Mal kein Erbarmen kennen und sowohl die Witwe des Feindes als auch sein Kind auslöschen. Natürlich nicht, wenn die beiden inzwischen zu ihrer eigenen Familie gehören. Ray vermeidet Opfer und verhindert einen Konflikt zwischen den Häusern Arae und Jagerillia. „Ich dachte, Jagerillia ist nur der Zweitname deiner Mutter...“ „Nein, es ist der Name einer Unterweltlerfamilie und eines Clans... wenn ich mit Unterweltlerangelegenheiten zu tun habe, stelle ich mich als Soach Jagerillia von den Eisigen Inseln vor. Aber ansonsten nicht. Ich fühle mich mehr dem Königshaus zugehörig.“ „Äh... klingt ziemlich kompliziert. Achtung...“ Crimson kippte ihm einen Eimer Wasser über den Kopf und massierte dann Seife in die Haare. Da sie nur noch kurz waren, wurde er schnell fertig und spülte sie ordentlich aus. Soach nahm das Stück Seife an sich und wusch den Rest seines Körpers. Die Seife kam ihm bekannt vor... sie sah aus und roch genau wie die von Lord Genesis. Aber der Lord ließ sie aus Blumen aus seinem Wald herstellen. Ob er Arae manchmal welche geschenkt hatte? Immerhin waren sie Kollegen im Zirkel des Bösen... Crimson hielt ihm ein Handtuch hin, was Soach zum Anlass nahm, den Badezuber zu verlassen. Er band sich das Tuch um die Hüften und nahm ein zweites, um Haare und Oberkörper abzutrocknen. „Setz dich mal kurz, dann mach ich den alten Verband ab...“ Crimson schob ihn zum Sofa, wo er die Wunde am linken Unterarm neu verband. „Sag, wie war es, das Elixier der Verdammten zu trinken?“ „Alchemistische Neugier? Wahrscheinlich kann man das nicht oft jemanden fragen.“ Soach dachte darüber nach. „Aber ich weiß kaum noch etwas. Als hätte da mein Gedächtnisspeicher ausgesetzt.“ „Das könnte sein.“ Crimson reichte ihm das Nachthemd, das sie aus dem Schrank im Schlafzimmer mitgenommen hatten. Soach zog es über und griff sich automatisch in den Nacken, um seine Haare aus dem Kragen zu ziehen – natürlich fassten seine Hände ins Leere. Vielleicht hatte er einfach andere Sorgen – zum Beispiel, dass er starb – und es kümmerte ihn deswegen nicht weiter. Generell schien sich seiner ein gewisses Gefühl der Gleichgültigkeit zu bemächtigen. „Gibt es Gifte, die dem Opfer den Kampfeswillen nehmen?“ fragte er stirnrunzelnd. „Das will ich mal nicht ausschließen,“ meinte Crimson. „Ich gehe davon aus, dass es deinen Körper schwächt, selbst wenn das Gegenmittel es behindert. Aber vielleicht ist dein Verstand einfach dazu übergegangen, sich nur noch auf eine wichtige Sache zu konzentrieren. Und dein Haar ist es nicht.“ So hatte Crimson also, bewusst oder unbewusst, etwas von seinen Gedanken mitbekommen. Aber das war ihm nur recht, immerhin sollte der Magier sein Bewusstsein auffangen, wenn es sich vom Körper löste. „Was du annimmst, könnte stimmen,“ stellte er fest. „Ich kann im Moment keine Trauer empfinden...“ „Oh... möglicherweise ein Nebeneffekt von Gundulahs Allheilmittel, obwohl umstritten ist, ob es seelische Krankheiten wie andauernde Niedergeschlagenheit heilen kann...“ „Wenn es so ist, macht es mir die Sache leichter.“ Crimson schwieg dazu. Soach konnte spüren, dass ihm das Thema unangenehm war, also erhob er sich und hakte sich bei seinem jungen Freund ein, als dieser es ihm anbot. Stolz spielte keine Rolle mehr, jedenfalls nicht bei Crimson. Als sie auf den Flur traten, winkte Malice ihnen bereits. „Hey, da kam ein blonder Typ an. Hat gesagt, dass Dark da ist, aber den hat der Alchemist wohl gleich an der Tür abgefangen. Der Blonde wartet drin.“ „Was für ein blonder Typ?“ fragte Crimson nach. „Ich kann mir nicht alle Namen merken,“ grinste Malice. „Aber ist ein Bekannter, würde ich sagen. Jedenfalls wollte er dich sehen.“ „Vielleicht Appi,“ überlegte Crimson. „Soweit ich weiß, hängt der immer noch an Darks Rockzipfel, um geheime Tricks von ihm zu lernen. Malice hielt ihnen die Tür auf, obwohl es sonst nicht seine Art war. Gerade so, als verspräche er sich etwas davon. Als sie in den Raum traten, erhob sich Neo von einem Sessel am Bett. „Ah, da seid ihr ja. Es freut mich sehr, dich noch lebend anzutreffen, Soach, denn ich wollte dir unbedingt sagen, wie sehr ich dir dein Schicksal gönne... ich habe mir gewünscht, dich in diesem Zustand zu sehen, seit ich weiß, dass du ausgebrannt wurdest, aber sterbend gefällst du mir noch besser!“ Noch während der Lichtmagier redete, verspannte sich Crimson merklich, aber Soach nutzte seine geistige Verbindung zu ihm, um ihn von jedweder Reaktion abzuhalten. Er wollte sich selbst darum kümmern. „Freut mich, dass ich helfen konnte,“ sagte er lediglich, ließ Crimsons Arm los und ging die letzten Schritte allein zum Bett, wo er unzeremoniell zurück unter die Decke kroch. „Wenn du gehst, finde doch bitte meine Familie und sag ihnen, dass ich mein Bad beendet habe.“ Neo öffnete den Mund und starrte ihn an, aber anscheinend hatte er darauf keine Antwort. Soach wedelte mit der Hand. „Na los, husch, husch!“ Neo blinzelte. „Wa--- Du eingebildeter Fatzke, was erlaubst du dir! Führst dich auf wie...“ „Wie ein Prinz, wolltest du das sagen?“ „Soll ich dieses Individuum entfernen, Majestät?“ ließ sich Malice vernehmen, der im Türrahmen stand und alles mitverfolgte. „Ich bin sicher, das wird nicht nötig sein,“ erwiderte Soach mit einem scharfen Blick in Neos Richtung. Dieser begriff dann wohl auch, was besser für ihn war, und marschierte hinaus. Soach wartete, bis die Tür hinter seinem Feind ins Schloss krachte. Dann ließ er sich schnaufend zurückfallen. Seltsamerweise amüsierte ihn die Sache nicht besonders, auch wenn ihm das Ergebnis gut gefiel. Er empfand eigentlich gar nichts weiter. „Ich glaube, das Allheilmittel lähmt die Emotionen. Aber wie gesagt... das macht es einfacher.“ Er schloss die Augen und schluckte. Nichts stand mehr zwischen ihm und dem Tod, abgesehen von ein paar Portionen Zaubertrank, vergleichbar mit einem Spinnennetz, das über den Weg gespannt war. „Mir ist neu, dass es diese Wirkung hat, allerdings nimmt man es normalerweise nicht in so kurzen Abständen hintereinander,“ sagte Crimson. Soach zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Dabei erschien es ihm viel sinnvoller, sie einfach geschlossen zu lassen und einzuschlafen. Für jemanden, der bis zum Ende kämpfen wollte, fühlte er sich viel zu sehr mit sich im Reinen. „Wenn es nicht das Mittel ist, warum bin ich dann so... gelassen? Es ist fast gruselig aber... das wiederum stört mich auch nicht.“ „Nimm es einfach hin, denn gleich werden deine Leute zu dir kommen. Ich werde in der Nähe sein,“ versprach Crimson. Er legte einige Phiolen auf den Nachttisch. „Hier, falls du mehr brauchst.“ Soach nickte. „Danke. Danke für alles, Crimson.“ Der Jüngere lächelte. „Hey... du bleibst mir erhalten, so oder so. Ich... gehe jetzt nachsehen, ob die anderen schon da sind.“ Vorher schob er noch ein paar Zierkissen unter das Kopfkissen, damit Soach nicht ganz so flach lag. Er drückte kurz seine Hand, ehe er zur Tür ging, sich noch einmal umsah und dann aus dem Raum verschwand. Soach blieb einen Moment alleine. Sein Herz beschleunigte den Takt, beruhigte sich aber rasch wieder, als die Tür erneut aufschwang und seine Verwandten eintraten. Ishzark, Ray, Kayos und Fire... sie kamen zu ihm, um sich zu verabschieden. Sie stritten nicht, obwohl Rays Bund mit der Arae-Witwe sicherlich noch einiges an Diskussionen verursachen würde. Vielleicht rissen sie sich um seinetwillen zusammen. Er fragte nicht nach, sondern genoss die Gelegenheit. Crimson lehnte sich neben der Tür an die Wand und atmete tief durch. „Brauchst du Hilfe?“ Er zuckte erschrocken zusammen – Malice hatte er ganz vergessen! „Nein, jedenfalls nicht deine,“ zischte er. „Bleib einfach auf deinem Posten.“ Ärgerlich, dass er so abgelenkt war, aber derzeit erforderte die Situation all seine Konzentration. Soach wollte garantiert nicht vor seinen Lieben in Tränen ausbrechen, und Crimson half ihm dabei... allerdings verriet er ihm das nicht. Er befürchtete nur, dass er es nicht durchhalten würde, aber es genügte, wenn er es schaffte, bis die Angehörigen wieder gingen. „Hey, Crimson.“ Dark tätschelte seine Wange. „Vielleicht solltest du dich auch etwas hinlegen.“ Crimson schreckte zusammen – er hatte seinen Cousin weder gehört noch gesehen, bis er vor ihm stand. „Geht schon... Hast du den Alchemisten getroffen?“ „Ja, ich komme gerade aus dem Alchemielabor. Neo hat sich freiwillig gemeldet, um mir beim Tragen zu helfen, aber ich finde ihn nicht mehr, seit wir uns getrennt haben...“ „Der taucht schon wieder auf.“ Crimson erlebte die Szene im Zimmer im Hintergrund seiner Gedanken mit. Die Familie unterhielt sich über lustige Dinge, wie es schien, denn ab und zu lachte jemand. Nun ja... vermutlich wollten sie das letzte Beisammensein für Soach so schön wie möglich gestalten. Fire verzichtete auf Selbstbeschuldigungen oder Anklagen gegen Ray, und dieser widersprach nicht, als das Gespräch darauf kam, dass er den Thron erben müsse, da Soach es ja noch nie gewollt hatte. Der Wunsch ging auf makabere Weise in Erfüllung. Die Themen beschäftigten sich immer wieder halb ernst damit, wie es ohne Soach weiterging. Sie schienen bestimmte Dinge absichtlich zu vermeiden. Zum Beispiel sprach niemand Lily und ihr ungeborenes Kind an, oder Eria. Es fiel Crimson schwer, Soachs Gedanken auszublenden, darum ließ er sich widerstandslos von Dark in den Aufenthaltsraum führen, wo der geleerte Badezuber gerade weggetragen wurde. Jemand füllte die Wasserkaraffe nach, dann blieben die beiden Magier ungestört. Sie nahmen nebeneinander auf dem Sofa platz. Crimson rieb sich die Schläfen. „Ich habe deinen Rat befolgt und Cathy aufgetragen, Soachs Gefühle zu dämpfen... aber dadurch kann ich mich kaum mehr auf etwas anderes konzentrieren.“ „Es muss ja auch nur sein, solange er noch mit seiner Familie redet,“ beruhigte Dark ihn, wobei er kameradschaftlich einen Arm um seine Schultern legte. „Ich werde später versuchen, sie davon zu überzeugen, nicht mehr ins Zimmer zu gehen.“ „Das dürfte eine schwierige Aufgabe werden.“ „Auch nicht schwieriger, als einem Freund auf seinem letzten Weg beizustehen. Du solltest danach sofort zu deinem Schloss aufbrechen, um sein Bewusstsein in Sicherheit zu bringen.“ „Ja... und du solltest etwas wegen Neo unternehmen. Er ist immer noch voller Hass. Irgendwann tickt er noch total aus.“ Crimson berichtete von der Szene, die Neo veranstaltet hatte. „Das hätte ich nicht gedacht,“ murmelte Dark. „Er wirkte seit der Sache damals immer etwas in sich gekehrt, aber... Nun, ich habe die Zeichen wohl nicht ausreichend beachtet. Danke für den Hinweis.“ „Sag mal... du bist hier, um Blacky zu trösten, oder?“ ging es Crimson auf. „Die Alchemistischen Zutaten hätte ja auch ein anderer bringen können...“ „Ja, sicher,“ nickte sein Cousin. „Er tut immer so, als hätte er alles im Griff, aber in diesem Fall wird er mich brauchen.“ „Ist ja nicht so, als wäre das sonst anders.“ „Du solltest die Gelegenheit nutzen, um ein bisschen zu pausieren. Ich werde veranlassen, dass dir jemand Essen holt.“ „Schick Malice.“ „Nun gut.“ Crimson konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Dark auf den Flur trat und Malice auf einen Botengang in die Küche schickte. Zugegeben, der Kerl war nützlich. Außerdem musste er den Weg in die Küche ja schon kennen. Dark kam zurück und ging ein wenig auf und ab, als wäre er selbst nervös. Warum auch nicht – sein Geliebter erwartete einen herben Verlust. Falls es Dark nichts ausmachte, dass Soach starb, sorgte er sich doch um Blacky. Aus Mangel an sonstiger Beschäftigung überflog der Dunkle Magier die Buchtitel in den Regalen und schaute in den Schrank. „Oh... es sind Spiele drin. Das soll wohl ein Zimmer sein, wo man sich länger beschäftigen kann...“ „Ich will nichts spielen.“ Crimson brauchte all seine Konzentration, um zusammen mit Cathy Soachs Emotionen im Griff zu behalten. Es fand es schwieriger, seit die Familie bei ihm war. Und dann gab es plötzlich einen Moment, als Soach ihn dabei erwischte. Er äußerte sich nicht dazu, aber Crimson spürte es deutlich. Offenbar war er zu unvorsichtig geworden oder wurde langsam müde, und Soach hatte sich nur für einen Augenblick aus dem laufenden Gespräch mit seinen Verwandten ausgeklinkt, hatte sich möglicherweise einmal mehr über seine eigene Ruhe gewundert. Doch statt Ärger spürte Crimson Dankbarkeit. Also behielt er seine Bemühungen bei. Bald brachte Malice etwas zu essen, aber Crimson achtete beim Essen nicht darauf, was es war, er machte sich nicht einmal die Mühe, dem verhassten Irren einen bösen Blick zuzuwerfen. Er bekam mit, dass Soach die Phiolen mit dem Trank in relativ kurzer Zeit nacheinander leerte – vielleicht im Abstand von einer halben Stunde – und behauptete, Crimson habe ihm das so empfohlen. Möglicherweise war die Dosis zu klein, andererseits würden sie sich bald damit arrangieren müssen, dass kein Mittel mehr half. Ishzark, Ray, Blacky und Fire blieben fast zwei Stunden bei Soach, ehe dieser befand, dass sie lieber gehen sollten. Plötzlich konnte niemand mehr so tun, als wäre alles gut. Die tragische Abschiedszene erschütterte Schloss Lotusblüte. Jeder umarmte Soach noch einmal, sagte ihm unter Tränen ein paar letzte, liebe Worte und verließ dann zögernd das Sterbebett. Auch Rays Wangen waren feucht, doch er wirkte erstaunlich gefasst, dafür dass er seinen geliebten Bruder verlor. Zuletzt verabschiedete sich Fire. Er brachte keine Worte mehr heraus und hielt Soachs Hand, bis er sich zu weit entfernt hatte, und dann ließ er sie noch ausgestreckt, während er rückwärts zur Tür ging. Soach vermied es, etwa zu sagen, und beherrschte sich lange genug, um sie denken zu lassen, dass er es mit Fassung trug. Die vier ließen Crimson eintreten. Der Magier schloss schnell die Tür, obwohl es ihm eher unwahrscheinlich erschien, dass draußen jemand hörte, was drinnen vor sich ging, denn dort, vermutete er, wurde jetzt hemmungslos getrauert. Schätzungsweise dirigierte Dark die Leute in den Aufenthaltsraum. Soach leerte gerade noch eine Portion des Trankes. „Die letzte hat nicht gewirkt,“ informierte er Crimson. „Aber ich wollte meine Familie nicht beunruhigen...“ Im Moment saß er auf der Bettkante, und Crimson nutzte das aus, um ihn ebenfalls noch einmal fest in die Arme zu schließen. „Dann... hast du noch ein paar Stunden...“ flüsterte er und spürte, wie auch ihm die Tränen kamen. Er konnte nicht länger Soach helfen, denn seine eigenen Gefühle wollten hervorbrechen. Auf seinen Befehl hin schirmte Cathy sich gegen die beiden ab, so gut es ging, um die Schlossbewohner nicht zu sehr zu beunruhigen. Er ließ von Soach ab und nahm die leere Phiole entgegen. Soach schüttelte stumm den Kopf. Also half Gundulahs Allheilmittel wirklich nicht mehr. „Versprich mir, dass du es niemandem erzählst, falls ich... wirres Zeug rede oder schreie oder so...“ bat der Prinz. „Das versteht sich ja von selbst,“ murmelte Crimson. Er setzte sich neben ihn, legte einen Arm um seine Schultern und ermunterte ihn, sich anzulehnen. „Ich... ich bin bei dir. Von jetzt an weiche ich nicht mehr von deiner Seite, bis... der Kampf zwischen dir und dem Gift entschieden ist.“ Er ahnte mehr als dass er es sah, dass Soach gerührt lächelte. Sie saßen einige Minuten so da, ehe Vindictus leise hereinkam und wortlos seinen angestammten Platz wieder einnahm. Die folgenden Stunden gestalteten sich schwierig, ganz wie Vindictus geahnt hatte. Soach fürchtete sich vor seinem Ende, auch wenn er das nicht zugab. Wer wollte es ihm verdenken? Im Prinzip hätte er ja noch viele Jahre vor sich gehabt, und ein besonders angenehmer Tod erwartete ihn nicht. Das fand Vindictus immer am schlimmsten: wenn der Patient litt, etwa wegen einer Krankheit oder einer schweren Verletzung... oder eben Gift. Er kannte aber kein anderes Gift dieser Art. Crimson hielt sich wacker, obwohl es bestimmt das erste Mal war, dass er jemanden auf diesem Wege begleiten musste, dann auch noch einen so guten Freund und Vertrauten. Oder vielleicht hielt er gerade deswegen durch. Und er wurde auf eine harte Probe gestellt. Als das Ersatzgegenmittel nicht mehr die gewünschte Wirkung brachte, verschlechterte sich Soachs Zustand rapide, gerade so, als gäbe es etwas nachzuholen. Er klagte über Schwindelanfälle, mehr noch als über Schmerzen, die man ihm eher anmerkte. Als Prinz der Eisigen Inseln wollte er selbst sterbend niemandem zur Last fallen, deshalb verkniff er sich das Jammern zum größten Teil – anfangs jedenfalls. Er unterhielt sich ein wenig mit Crimson, versuchte, Witze zu machen, bis er dafür zu abgelenkt war. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, während Vindictus sich bemühte, die Symptome zu lindern. Für den Heiler stellte dies eine Dauerbelastung dar, die er aber gerne auf sich nahm, schließlich konnte er sonst nichts tun. Es war demütigend für jemanden mit seiner Erfahrung und seinen Fähigkeiten, aber Gift ließ sich nur schwer aus dem Organismus entfernen, wenn er es nicht sofort behandeln konnte. Vindictus hatte es versucht, es war wie ein Krieg an zu vielen Fronten. Insgeheim beschloss er, dafür zu sorgen, dass Schloss Lotusblüte einen entsprechenden Spezialisten anheuerte. Ganz offensichtlich gab es auch im Kristallschloss keinen. Es fiel Soach zusehends schwerer, in seiner Entscheidung, den Tod nicht zu beschleunigen, standhaft zu bleiben. Doch standhaft blieb er. Irgendwann konnte er keine Nahrung und nicht einmal mehr Wasser bei sich behalten, deshalb trank er nichts mehr. Er fing an, letzte Wünsche mitzuteilen, wie es nur Leute tun, die sich kaum noch Chancen ausrechnen. Seine Körpertemperatur fiel bedenklich. Vindictus wies Crimson an, sein Obergewand auszuziehen und sich neben Soach zu legen, um ihn warm zu halten. Und dann kam der Sterbende zu dem Punkt, an dem sein Geist von Nebel umfangen wurde und keine Kommunikation mehr möglich war. Soachs Körper war fast schon zu schwach, um durchzuhalten, auch wenn ihn das Gift noch nicht tötete. Es gab eine Grenze, ab wann jemand nicht mehr zu retten war. Vindictus befürchtete, dass sein Patient rasch darauf zu ging. „Jungchen. Es ist soweit. Geh in seine Astralwelt, ehe sein Bewusstsein verloren geht. Er hat vielleicht noch ein oder zwei Stunden, aber du musst jetzt handeln,“ drängte er Crimson. Der weißhaarige Magier nickte, zog den Freund enger an sich und schloss die Augen. Den Weg in dessen Astralwelt kannte er vermutlich noch, jedenfalls bat er nicht um Hilfe. Vindictus konnte nur abwarten und seinen Job machen – der eigentlich nur noch daraus bestand, den Todeszeitpunkt festzustellen. *** Soach fand sich in einer dunklen Welt wieder. Er konnte genug sehen, um etwas zu erkennen, aber alles hielt sich in verschiedenen Schwarz- und Grautönen. Der schieferfarbene Himmel leuchtete, als gäbe es hinter dichtem Nebel eine Lichtquelle. In mondhellen Nächten sah die Schattenspäre manchmal so aus. Die Landschaft zeigte sich deutlich in diesem schaurigen Licht. Viel zu sehen gab es nicht. Er stand in einem kargen Gebiet, in nicht allzu weiter Ferne begrenzt von Schwärze. Nichts rührte sich, demnach blieb alles still. Soach starrte in die Dunkelheit. Er fühlte sich beobachtet. Die Schwärze schien sich auf ihn zu zu bewegen. Dann spürte er ganz deutlich eine fremde, feindliche Präsenz. Ein großes, mächtiges Wesen... Eigentlich fürchtete er solche Geschöpfe nicht, aber in diesem Fall entschied er sich zur Flucht. Das muss ein Traum sein. Ich hoffe, es ist nur ein Traum... Soach rannte. Er sah sich nicht um, denn das hätte ihn nur verlangsamt. Ihm reichte es völlig, dass er seinen Verfolger spüren konnte. Plötzlich hörte sein Weg auf. Er hielt auf einen Abgrund zu, aber einen Sprung weit entfernt befand sich schon die andere Seite. Nach rechts oder links auszuweichen erschien ihm zu riskant, also hielt er auf die Kante zu und sprang. Das Manöver gelang, aber der Boden unter ihm schwankte leicht, als er aufkam... und er stellte fest, dass es sich keineswegs um die andere Seite einer Schlucht oder etwas ähnlichem handelte, sondern er stand auf einer schwebenden Plattform aus Landmasse, von der aus es tief nach unten ging... wohin, ließ sich nur erahnen. Es gab weitere Plattformen, aber er konnte nicht erkennen, ob sie irgendwo hinführten. Als er sich umblickte, sah er eine dunkle Masse, die sich gegen die allgemeine graue Landschaft abhob. In ihr blitzte es manchmal, als wäre Magie darin. Vielleicht ein Wesen, das sich auf diese Weise tarnte. Und möglicherweise... möglicherweise war es sein Tod. Anscheinend befand er sich in einem Traum, den man träumt, wenn der Tod langsam aufholte, und man lief weg, bis die eigenen Kräfte nachließen. Dies war die Bühne für seinen Todeskampf. Das Gefühl dieser Erkenntnis ließ sich schwer beschreiben. Seltsam, dass er es überhaupt wusste. Und Crimson... er war nicht bei ihm. Soach versuchte, die Gedankenverbindung zu finden, den Weg, den sein Bewusstsein nehmen musste, wenn der Körper erschlaffte. Keine Antwort... es fühlte sich an, als würde er nach etwas greifen und ins Leere fassen. Ich muss aufwachen! Er nahm auf seiner Plattform so viel Anlauf, wie er konnte – etwa vier Meter – und sprang auf die nächste. Dort hielt er sich gar nicht erst auf, sondern rannte über sie hinweg und sprang weiter. Er dachte nicht darüber nach, ob der Abstand zu groß war oder der Anlauf zu gering. Es musste einfach genügen. Sechs oder sieben Plattformen überwand er auf diese Weise, doch bei der nächsten bröckelte der Boden unter seinem Fuß weg. Er fiel lang hin und kam mit dem Oberkörper auf, doch unterhalb der Rippen hing er über der Leere... und rutschte tiefer. Trotzig grub er seine Finger in den harten Boden, winkelte die Ellenbogen an, versuchte, mit den Füßen Halt zu finden... irgendwie bekam er es hin und blieb keuchend auf der Plattform liegen. Mit einer zitternden Hand strich er sich die Haare aus dem Gesicht und suchte nach der Kraft, sich zu erheben. Moment... Haare? Nun... für einen Traum war das wohl nicht ungewöhnlich. Er brachte sich in eine sitzende Position und stellte fest, dass seine Haare bis zur Mitte seines Rückens reichten. Er trug stabile, bequeme Kleidung, wie man sie für eine Reise wählen würde. Und er schien ungefähr zehn zu sein, vielleicht auch jünger. Seine Linke Hand zeigte eine frisch verschorfte Brandwunde, die nach der kürzlichen Benutzung an ein paar Stellen aufgesprungen war und Eiter absonderte. Die Haut spannte und schmerzte. Dies ist meine Astralwelt! Sie zerfiel unter dem Einfluss des Giftes, nahm er an. Repräsentiert durch dieses... Fremde. Der Eindringling schien nicht greifbar, damit auch nicht angreifbar. Das wiederum passte dazu, dass es kein Heilmittel gab. Soach blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Schwärze verschlang in diesen Augenblicken die ersten beiden Plattformen. Crimson antwortete nicht. Auch Cathy konnte er nicht erreichen. Somit verschwand sein Bewusstsein irgendwo im Nichts, wenn er starb... Er blickte in die andere Richtung: weitere Plattformen waren zu sehen, aber sie wirkten klein und zu weit weg, so als könnten sie sein Gewicht gar nicht tragen, selbst wenn er es schaffte, dorthin zu springen. Nach unten bot sich auch nicht an. Nach wie vor blieb offen, ob sich dort vielleicht Wasser befand oder Steinboden, vielleicht auch gar nichts... mal abgesehen von dichter Dunkelheit, die nicht einmal sein Magierauge durchdringen konnte. Eine weitere Plattform fiel der Schwärze zum Opfer, dann noch eine. Zwei blieben noch zwischen Soachs Standort und dem tödlichen Nichts. Er drehte sich zu seinem Fluchtweg um. Der Sprung erschien ihm zu gewagt, das Ziel zu klein, zu weit weg. Aber in seiner eigenen Astralwelt hatte er ja wohl noch das Sagen! Er ging in die Knie und legte seine Hände auf den Boden. Flieg vorwärts! Hinter sich hörte er Geräusche wie von einem Erdrutsch, als die vorletzte leere Plattforn zerfiel. Doch er sah nicht zurück. Flieg! Beweg dich! Tatsächlich schien die kleine Plattform vor ihm näher zu kommen. Er trieb seine mit aller Willenskraft voran, bis sie auf einmal bebend zum Halten kam. Soach warf nun doch einen Blick zurück. Die Schwärze hatte aufgeholt und löste seinen Zufluchtsort auf. Aber er war ein Stück voran gekommen. Entschlossen nahm Soach soviel Anlauf, wie er wagte – gerade mal zwei Schritte – und sprang zur nächsten Plattform. Er ruderte mit Händen und Füßen, während er flog, und bekam sie mit den Händen zu fassen wie einen großen Felsbrocken. Dieser fing unter seinen Fingern bereits an zu bröckeln. „Unfair!“ protestierte Soach. „Crimson! Wo bist du?! Hilfe!“ Er versuchte, den Brocken in eine Richtung zu lenken, konnte sich aber nicht ausreichend konzentrieren, während er den Halt verlor. Er fiel... ...und eine Hand packte sein linkes Handgelenk. Die Brandverletzung schmerzte, aber er war weit davon entfernt, sich zu beschweren. „Endlich finde ich dich! Warum hast du nicht eher gerufen?“ Soach traten Tränen der Erleichterung in die Augen. „Ich dachte, ich wäre allein hier...“ Crimson wuchtete ihn schwungvoll hoch, um besseren Halt an ihm zu bekommen. Soach schlang die Arme um seinen Hals und die Beine um seine Hüften. „Du fliegst ja!“ fiel es ihm auf. „Ist das deine Unterweltlergestalt?“ „Ja...“ Crimson klang verlegen. „Als ich herkam, bebte der Boden und du warst nicht zu sehen, also änderte ich meinen Monstertyp mit dem Ring, den ich immer trage.“ Crimson trug ihn auf weißen Lederschwingen von der Schwärze weg, doch als Soach nach unten sah, konnte er kaum mehr intakte Landmasse erkennen. Sie mussten bald irgendwo landen, schließlich konnten sie nicht ewig so weiterfliegen. „Da! Eine Plattform mit einem Baum drauf! Oder eher... ein Baum mit etwas Erde...“ Crimson folgte Soachs Fingerzeig. Der Baum erwies sich als kleiner, als er aus der Ferne angenommen hatte. Er war ein verkrüppeltes Exemplar mit einem schiefen, gewundenen Stamm und Ästen wie von der Witterung gebeutelt, das jedoch mit den Wurzeln fest einen Brocken Erde umklammerte. Crimson und Soach konnten sich neben dem Stamm niederlassen und sich daran festhalten, besser als nichts. Crimson stieß fast gegen die untersten Äste, und der Stamm war zwar relativ dick für so einen kleinen Baum, ließ sich aber noch leicht mit den Armen umfassen. „Dieser Baum hat tatsächlich noch Blätter,“ stellte Soach fest. „Dabei ist sonst alles hier schon ganz karg...“ „Wir können noch einen Moment bleiben,“ sagte Crimson. „Aber wir sollten beizeiten in meine Astralwelt wechseln, denn deine... nun, es gibt sie bald nicht mehr. Ich wusste nicht, dass sie zerfallen, wenn man stirbt.“ Soach blickte sich nach der Schwärze um. Es sah in allen Richtungen trostlos aus. Hatten sie sie für den Augenblick abgehängt? „Nur noch ein wenig,“ bat er und umklammerte den Baumstamm fester. Finde ein Stück Land! Er glaubte zu spüren, dass der Baum in eine Richtung flog. Allerdings bildete er sich das vielleicht auch nur ein. Womöglich gefährdete er Crimson, wenn er sich länger weigerte, die Tatsachen zu akzeptieren. Es gab einen Ruck, der ihn fast von seinem Baum fort schleuderte. Zum Glück klammerte er sich so fest daran, dass er sich lediglich den Kopf am Stamm anstieß. Crimson fluchte, hielt sich aber ebenfalls fest. Etwas veränderte sich. Soach sah sich um, befürchtete schon, dass die Schwärze sie erwischt hatte, wie seine Plattform vorhin. Zu seiner Überraschung sah er... etwas. Sein Baum war noch vorhanden, ebenso die Landmasse um den Stamm herum. Sie vergrößerte sich. „Crimson, sieh dir das an!“ Der Magier in Unterweltlergestalt bewegte sich. „Was... haben wir intaktes Land erreicht? Nein... es sieht eher so aus, als würde es um uns herum neu entstehen...“ Soach schluckte. „Was bedeutet das... sind wir beide tot? Sind wir in deiner Astralwelt?“ Sie erhoben sich vorsichtig, stets darauf bedacht, einander irgendwie festzuhalten. In stehender Pose überragte Crimson die Baumkrone, zumal sie eher zu einer Seite als in die Höhe wuchs. Deshalb sah er es auch als Erster. „Soach... sieh dort...“ Soach folgte dem Blick seines Freundes und erschauderte. Die Schwärze hatte aufgeholt wie eine Gewitterfront. Es blitzte in ihr, als wäre die Wesenheit darin zornig. Schnell sah er sich nach einem Fluchtweg um. Dieser erstreckte sich scheinbar endlos vor ihm, und in der Ferne schimmerte graues Licht wie am frühen Morgen. „Da lang!“ entschied er und zog Crimson an der Hand mit sich. Zwar schien die Schwärze sich nicht nennenswert schnell zu nähern, aber er wollte kein Risiko eingehen. Erstaunlicherweise fühlte er sich noch stark genug, obwohl er bereits körperliche Anstrengungen hinter sich hatte. In der Astralwelt kam es vor allem auf den Willen einer Person an. Soach lief, so schnell er konnte, und Crimson hielt mit. Ihre Füße traten nicht länger auf hartes Geröll, sondern auf frisches Gras. Zusammen rannten sie auf das Licht zu. Plötzlich glaubte Soach zu stolpern, denn die Welt um ihn herum schwankte, drehte sich und das Licht blendete ihn... bis er auf einmal in seinem Bett die Augen aufriss und mit einem heiseren Aufschrei hochfuhr. Starke Hände drückten ihn zurück in die Rückenlage. Er hörte eine Stimme, die er kannte, aber nicht verstand. Seine Augen lieferten kein passendes Bild dazu, sondern nur verschwommene Eindrücke. „Hoach, ruhig... hu hacht eh ge'chafft...“ fuhr die Stimme fort. Zu ihr gehörten anscheinend die Hände. Sie hielten ihn sanft, aber fest nach unten gedrückt. Soach erkannte vage ein Gesicht mit grauweißem Haar und einem Bart. Jemand lachte. „Junge, hör auf zu reden, wie soll er das verstehen?“ Die zweite Stimme gehörte Vindictus. Er lachte eher selten. Soach beruhigte sich. „Wie... wie lange war ich...“ Er musste eingeschlafen sein... „Du warst gut drei Stunden nicht ansprechbar,“ informierte der Heiler ihn. „Wir konnten bisher nicht sicher sein, ob die Schleimborke wirkt... auf jeden Fall hat sie Ujats Zunge betäubt. Vor zwei Stunden noch konnte er gar nicht reden. Köstlich.“ Soach runzelte die Stirn. Seine Augen konnten noch immer nicht klar sehen und sein Geist wirkte benebelt. Ihn beschlich das Gefühl, dass es einen Zusammenhang gab, der ihm nicht aufging. „Dann seid Ihr aus dem Silbergebirge zurück... warum seid Ihr hierher gekommen?“ hörte er Crimsons Stimme dicht neben sich. Die Hände – Ujats Hände – ließen zögernd von ihm ab, wie um sicherzustellen, dass er ruhig blieb. „Weih ik hier gebraucht wurge.“ „Sagt der Mann, der auf seine eigene Gabe nicht hört,“ spöttelte Vindictus. „Haben wir schon... Mitternacht?“ wunderte Soach sich, der sich vage erinnerte, dass die Reise zum Silbergebirge einen halben Tag dauerte. „Nein, Junge, lass mich reden!“ Vindictus sprach mit einer Stimme, die sich fast vor Belustigung überschlug. Er räusperte sich. „Ujat wollte anmerken, dass der Weg hierher nicht so lang ist wie zum Lotusschloss, wenn man vom Silbergebirge kommt. Er hat unterwegs die Schleimborke gekaut, damit sie weich wird und der Wirkstoff austritt, so konnten wir sie benutzen, als er hier eintraf. Das Zeug ist ein Wundermittel. Hätte ich gewusst, dass Ujat dorthin unterwegs ist...“ „Du hast nicht gefragt!“ warf Crimson ein. „Und du hast nichts davon gesagt, obwohl du von diesem Mittel wusstest! Wie konntest du!“ „Als wir hier eintrafen, war es zu spät. Wir hätten die Reise nicht rechtzeitig geschafft, selbst wenn einer von uns aufgebrochen wäre. Außerdem, wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht damit gerechnet, dass das klappt.“ „Kein Grund, es nicht zu versuchen!“ motzte Crimson. „Oh... ich muss es den anderen sagen. Vindictus... ist Soach außer Gefahr? Ganz sicher?“ „Ja, sofern er demnächst etwas Wasser trinkt und sich ausruht. Warte noch ein paar Minuten mit der Verkündung...“ Doch Crimson hatte bereits die mentale Verbindung zu Catherine geöffnet und ließ das Schlossherz an der Szene teilhaben. Sofort verbreitete sich die Kunde im Schloss, dann im Kristallschloss und in Burg Drachenfels, was bedeutete, dass Dark es wusste. „Zu spät...“ entgegnete Crimson. Er klang, als würde er grinsen. Soach trank folgsam, als ihm jemand einen Becher Wasser an die Lippen hielt. Eigentlich erwartete er, dass etwas hineingemischt war, ein Schlafmittel oder so, aber er schmeckte nur Wasser. Vermutlich kursierte ohnehin schon genug Zeug durch seine Blutbahn. „Warum ist meine Zunge nicht auch betäubt, wenn ich das Mittel getrunken habe?“ wunderte er sich dann. „Denk mal drüber nach,“ neckte Vindictus ihn. „Schlucken ist nicht das, was man mit Schleimborke macht.“ „Was meinst... oh.“ Soachs Wangen fühlten sich plötzlich ganz heiß an. „Ooooh!“ Kapitel 17: Winterkönigin ------------------------- Ujat händigte Crimson den Rest Schleimborke aus, den er mitgebracht hatte. „Ich habe mich auf eine kleine Menge beschränkt, weil es schnell gehen sollte.“ „Sieht aus wie ganz normale Rinde...“ staunte der Magier. „Und das kann man kauen?“ „Ja, aber es dauert mindestens zwei Stunden, bis der Speichel die Struktur ausreichend aufgeweicht hat und der Saft austreten kann. Im Grunde muss man weitermachen, bis man sie, nun, in die passende Form bringen kann für den Zweck. Allerdings ist Borke nur der tote Teil der Rinde, müsst Ihr wissen. Es schadet dem Baum nicht, wenn ich etwas davon entferne, anders als wenn es die ganze Rinde wäre,“ belehrte Ujat ihn. „Dies hier ist Netzborke, seht Ihr... die Oberfläche ist grob mit netzförmigen Rissen übersät. Sie gehört zu einer Achatesche. Die graugrünen Flecken sind Reste von Thaumasflechten. Die Wirkung der Borke kommt nur zustande, wenn sie auf ihr wachsen – was im Silbergebirge jedoch meistens der Fall ist.“ „Warum hat das nicht jeder Heiler in seinem Medizinschrank?“ wunderte Crimson sich. Auch darüber wusste Ujat genau Bescheid. „Die Wirkung vergeht durch zu lange Lagerung. Die Borke trocknet aus oder schimmelt leicht. Allerdings kann man sie in gemahlenem Zustand hervorragend als Gesichtsmaske einsetzen. Und das ist nur eine der vielen Verwendungsmöglichkeiten.“ Crimson fühlte sich bei seiner Alchemistenehre gepackt. Vielleicht konnte er einen Weg finden, das Wundermittel zu konservieren? „Ich will alles darüber wissen, aber jetzt nicht... Ihr braucht Schlaf.“ Ujat hatte Ränder unter den Augen und seine Falten wirkten tiefer als sonst. Er war seit gut fünf Stunden hier und konnte seit einer halben Stunde wieder richtig sprechen. Falls dieser Schleimborkensaft ihn wach gehalten hatte, musste auch das schon nachlassen. Soach jedenfalls schlief... aber das ließ sich vielleicht nicht vergleichen. Er war kurz hellwach gewesen und dann in einen so tiefen Schlaf gefallen, dass nicht einmal Fire, der in sein Zimmer stürzte und lauthals Fragen stellte, ihn wecken konnte. „Ich habe kein Verlangen nach Schlaf in einem Haus, in dem kürzlich jemand zu Tode gekommen ist, ganz zu schweigen von all den anderen gewaltsamen Dingen,“ lächelte Ujat. „Oh,“ machte Crimson, der nicht daran gedacht hatte, wie solch ein Ort auf einen Hellseher wirken musste. „Vielleicht... hat Fawarius ein Mittelchen, das Träume verhindert.“ „Nein, hat er nicht.“ „Ach, dann habt Ihr ihn schon gesprochen?“ „Nein.“ „Ah... ja.“ „Aber Ihr solltet etwas schlafen, damit Ihr das Schauspiel morgen früh nicht verpasst, Direktor, nein, besser Lord Crimson.“ „Schauspiel?“ „Oh... ich sage lieber nichts mehr dazu. Aber ich will einen Abstecher ins Dorf machen und ihnen raten, das Vieh in den Stall zu bringen und dort zu lassen.“ „Äh... in Ordnung.“ Crimson blickte Ujat nach, als dieser seine Hände in den Ärmeln seiner Robe faltete und würdevoll davonschritt. Seit er ihn wie einen Betrunkenen hatte sprechen hören, fühlte er sich irgendwie nicht mehr so... distanziert von ihm. Er überlegte, ob er die Borke probekauen sollte, aber er brauchte seine Zunge vermutlich und wollte sich die Peinlichkeit ersparen. Daher steckte er sie in eine Innentasche seiner Robe und suchte sich ein Schlafzimmer. Die meisten aus seiner Truppe hatten sich bereits zurückgezogen. Ishzarks Soldaten wechselten sich mit Wachdienst ab, und Black Luster, der zunächst die Einäscherung der Leiche beaufsichtigt hatte, stand derzeit vor Soachs Tür, während Malice irgendwo ein Nickerchen machte. Ishzark und Fire hatten ein Schlaflager in Soachs Zimmer aufgeschlagen und Blacky schlief vermutlich noch nicht, falls Darks Abwesenheit etwas zu bedeuten hatte. Ray vollzog möglicherweise gerade seinen neuen Bund, er war jedenfalls schon seit einer Weile verschwunden. Anders Vindictus: Er überprüfte immer wieder Soachs Zustand, vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war und verzog sich dann wieder ins Nebenzimmer, wo er stundenweise schlief. Crimson entschied sich für den anderen Nebenraum, den zwischen Soachs Zimmer und dem Aufenthaltsraum. So blieb er in der Nähe seines Freundes, was ihm richtig erschien. Schließlich brauchte dieser vielleicht seine Hilfe... Oder ich hänge einfach nur an ihm. Nach all der Aufregung konnte Crimson nicht einfach so einschlafen. Die Ereignisse des Tages gingen ihm durch den Kopf. Dann die fremde Umgebung... Er belegte das Zimmer mit mehreren Sicherheitszaubern, was ihn beruhigte. Immerhin war er jetzt hier der Boss... Lord Crimson. Wer wusste schon, ob ihm nicht jemand Böses wollte? Nun gut... vielleicht hätte Ujat ihn gewarnt. Crimson beschloss, sich am nächsten Tag zu erkundigen, was eigentlich alles zu seinem neuen Besitz gehörte, und er musste entscheiden, was damit geschehen sollte. Am besten fragte er Ray, ob er Besitzansprüche von der Familie des Verstorbenen zu erwarten hatte, aber im Prinzip erloschen diese im Falle einer feindlichen Übernahme. Wichtiger war, ob Soach wohl zurechtkam, denn sie hatten zwar sein Leben gerettet, aber seine Magie kam davon nicht zurück. Vielleicht konnte Fawarius mit nach Schloss Lotusblüte kommen und ihm Kampfalchemie beibringen. Crimson interessierte sich dafür auch, aber er gab sich nicht der Illusion hin, dass er die Zeit hatte, das zu lernen. Noch stand auch gar nicht fest, ob der Zirkel des Bösen Soach zu einer anderen Rehabilitationsstelle schicken wollte. Oder ob es Ärger vom Zirkel gab, weil eins seiner Mitglieder umgekommen war... Crimson grübelte, so dass seine Gedanken in wirre Träume übergingen, in denen er Bäume mit Flechten auf der Rinde in seinem Garten anpflanzte und versuchte, Saft daraus zu destillieren. Ein schwarzes Tier huschte durch die Baumkronen, aber er konnte es nie lange genug sehen, um zu erkennen, was es war. Das störte ihn nicht, im Traum nahm er einfach hin, dass es einen Wächter des Waldes gab. Meras kam zu ihm und trug etwas im Maul, das verdächtig nach einem Jungen aussah. Schüler von seiner Schule liefen mit klappernden Spielzeugen umher. Das Geklapper störte die friedliche Szene, aber Crimson wollte sich nicht beschweren, schließlich waren es Kinder. Er hörte Wind, obwohl nur ein laues Lüftchen wehte, dann brüllte ein Drache... … und Crimson fuhr im Bett hoch, um festzustellen, dass vor dem Fenster ein Sturm tobte, der Regen gegen die Scheibe trieb. Das Klappern kam davon, dass das Fenster nicht fest verschlossen, sondern auf Lüftung eingestellt war. Die schweren Vorhänge bewegten sich träge in einem Luftstrom, der durch den schmalen Spalt gepresst wurde. Crimson sprang auf und fröstelte, denn er trug eins der Nachthemden aus dem Schrank. Ein Morgenmantel gehörte auch zum Inventar. Er war ihm zu groß, aber er zog ihn hastig über und begab sich zum Fenster, um es zu schließen. Vorher jedoch öffnete er einen der Fensterflügel – und bereute seine Neugier sogleich, denn ein eisiger Wind blies ihm entgegen, wirbelte seine Haare und die Vorhänge herum und trug scharfkantige Schneeflocken herein, die in seine Wangen zu schneiden schienen. Mit einiger Mühe drückte er das Fenster wieder zu. In der folgenden Stille – wenn man das Getöse draußen nicht zählte – fiel ihm der Lärm auf dem Flur auf, wahrscheinlich Ishzarks Soldaten. Crimson band den Morgenmantel fest zu und rannte zur Zimmertür. Tatsächlich ließ der Held gerade seine Leute antreten. Zwei von ihnen zogen noch ein paar Riemen an ihrer Rüstung fest und rückten die Helme zurecht. Black Luster, selbst nur mit einer Tunika bekleidet, half Ishzark, seine Armschienen anzulegen. Der Vater von Soach musste bis eben noch geschlafen haben. Alle machten einen professionellen, ruhigen Eindruck, doch Crimson fand das zunehmend schwieriger, denn die Temperatur im Haus schien sich dem Gefrierpunkt von Wasser zu nähern und er trug keine Schuhe. Insofern huschte er schnell ins Zimmer zurück und zog sich seine leicht lädierte Kleidung vom Vortag wieder an. Der nächste Weg führte selbstredend zu Soach, wo Crimson Vindictus bereits vorfand. Der Alte hatte sich eine kleinere Wolldecke umgebunden, wie sie auf manchen Sesseln lagen. Sie war grün mit einem eleganten Muster. Fire dagegen saß mit klappernden Zähnen auf einem Sessel, eingepackt in die Tagesdecke, die auf das Bett gehörte. „Was'n Mistwetter! Und das inner Gegend, wo's später Sommer is und nie so kalt wird!“ Das erklärte, warum die Temperatur im Inneren gleich so sehr sank. Man rechnete hier einfach nicht mit solchem Kälteeinbruch, sonst hätte wohl ein Kamin zur Standardausstattung der Zimmer gehört. Dennoch konnte man bei einem Haus wie diesem eine vernünftige Wärmedämmung erwarten... da ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. Mehrere Drachen brüllten zugleich. Der Effekt ließ Crimson erschaudern. „Was sind denn bei diesem Wetter für Drachen unterwegs? Ich frage mich, ob das das Schauspiel ist, von dem Ujat spach!“ „Ganz genau,“ kam die Stimme des Hellsehers von der Tür her. Und mit ihr der Geruch von heißer Brühe. Er verteilte sie in Tassen, die er auf einem Tablett trug. Vindictus nahm eine für sich entgegen und stellte eine auf Soachs Nachttisch. „Was ist das mit dir und deiner Hellseherei in letzter Zeit? Sonst schwafelst du immer von Teetassen, Pendeln und Runensteinen. Und jetzt?“ „Normalerweise würde ich meine Hilfsmittel benutzen, aber gestern Nacht wusste ich, dass ich mich nicht damit aufhalten darf.“ Ujat warf einen Blick auf den Schlafenden im Bett und wandte sich dann Crimson zu. „Kurz nach Soachs Ausbrennung wurden meine Visionen, Vorahnungen und Träume viel stärker. Ich habe das Gefühl, es wäre Magie übrig, die er normalerweise benutzt. Sie wollte, dass ich Soach rette, weil sie ihn zurückhaben will.“ „Seit wann redest du solchen sentimentalen Quatsch?“ grummelte Vindictus. Ujat schien widersprechen zu wollen, ließ die dafür vorgesehene Luft dann aber wortlos wieder entweichen. „Glaubst du, dass er wieder ein Magier werden kann?“ fragte Crimson. „Sein Meras ist vernichtet und wird sich nicht regenerieren. Also wird er damit auch nicht mehr zaubern,“ antwortete Vindictus anstelle seines Sohnes. „Deshalb brennt man Magier aus, anstatt sie zu bannen: Sie sollen bestraft werden für den Rest ihres Lebens.“ „Ähm... kann er uns nicht hören?“ gab Crimson zu bedenken. „Soach dürfte noch eine Weile wie ein Stein schlafen,“ winkte der Heiler ab. „Sterben belastet den Körper. Er muss sich erst richtig erholen.“ „Dafür wirst du schon sorgen,“ grinste Ujat. „Aber sollte er sich nicht etwas stärken? Schließlich kriegt er bald Besuch.“ Crimson und Vindictus hoben gleichzeitig eine Augenbraue. „So?“ „Sag Crimson, dass ich mich darum kümmere,“ bat Blacky Black Luster, der vor der Tür des Krankenzimmers, wie er es in Gedanken nannte, Wache hielt. Möglicherweise verhinderte die Anwesenheit der Soldaten einen anzüglichen Kommentar des Kriegers, jedenfalls nickte dieser nur. Der Magier begleitete Ishzark und seine Leute. Er hatte keinen Mantel dabei, aber er schützte sich durch Magie vor der Kälte. „Du bist ganz sicher?“ fragte er seinen Großvater. Dieser nickte. „Ja, das ist ihre Art, ihren Unwillen zu zeigen und den Feind einzuschüchtern.“ Sie traten aus dem Haupteingang und vor die Tür. Der Wind peitschte ihnen kleine Eiskristalle ins Gesicht, aber Blackys Zauber ließ sie rasch schmelzen und trocknen. Der Schnee fiel so dicht, dass er wie Nebel wirkte, den das Auge nicht durchdringen konnte. Dann hörte der Lärm auf einmal auf. Der Wind erstarb plötzlich, die letzten Flocken landeten mit feinen Geräuschen auf ihren Vorgängern, und der Himmel klarte auf. Die Stille schockierte geradezu. Blacky sah sich fasziniert in einem Winterwunderland um, das bis vor einer halben Stunde nicht existiert hatte. Er hatte recht gute Laune, denn er war frisch gef--- massiert. Insofern konnte er sich ganz seiner selbst auferlegte Aufgabe widmen, Soach als Crimsons Chaosmagier zu vertreten. Aber er wäre lieber im Bett geblieben, wo Dark für Wärme sorgte, als sich hier draußen magisch warmhalten zu müssen. In einiger Entfernung konnte er mehrere Drachen sehen, die vom Wetter völlig unbehelligt geblieben waren. Ihre Reiter schritten bereits auf das Gebäude zu. Fünf hochgewachsene Gestalten, mit wehenden Umhängen und Schwertern an den Seiten. Eine ging vor den anderen, das musste dann wohl die Anführerin sein. Blacky breitete die Arme aus und ging durch knöchelhohen Schnee auf die Gruppe zu. „Oma! Wie schön, dass du kommen konntest!“ Die vordere Kriegerin hob eine Hand, damit ihre Begleiter stehen blieben, und näherte sich selbst noch ein paar Schritte, wobei eine Hand auf dem Schwertgriff ruhte und die andere ihr Visir hochklappte. Sie trug eine silberne Rüstung der Eisigen Inseln mit blauem Umhang. Lady Charoselles Gesicht wurde sichtbar. „Kayos. Was machst du denn hier?“ Er blieb außerhalb ihrer Schwertreichweite stehen und hielt die Hände weiterhin so, dass sie sie sehen konnte. „Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass wir alles unter Kontrolle haben. Du musst niemanden abschlachten, das... ist schon erledigt.“ Die Frau blieb wachsam. „Kayos... wirst du gezwungen, mir das zu sagen? Gib mir irgendein Zeichen, und ich...“ „Nein. Ich werde nicht gezwungen. Crimson hat dieses Gebäude unter seiner Kontrolle. Ich bin derzeit sein Chaosmagier, bis Soach diesen Posten wieder annehmen kann. Wir haben---“ Sie stürmte vor und packte ihn plötzlich am Kragen. „Dann ist er noch am Leben? Bring mich zu ihm! Es ist meine Pflicht als Mutter, seine Hand zu halten, wenn er sterben muss!“ Ehe er antworten konnte, ließ sie ihn genauso plötzlich wieder los und marschierte zum Eingang. „Rilly!“ rief Ishzark, der mit seinen Soldaten zurückgeblieben war. „Beruhige dich, du kannst später...“ „Bringt mich zu meinem Sohn!“ kreischte Charoselle hysterisch. Schon drängelte sie sich an ihm vorbei und stürmte ins Haus. Ishzark eilte ihr nach. „Dort entlang, Rilly... so warte doch...“ In Ermangelung anderer Möglichkeiten wandte sich Blacky den vier Kriegerinnen zu, die die Lady mitgebracht hatte. Zumindest vermutete er, dass kein Mann dabei war. Eine von ihnen gab einen schimmernden Orb einer anderen und trat dann auf Blacky zu, ihr Visier öffnend. „Kayos. Wie geht es Soach? Wir dachten eigentlich, wir kämen, um seine Mörder zu bestrafen, alles einzuebnen und nur seine Leiche mitzunehmen. Mit irgendwelchen Verbündeten haben wir hier nicht gerechnet. Schon gar nicht nicht mit Ishzark und Raiho.“ „Hallo, Tante Iquenee. Es gab eine Leiche, die des Hausherrn. Er wurde ersetzt. Soach ist außer Lebensgefahr.“ Endlich konnte er die Information jemandem mitteilen. Seufzend stemmte er die Hände in die Hüften. „Die Lady ist etwas... aufgebracht, scheint mir.“ „Nun ja... ein Bote brachte Soachs Haare und einen Fetzen Haut mit dem Zeichen seines früheren Schlossherzes und teilte uns mit, dass er nur noch einige Stunden zu leben hätte und dass sie sich beeilen müsse, um ihn noch einmal sehen zu können,“ bemerkte Iquenee. „Mutter reagiert allergisch auf solche Bedrohungen. Sie kam, um ihren Sohn mit Gewalt zu befreien und die Schuldigen zu bestrafen.“ „Oje. Hoffentlich kann Opa dafür sorgen, dass sie niemanden verletzt.“ Blacky deutete auf den Orb. „Ich nehme an, das ist ein Feldzauber? Ich schlage vor, du lässt ihn abschalten. Drinnen ist es schon ganz kalt.“ Iquenee wandte sich halb um und nickte, worauf die Kriegerin, die den Orb hielt, eine Hand darüber gleiten ließ, so dass er zu schimmern aufhörte. So sah er nur noch aus wie ein großer, oval geschliffener Klumpen Eis. „Also dann,“ sagte sie sachlich. „Bring mich zu meinem Bruder, und erzähl mir unterwegs, was du über den Vorfall weißt.“ Blacky drückte sich kurz und sachlich aus, als erstattete er dem General der Eisigen Inseln Bericht. Er fing mit der Ausbrennung an, da sie Folge des Komplotts war, das letztendlich fast Soachs Leben gekostet hatte. Zum Glück hatte Crimson ihm alles berichtet, als sie zusammen im Alchemielabor gearbeitet hatten, und ein bisschen wusste er auch von seinem Vater selbst. Doch in den letzten Stunden an Soachs Bett hatten sie über andere Themen gesprochen, erfreulichere Themen... bis zu dem Zeitpunkt, als der Sterbende sie hinaus geschickt hatte. „Also lebt Soach, doch seine Magie ist vernichtet,“ fasste Iquenee zusammen. Sie schloss kurz die Augen und ließ die Information sacken. „Das ist unvorstellbar. Ich wünschte, ich könnte mit ihm tauschen... meine Magie bedeutet mir nicht ganz so viel wie seine ihm. Im Prinzip fühle ich mich mehr als Kriegerin.“ „Aber du kämpfst auch mit Magie, nicht wahr?“ „Uhm... sicher, aber somit ist Magie für mich eine Waffe. Für Soach hingegen...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wie soll ich es beschreiben... Magie ist... seine Freude, seine Leidenschaft, alles an ihm. Manchmal redet er über sie wie über ein Familienmitglied.“ Blacky musste lächeln. „Ja, das kann ich nachvollziehen. Wir Chaosmagier versuchen nicht, die Magie zu beherrschen, sondern lassen uns von ihr beherrschen. Wir zwingen ihr keine Schranken auf, sondern fordern sie heraus. Und wir haben keine Angst vor ihr.“ Iquenee nickte knapp. „Ja. Soach sieht sich als Werkzeug der Magie, nicht umgekehrt. Er sagte einmal, dass er ihr ermöglicht, sich zu entfalten.“ „Und indem er das tut, erlebt er all ihre Wunder,“ fügte Blacky hinzu. „Aber diese Einstellung wird für gewöhnlich als unvernünftig angesehen. Schließlich würde man ja einem Kind auch keinen Drachen als Haustier geben.“ Sie tauschten einen Blick aus und verkniffen sich das Lachen, zumal sie gerade in den Zielkorridor einbogen. Fire sprang ihnen entgegen. Er hielt eine große Decke um seinen Hals fest, dass sie wie ein Winterumhang aussah. „Ey! Tante Ikke! Haste noch alle, so'n Wetter anzuschleppen?“ „Das ist die übliche taktische Vorgehensweise der Eisigen Inseln, wenn wir nur mit fünf Personen im Eilverfahren anrücken,“ erklärte Iquenee ruhig. „Und nenn mich nicht Ikke!“ Die Tür zum Aufenthaltsraum stand offen, Soachs Tür hingegen nicht. „Ist Oma bei ihm drin?“ fragte Blacky. „Darauf kannste wetten,“ entgegnete sein Halbbruder finster. „Ließ nich mit sich reden, völlich vonna Rolle. Hat sogar Oppa die Tür vor'a Nase zugeknallt. Naja, sollse noch ne Weile schmoren.“ Ishzark lehnte an der Wand außerhalb des Zimmers und schickte gerade Black Luster zur Pause. „Ihr habt ja seit unserer Anreise noch gar nicht geschlafen,“ hörte Blacky ihn sagen. „Lasst es mich wissen, wenn Ihr mich braucht,“ sagte Luster mit einer Verbeugung seines Kopfes und schritt in die andere Richtung davon. Blacky achtete nicht weiter auf ihn. „Gehen wir solange zu den anderen...“ Dark, Crimson, Vindictus und Ujat saßen um den Tisch herum und bauten ein Spiel auf. Es bestand aus einem Spielbrett, das Dark gerade aufklappte, und mehreren Figuren in unterschiedlichen Farben in Vierergruppen. „Dies scheint eine Replik eines Spiels zu sein, das ich in der Welt des Blauen Lichts gespielt habe. Jeder der vier Mitspieler wählt eine Farbe und stellt die Männchen auf das gleichfarbige Startfeld. Dann würfeln wir reihum, und bei einer Sechs darf ein Männchen raus. Ziel ist es, hier herum zu laufen und am schnellsten alle Männchen auf diese Felder in der Mitte zu bringen.“ „Das erscheint mir aber sehr einfach,“ meinte Crimson. „Gibt es keine Fallen oder so?“ „Nein. Warte es ab, dieses Spiel besticht durch seine Einfachheit,“ grinste Dark. Als Iquenee, Fire und Blacky eintraten, winkte er sie heran. „Hey, schön euch zu sehen. Hallo, Iquenee. Wollt ihr mitspielen? Auf der Rückseite sind sechs Farben.“ „Ich schaue erstmal zu,“ entschied Iquenee. Fire beschwerte sich lauthals darüber, wie sie jetzt an Spiele denken konnten, aber keiner schenkte ihm viel Beachtung. Blacky verzichtete auch, also fingen sie zu viert an. „Ich frage mich, wie ein Spiel aus Yugis Welt hierher kommt,“ murmelte der Chaosmagier. „Sicherlich hat Lord Genesis es herstellen lassen, soweit ich weiß, war er ja ein Kollege von Arae, wenn nicht sogar ein Freund,“ vermutete Crimson. Nach und nach kamen die Spielfigürchen auf das Spielfeld. Es waren eigentlich nur Kegel mit einer Kugel darauf, also sehr vereinfachte menschliche Formen. Als Vindictus dran war, passierte es zum ersten Mal. „Auf dem Feld steht schon einer, aber es ist zu klein für zwei. Soll ich meinen trotzdem daneben stellen?“ „Nein, Crimsons Figur kommt zurück zum Start,“ erklärte Dark. „Was?“ Der Weißhaarige sah entgeistert zu, wie der Alte seine Figur vom Feld nahm und dabei hähmisch grinste. „Da, Jungchen. Bis später dann!“ „Na warte!“ „Ich sehe, du hast das Prinzip begriffen,“ lachte Dark. „Übrigens seid ihr verpflichtet, jemanden rauszuschmeißen, wenn ihr könnt, egal, ob ihr lieber mit einer anderen Figur ziehen würdet.“ „Da mach dir mal keine Sorgen!“ grummelte Crimson. „Du wirst anders darüber denken, wenn du knapp vor dem Ziel stehst und das Männchen da nicht wegbewegen kannst,“ prophezeite Ujat. „Ist das nicht total langweilig für Euch, Ujat? Ihr könnt doch alles vorhersagen,“ mischte sich Fire ein – plötzlich in völlig korrekter Sprechweise. „Oh, nein, nein,“ freute Ujat sich. „Ich kann zwar vieles vorausahnen, aber wenn ich daraufhin meine Taktik ändere, ändert sich ja wieder das, was die Mitspieler tun, somit bleibt immer alles offen. Oder zumindest kann ich nicht wirklich schummeln.“ „Du könntest sicherlich, wenn du wolltest,“ behauptete Vindictus. Ujat tat so, als hätte er das nicht gehört. Als Soach aus seinem erholsamen Schlaf allmählich in den Wachzustand überging, fragte er sich unwillkürlich, ob er noch immer starb, ob er vielleicht sogar schon tot war oder ob es stimmte, dass Ujat ein Wundermittel gebracht hatte. Er konnte seinen Körper noch spüren, das Bett, die Wärme... Schmerzen hingegen nicht, abgesehen von solchen, die durch Überbeanspruchung eines geschwächten Bewegungsapparates entstehen oder durch einen übermäßigen Konsum von alchemistischen Substanzen. Sein Kreuz protestierte wohltuend, als er ein wenig die Muskeln anspannte, und der Kopf dröhnte beruhigend. Der Raum verhielt sich, wie er sollte: Er schwankte nicht. Soach fand eine intakte telepathische Verbindung zu seinem Schlossherrn und dem Schlossherz, sogar zu allen verbundenen Schlossherzen. Onyxenia und Turmalinda jammerten darüber, dass sie immer alleingelassen wurden, denn Shiro befand sich auf Lotusblüte und Kuro bei Burg Drachenfels, wo er mit Draconiel Recherchearbeiten durchführte, aus denen er ein großes Geheimnis machte. Soach forschte nicht weiter nach. Jemand befand sich im Raum, genau genommen an seinem Bett. Die weinerliche Stimme einer Frau drang allmählich in sein Bewusstsein: „… du nun wirklich nicht der Thronerbe sein willst, würde ich mich schon damit abfinden, wenn du nur bei mir bleiben könntest... Ich wollte doch immer nur das Beste für dich, auch wenn es manchmal so aussah, als ginge mir das Reich über die Familie. Es ist... ein hartes Los, eine Herrscherin zu sein. Das Volk muss vorgehen, aber... es ist nicht immer zu schaffen... Ray ist... er ist zu sanft dafür, er könnte niemals hart genug durchgreifen, hingegen Iquenee... sie würde vermutlich zu hart durchgreifen. Es... es war falsch von mir, all meine Hoffnung nur auf dich zu setzen und dich damit zu belasten, ich hätte... ach, ich hätte die beiden mehr auf die Möglichkeit vorbereiten sollen...“ Die Stimme brach ab und wich einem Schluchzen. Soach runzelte die Stirn und zwang seine Augen einen Spalt auf. Anscheinend kniete die Frau vor dem Bett. Sie barg trauernd das Gesicht in den Händen. „Mutter?“ Er bekam nur ein heiseres Flüstern heraus, aber sie schreckte hoch und starrte ihn an. „Soach! Oh... mein Junge... Ich werde bei dir sein, bis es vorbei ist, fürchte dich nicht... Mami passt auf, dass du es nicht unnötig schwer hast...“ Soach sah sich nach einem Glas Wasser um, damit er sich zumindest verständlich machen konnte. Charoselle erkannte seine Absicht und hielt ihm eines an die Lippen, das auf dem Nachttisch gestanden hatte. Sein ganzer Körper saugte die Flüssigkeit gierig auf. „Mutter... verschone das Kind,“ bat Soach dann. Es schien nicht das zu sein, womit Lady Charoselle gerechnet hatte, und sie wirkte verwirrt. „Welches... oh.“ Sie schluckte und schloss die Augen, als müsse sie mit sich ringen. „Wenn du es wünschst, mein Junge... Ich werde keinem Kind hier etwas antun. Darauf hast du das Wort von Charoselle, Herrscherin der Eisigen Inseln.“ Soach überlegte, ob er noch mehr rausschlagen sollte, fand das dann aber doch zu fies. Statt dessen sagte er: „Wenn du noch immer möchtest, dass ich dein Nachfolger werde, dann soll es so sein. Das verspreche ich dir als dein ältester Sohn.“ Er würde einen Weg finden. Seine Mutter schluchzte auf, aber es sah so aus, als müsse sie gleichzeitig gerührt lachen. „Soach, das... bedeutet mir viel...“ „Aber du musst mir noch etwas versprechen.“ „Alles, was in meiner Macht steht!“ Soach lächelte amüsiert. „Du musst unbedingt lernen, auch mal jemandem zuzuhören, wenn du sehr... aufgeregt bist. Sie wollten dir sagen, dass alles gut wird.“ Zwei Zimmer weiter berichtete Crimson den Freunden von dieser Unterhaltung, was alle mit einem breiten Grinsen quittierten. Soach schloss daraus, dass es stimmte und er wirklich überleben würde. Falls er den nächsten Wutausbruch seiner Mutter überstand. Doch sie wurde nicht wütend. Sie packte seine ihr zugewandte Hand und drückte sie mit der Macht einer Frau, die schon Tyrannen erledigt hatte. „Heißt das... du bist geheilt? Aber wie...“ „Der Hellseher unseres Schlosses hat es schon vorher geahnt... aber ich habe nicht auf ihn gehört. Also zog er los, um etwas zu besorgen, das geholfen hat. Es kam... ziemlich überraschend.“ „Dieser Mann hätte... Ach nein, ich will mich nicht beschweren...“ Sie zog Soach in eine Umarmung, die ihn wünschen ließ, bewusstlos zu sein, aber er lachte, weil er das erleben durfte. „Hilf mir,“ ächzte er, versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. „Ich will mich hinsetzen. Riecht es hier nach Brühe?“ Charoselle zog an seinem Arm und drückte gegen seinen Rücken, so dass er zum Sitzen kam, dann schlug er die Decke zur Seite, ließ seine Unterschenkel aus dem Bett fallen und blieb auf der Kante sitzen. Seine Mutter reichte ihm die Tasse. Er konnte sehen, dass sie mit einem Wärmezauber versehen war, etwas, das Vindictus gerne tat, wenn sein Patient etwas zu sich nehmen sollte, sobald er erwachte. Soach trank brav. Die Brühe tat gut, wärmte seinen Körper von innen und regte seinen Kreislauf an. Charoselle strich über sein kurzes Haar und streichelte mütterlich sein Gesicht. „Oh, was haben sie dir nur angetan... gibt es noch jemanden, den ich dafür zur Rechenschaft ziehen soll?“ „Nein, das habe ich schon selber erledigt. Er wollte dich töten... deshalb das alles... Lord Arae war der Sohn des Tyrannen, dem du den Thron abgejagt hast.“ „Ja, ich weiß,“ seufzte die Lady. „Wenn ich ihn damals doch nur... Moment. Das Kind, das ich verschonen soll...“ Ihre Stimme bekam einen lauernden Unterton. Jemand wählte diesen Moment, um leise die Tür zu öffnen und Edin herein zu lassen. Der Junge rannte an Charoselle vorbei, ohne ihr mehr als einen kurzen Blick zu gönnen, und krabbelte aufs Bett. „Soach! Dir geht es besser! Das ist ja toll! Und du wirst wieder ganz gesund!“ Er hängte sich von hinten um Soachs Hals und sah über dessen Schulter Charoselle an. „Und wer bist du?“ Soach sah Ray im Türrahmen stehen. Sein Bruder nickte ihm zu und gab ihm mit einem Wink seiner Hand zu verstehen, dass er ruhig reden durfte. Jemand hatte seine Kleidung geflickt und gereinigt, er trug aber derzeit nur das Untergewand. „Edin... das ist deine neue Oma,“ eröffnete Soach dem Jungen. Charoselle hob eine Augenbraue. „Du hast... ihn adoptiert?“ Das kannte sie ja von ihm, schließlich war fast die Hälfte seiner Kinder adoptiert. „Nein. Ray hat ihn adoptiert. Und die Mutter zur Frau genommen.“ Er beobachtete, wie die Information von seiner Mutter verarbeitet wurde. Ihr Mund öffnete sich und sie holte tief Luft, nur um sie dann schweigend wieder auszustoßen. Vermutlich nahm sie Rücksicht auf den Gesundheitszustand ihres Ältesten. Der blonde Prinz kam näher, worauf sie sich rasch auf die Füße erhob und in der Bewegung mit fliegenden Haaren zu ihm herumfuhr. „Duuuu!“ zischte sie. „Wie ich sehe, hast du meinen Jungen schon kennen gelernt,“ stellte Ray ruhig fest. Lady Charoselle schloss ihre Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder, sah zu Soach und dem Kind, dann wieder zu Ray. „Wir besprechen das später!“ beschloss sie, an ihren jüngeren Sohn gewandt. Soach verkniff sich ein Lachen. Ray hatte, soweit er wusste, seinem Vater den Segen zu seinem Bund mit Fuma abgerungen, indem er ihn vor allen Angestellten dazu aufgefordert hatte. Und nun konfrontierte er seine Mutter in einer kampfberuhigten Zone. Er musste sich auf ein kommendes Donnerwetter vorbereiten, aber zumindest konnte sie ihren Zorn nicht sofort über ihn ergießen. „Hast du... das getan... damit ich denselben Fehler wie damals wiederhole?“ presste sie hervor. Die Luft schien sich um sie zu verdichten und zu knistern. „Nein. Ich erspare dir eine Entscheidung, die dir sehr schwerfallen würde,“ sagte Ray. „Ganz zu schweigen von einer Tat, die moralisch höchst fragwürdig wäre.“ Soach vermutete, dass etwas mehr dahintersteckte als pure Nächstenliebe, denn sein Bruder hätte die Witwe und das Kind auch anders schützen können. Aber er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihm allein zu sprechen. „Edin,“ wandte Ray sich an das Kind. „Erzähle deiner Oma, was ich dir erklärt habe.“ Edin fand das anscheinend etwas unangenehm, denn er druckste eine Weile herum. „Uhm... Mein Vater hat Soach mit Absicht krank gemacht und wollte, dass er stirbt und dann die Oma ganz traurig ist, deshalb hat Soach gegen ihn gekämpft und Vater ist davon gestorben.“ „Du weißt ja, dass Soach das nicht getan hätte, wenn dein Vater ihm nicht so viel Angst gemacht hätte, nicht wahr? Er wollte nicht absichtlich, dass du keinen Vater mehr hast,“ fuhr Ray fort. „Soach, ist das so richtig?“ Eine gute Vorlage, stellte Soach dankbar fest. Er zog Edin hinter sich hervor, bis der Junge neben ihm saß, und sah ihn an, während er sagte: „Ray hat Recht. Ich musste dir den Vater wegnehmen, um zu verhindern, dass er auch meiner Mutter und meinen Kindern wehtut.“ Edin nickte langsam und runzelte die Stirn. „Aber Mama hat gesagt, dass jetzt Ray mein Papa ist. Jetzt habe ich sogar eine Oma und du bist doch dann mein Onkel, oder?“ „Ja, genau,“ lächelte Soach erfreut. „Ist das dir recht?“ „Naja... Ray hat heute schon ganz viel mit mir gespielt, mehr als Vater das je gemacht hat. Er hatte immer keine Zeit, weil er verreisen musste und ganz viel Arbeit hatte. Manchmal war er ganz komisch...“ Edin blickte unsicher zwischen den anwesenden Personen hin und her. Charoselle verschränkte die Arme. „Das kommt schon alles in Ordnung,“ meinte sie steif. „Aber Soach braucht jetzt erst noch Ruhe, Edin.“ Das Kind verstand den Wink und stand vom Bett auf. „Mach's gut, Soach!“ Ray hielt ihm die Tür auf. „Geh schonmal vor, Edin. Ich komme gleich nach.“ Es ließ sich erahnen, dass draußen jemand stand und auf den Jungen wartete, aber diese Person hielt sich außer Sichtweite. Die sich ausbreitende Stille erstreckte sich unkomfortabel durch den Raum. Soach sah Ray unter den strengen Blicken seiner Mutter erbeben, aber er hielt sich wacker. „Also... ich weiß, dass du das immer als Unsinn abgetan hast, aber ich habe schon in meiner frühen Jugend von einem rothaarigen Mädchen geträumt...“ begann der Blonde. „Ach, das wieder,“ seufzte Charoselle. „Viele Jungen träumen von rothaarigen Mädchen, das glaub mal!“ „Mutter, du weißt genau, wie ich es meine. Ich spürte, dass sie meine Frau sein soll. Aber ich gab es auf, nach ihr zu suchen, weil damals viele Leute dasselbe sagten wie du jetzt. Dass es nur Jungenfantasien waren, die jeder in diesem Alter hat. Und ich tat es ab als einen normalen Traum.“ Charoselle schüttelte genervt den Kopf. „Du willst doch nicht sagen, dass du es nur deswegen gemacht hast! Was ist denn mit der Mutter deiner Kinder? Ich dachte, sie wollte den Bund nicht schließen, hast du etwa gelogen und in Wahrheit wolltest du nicht?“ „Ich glaube, das war Schicksal,“ entgegnete Ray. „Aber gut, wenn du das nicht glauben willst... Ich weiß ja auch, dass du damals den jungen Edeh nicht getötet hast und das inzwischen bereust. Aber du wirst nicht seinen Sohn töten, nur weil er später wie sein Vater werden könnte. Ich sorge dafür, dass er eine Kindheit hat, die schön ist und nicht auf der Fluch stattfindet. Er wird wissen, dass Soach seinen richtigen Vater getötet hat, aber zufrieden sein mit mir. Und er mag Soach. Somit wird es keine Rache an unserer Familie dafür geben.“ Charoselle wirkte nicht überzeugt. „Und die Frau? Macht sie keinen Ärger?“ „Nun... Fuma hatte noch keine Gelegenheit, sich die Geschichte aus Soachs Sicht anzuhören,“ räumte Ray ein. „Aber das wird sie, sobald Soach wieder auf den Beinen ist.“ „Oh, das dauert nicht mehr lange,“ mischte sich der ältere Bruder nun wieder ein. Er wollte aufstehen, aber seine Knie unterstützten seine Pläne nicht und er fiel neben dem Bett auf eben jene. Charoselle war bei ihm, bevor seine Hände auf dem Boden aufkamen, und stützte ihn, so dass er sich wieder setzen konnte. „Ich bin sicher, das du dich erst noch weiter erholen musst,“ sagte sie streng. „Und Ray... du wirst mir diese Frau später vorstellen. Ich glaube nicht daran, dass dein Plan aufgeht, was wenn sie dem Kind Flausen in den Kopf setzt?“ „Sollte sie unsere Familie gefährden, werde ich tun, was nötig ist,“ versprach der Prinz mit ernster Miene. „Könnte ich vielleicht kurz mit Soach allein reden?“ Charoselle blickte zwischen den beiden hin und her. „Fein. Ich hole was zu essen. Bleib, wo du bist, Soach.“ „Ja, Mutter,“ antwortete Soach feierlich. „Es ist verdächtig, wenn du so brav bist, aber ich beschwere ich mich nicht.“ Sie umarmte ihn noch einmal auf ihre knochenbrecherische Art, küsste seine Stirn und marschierte dann aus dem Zimmer, ohne Ray noch eines Blickes zu würdigen. Die Tür fiel leise ins Schloss. Ray sah ihr nach und versuchte zu lächeln. „Entschuldige, Bruder, dass ich dich ausgenutzt hab. Aber ich wusste, dass sie in deiner Gegenwart nicht schimpfen würde... oder jedenfalls nicht nennenswert.“ „Glaubst du wirklich, dass sie Fuma und Edin getötet hätte?“ hakte Soach nach. Ray nickte. „Oh ja. Nicht gerne, aber ja. Doch inzwischen hat sie den Jungen schon bei seinem Namen genannt... es ist schwieriger, jemanden zu beseitigen, den man kennt.“ „Gute Strategie. Ich wusste immer, dass du es in dir hast, Kleiner.“ Beide Männer lachten, aber nur kurz. Ray setzte sich zu Soach auf die Bettkante, legte einen Arm um ihn und lehnte den Kopf gegen seinen. „Ich freue mich, dich wohlauf zu sehen. Ich wusste, dass du es schaffst, aber zeitweise habe ich an meinem Wissen gezweifelt. Schließlich sind Visionen und Träume nicht immer zuverlässig, aber zur Zeit... ich sehe mehr als sonst. Besonders im Bezug auf dich.“ „Was siehst du denn noch so?“ wollte Soach wissen. „Och, du weißt, dass es nicht auf Abruf geht. Aber du wirst... nein, ich möchte das nicht sagen, aber es ist nichts Schlimmes.“ „Jetzt fängst du ja an wie Ujat!“ „Es ist eine sehr unwahrscheinliche Vision. Falls es eine war. Vielleicht eher ein Wunschtraum.“ „Sag es mir trotzdem.“ „Soach, ich glaube wirklich nicht...“ „Lichal!“ Ray seufzte. Wenn Soach seinen richtigen Namen benutzte, gab er meistens nach. „In einem meiner Träume sah ich dich. Du hast Magie benutzt, aber nicht wie sonst. Es war... ich kann es nicht recht beschreiben. Überwältigend. Atemberaubend. Beängstigend. Ich sah dich und war froh, dass ich nicht dein Feind bin, denn ich kam mir vergleichsweise machtlos vor. Dabei sah man dir fast nichts an, aber die Luft ließ sich kaum atmen. Es wirkte so echt...“ Soach bereute bereits, dass er ihn so bedrängt hatte. „Ich hätte auf dich hören und nicht weiter nachfragen sollen,“ murmelte er. „Aber vielleicht gibt es ja noch Hoffnung. Schließlich hast du auch gesehen, dass ich überlebe, nicht wahr?“ „Nun ja... schon. Ich möchte nur nicht, dass du dich an diese Hoffnung klammerst und dann enttäuscht wirst.“ „Das werde ich schon nicht, Ray. Einfach weil ich niemals aufgebe. Ich werde---“ Soach unterbrach sich, denn Crimson nahm telepathischen Kontakt zu ihm auf. [Was ist denn mit deiner Mutter los? Sie läuft fluchend den Flur auf und ab... und jetzt hat sie eine Vase zerdeppert!] „Es scheint, Mutter macht ihrer Anspannung Luft,“ stellte Soach fest. „Ich krieche dann mal wieder ins Bett...“ Kapitel 18: Der Zirkel zieht Bilanz ----------------------------------- Crimson ging im Laufe des Morgens in die Küche, um etwas zum Frühstück zu kochen, denn er wusste nicht genau, ob die Bediensteten schon arbeiteten – oder ob sie heute überhaupt arbeiteten. Es spielte aber auch keine Rolle, er wollte einfach etwas tun, das ihn entspannte. Zu seiner Überraschung traf er nicht etwa den Koch, sondern Lady Charoselle, die gerade ein Tablett mit belegten Brotscheiben forttrug. Sie lächelte ihn im Vorbeigehen freundlich an, was ihn mehr überraschte, als wenn sie ihm ein Schwert unter die Nase gehalten hätte. Es sah ganz so aus, als wäre für Soach schon gesorgt. Crimson sah sich um und fand ein paar große Eier und einen noch größeren, geräucherten Schinken. Das sollte für das Frühstück reichen, entschied er. Während Eier mit Schinkenstückchen in mehreren Pfannen auf dem Herdfeuer brieten, räumte er ein bisschen auf. Lady Charoselle hatte das wohl nicht für nötig befunden, oder wer auch immer noch vor ihr hier gewesen war. Doch Crimson nahm das so genau wie in seinem Alchemieturm. Die Lady hatte einen Laib Brot angeschnitten und dann nicht abgedeckt. Er schnitt den Rest auf und legte die Scheiben auf ein Tablett, zusammen mit Besteck und drei Schüsseln Rührei. Teller konnte er nicht mehr mitnehmen, aber er persönlich sah kein Problem darin, mit anderen aus einer Schüssel zu essen. Er hoffte nur, dass es genug war, um auch die Soldaten zu verpflegen. Zufrieden mit seinem Werk machte er sich auf den Weg zu dem Zimmer, das die Freunde in Beschlag hatten. Als er aus dem Küchen- und Lebensmittellagerbereich in den Hauptgang einbog, stieß er fast mit zwei Gestalten in Umhängen zusammen. „Nana, Crimson,“ grinste Lord Genesis. „Das wird aber langsam Zeit, dass du mir mal wieder das Frühstück bringst.“ „Angelus!“ entfuhr es Crimson. „Uhm... ist das nicht eine etwas späte Tageszeit für dich?“ Sein Blick wanderte zu dem anderen Mann neben dem Vampir. „Äh... Marquis Belial, wie... nett...“ „Ich bin für den Zirkel unterwegs und konnte aus organisatorischen Gründen erst jetzt kommen,“ sagte Genesis. „Aber sag mal, was machst du denn hier?“ „Ich kam, um meinen Chaoshexer zu befreien,“ entgegnete Crimson knapp. „Lord Arae hat uns durch ein Kontaktformular mitgeteilt, dass Sorc hier aufgetaucht sei und ihn bedroht habe... Er deutete an, er werde entsprechend reagieren. Konntet Ihr die Situation bereits klären, Lord Crimson?“ erkundigte sich Belial. „Kann man so sagen,“ murmelte der Magier. „Gehen wir doch irgendwo hin, wo wir in Ruhe reden können, und ich wollte das Essen zu meinen Freunden bringen.“ Die beiden aristokratisch anmutenden Männer folgten ihm und warteten auf dem Gang, als Crimson in den Aufenthaltsraum ging und das Tablett auf den Tisch stellte. Er nahm sich notgedrungen nur eine Scheibe Brot und ging mit den Besuchern in das Schlafzimmer, welches er benutzte. Nebenbei fiel ihm auf, dass Malice wieder vor Soachs Tür stand. Ihn konnte er vielleicht für eine Zeugenaussage gebrauchen. Crimson ließ den beiden Zirkelmitgliedern die Sessel, die er nahe zum Bett zog, und setzte sich selbst auf die Bettkante. Er überlegte, wieviel er den beiden erzählen sollte, und biss hektisch etwas von seinem Brot ab, um etwas mehr Bedenkzeit herauszuschlagen. Schließlich sagte er: „Lord Arae muss sehr verbittert gewesen sein, weil die Strafe, die er sich für Soach ausmalte, noch immer nicht eingetroffen war... Er, ähm... stellte ihm hier eine Falle, um ihn zu töten. Wir eilten zu Soachs Rettung und es kam zu einem Handgemenge, wobei der Lord ums Leben kam.“ Zum ersten Mal sah er Genesis völlig sprachlos, während Belials Gesicht ausdruckslos blieb, aber die Augen weiteten sich ein wenig. „Edeh ist... tot?“ hauchte der Vampir. „Oh... wart ihr befreundet?“ fragte Crimson zögerlich. „Ja, das würde ich so ausdrücken,“ bestätigte Genesis. „Wir haben uns einmal im Monat zum Spieleabend getroffen und manchmal gemeinsam ein Dorf terrorisiert und den zur Rettung eilenden Helden zusammen bekämpft.“ „Wie bedauerlich,“ murmelte Crimson sarkastisch. „Ich meine... tut mir Leid, dass du einen Freund verloren hast... Aber anscheinend hat er sich in die Sache zu sehr hinein gesteigert.“ Genesis verfiel in Schweigen, daher ergriff Belial das Wort: „Warum bitte war denn Sorc hier? Als Rehabilitand der Stufe vier hat er bis auf weiteres in Eurem Schloss zu bleiben, bis entschieden ist, wohin er versetzt wird – oder ob er versetzt wird.“ „Der Junge war noch bei uns. Er wollte ihn begleiten, um sicherzustellen, dass er heile hier eintrifft,“ erklärte Crimson. „Ich verstehe nicht ganz... wusste Lord Arae, dass er das tun würde? Oder wie konnte er ihm eine Falle stellen?“ hakte der Marquis nach. „Immerhin hättet Ihr ja auch jeden beliebigen anderen aus Eurem Schloss mit dem Jungen mitschicken können. Aber ihr schicktet jemanden, der eigentlich nicht in der geeigneten Verfassung war, so kurz nach der Ausbrennung.“ Darauf fiel Crimson keine Antwort ein, mit der er sich nicht weiter in Widersprüchen verheddert hätte. Er zog in Erwägung zu behaupten, dass alle anderen auf Kinahf wütend gewesen waren und sich geweigert hatten, ihn zu begleiten, aber das wäre kaum glaubwürdig gewesen. Im Zweifelsfall hätte er den Burschen auch alleine reisen lassen können, schließlich war er kein kleines Kind mehr. Das Schweigen lastete schwer auf der Gruppe, bis Genesis wieder sprach. „Ich dachte mir von Anfang an, dass mehr dahinter steckt. Warum sollte ein Magier wie Sorc seine Magie opfern für einen Bengel, der irgendwann mal in seinen Diensten gestanden hat? Mir scheint vielmehr, er wollte ganz sicher gehen, dass der Junge vom Haken ist.“ „Ähm... er hat ihn begleitet, damit ihm unterwegs nichts passiert, denn dann wäre das Opfer umsonst gewesen?“ bot Crimson als Erklärung an. „Ah ja...“ rief Belial aus. „Damit lässt sich arbeiten. Oder wir einigen uns darauf, dass der Junge ihn darum gebeten hat.“ „Nein, das würde ja implizieren, dass er von Anfang an in Araes Auftrag gehandelt hat,“ wiegelte Genesis ab. „Das passt nicht zum Rest der Geschichte.“ Er lehnte sich vor und sah Crimson eindringlich an. „Nichts desto trotz wüsste ich gerne, ob es nicht doch so war... so aus reiner Neugier und für meinen persönlichen Seelenfrieden.“ „Es lohnt sich vielleicht, einen Krieger Namens Rahzihf zu dem Thema zu befragen,“ antwortete Crimson ausweichend. Genesis hob eine Augenbraue. „Der einarmige mit dem Magitech-Arm?“ „Äh... ja,“ stimmte Crimson zu, dem der Begriff Magitech nichts sagte. „Du kennst ihn? Dann weißt du vielleicht auch, dass Kinahf, also der fragliche Junge, sein Sohn ist?“ Genesis wiegte den Kopf hin und her. „Wer weiß.“ Der Magier verdrehte in Gedanken die Augen. Sein Freund schien immer mehr zu wissen, als er durchblicken ließ, wollte aber die Geschichte trotzdem erzählt bekommen. Belial zückte sein Klemmbrett. „Lasst uns doch zunächst die Akten ergänzen, wo doch Sorc sich solche Mühe gegeben hat, uns seine eigene Version zu präsentieren, obwohl dies zur Ausbrennung seiner Magie führte. Das sollten wir akzeptieren.“ Genesis rieb sich das Kinn. „Sorc begleitete den Jungen Kinahf zurück zu seinem Wohnort, um sicher zu gehen, dass ihm dort nichts zustößt.“ „Ähm... Soach wusste nicht, dass Kinahf bei Lord Arae wohnt und sogar in dessen Diensten steht,“ warf Crimson ein. „Das solltet ihr erwähnen, denn so ist klar, dass Soach es nicht auf Araes Leben abgesehen hatte!“ „Ihm war bis dahin der Wohnort des Jungen nicht bekannt...“ murmelte Belial und schrieb. „Hm, jetzt habe ich in zwei aufeinander folgenden Sätzen der Junge geschrieben...“ „Es ist ein Bericht, also spielt es keine Rolle. Sei sachlich,“ grummelte Genesis. „Lord Arae missverstand Sorcs Ankunft als Angriff auf seine Person, deshalb nahm er den Rehabilianden gefangen und drohte an, ihn zu töten,“ fuhr Belial fort. „Durch seinen bereits lange schwelenden Wunsch, Sorc zum Tode zu verurteilen, steigerte er sich in einen Wahn hinein, der dazu führte, dass Lord Crimson und weitere Personen von Schloss Lotusblüte zu Sorcs Rettung anreisten. Dabei kam es zu Kampfhandlungen, in deren Verlauf Lord Arae sein Leben verlor.“ Die drei Männer ließen sich die Formulierung durch den Kopf gehen. „Sollen wir genauer erklären, wie der Lord starb?“ überlegte Genesis. Crimson fand zwar, dass dem Leid, das Soach durch Arae erfahren hatte, nicht genug Rechnung getragen wurde, aber auf der anderen Seite stand in dem Bericht nicht, dass er den tödlichen Schlag ausgeführt hatte. Deshalb sagte er: „Mir erscheint das ausreichend.“ „Ich hätte schon gerne ein oder zwei Sätze dazu festgehalten,“ entschied der Vampir. „Also?“ Crimson seufzte. „Der Praktikant Malice kann dazu etwas sagen... Er war es, der sich mit Arae duelliert hat.“ Blieb nur zu hoffen, dass der Kerl auch weiterhin die lizenzierte Wahrheit sagte. Sie riefen Malice herbei und befragten ihn nach dem Kampf, bei dem der Lord gestorben war. Malice, das musste Crimson unumwunden zugeben, spielte seine Rolle hervorragend. Erst einmal setzte er ein geschocktes Gesicht auf. „Muss ich das wirklich alles noch einmal...? Also gut...“ Er machte eine Show daraus, auf die Bettkante zu sinken – Crimson musste sich beherrschen, um nicht von ihm wegzurücken – und sich zu sammeln, bevor er sprach: „Ich wollte allen beweisen, wozu ich fähig bin, und den Boss besiegen, wie es uns Praktikanten beigebracht wird. Hoffte auf einen guten Loot und so. Aber der Mann war mir über – er entwaffnete mich und ich gab mich geschlagen. Doch Arae war außer sich, er wollte mich umbringen! Da hat ihn Sorc von hinten mit einem Zauberstab erschlagen. Es war ein entsetzlicher Anblick...“ Malice fasste sich theatralisch an die Stirn. An ihm war wirklich ein Schauspieler verloren gegangen. „Also rettete Sorc dir das Leben.“ Belial hatte weitere Notizen gemacht und ließ das Klemmbrett unter seinem Umhang verschwinden. „Nun gut. Lassen wir es dabei bewenden. Du kannst gehen, Malice. Oder gibt es noch Fragen?“ Genesis schüttelte den Kopf. Er wartete, bis der Praktikant wieder fort war. „Nun möchte ich aber die inoffizielle Fassung hören,“ bestimmte er dann. Crimson zögerte. „Also... diese Variante habe ich nicht selber erlebt, daher kann ich mich irren...“ begann er. Belial und Genesis nickten feierlich. „Natürlich.“ Also berichtete Crimson alles, was er wusste, angefangen bei dem Moment, als Soach vom Zirkel abgeführt wurde, um für eine Tat vor Gericht gestellt zu werden, die er wegen eines alten Versprechens auf sich nahm. „Ich bin satt, wirklich,“ versicherte Soach seiner Mutter. Er hatte bereits mehr gegessen, als nötig gewesen wäre, um seinen Hunger zu stillen, einfach weil sie sich so darüber freute. Sie hatte nie richtig kochen gelernt, aber die von ihr höchstpersönlich belegten Brotschnitten schmeckten und erinnerten ihn an seine Kindheit. Soach ließ sich in sein Kissen zurücksinken und rieb zufrieden seinen Bauch. Vielleicht hatte das Schicksal ihn an den Rand des Todes getrieben, damit er lernte, dass auch ein Leben ohne Magie immerhin ein Leben war. Andererseits wäre er ohne Magie gestorben, denn sie hatte Ujat veranlasst, seine Prinzipien zu ignorieren und zu handeln. Dies überzeugte ihn umso mehr davon, dass es einen Weg gab, wieder ein Magier zu sein, aber vermutlich einen schmalen, dunklen, beschwerlichen, den er nur bedingt finden konnte. Sende mir nur irgendein Zeichen, Magie, und ich gehe, wo immer ich hin muss, um wieder dein Werkzeug zu werden. Malice, der nun wieder vor der Tür wachte, kam herein, ohne zu klopfen. „Da sind zwei Männer angekommen, Sorc. Dieser Vampirlord und ein gefiederter Unterweltler.“ Soach fuhr hoch, als hätte ihn etwas gestochen. „Etwa... als Vertreter des Zirkels des Bösen?“ Sein Herz schien in seinen Hals zu klettern, ein Gefühl, das er in letzter Zeit immer besser kennen lernte. Charoselle drückte ihn zurück in die liegende Position. „Reg dich nicht auf. Du bist krank. Sie werden dir nichts tun, dafür sorge ich schon.“ Sie schritt an Malice vorbei und befahl, ohne ihn anzusehen: „Lass diese Leute nicht in dieses Zimmer.“ Malice stand stramm. „Ja, Mylady.“ Er grinste hinter ihrem Rücken, warf Soach einen Blick zu und nahm seinen Posten auf dem Gang wieder ein. Der blonde Heldenpraktikant war der Einzige, der nicht sentimental geworden war angesichts eines sterbenden früheren Kollegen, und mit keinem Wort hatte er sich dazu geäußert, dass dieser nun noch lebte. Soach lächelte bei dem Gedanken. Es passte irgendwie zu Malice. Eigentlich gab es keinen Grund zur Sorge. Selbst wenn die neuen Besucher ein Todesurteil für ihn in der Tasche hatten, weil ein Rahabilitand der Stufe vier nicht verreisen und Zirkelmitglieder umbringen durfte, so würde es kaum dazu kommen, dass sie ihn auch nur festnahmen. Und außerdem konnte er alles erklären. Dennoch... ein schweres Gefühl in der Magengegend wurde er nicht los, und es lag nicht an den Schnittchen. Blacky verschlang schnell eine Scheibe Brot und ein wenig Rührei und trat dann auf den Flur, um eingreifen zu können, falls die Herren vom Zirkel irgendetwas vor hatten, bei dem sein Vater nicht mitmachen wollte. Er hatte kurz dort gewartet, als Lady Charoselle aus Soachs Zimmer stürmte, während Malice sich wieder vor der Tür postierte. „Ah, Kayos! Wo sind die Zirkelleute?“ begehrte sie zu erfahren. „Immer mit der Ruhe, Oma,“ beschwichtigte Blacky sie. „Ich glaube, Crimson ist mit ihnen in sein Schlafzimmer gegangen. Wir sollten seine Unterhaltung mit den beiden nicht stören, zumal es da drin wahrscheinlich nicht genügend Sitzplätze gibt.“ Sie warteten. Nach einigen Minuten stieß Ray zu ihnen. Seine Frau begleitete ihn. Sie trug nicht mehr ihre ramponierte Kampfkleidung, sondern ein dunkelblaues Samtkleid mit engen Ärmeln und einem gesitteten, runden Ausschnitt. Das rote Haar trug sie geflochten und die kurze Strähne, die ihr zuvor ins Gesicht gehangen hatte, klemmte in einer silbernen Spange über ihrem rechten Ohr. Sie hielt das Kinn etwas höher, als nötig gewesen wäre. „Mutter. Dies ist Fuma,“ sagte Ray schlicht. „Fuma, meine Mutter Charoselle.“ Lady Charoselle spießte die jüngere Frau förmlich mit Blicken auf. „Ah ja... freut mich.“ Ihre Stimmlage klang irgendwie eher nach „wie abscheulich“. Fumas Mund verzog sich gerade so weit zu einem Lächeln, dass die Augen es wahrnahmen, wenn der Betrachter nicht blinzelte. Sie nickte zum Gruß, wobei ihr Kopf sich jedoch kaum bewegte. „Ich bin entzückt.“ Ihre Hände umklammerten fest einen kleinen Stapel lederner Bücher. Blacky sah, wie die Auren der beiden Damen mittig zwischen ihnen aufeinanderprallten und einen wahren Funkenregen bewirkten. Ray tat so, als bemerkte er das alles nicht – zumindest hielt Blacky es für ausgeschlossen, dass er es wirklich nicht bemerkte. „Wir haben die Rechnungsbücher überprüft,“ erklärte der Prinz. „Dabei fanden wir etwas heraus, das Crimson sehr interessieren dürfte.“ Blacky deutete auf die Tür hinter sich. „Er redet mit Lord Genesis und Marquis Belial vom Zirkel des Bösen. Ich vermute, dass sie von den Ereignissen hier irgendwie unterrichtet wurden.“ „Edeh hat eines dieser Formulare benutzt, die sich bei Unterschrift von selbst auflösen und zu einem gewählten Empfänger teleportiert werden,“ bemerkte Fuma. „Er schickte sie meistens zu Lord Genesis.“ „Zweifellos mit Verleumdungen gegen meinen Sohn!“ zischte Charoselle. „Ich hatte keinen Grund, an seinen Motiven zu zweifeln,“ informierte Fuma sie. „So, wie er es mir geschildert hat, war er völlig im Recht, Mutter.“ Die Herrscherin der Eisigen Inseln atmete scharf ein. „Was fällt dir ein, mich so zu nennen! Ich habe diesem Bund nicht meinen Segen gegeben und werde es nicht tun! Der Jagerilliaclan wird entscheiden, ob du in ihre Reihen aufgenommen wirst, und der Araeclan muss dich erst einmal gehen lassen, Kindchen!“ „Ich bin keine Unterweltlerin und unterwerfe mich deshalb auch nicht diesem Clangetue. Es war dieser Mann, der darauf bestanden hat, dass wir den Bund schließen.“ Fuma deutete auf Ray. „Wir taten es vor Zeugen und erhielten den Segen von seinem Vater und seinem älteren Bruder. Alle traditionellen Bräuche wurden eingehalten, und ich möchte wetten, dass einige meiner Hausmädchen das bestätigen können.“ Soweit Blacky davon wusste, bedeutete dies, dass sie des Nachts die Tür zum Schlafzimmer nicht fest verschlossen hatten, um potentiellen Zeugen ihren Job zu erleichtern. Die leichte Röte in Rays Gesicht deutete ebenfalls darauf hin. „Die Familien Jagerillia und Arae können meinetwegen widersprechen, wenn sie glauben, damit irgendetwas ändern zu können,“ schloss Fuma für sich das Thema. „Du musst dringend etwas mehr Respekt lernen, junge Dame!“ fauchte Charoselle. „Wenn du von mir Respekt willst, fang das Gespräch nicht mit Beschuldigungen gegen meinen verstorbenen Mann an!“ zischte Fuma. Sie warf der älteren Frau die Bücher vor die Füße, drehte sich schwungvoll um und marschierte davon. „Dreh mir nicht den Rücken zu, ich warne dich, Kindchen!“ knurrte die Herrscherin der Eisigen Inseln. Fuma blieb stehen und wandte sich betont langsam um. „Sonst was?“ Die Auren der beiden änderten sich zu ernsthaften Kampfauren, so dass Blacky den Zeitpunkt für geeignet hielt, sich einzumischen – obgleich der Schlagabtausch durchaus seinen Unterhaltungswert hatte. Er trat zwischen sie und hob die Bücher auf. „Sind das die Rechnungsbücher? Was steht denn darin?“ Als er das oberste aufschlug, erblindete er fast angesichts der sehr ordentlich notierten Posten der Ausgaben von Lord Arae. Kein Chaosmagier würde so etwas jemals tun. Schnell klappte er den Buchdeckel wieder zu. „Erinnerst du dich an den Angriff auf Schloss Lotusblüte letztes Jahr?“ fragte Ray. Blacky nickte bedächtig und sah aus dem Augenwinkel, dass sowohl Charoselle als auch Fuma mit verschränkten Armen dastanden und sich Blitze aus den Augen zuschossen, bildlich gesehen. „Crimson hat nie erfahren, warum das passiert ist, hat dann aber auch nicht weiter nachgeforscht, weil er andere Dinge zu tun hatte.“ „Es war Lord Arae,“ informierte Ray ihn. „Er hat zur fraglichen Zeit notiert, dass er Söldner und Beschwörer bezahlt hat. Naja, er nennt sie temporäre Angestellte. Wir fanden außerdem eine Art Tagebuch, in dem er seinen Misserfolg bedauert. Er versuchte bereits damals, Soach zu töten.“ Blacky sah seinen Onkel an und fragte sich, ob dieser wohl einen Traum gehabt hatte, der ihn aufforderte, die Rechnungsbücher zu prüfen und das Tagebuch zu suchen, oder ob seine Frau ihm einen Tipp gegeben hatte. Aber er hakte nicht nach, denn nur das Ergebnis zählte. „Crimson wird sich freuen, das zu hören,“ sagte er. Charoselle entriss Blacky die Bücher und drückte sie Ray in die Hand. „Dann solltest du das den Herrschaften vom Zirkel vielleicht mitteilen, ehe sie deinen Bruder doch noch zum Tode verurteilen, weil er einen der ihren umgebracht hat!“ „Mutter, niemand wird Soach umbringen. In einer Vision sah ich ihn als... ach, vergiss es. Du würdest mir nicht glauben, wenn ich prophezeien würde, dass es am Morgen hell wird.“ Der blonde Prinz klemmte sich die Bücher unter den Arm, klopfte an die Zimmertür, hinter der sie Crimson und die Besucher wussten, und trat ein. Fuma gönnte Charoselle einen letzten hasserfüllten Blick und folgte ihrem Mann. Die Tür knallte zu. Die Herrscherin der Eisigen Inseln warf in einer Geste der Verzweiflung die Hände in die Luft. „Was soll ich nur mit den Kindern machen? Iquenee würde ich meinen Thron ungern überlassen, sie ist einfach zu hart. Ray hingegen ist viel zu weich, und dann diese Hellseherei... er kann doch seine Handlungen nicht nach Träumen richten!“ „Nun ja... aber die Träume helfen vielleicht,“ wagte Blacky zu bemerken. Charoselle hörte den Einwand gar nicht oder ignorierte ihn. Sie fuhr sich hektisch mit den Fingern durch die Haare und schritt auf und ab wie ein nervöses Tier. „Ich werde ihn auf keinen Fall König werden lassen mit diesem Luder an seiner Seite, soweit kommt es noch! Oder dass dann ein Araebengel sein Nachfolger werden könnte, unvorstellbar! Nun hat Soach ein Einsehen und hört auf, sich zu weigern... aber er ist an dieses Schloss gebunden, und als Unterweltlerin weiß ich, dass er sich nicht zu lange von seiner Seele entfernen darf, oder er wird sich Schaden zufügen.“ „Oma, denk darüber jetzt nicht nach.“ Blacky ergriff ihre Schultern und brachte sie dazu, ruhig stehen zu bleiben. „Als Herrscherin darfst du dich nicht so gehen lassen.“ Sie seufzte laut. „Ich denke andauernd daran. Es ist nicht mehr lange hin bis zu meinem Thronjubiläum, und da erwartet eigentlich das Volk, dass ich meinen Nachfolger benenne. Ich wollte immer Soach als meinen Erben. Aber er müsste praktisch von Schloss Lotusblüte aus regieren. Vermutlich hätte ich seine Geschwister mehr auf diese Rolle vorbereiten sollen, statt das alles ihm aufzubürden.“ „Zweifellos wird Crimson eine Lösung finden, falls es so kommen sollte. Aber ist es denn schon zu spät, Iquenee darauf vorzubereiten?“ Blacky vermied es tunlichst, Ray vorzuschlagen. Charoselle verdrehte die Augen. „Iquenee hat sich viel zu lange mit der Kriegskunst beschäftigt. Ich würde sie mit einem geeigneten Partner verheiraten, wenn sie sich für Männer interessieren würde.“ Blacky hob eine Augenbraue. „Für Frauen auch nicht,“ ergänzte seine Großmutter. „Wüsste ich jedenfalls nicht.“ „Was ist mit Blizzis Vater?“ „Er scheint der Grund zu sein, warum sie nichts von Männern wissen will.“ „Oh.“ Blacky überlegte, kannte sich aber nicht genug mit der Etikette des Eisigen Königshofes aus, um eine sinnvolle Lösung für das Problem aus dem Ärmel schütteln zu können. Zumal seine Ärmel irgendwie auch zu schmal dafür waren. „Das wird sich bestimmt alles finden,“ sagte er deshalb. „Zunächst muss Soach sich erholen. Bevor er König wird, muss er zur Magie zurück finden, oder er wird niemals zur Ruhe kommen.“ Die Herrscherin verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen. „Oh... das. Ray... hat das geahnt, und ich habe ihm mal wieder nicht geglaubt. Ich sagte, rede nicht so einen Unsinn, Soach würde nie zulassen, dass ihm die Magie genommen wird...“ Sie sammelte sich einen Moment und sah Blacky dann hoffnungsvoll an. „Gibt es einen Weg? Haben sie seine Magie vielleicht nur... gesperrt?“ Blacky schüttelte den Kopf. „Nein, sie wurde zerstört. Doch er ist ein Chaosmagier. Er wird einen Weg finden.“ Das zumindest hätte er selbst getan, und wie er seinen Vater einschätzte, würde er sich nicht mit der Situation abfinden. „Ich hoffe nur, dass er keine Enttäuschung erlebt,“ murmelte Charoselle. „Oh, sicherlich wird er ein paar Versuche brauchen,“ meinte Blacky. „Aber davon lässt sich jemand wie er nicht aufhalten.“ Die Unterweltlerin musterte ihren Enkel, als wäre es das erste Mal. „Zweifelst du nie?“ „Nein, nie,“ versicherte Blacky. „Nur manchmal... manchmal stelle ich fest, dass ich nichts tun kann außer jemandem beizustehen. So wie gestern...“ Charoselle nickte bedächtig. „Könntest du aufpassen, dass die Zirkelleute nichts mit Soach anstellen? Ich muss ein bisschen spazieren gehen.“ „Natürlich, geh nur.“ Blacky nutzte die Gelegenheit nur zu gerne. Crimson war etwas überrascht, als Ray und Fuma sich zu ihm und den beiden Vertretern des Zirkels gesellten, um ihnen mitzuteilen, was sie herausgefunden hatten. Belial nahm interessiert die Bücher an sich und sichtete das Beweismaterial. „Ich habe schon gar nicht mehr an diesen Vorfall gedacht, sondern ihn als etwas abgehakt, das ich wohl nicht aufklären werde,“ meinte Crimson schulterzuckend. „Da beeinflusst dich wohl dein Schloss, denn es ist etwas, das Soach tun würde,“ lächelte Ray. „Wie ich hörte, habt Ihr die Witwe meines verstorbenen Freundes zur Frau genommen,“ bemerkte Genesis. „Vielleicht können wir uns noch kurz mit Euch unterhalten, ehe wir darüber beratschlagen, was nun zu tun ist.“ „Sicher,“ stimmte der Prinz zu. „Ich werde wohl nicht mehr gebraucht,“ stellte Crimson erleichtert fest und verließ das Zimmer. Erst draußen fing er an zu zittern, eine körperliche Reaktion auf die Anspannung. Da er jedoch nicht von Malice verspottet werden wollte, tat er so, als hätte er etwas zu tun und marschierte den Gang entlang, weg von dem Kerl, um sich in das nächstbeste freie Zimmer zu verziehen. Seltsam, dass es ihn gerade hierhin verschlagen hatte... er befand sich in der Bibliothek. Die Möbel und den weichen Teppich erkannte er aus den Erinnerungen, die Soach ihm geschickt hatte. Der Sessel stand an einer anderen Stelle, und an seinem ursprünglichen Platz sah der Teppich dunkler aus. Crimson bückte sich und fühlte Feuchtigkeit. Es roch nach Seife. Er seufzte und ließ sich in den Sessel sinken. Araes Sessel... jetzt sein Sessel. Genesis und Belial stimmten seiner Übernahme zu. So weit, so gut. Crimson rieb sich die Schläfen, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Doch er sorgte sich um Soach. Zwar vermutete er, dass die inoffizielle Version der Geschichte – die Wahrheit – keine Beachtung finden würde, weil die beschönigte Variante besser zu den Akten des Zirkels passte, aber zum Schluss hatten die beiden Männer ziemlich nachdenklich gewirkt und tatsächlich überlegt, ob es nicht doch besser wäre, die Akten zu überarbeiten. In diesem Fall wäre zwar erklärt, warum Soach den Mord an Arae begangen hatte, aber Crimson wollte jedes Risiko vermeiden, dass ihn jemand deswegen belangen könnte, daher bevorzugte er die zurechtgebogene Wahrheit, die zu den Aussagen des Chaoshexers vor Gericht passte. Er verband sich mit Soachs Gedanken und sah nach, ob er allein war. Blacky hielt sich bei ihm auf, stellte er fest. Sie schienen einen liebevollen Vater-Sohn-Moment zu haben, den Crimson nicht stören wollte, deshalb zog er sich wieder zurück. Eigentlich hätte sein Magen knurren sollen, weil der Besuch der Zirkelvertreter sein Frühstück vereitelt hatte, aber seine Gedanken drehten sich zu sehr um andere Dinge, stellten sich Möglichkeiten vor, die ihm nicht gefielen. War das Angst? Wieviel davon gehörte ihm und wieviel kam von Soach? Es ließ sich immer etwas schwer beurteilen, aber in diesem Falle teilten sie vermutlich ihre Bedenken. Nach einer Weile öffnete sich die Tür. „Ah, Crimson... ich hatte so eine Ahnung, dass du hier bist,“ sagte Ray. Wie immer folgte Fuma ihm auf dem Fuße. Sie hatten die Bücher nicht mehr dabei. „Genesis und Beliel beraten ihr weiteres Vorgehen,“ teilte der Prinz ihm mit. „Könntest du in der Zwischenzeit noch einmal erzählen, was hier passiert ist?“ Die Frau trat vor ihn. „Ich wüsste das sehr zu schätzen, Lord Crimson, denn bisher erfuhr ich nur, dass mein erster Mann von Prinz Soach umgebracht wurde, aber ich weiß den genauen Grund nicht. Natürlich ist mir bekannt, dass Edeh den Prinzen gefangen hielt, aber er hat es mir gegenüber so dargestellt, als wäre das sein gutes Recht.“ „Das kann ich mir denken,“ antwortete Crimson. „Mal so aus Neugier... wieso habt Ihr zugestimmt, Euch an Prinz Lichal zu binden?“ „Wir duellierten uns im Garten mit Schwertern,“ erzählte sie. Ihr Tonfall blieb die ganze Zeit kühl und sachlich. „Lichal langweilte mich während des Kampfes mit Geschichten von irgendwelchen Visionen, die er gehabt haben will... er wusste es, als Edeh ums Leben kam. Ich glaubte ihm natürlich nicht, doch zu meiner Schande lenkten mich seine Behauptungen ausreichend ab, dass er mich entwaffnen konnte. Er überredete mich sehr hartnäckig dazu, den Bund mit ihm zu schließen, falls er Recht behielte. Auf diese Weise wollte er mich und meinen Sohn beschützen. Dass er von meinem Sohn wusste, überraschte mich. Es ist zwar nicht direkt ein Geheimnis, aber wir haben es auch nicht bekannt gemacht, weil Edin noch zu klein ist. Lichal wusste sogar seinen Namen. Ich... hielt es für vernünftig, seinen Vorschlag anzunehmen, wenn man bedenkt, dass ich jetzt genauso gut seine Gefangene sein könnte.“ „Ja, das ist wohl richtig... Edeh war nur noch am Leben, weil Lady Charoselle ihn als kleines Kind verschont hat, wisst Ihr das?“ fragte Crimson. „Lichal erwähnte es,“ sagte Fuma. „Wenn es stimmt, dass Ihr mit seinem Bruder telepathisch verbunden seid und wisst, was er erlebt hat, so schildert es mir jetzt bitte.“ „Warum fragt Ihr Soach nicht selbst?“ „Ich möchte dem Mörder meines Mannes nicht unter die Augen treten. Schlimm genug, dass ich mir seinen Segen zu meinem neuen Bund geben lassen musste. Ich gebe zu, er sah... mitgenommen aus. Doch ich weiß nur, dass er mich zur Witwe machte.“ Crimson nickte verstehend und erzählte noch einmal, was er gerade Genesis und Belial berichtet hatte. Auch dieses Mal hielt er sich streng an die Fakten und fasste sich kurz, ohne etwas auszulassen. Besonders wichtig fand er allerdings die Episode mit Edin. Soach hatte die Möglichkeit gehabt, ihn zu töten, es jedoch nicht getan. Er hatte es nicht einmal fertig gebracht, ihn effektiv als Geisel zu benutzen. Während er sprach, beobachte er, dass Fuma sich ab und zu auf die Lippen biss und nachdenklich zur Seite blickte, so als überdachte sie ihre Meinung zu dem Thema. Crimson erwähnte abschließend, wie Ujat aufgetaucht war und Soach durch das Mittel, das er mitbrachte, gerettet werden konnte. „So wie Ihr es schildert, hatte mein Schwager keine niederträchtigen Motive,“ stellte sie fest. „Aber ich kann mich nur auf Euer Wort verlassen, und Ihr seid sein Freund.“ „Dann fragt Fawarius und Rahzihf,“ warf Crimson ein. „Sie waren zumindest teilweise eingeweiht.“ „Von ihnen habe ich bereits gehört, dass Edeh dem Prinzen eine Falle gestellt hat. Beide erwähnten auch einige... Foltermaßnahmen, die vielleicht nicht nötig gewesen wären. Aber sie wussten nichts von seinen Motiven. Darüber sprach er nur mit mir, ehe er sie Prinz Soach mitteilte.“ „Wie es aussieht, war Euer Mann einem Irrtum verfallen,“ meinte Crimson diplomatisch. „Er muss wohl fest der Ansicht gewesen sein, dass die Familie Jagerillia ihn um sein rechtmäßiges Erbe gebracht hat. Er wollte einen vermeintlichen anderen legitimen Erben seines Vaters aus dem Weg räumen und seinen Thron zurückerobern.“ „Streng genommen hatte er Recht,“ bemerkte Ray. „Er war der legitime Erbe. Aber nur, solange sein Vater herrschte, und der wurde abgesetzt, weil er das Volk tyrannisierte.“ Crimson rieb sich erneut die Schläfen, als er versuchte, all die herrschaftlichen Verwicklungen zu verstehen. Letztendlich gab er es auf. Lady Charoselle hatte gewonnen, somit herrschte sie jetzt und ihre Kinder erbten. Ende. „Was machen jetzt eigentlich die Herren vom Zirkel?“ fiel es ihm schließlich ein. „Sie stellten uns noch ein paar Fragen, zum Beispiel, wer Araes Familie benachrichtigen soll. Genesis wird das freundlicherweise übernehmen. Dann wollten sie sich beraten, wahrscheinlich tun sie das noch,“ antwortete Ray. „Ich gehe lieber mal nachsehen,“ beschloss Crimson und erhob sich aus seinem Sessel. „Ich werde meine persönlichen Sachen zusammenpacken, wenn Ihr nichts dagegen habt,“ sagte Fuma. „Natürlich nicht. Werdet Ihr auch ein oder zwei Bedienstete mitnehmen, die Euch persönlich nahestehen?“ „Vielleicht.“ Crimson nickte und begab sich zu Soachs Zimmer. Er hatte den Freund noch gar nicht besucht, seit er seine langen Schlaf beendet hatte. Als er das eintrat, war Blacky noch anwesend, doch der Chaosmagier winkte ihn zu sich „Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst,“ sagte er. Soach saß in seinem Bett. Er wirkte viel gesünder, was wohl auch nicht schwierig war, wenn man bedachte, dass er vor einigen Stunden noch im Sterben gelegen hatte. Seinen Augen fehlte noch immer der Glanz, den die Ausbrennung ihnen genommen hatte, aber ansonsten freute er sich offenbar darüber, dass er den Tag erleben durfte. „Ich wollte euch nicht stören,“ erklärte Crimson. „Aber bald werden uns wohl die Vertreter des Zirkels sagen, was sie beschlossen haben.“ „Ja, darauf bin ich auch schon ganz... gespannt,“ murmelte Soach. „Lasst uns zu ihnen gehen, ich möchte nicht, dass sie mich so sehen.“ Er schlug die Decke zurück und wollte aus dem Bett steigen. „Warte,“ hielt Blacky ihn auf. „Vielleicht wäre es besser, sie sehen zu lassen, was Arae dir angetan hat. Wir sollten keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass du das Opfer bist und es dir schlecht geht.“ „Nun gut...“ Soach legte sich wieder hin und ließ sich ordentlich zudecken. Crimson konnte seinen Widerwillen spüren... vielleicht auch ein bisschen Furcht. „Sie wirkten nicht so, als wollten sie irgendeine Form von Genugtuung verlangen,“ versuchte er den Freund zu beruhigen. „Genesis war mit Arae befreundet, aber...“ Er unterbrach sich. Das war vielleicht nicht die schlaueste Bemerkung in dieser Situation. Malice steckte den Kopf herein. „Die Männer vom Zirkel wollen mit euch reden, soll ich sie reinlassen?“ Crimson warf Soach einen Blick zu und gab dessen Nicken an den Praktikanten weiter. Wenige Sekunden später traten Lord Genesis und Marquis Belial ein. „Hallo Blacky, Tag Sorc,“ sagte Genesis. Belial beschränkte sich auf ein grüßendes Nicken und überließ seinem Kollegen das Reden. Der Vampir sah aus, als hätte er Spaß. „Wir haben uns beraten,“ verkündete er. „Das Ergebnis muss noch von den restlichen Mitgliedern abgesegnet werden, aber zunächst einmal möchte ich dein Einverständnis, Crimson.“ Der Magier runzelte die Stirn. „Einverständnis?“ „Ja. Du hast dieses Haus für dich beansprucht, die Witwe hat sich der blonde Prinz geschnappt und dein Stellvertreter hat ein Mitglied des Zirkels erledigt – was vielleicht du getan hättest, wenn er nicht schneller gewesen wäre.“ „Davon kannst du ausgehen,“ gab Crimson unumwunden zu. „Somit ist ein Platz im Zirkel frei geworden, und als der Verantwortliche hast du ein Anrecht darauf. Crimson vom Lotusschloss, wir bieten dir hiermit an, in den Zirkel des Bösen einzutreten.“ Was immer er erwartet hatte, das war es nicht. Crimsons Mund klappte auf und er starrte Genesis entgeistert an. Dann hörte er sich sagen: „Ich bin einverstanden.“ Seine eigenen Worte brauchten einen Moment, um vom Gehirn registriert zu werden, während Belial etwas auf sein Klemmbrett schrieb. Es kostete Crimsons ganze Selbstbeherrschung, sich nicht nach Soach umzudrehen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Statt dessen tat er so, als wäre das allein seine Entscheidung gewesen. „Fein,“ lächelte Genesis. „Ich bedaure den Verlust meines alten Freundes Arae, aber ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dir.“ Er schüttelte Crimson kollegial die Hand. „Ich glaube nicht, dass es Probleme geben wird, aber erzähl es lieber noch nicht herum. In Kürze werde ich dich besuchen und alles mit dir besprechen. Aber jetzt muss ich aufbrechen, bevor die Helligkeit draußen zu stark wird. Mach es gut, Crimson!“ Der Weißhaarige starrte den beiden nach, bis sie gegangen waren und die Tür hinter ihnen zufiel. Er drehte sich langsam um. „Soach!“ Der Prinz der eisigen Inseln streckte ihm neckisch die Zunge raus und kicherte, und das entschädigte Crimson für seinen Schrecken. Kapitel 19: Kurz vor der Abreise -------------------------------- „Ah, da bist du ja, Neo.“ Blacky und Dark trafen den Magierkollegen draußen bei den Drachen, die in kleiner Gestalt vor dem Haupteingang ausharrten. Der Blonde seufzte. „Um ehrlich zu sein, hoffte ich, dass...“ Er sah Blacky an und schien es sich anders zu überlegen. Er räusperte sich. „Ich meine... wie gut, dass dein Vater überlebt hat.“ Er sah ohne die Spur eines Lächelns zu den größeren Männern auf. „Ich weiß, dass du ihn gerne sterben gesehen hättest, Neo,“ sagte Blacky und schaffte es, dabei nicht verärgert zu klingen – hoffte er jedenfalls. Neo zuckte mit den Schultern. „Naja, daraus hab ich ja nie ein Geheimnis gemacht. Aber so ist es auch gut... ich kann zusehen, wie er langsam verkümmert ohne seine Magie. Noch stellt er sich stark, aber es ist nur eine Frage der Zeit. Ich werde seinen Niedergang genießen.“ Ein Hauch von Zweifel wollte sich in Blackys Unterbewusstsein schleichen, doch er verpasste ihm einen Tritt nach draußen. „Soach ist wie ein frisch geleerter Kelch, der nur darauf wartet, wieder gefüllt zu werden. Er muss nur noch herausfinden, womit.“ Neo schnaubte. „Er ist eher ein Kristallkelch, den jemand zertrümmert hat. Da kannst du nichts mehr reinfüllen, Blacky. Er taugt nur noch für den Müll.“ Blacky schwieg, denn ihm fiel keine kluge Erwiderung mehr ein. Dafür ergriff Dark das Wort. „Ich mache mir Sorgen um dich Neo, und schäme mich, dass ich das Problem nicht eher erkannt habe. Du steigerst dich viel zu sehr in deine Rache hinein.“ „Ach was. Jetzt hat er endlich, was er verdient, also bin ich zufrieden. Schade ist bloß, dass ich nicht zusehen durfte, wie sie es gemacht haben,“ meinte Neo. Blacky schloss die Augen und riss sich mühsam zusammen, während er seine Hände von Neos Hals fernhielt. „Ich habe mit Lord Ishzark gesprochen und erfahren, dass er noch Männer sucht,“ fuhr Dark unbeirrt fort. „Er meinte, er könnte jemanden wie dich gebrauchen. Du hättest Gelegenheit, deine Schwertkünste aufzufrischen. Melde dich einfach mal bei ihm.“ Der Magier, der von den meisten anderen Magiern als ihr Anführer angesehen wurde, machte eine bedeutungsvolle Pause und fügte dann hinzu: „Das ist keine Bitte.“ Neo sah ihn an. Sein Gesicht zeigte kaum eine Emotion, aber an seiner Aura erkannte Blacky, dass er sich höchstwahrscheinlich verraten fühlte. Das verwunderte ihn nicht. Der Blonde machte eine Phase durch, in der die Welt für ihn nur noch aus Gegnern bestand. „Wie du meinst,“ sagte er langsam, wobei er sich zum Haus umwandte. „Ich suche ihn mal...“ Neo schlenderte langsam davon, wie ein Mann, für den das Leben den Sinn verloren hat. Sie blickten ihm schweigend nach, bis er außer Hörweite war, und spazierten dann ebenfalls zurück zum Haus. „Das mit dem Kelch scheint dich nachdenklich gemacht zu haben,“ meinte Dark. Blacky seufzte. „Nun ja... wenn ich korrekt über die Technik des Ausbrennens informiert bin, wird tatsächlich das Gefäß zerstört, in dem sich die Magie befindet. Also hat Neo ganz Recht.“ Dark lachte leise. „Das hat dich nicht etwa verunsichert, oder?“ „Nur im rhetorischen Sinne,“ versicherte Blacky. „Doch wenn Magie in Kelchen kommt, würde ich eher vom Boden trinken als gar nicht. Und mein Vater zweifellos auch.“ „Na siehst du. Aber sag mal... hast du nur ein einziges Trinkgefäß zu Hause?“ Blacky hob eine Augenbraue, doch Dark kommentierte das nicht weiter. Er ging etwas schneller, so dass er dem Chaosmagier eine Aussicht auf seine Kehrseite bot. Den absichtlichen Hüftschwung erkannte Blacky als deutliche Einladung, das Thema zu wechseln. Crimson überließ Soach weitestgehend seiner Familie und gab sich damit zufrieden, seinen Tagesablauf im Hinterkopf zu verfolgen. Indessen besuchte er das Dorf, um sich den Leuten dort als neuer Herr der Ländereien vorzustellen. Dabei begleiteten ihn Iquenee und zwei Kriegerinnen, denn die Prinzessin meinte, dass ihm vielleicht nicht nur Freude entgegenwehen würde. Tatsächlich hatte er dann auch den Eindruck, dass die Dorfbewohner den Herrschaftswechsel hinnahmen, aber sich nicht zu eifrig um ihn bemühten, ähnlich wie die Bediensteten. Sie fragten nicht einmal, was es mit dem plötzlichen Schneefall auf sich hatte, dabei schmolz dieser noch. Auf dem Rückweg zur Villa des verstorbenen Unterweltlers fragte er: „Wie verhalte ich mich jetzt am besten? Soll ich sie zwingen, mich zu verehren, oder lasse ich sie erstmal in Ruhe?“ „Du solltest dich nicht zu unbeliebt machen, Crimson,“ meinte Iquenee. „Wenn die Leute unverschämt werden, kannst du immer noch strenger sein. Allerdings musst du auch klar machen, dass sie dir nicht auf der Nase herumtanzen dürfen. Hm, das wird etwas schwierig. Ich kann dir da gar nicht gut helfen, mein Ding ist es eher, einen Aufstand niederzuschlagen, wenn mir das befohlen wird, oder eine feindliche Armee zu besiegen.“ „Verstehe.“ Crimson erinnerte sich an Charoselles Worte, die er durch Soach mitbekommen hatte. Iquenee schien tatsächlich zu rabiat für eine Herrscherin zu sein, ihr fehlte das diplomatische Feingefühl, während Ray vermutlich zu viel davon hatte. Aber ob dann Soach der richtige Kronprinz war? Crimson schob den Gedanken beiseite. Selbst wenn der Mann irgendwann König wurde, musste er sich jetzt noch nicht damit auseinandersetzen. Daher konzentrierte er sich lieber auf die aktuellen Probleme. „Ist es eigentlich in Ordnung, dass deine ganze Familie hier ist?“ fragte er seine Begleiterin. „Sicher. Blizzi ist noch im Palast,“ winkte Iquenee ab. „Blizzi?“ Crimson lief es kalt den Rücken hinunter, denn an das verwöhnte Blag konnte er sich noch gut erinnern. So hart Iquenee auch zu sich selbst und ihren Leuten war, so sehr verwöhnte sie ihre Tochter. Bloß gut, dass viele andere vor ihr in der Thronfolge kamen. Vindictus erwachte erst am späteren Vormittag, sehr zu seinem Ärger, denn er vernachlässigte seit Stunden seinen Patienten. Diesen störte das wahrscheinlich nicht, und so sagte der Heiler sich, dass es auch für ihn selbst besser war, wenn er genug Schlaf bekam. Erfreut fand er Soach noch im Bett vor. „Wie schön – ich befürchtete schon, dich auf dem Gelände suchen zu müssen.“ „Crimson meinte, ich sollte auf dich warten, weil du sonst schimpfen würdest.“ „Ah, der Junge kennt mich inzwischen ganz gut. Wo ist er eigentlich?“ „Er wollte ins Dorf gehen und sich dort als der neue Herr vorstellen.“ „Ah ja...“ Vindictus kletterte auf einen Sessel links vom Bett, so dass er den Verband von Soachs Unterarm entfernen konnte. „Hm, das eitert,“ murmelte er. „Er hat das Messer vermutlich nicht desinfiziert,“ kommentierte Soach. „Manchmal hilft es, wenn die Wunde stark blutet, weil dadurch Verunreinigungen weggespült werden,“ erklärte der Heiler. „Aber die Umstände... nun ja. Da es dir jetzt besser geht, kann ich es heilen. Es wird dich wieder ermüden, weil der Zauber nicht mehr von deinem Meras gespeist werden kann. Aber ich wollte ohnehin vorschlagen, dass du dich noch ein bisschen ausruhst und erst nach dem Mittagessen aufstehst.“ „Meinetwegen,“ seufzte Soach. „Ich habe eh keine Kleidung außer einem Morgenmantel, um dieses Zimmer zu verlassen.“ Vindictus heilte die Wunde, bis eine dünne, frische Hautschicht über der Stelle entstanden war. Der Vorgang dauerte einige Minuten. „Nicht kratzen, auch wenn es juckt,“ grinste er, als er Soachs Gesicht sah. „Kannst du nicht was gegen das Gefühl machen?“ jammerte der Patient. Der Alte kicherte und erbarmte sich, indem er kurz darüber strich. „Na gut. So. Besser?“ Soach entspannte sich. „Bleibt davon eine Narbe?“ „Nur wenn du willst.“ Soach schien kurz darüber nachzudenken und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Das Kapitel mit dem zerstörten Schlossherz sollte ich vielleicht langsam abhaken. „Na fein.“ Vindictus tätschelte ihm den Arm. „Du schläfst jetzt noch ein Stündchen.“ Ehe Soach protestieren konnte, wischte er über dessen Stirn, und die Augen des Prinzen fielen zu. Der alte Heiler schickte sich an, ihn allein zu lassen, blickte aber noch einmal zurück, als er schon die Türklinke in der Hand hielt. Er konnte zwar nicht hellsehen wie sein Sohn, ahnte aber, dass sie mit Soach noch einige Probleme bekommen würden. Niemand steckte eine Ausbrennung problemlos weg. Er begab sich in den Aufenthaltsraum, um nachzusehen, ob Crimson schon zurück war, traf jedoch Ishzark und Charoselle an, die in eine lebhafte Diskussion verwickelt waren. Da wollte er lieber nicht stören und zog sich deshalb wortlos wieder zurück. Crimson hatte ihm gegenüber eine Bibliothek erwähnt, und da er nichts anderes zu tun hatte, ging er danach suchen. Er musste einige Türen probeweise öffnen, eher er den Raum mit den Bücherregalen fand. Hier wollte er sich etwas zum Lesen suchen und abwarten. Zu seiner Überraschung fiel ihm sogleich ein Geräusch auf, das er zwar erkannte, aber nicht an diesem Ort erwartet hatte: jemand schnarchte leise. Sein Blick wanderte nach links und fiel auf Ujat, der, mit dem Rücken an den Regalen lehnend, mit einem offenen Buch auf dem Schoß schlief. Vindictus lächelte. Als Hellseher vermied sein Sohn es, an Orten zu schlafen, die ihm höchstwahrscheinlich lebhafte Träume bescherten, aber sein Körper forderte irgendwann sein Recht. Vermutlich hatte er versucht, sich mit einem Buch wach zu halten. Vindictus holte ein Kissen von einem der Sessel, legte es auf den Boden und zog Ujat vorsichtig in eine liegende Pose. Neugierig sah er anschließend nach, was sein Sohn gelesen hatte. Der Titel des Buches lautete: Blutfeen und andere Abnormitäten. Im Prinzip mochte das ein beliebig ausgewähltes Exemplar sein, aber nicht bei einem Hellseher. Die aufgeschlagene Seite, eine der ersten, definierte einige Begriffe, die der Autor benutzte, darunter auch das Wort Blutfee. Hierbei handelte es sich um ein Feenkind mit Hybridblut, für gewöhnlich hervorgehend aus einer Verbindung zwischen einem Unterweltler und einer Fee. Blutfeen verfügten über besondere Kräfte, auf die später im Buch wohl noch eingegangen wurde, und tendierten dazu, dunkle Pfade einzuschlagen, so dass sie meistens ein unrühmliches Ende fanden. Vindictus blickte von dem Buch zu Ujat, dann wieder auf die Definition. „Na großartig,“ murmelte er. „War ja klar.“ Er nahm auf dem Sessel am Fenster Platz und begann zu lesen. Es konnte nicht schaden, informiert zu sein. Um die Mittagszeit hatte sich der Koch eingefunden und die Küche angeheizt. Crimson hätte sich sonst genötigt gesehen, ihn an die Arbeit zu schicken. „Es gibt Gulasch,“ verkündete der Mann. „Oder isses nicht recht?“ Er schien ein Unterweltler zu sein, blauhäutig, und seine besten Jahre lagen bereits hinter ihm. Für einen Koch war er recht mager, dafür groß. „Mach nur, aber in ausreichenden Mengen,“ entgegnete Crimson. „Wär toll, wenn ich wüsst', wie lang die Leut' alle bleiben, damit ich planen kann,“ bemerkte der Koch. „Gibt auch nichts Kompliziertes, weil die Küchenhilfen nicht aufgetaucht sind.“ „Das ist in Ordnung,“ nickte Crimson die Worte ab. „Ich nehme an, dass wir heute Nachmittag abreisen, aber ich lasse es dich rechtzeitig wissen.“ „Gut. Sollen wir den Tisch im Speisesaal decken?“ „Ähm... ja, sicher. Schick jemanden, der uns Bescheid gibt.“ Crimson hatte keine Ahnung, wo sich der Speisesaal befand, aber das wollte er dem Mann jetzt nicht unter die Nase reiben. Er verließ die Küche und beschäftigte sich damit, seine Verbündeten zusammenzusuchen und die Rückreise zu planen. Ray erklärte sich bereit, das Haus für ein paar Wochen zu verwalten, was ganz gut für Fuma und Edin war, wie er fand. So konnte Charoselle sich noch ein wenig an den Gedanken gewöhnen, die beiden bei sich wohnen zu haben. Was das anging, äußerte die Herrscherin sich abweisend. Sie wollte die Schwiegertochter nicht um sich haben, andererseits aber fand sie es besser, sie im Auge zu behalten. Bisher hatte sie noch nicht entschieden, wo ihre Prioritäten lagen. Als Crimson annahm, dass er alles Wichtige erst einmal erledigt hatte, ging er zu Soach. Darauf freute er sich immer wie auf eine lang verdiente Pause, fiel es ihm auf. Der Prinz schlief, als er eintrat, fing aber nach wenigen Sekunden an, sich zu rühren, und schließlich blinzelte er ihn schläfrig an. „Oh... Crimson... gibt es Essen? Vindictus hat erlaubt, dass ich nach dem Essen aufstehe. Ich glaube, er hat einen Schlafzauber auf mich gelegt...“ Er rieb sich die Augen und streckte sich. „Der Koch will den Tisch im Speisesaal decken lassen, also stehst du besser vorher auf, damit du dann mitkommen kannst.“ Crimson sah sich kurz im Zimmer um. „Oh... du hast keine andere Kleidung, oder?“ Soach schüttelte mit einem schiefen Lächeln den Kopf. „Es müsste aber irgendwo in diesem Haus etwas geben, das mir passt, schätze ich.“ „Hm... Moment.“ Crimson ging vor die Tür. „Malice? Ah, da bist du ja. Besorge bitte vernünftige Kleidung für Soach. Vielleicht ist die, mit der er hergekommen ist, noch irgendwo aufzutreiben.“ „Betrachte das als erledigt,“ grinste der Blonde und salutierte salopp. Crimson schloss die Tür von innen. „Hab ich bitte gesagt? Meine Güte...“ „Versteif dich doch nicht so darauf, dass du Malice hasst,“ riet Soach ihm. „Damit verschwendest du nur Energie. Außerdem war ich damals auch dabei, und mir trägst du nicht nach, dass du jetzt ein Tattoo auf dem Rücken hast.“ „Du hast nicht das Messer geführt,“ erwiderte Crimson trotzig. „Und wenn ich es getan hätte? Vielleicht habe ich es nur Malice überlassen, weil er die Bannformel kannte.“ Crimson schloss und öffnete mehrmals die Hände zu Fäusten, während er über den Grund nachdachte. „Es ist... anders mit dir. Du hast dich nie entschuldigt für das, was passiert ist, aber du hast vor Gericht Verantwortung übernommen.“ „Nun... das hat Malice auch,“ gab Soach zu bedenken. Crimson schüttelte den Kopf. „Nicht so wie du, und außerdem... du bist nicht so... schadenfroh. Er hatte Spaß daran, dass er mir Schmerzen zufügen konnte.“ „Das mag sein,“ gestand Soach ihm zu. Er schwang die Beine aus dem Bett und hielt sich an Crimsons angebotener Hand fest, als er aufzustehen versuchte. Essen und Schlaf hatten ihm gutgetan, dennoch schienen seine Füße sich erst wieder daran erinnern zu müssen, was ihre Aufgabe war. Crimson stützte ihn, bis er sicher war, dass er alleine stehen konnte. Danach blieb er in seiner unmittelbaren Nähe und überwachte die ersten Schritte. „Das ist... peinlich,“ murmelte Soach. „Das Gift hat dich ganz schön mitgenommen,“ meinte Crimson mitfühlend. Er kramte einen dunkelgrünen Morgenmantel aus dem Schrank hervor und half seinem Freund, ihn überzustreifen. „So... das sollte reichen, bis du etwas Richtiges bekommst.“ Soach band den Morgenmantel zu und zupfte den Stoff etwas zurecht. Er nahm jene aufrechte Haltung an, durch die er selbst Nacktheit wie ein königliches Gewand trug, wenn es darauf ankam. Der Anblick bewirkte, dass auch Crimson die Schultern straffte und sich ein wenig erleichtert fühlte, denn solange Soach das tun konnte, hatte er noch nicht aufgegeben. Soach durchquerte einige Male das Zimmer, um seine Beine wieder an die Tätigkeit zu gewöhnen. Dabei bewegte er die Arme auf und ab und rollte mit den Schultern. Er hielt sich eigentlich körperlich in Form, aber derzeit fühlte er sich schwach und gebrechlich. „Hier sind auch Hausschuhe, aber sie sind dir wahrscheinlich zu groß,“ stellte Crimson fest. „Da laufe ich lieber erstmal barfuß,“ meinte Soach. „Das ist schon schwierig genug.“ Sein Körper fühlte sich an, als hätte er ihn zu lange nicht benutzt. Die Muskeln schmerzten noch von der Zeit, als er sie im Todeskampf verkrampft hatte, und der Rücken beklagte sich über eine zu lange Zeit im Bett. Soach nahm es hin, denn wenigstens lebte er. Ein paar Tage, und er war wieder wie neu. Beinahe jedenfalls... und da war er wieder, der Gedanke an eine Zukunft ohne Magie. Für gewöhnlich verdrängte er ihn recht erfolgreich, aber gelegentlich rief er sich in Erinnerung wie ein Dorn im Fuß. „Was war das eigentlich mit dem Zirkel des Bösen? Du schienst es kaum erwarten zu können, Mitglied zu werden,“ fragte Crimson. „Oh... das. Wusstest du das nicht? Hm... vermutlich nicht.“ Dankbar für die Ablenkung konzentrierte sich Soach auf das neue Thema. „Es dürfte nicht in den Berichten und Protokollen des Zirkels stehen. Ich sagte es nur zu Blacky, damals nach seinem Sieg und dem des jungen Marik über Malice und mich. Blacky fragte, warum ich das überhaupt alles getan habe. Und ich sagte, weil ich in den Zirkel des Bösen aufgenommen werden wollte. Sie hatten meine Bewerbung dreimal angelehnt. Also dachte ich, dass etwas Handfestes überzeugender wäre.“ Er wandte sich dem weißhaarigen Magier zu, der ihn mit offenem Mund anstarrte. „Ich kann nicht fassen, dass wir darüber noch nie gesprochen haben,“ sagte Crimson schließlich. Soach zuckte mit den Schultern. „Warum auch.“ „Aber warum will jemand, der ein Reich erbt, im Zirkel des Bösen aufgenommen werden?“ wollte Crimson wissen. „Ich meine... andere würden den Thron mit Handkuss nehmen!“ „Die Idee hat mich schon immer gereizt,“ gab Soach zu. „Ich wollte meine Magie frei ausleben, nicht unter dem Joch einer Krone. Ich stellte mir den Zirkel des Bösen immer als eine Gruppe von mächtigen Leuten vor, denen niemand etwas anhaben kann und die ungeahnte Geheimnisse hüten, von denen man nicht einmal an der Eisigen Universität hört.“ „Offenbar hat dich das Konzept immer noch fasziniert, obwohl du inzwischen weißt, wie die wirklich drauf sind.“ „Aber sie sind noch viel schräger drauf, als ich jemals dachte!“ Soachs Begeisterung bekam einen jähen Dämpfer. „Mein Wunsch erfüllt sich auf eine sehr... seltsame Weise. Unter diesen Umständen hätte ich doch lieber darauf verzichtet, aber wie die Dinge liegen, nehme ich, was ich kriege.“ Crimson räusperte sich. „Naja... ich habe nie behauptet, dass ich einer von den Guten bin. Vielmehr sah ich mich immer als eine Art Rebell. Dann bleibt wohl nur noch zu hoffen, dass der Rest des Zirkels nichts gegen unseren Beitritt einwendet.“ „Sie werden zustimmen, schon um zu beobachten, wie du dich schlägst,“ vermutete Soach. „Manchmal tun sie Dinge, nur um zu sehen, was dann passiert.“ „Wenigstens kennt sich einer von uns gut aus,“ grummelte Crimson. Dann erhellte sich seine Miene. „Hey! Das bedeutet doch, dass ich auf der Gegenseite von Malice bin, wenn er Praktikant beim Drachenhauchorden ist, oder?“ Wie aufs Stichwort flog die Tür auf, und herein kam der platinblonde Unterweltlerkrieger. Sein Gesicht war allerdings kaum zu sehen, denn er trug einen Haufen Wäsche, über den nur die Spitzen seiner nicht mehr ganz so langen Haare hinausragten. Er lud seine Last auf dem Bett ab und grinste in die Runde. „Bitte sehr, frisch aus der Waschküche. Man riecht teilweise noch den Dampf vom Bügeln.“ „Schön zu wissen, dass in der Waschküche gearbeitet wird.“ Crimson nahm das oberste Hemd vom Stapel und entfaltete es probeweise. „Oh, Malice... was ist mit Stiefeln?“ „Danach hast du nicht verlangt,“ stellte der Praktikant klar. „Aber ich hab hier bestimmt noch was im Inventar.“ Er fing an, in einer Gürteltasche zu kramen, die bestenfalls Platz für ein Ersatzhemd bot, aber während er darin wühlte, verschwand sein Arm bis zum Ellenbogen darin. Soach und Crimson starrten ihn gleichermaßen an, wechselten untereinander einen Blick und zuckten dann synchron mit den Schultern. „Ich bin sicher, dass dies die Tasche für Klamotten und persönliche Items ist...“ Malice schnallte genervt die Tasche vom Gürtel ab und schüttelte den Inhalt heraus. Einige Kettenhemden, Helme und Rüstungsteile kamen zum Vorschein, dann auch mehrere Kleidungsstücke aus Leder, eine faustgroße, orangefarbene Kristallkugel mit vier roten Sternen darin, eine grüne Geldbörse in Form eines Frosches und schließlich ein einzelner Stiefel. Malice schüttelte heftiger und griff hinein, als das Schütteln nichts nützte. Er zog den zweiten Stiefel hervor, worauf sich ein weiterer Haufen von Items auf den Boden ergoss. Ganz oben kam eine kitschige Goldbrosche in Herzform mit Flügeln und rosa Applikationen zu liegen. Malice hob eine seitlich hingefallene silberne Taschenuhr mit einer Art Drachenkopf auf dem Deckel auf. „Oh, die habe ich schon gesucht!“ Soach verglich den Haufen mit dem Täschchen. „Faszinierend...“ Er schnappte sich die Tasche und nahm sie in Augenschein. Als er hineinfassen wollte, bekam er einen elektrischen Schock, der ausreichte, um seine Hand für einige Sekunden zu betäuben. „Wow... was ist das für ein Ding?“ „Eine personalisierte Heldenkammer,“ sagte Malice mit stolzgeschwellter Brust. „Hat mich die Loots von sechs Quests gekostet! Aber es lohnt sich, so habe ich immer das richtige dabei.“ „Und du hast... mehrere von den Dingern?“ Soach deutete auf den Gürtel, an dem eine weitere Gürteltasche hing. Malice nickte eifrig. „Ja, das ist auch eine. Aber sie ist übertragbar, weil ich darin Heilmittel und sowas habe, die vielleicht mal ein Kollege für mich rausholen muss. Man kann allerdings die personalisierten mit einem Passwort versehen, dann kann auch ein anderer den Inhalt herausholen, wenn derjenige das Passwort kennt.“ „Die übertragbaren sind vermutlich billiger,“ vermutete Crimson. „Darauf kommt es nicht so sehr an,“ winkte Malice ab. „Der Unterschied liegt in der Größe des Stauraums.“ „Warum habe ich von sowas noch nie gehört?“ erkundigte Crimson sich. „Also bitte!“ Malice rollte mit den Augen, als wäre das offensichtlich. „Du bist ein Magier. Du wohnst erstens für gewöhnlich in einem Schloss oder hast dein eigenes magisches Gepäck, sowas wie eine Dimensionsfalte oder so. Nicht wahr, Sorc?“ „Ähm... ja, hatte ich,“ murmelte Soach. „Oh, verflixt... Vaters Löffel war darin.“ Der kleine Schmerz, der sich wieder einmal in seinem Herzen bemerkbar machte, verschwand im Hintergrund, als er die gleichermaßen verdutzten Gesichter der beiden anderen Männer sah. Für ein paar Sekunden herrschte Stille. „Der, den Ray dir vor einiger Zeit überbracht hat?“ fiel es Crimson ein. „Ein magischer Löffel?“ fragte Malice interessiert. Soach musste kichern – endlich hatten sie mal etwas gemeinsam. „Ja, genau der, und magisch ist er wahrscheinlich auch.“ „Er muss noch irgendwo zu holen sein,“ meinte Malice ernst. „Ja, ich habe nur vergessen, wohin dieser Taschenzauber führte,“ gestand Soach. „Den benutze ich schon so lange.“ Ein weiteres Mal erwischte er sich dabei, dass er von Zaubern, die er in Gebrauch hatte, und seiner Magie generell redete, als existierte das alles noch. Er bezeichnete sich selbst immer noch als Chaosmagier oder Chaoshexer, konnte sich nicht wirklich eingestehen, dass er keiner mehr war. Es geschah meistens auf einem unbewussten Level, aber wenn er darüber nachdachte, weigerte er sich ebenfalls, sich anders auszudrücken. Dabei wusste er, dass es manchmal besser war, einen Verlust zu akzeptieren und vorwärts zu gehen, statt immer zurück zu blicken. Ihm kam Rahzihf in den Sinn mit seinem verlorenen Arm. Doch dieser hatte Ersatz gefunden, mit dem er gut zurechtkam. leider gab es solche Prothesen wohl nicht für ausgebrannte Magier. „Ey!“ Malice schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern und weckte ihn damit aus seinem Tagtraum. „Hier, probier die halt mal an!“ Er hielt die Stiefel hoch. Soach nahm das Paar entgegen und stellte fest, dass sich an den Knöcheln kleine Zierflügelchen befanden. Die Sohle sah golden aus. Eventuell waren sie ihm etwas zu klein, überlegte er. „Setz dich mit den Dingern lieber hin,“ riet Malice ihm. „Man muss sich erst dran gewöhnen, sie lassen einen knapp überm Boden schweben!“ „Ach, wirklich?“ Soach setzte sich auf einen Sessel und probierte die Stiefel an. Erst waren sie wirklich zu eng und sein großer Zeh fühlte sich sehr gestaucht an, aber nach wenigen Sekunden passten sie sich seiner Größe an. Soach erkannte einen leichten magischen Schimmer, der die Stiefel nun umgab. Dieser verblasste, als das Schuhwerk sich perfekt seinen Füßen angepasst hatte. Der Prinz erhob sich und schritt probeweise auf und ab. „Hm, sie sind bequem.“ Malice hob eine Augenbraue. „Merkst du nichts? Ich bin fast auf die Schnauze geflogen, als ich sie zum ersten Mal anhatte.“ Soach blickte an sich herunter, bewegte noch einmal testweise die Füße und schüttelte den Kopf. „Vielleicht werden sie von der Magie des Benutzers gespeist,“ vermutete er bedauernd. „Und vielleicht hatten sie gerade so viel übrig, dass sie jetzt passen.“ Malice zuckte mit den Schultern. „Naja, hat Vorteile, würde ich sagen.“ „Ja... scheint so,“ seufzte Soach. Er zog die Stiefel erst einmal wieder aus, nahm von Crimson ein schlichtes, weißgebleichtes Hemd entgegen, das der Magier aus dem Stapel herausgesucht hatte, und hielt es an seinen Oberkörper. „Das müsste gehen. Hast du auch eine Hose?“ Sie fanden eine geeignete in hellem Braun, und Soach zog sich unzeremoniell um. Dieses Mal dachte er daran, dass seine Haare kürzer waren, und verkniff sich die Bewegung, mit der er sie normalerweise aus dem Kragen zog. Im Anschluss fühlte er sich zumindest wieder präsentabel, obwohl er wie ein Bauer mit magischen Stiefeln aussah. Crimson stapelte die restlichen Sachen neben dem Bett, wo die Dienstmädchen sie finden konnten. Malice indessen sammelte seinen Kram wieder ein. Ein paar Schulterpanzer und Beinschützer, die viel zu groß für die Öffnung aussahen, verschwanden in seiner Gürteltasche. Kurz darauf rief jemand alle Anwesenden zum Essen, und Soach hatte seinen ersten Auftritt nach dem beinahe tödlichen Anschlag... Es gab Gulasch mit Gemüse. Und es schmeckte köstlich, dafür dass der Koch ziemlich grimmig ausgesehen hatte. Blacky ließ sich durch die seltsame Stimmung am Tisch nicht den Appetit verderben. Alle Paar Minuten entstand ein kurzes Gespräch und starb wieder ab. Von einer gemütlichen Runde konnte nicht die Rede sein. Er saß neben seinem Vater, welcher den ersten Platz zu Crimsons rechter Hand innehatte, sehr symbolisch. Dem neuen Herrn gebührte natürlich der Kopf der Tafel, was ihm einen guten Überblick verschaffte. Anfangs hatte Crimson etwas unsicher deswegen gewirkt, aber nun schlug er sich ganz gut. Dark saß auf Blackys anderer Seite, dann kamen Fire, Onkel Ray, Tante Fuma, Edin und Neo. Gegenüber, links von Crimson, befanden sich Oma Charoselle und Opa Ishzark sowie Tante Iquenee, Vindictus, Malice und Black Luster. Die restlichen Plätze besetzten Ishzarks und Iquenees Soldaten und Soldatinnen, die Blacky nicht alle namentlich kannte. „Wo ist Ujat?“ fragte Ray den alten Heiler. „Ach, das weißt du nicht?“ entgegnete Vindictus. Beide lachten, und ein paar Stimmen fielen verhalten mit ein. „Er ist endlich mal eingeschlafen, da wollte ich ihn nicht wecken.“ „Ist das der Mann, der das Leben meines Sohnes gerettet hat?“ begehrte Charoselle zu erfahren. „Bedauerlich, dass er nicht hier ist, sonst hätte ich ihm danken können.“ „Die Gelegenheit wird sich sicherlich noch ergeben, Lady,“ sagte Vindictus. Das Gespräch geriet wieder ins Stocken. „Mama, ich bin fertig, darf ich raus gehen?“ ließ sich Edin bald darauf vernehmen. Blacky beobachtete, wie seine Großmutter misstrauische Blicke in die Richtung warf. „Warte lieber noch etwas,“ flüsterte Fuma dem Jungen zu. „Es ist höflich zu warten, bis alle fertig sind.“ „Aber das kann ja noch dauern!“ nölte das Kind. „Und ich dachte, die Araes erziehen ihre Kinder gut,“ murmelte Charoselle wie zu sich selbst, aber laut genug für alle. Soach wählte diesen Moment, um laut zu rülpsen. Er füllte sein Glas nach. „Ey, das kann ich auch!“ rief Edin. Er rülpste nicht ganz so laut. „Edin!“ zischte seine Mutter, warf aber im Anschluss der älteren Frau einen giftigen Blick zu. „Kinder, Kinder, ich zeig euch mal, wie man das--- Au!“ Ishzark wurde von einem heftigen Ellenbogenstoß seiner Frau unterbrochen. Iquenee schlürfte laut die Soße von ihrem Teller. „Woah, lecker! Ich esse so selten in so feiner Gesellschaft, meistens fangen wir irgendwas und braten es über einem Feuer. Da darf man nicht wählerisch sein. Einmal war ich mit meiner Truppe in der Wüte unterwegs, und wir hatten seit drei Tagen nichts gegessen. Da fanden wir einen toten Riesenwal, dessen Gedärme aus einem Schlitz am Bauch raushingen und schon ganz eklig rochen. Ameisen krochen auf ihm herum und Geier kreisten am Himmel...“ Edin klebte förmlich an ihrem Mund. „Und habt ihr das gegessen?“ „Nein, wir waren hungrig, aber nicht lebensmüde,“ stellte die Generälin mit erhobenem Zeigefinger klar. „Iss nie etwas, das du schon lange riechst, bevor du es siehst.“ „Wir dachten außerdem, es sei eine optische Täuschung,“ schaltete sich Milenna, eine ihrer Kriegerinnen, in das Gespräch ein. „Ich meine... ein Wal in der Wüste...“ „Ich hätte mich eher gewundert, woher die Ameisen kamen,“ bemerkte General Raiho. „Wir haben es jedenfalls nie erfahren, aber vielleicht hat den Wal ein Drache fallengelassen, weil er ihn nicht mehr tragen konnte,“ beendete Iquenee ihre Geschichte. Und vielleicht war es auch nur das – eine Geschichte, um die Kameraden zu unterhalten. Blacky kannte Krieger, die am Lagerfeuer von Abenteuern erzählten, die er selber miterlebt hatte, und da hatte dann das schreckliche Monster nicht nur zwei, sondern sechs Köpfe und war auch plötzlich dreimal so groß. Insofern verwunderte es nicht, als nun einer von Raihos Gruppe anfing, von einem Riesen zu erzählen, dessen Mundgeruch Stahl schmelzen konnte. „Jeder weiß, dass das nicht am Geruch liegt,“ warf Luster ein. „Sie speien ganz feine Tröpfchen Speichel aus, die ätzend sind.“ „Man muss ihnen nach Möglichkeit einen großen Klumpen Kalk in den Rachen schmeißen,“ fügte Malice hinzu. „Aber man kann den Sabber auch in Flaschen abfüllen und mitnehmen, um irgendwo ein Schloss wegzuätzen!“ Lady Charoselle verdrehte kopfschüttelnd die Augen. Blacky fragte sich, ob es sie wohl viel Beherrschung kostete, nicht selbst einen Schwank aus ihrer Jugend zum Besten zu geben. Aus dem Augenwinkel sah er neben sich Dark lächeln. Der Schwarze Magier schien sich mühsam zu beherrschen, um nicht die Fassung zu verlieren. Blacky wandte seinen Blick Crimson zu. Der Weißhaarige ignorierte all das Geplänkel oder tat zumindest so. Auch Fire hatte noch nichts gesagt. Aber Blacky wusste, dass sein Bruder sich praktisch ununterbrochen auf die Zunge biss, um nichts gegen die neue Tante oder Onkel Ray zu sagen. Soach neben ihm schwieg ebenfalls die ganze Zeit, aber Blacky brauchte nicht hinzusehen, um sich seiner Wachsamkeit bewusst zu sein. Sein Vater beobachtete, schien sich aber nicht unbedingt in den Vordergrund drängen zu wollen. Die Unterhaltung am Tisch wurde nun von den Soldaten bestritten, die weitere Geschichten zum Besten gaben. So blieb es wenigstens nicht so bedrückend still. Alle Episoden beschrieben eklige Zwischenfälle des normalen Soldatenlebens, als versuchten sie, den letzten Essern den Appetit zu verderben. Das war jedoch unnötig. „Jetzt haben aber alle fertig gegessen!“ plärrte das Kind. „Darf ich jetzt endlich aufstehen?“ Seine Mutter musste es ihm erlauben, schließlich wäre es erziehungstechnisch unklug gewesen, sich nun eine andere Ausrede einfallen zu lassen. Sofort sprang Edin von seinem Stuhl, rannte zu Soach und packte seinen Arm. „Onkel Soach! Ich will dir was zeigen, komm mit!“ Charoselle schoss von ihrem Platz hoch, doch Blacky konnte rechtzeitig über den Tisch greifen und ihren Arm packen, damit sie sich beruhigte. „Er ist nur ein kleines Kind, Oma.“ Edin hatte den Zwischenfall anscheinend nicht bemerkt. Er zerrte an Soachs Hemd, bis dieser sich erhob und zustimmte. „Soll ich mitkommen?“ rief Crimson den beiden zu und kam Blacky damit zuvor. „Nein, viele Leute sind nicht gut!“ protestierte Edin. „Was willst du ihm zeigen?“ wollte Charoselle in scharfem Tonfall wissen. „Nur mein Haustier, Motti. Er hat aber Angst vor zu vielen Fremden.“ „Ist er gefährlich?“ fragte die Herrscherin weiter. Edin lächelte strahlend. „Ach was, der ist doch noch ganz klein und tut nichts! Er spielt so gerne und will immer gestreichelt werden.“ „Ich komme schon klar,“ versicherte Soach und ließ sich wegziehen. Blacky konnte die starke Verbindung seines Vaters zu Crimson in der Luft glitzern sehen und lehnte sich beruhigt zurück. Vielleicht tat es Soach gut, Zeit mit einem Kind zu verbringen. Soach ließ sich gerne von dem Kleinen mitziehen, und ehe er sich versah, verließen sie das Haus durch einen Bediensteteneingang auf der Rückseite und eilten auf den Wald zu. „Du hast dich so für unsere Tiere interessiert, als du krank warst, deswegen will ich dir Motti zeigen,“ verkündete Edin. Er marschierte auf einem oft benutzten Trampelpfad hinein in die Dunkelheit der Bäume, Soachs rechten Zeigefinger fest mit einer Hand umklammert. Ganz offensichtlich kannte er sich in dem Gebiet aus. Auf einer kleinen Lichtung blieben sie stehen. Viel heller war es aber nicht, denn das Blätterdach lichtete sich zwar, aber mehrere Zweige wuchsen dennoch über die Lichtung und ließen nur ein kleines Loch offen, durch das der Himmel zu sehen war. Edin legte die Hände trichterförmig vor den Mund. „Motti! Moooottiiiii!“ „Ist dein Haustier ein Hirsch oder so?“ erkundigte Soach sich. „Wirst du ja gleich sehen!“ Der Junge sah zu ihm auf und grinste breit, wie es Kinder tun, wenn sie hoffen, gleich jemanden beeindrucken zu können. Im Gehölz bewegte sich etwas. Es schien sich aber nicht nur um ein Tier zu handeln, sondern um mehrere, und zwar um große und schwere. Der Boden bebte, und die Geräusche von mächtigen, schnell laufenden Füßen erklangen. Soach spürte plötzlich sein Herz pochen und schluckte, damit es sich wieder an den ihm zugewiesenen Platz begab. Dann brach ein haushohes, dunkelrosafarbenes Geschöpf auf der gegenüberliegenden Seite aus dem Schatten der Bäume. Edin stand zwei Kinderschritte vor Soach, aber der Prinz ergriff das Kind, stellte es hinter sich und wandte sich dem Feind zu. Sein Atem kam schneller, wie auch sein Herzschlag, als ein Behemoth auf ihn zustapfte und dabei ein sabberndes, zähnebewehrtes Maul zu einem Brüllen aufriss. Soach wusste, dass die einzige Chance, eine solche Begegnung zu überleben, in dreister Arroganz bestand, denn Flucht bewirkte eine Einsortierung ins Beuteschema. Dennoch merkte er, wie seine Knie nachzugeben drohten und ein Bein automatisch nach hinten wollte. Nur die Tatsache, dass er ein kleines Kind dabei hatte, hielt ihn unbeweglich auf der Stelle. Kurz darauf mischte sich ein anderes Bewusstsein mit seinem. Die Unsicherheit wich der Überzeugung, dass der Behemoth niemanden fraß, der ihn direkt ansah. Soach schaffte es, standhaft zu bleiben. Sekunden nach dem Auftritt des großen Ungeheuers erklang ein weiteres Geräusch, das eher an einen jaulenden Hund erinnerte. Zu den Füßen des Behemoths preschte eine kleinere Ausgabe von ihm heran. Zugleich kam Edin hinter Soach hervor und lief mit ausgebreiteten Armen auf das Geschöpf zu, welches immerhin die Größe von Meras der Schlosskatze hatte. „Motti!“ kreischte der Kleine vergnügt und schlagt die Arme um den Baby-Behemoth, der sich an ihn drückte und seine Ohren abschleckte. Soach war so verdutzt, dass er sich unbewusst entspannte und den größeren Behemoth für den Augenblick vergaß. Motti sah aus wie ein haarloser, besonders kräftiger Wolfshund. Seine Haut war rosa, nur im Nacken zeigte sich der Ansatz der späteren lila Mähne. Hörner und andere stachelige Teile ließen sich in Ansätzen erahnen. Aber das kleine Biest hatte schon furchteinflößende Krallen und Zähne. Edin spielte mit ihm wie mit einem harmlosen Häschen. Geräusche weiter im Wald wiesen auf Artgenossen hin, die sich aber nicht zeigten. [Soach... alles in Ordnung?] nahm Crimson mit ihm Kontakt auf. Soach ließ seinen Blick zu dem großen Behemoth schweifen, der beobachtete, wie das Junge und das Kind zwischen seinen Beinen herumtollten. [Ich... glaube, ja.] Er wankte zu einem umgestürzten Baum und setzte sich auf den dicken Stamm. Was eben passiert war, konnte eigentlich nicht wahr sein, schließlich hatte er einen Drachen zum Freund. Einen von der großen, zerstörenden Sorte. Andererseits kannte er Gandora seit seiner Kindheit, gerade wie Edin seinen kleinen Behemoth. Mit Drachen kannte Soach sich aus. Drachen konnten in ihm nicht diesen Effekt auslösen, den der Behemoth eben hervorgerufen hatte. Offensichtlich zog die Ausbrennung ungeahnte Folgen nach sich. Soach rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. Ich hatte Angst... Kapitel 20: Die Ehrwürdige Dsasheera ------------------------------------ Nach seiner Erfahrung mit dem Behemoth kam es Soach vor, als trage er ein Schandmal im Gesicht, das zweifellos jedem sofort auffiel. Zumindest Edin bemerkte allerdings nichts, sondern folgte ihm fröhlich zurück ins Haus, als Soach meinte, es werde langsam Zeit. „Du musst uns bald wieder besuchen, oder vielleicht kommen wir ja mal zu dir!“ strahlte das Kind. „Ray ist ein viel besserer Papa als Vater!“ Offenbar bezeichnete er Lord Arae mit dem Namen Vater, fiel es Soach nach einem kurzen Moment der Verwirrung auf. Drinnen herrschte Aufbruchstimmung. Alle Abreisenden gingen bereits zur Vordertür, nur Crimson wartete noch auf seinen Magier... ähm, temporär verhinderten Magier. Ja, das klang gut. Soach bekam Gelegenheit, sich von zurückbleibenden Freunden und Verwandten zu verabschieden. Ray umarmte ihn herzlich. „Danke für deine Unterstützung.“ „Die Frage ist, wer hier wen unterstützt hat.“ Soach klopfte ihm auf die Schulter. „Lass dich nur nicht auf deinem Weg beirren.“ „Sie ist die Richtige, ganz sicher,“ flüsterte Ray, so dass Fuma, die ein paar Meter entfernt dem aufgeregten Bericht ihres Sohnes lauschte, nichts hörte. „Das wird sie hoffentlich noch erkennen.“ „Nein, sie muss erkennen, dass du der Richtige bist,“ grinste Soach. Von Fuma verabschiedete er sich eher knapp, da sie ihm noch immer misstrauisch gegenüberstand, und auch bei Edin fasste er sich kurz in ihrer Gegenwart. Dann hatte Rahzihf noch rasch seinen Auftritt. Der Krieger räusperte sich umständlich und mied seinen Blick. „Ähm, Prinz Soach... bitte nehmt diesen Umhang für unterwegs, ich entsinne mich, dass Ihr bei Eurer Ankunft einen getragen habt.“ Er hielt ein dunkelbraunes Stoffbündel vor sich. „Ich, äh, habe ihn fast nie benutzt, wisst Ihr, weil der alte mir irgendwie schon zu einer zweiten Haut geworden ist.“ Soach entfaltete den Umhang und erkannte einen hochwertigen, dicken Stoff. „Danke, Rahzihf. Der wird mir in der Flughöhe von Gandora sicherlich nützen.“ Eigentlich spielte es bei Gandoras Flugstil generell keine Rolle, was er trug, denn Umhänge standen für gewöhnlich waagerecht von ihm ab, dafür heizte der Drachenkörper seinen Reiter gut auf. Dennoch wusste er die Geste zu schätzen, immerhin reiste er ja nicht immer so rabiat. Er legte das Kleidungsstück an, während sie zum Ausgang schritten. Dennoch fühlte er sich nicht viel sicherer, als sie ins Freie traten, wo in einiger Entfernung schon mehrere Drachen mit Reitern auf den Abflug warteten. Was, wenn ich nun auch vor Gandora plötzlich Angst habe? Crimson wandte sich dem Drachen zu, auf dem er gekommen war, während Soach noch suchte. Sein Drache befand sich nicht in seinem Blickfeld. Möglicherweise behielt er noch seine kleine Gestalt bei... Nein, er kam in enger werdenden Kreise geflogen und brüllte, dass die Luft bebte. Dann ließ er sich bedrohlich nahe vor Soach auf den Boden fallen, erschütterte den Untergrund und hinterließ vermutlich imposante Abdrücke. Er riss das Maul auf und brüllte erneut. Soach konnte ihm tief in den Rachen blicken und seine letzte Mahlzeit riechen. Er nahm einen Zipfel des Umhangs und wischte sich durchs feuchte Gesicht. „Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen, alter Freund.“ Gandora senkte die Schnauze zum Boden und ließ sich an der Oberseite des Kopfes streicheln. Er stubste Soach ein wenig an, so dass der Prinz nach hinten treten musste, um das Gleichgewicht zu halten. Soach lehnte seine Stirn gegen den Drachenkopf. Gandora ließ ihn wissen, dass nichts diese Freundschaft gefährden konnte, obgleich es allgemein hieß, dass ein Drache niemanden respektierte, der Angst vor ihm zeigte. Was das anging, konnte Soach ihn beruhigen. Nichts konnte ihn dazu bringen, sich vor Gandora zu fürchten, das wusste er jetzt. „Soach, bist du soweit?“ rief Crimson. Ishzarks Gruppe erhob sich bereits in die Luft. Die Damen um Charoselle machten sich bereit, ihnen zu folgen, es sah aber ganz so aus, als warteten sie auf die beiden Männer vom Lotusschloss, um sie dann in die Mitte zu nehmen. „Ich komme schon,“ antwortete Soach und kletterte auf den vertrauten Drachenrücken. Manchmal, so auch jetzt, kam es ihn so vor, als hätte Gandoras Nackenbereich eine leichte Einbuchtung ausgebildet, wo er genau hinpasste. Gandora sprang in die Luft wie ein Kaninchen auf eine Mauer, fast senkrecht und mit einem Ruck. Soach passte sich der Bewegung an, ohne darüber nachzudenken. Er lehnte sich vor und schmiegte sein Gesicht an die Schuppen. Die restlichen Mitreisenden ließen ihre Drachen starten, doch er nahm nur am Rande wahr, wer sich wo aufhielt. Sie reisten bequem, ließen die Drachen oft segeln und machten mehrere Pausen. Soach vermutete, dass Crimson das für ihn so regelte. Er beschwerte sich gewiss nicht. Die Reisegeschwindigkeit widersprach seinen Vorlieben, jedoch fühlte er sich momentan nicht wohl bei dem Gedanken, sein Leben durch einen Sturz vom Drachen zu beenden. Die Gruppe erreichte Schloss Lotusblüte am frühen Abend. Luster hatte es sich nicht nehmen lassen, Ishzark zurück zu fliegen, aber er und Malice reisten dann ab, um ihren Terminplan mit dem Drachenhauchorden einhalten zu können. Während der Praktikant grinsend in die Runde winkte, verabschiedete sich Luster mit zahlreichen Dankesbekundungen und Ehrerbietungen von Ishzark. Fast schien er in Tränen der Glückseligkeit auszubrechen. „Es war mir eine solche Ehre, mit Euch zusammenarbeiten zu können, Lord Ishzark! Wenn Ihr mich jemals wieder brauchen solltet, zögert nicht, es mir zu sagen!“ „Ich werde daran denken,“ versprach der ältere Krieger. Crimson sah zu, wie die beiden am Horizont verschwanden, Luster als Drache und Malice auf einem weiteren Drachen. „Zum Glück bin ich den Mistkerl los,“ grummelte er vor sich hin. Die anderen hingegen lud er ein, die Nacht zu bleiben, da es für die meisten schon zu spät war, um noch bis nach Hause zu reisen. Fawarius war mit von der Partie. Anders als Rahzihf hatte er sich entschieden, erst einmal Crimson zu folgen. Der Alchemist kam zu Soach, als dieser von seinem Drachen rutschte. „Eure Hoheit...“ Er blickte sich nervös um. „Entschuldigt, wenn ich Euch zur Last falle. Ähm... ich sorge mich um Nizahr, meinen Sohn. Er ist noch nicht zurück gewesen, als wir abreisten. Ich sprach mit General Iquenee, weil ich mich nicht wirklich an Eure Mutter wenden wollte...“ Das verstand Soach, denn seine Mutter wirkte oft sehr einschüchternd. „Ich werde mit ihr reden, aber ich bin sicher, dass es Eurem Sohn gut geht. Sie hatte gar keine Zeit, ihm etwas anzutun.“ Sein Blick wanderte zum Alchemieturm. „Darf ich Euch vielleicht auch um einen Gefallen bitten?“ Crimson sah sich kurz um, ehe er sein Schloss betrat. Die Leute sortierten ein wenig Gepäck oder teilten sich in ihre Gruppen auf, und Soach redete mit Fawarius. Der Schlossherr nutzte die Gelegenheit, in der Eingangshalle die Hände auszustrecken und sich wieder in das Seelensystem einzuklinken. Inzwischen konnte er das im Schlaf, was ihn wieder daran erinnerte, dass die Beseelung sich bald jährte. Er überprüfte die Schlossfunktionen und ließ sich von Catherine wichtige Neuigkeiten mitteilen. „Die neue Heilerin ist eingetroffen,“ sagte der Geist, als er neben ihm Gestalt annahm. „Eine recht eigenwillige Person, wenn du mich fragst.“ „Ist das die, die Vindictus besorgen wollte?“ hakte Crimson nach. „Ja, aber sie redet nicht mit mir. Ich habe es Lily überlassen, ihr alles zu zeigen. Mir scheint, sie und Vindictus kennen sich von früher.“ Crimson nickte diese Information ab. „Ich habe etwa zwanzig Gäste mitgebracht. Die meisten sind Soldaten. Sorge dafür, dass sie Quartiere zugeteilt bekommen. Oh und frag Soach, wo seine Eltern hin sollen. Er müsste auch gleich kommen, unterhält sich noch mit dem Alchemisten, den wir von den neuen Länderreien mitgebracht haben.“ Das klang irgendwie... überlegen. Es gefiel Crimson. „Fawarius braucht eine dauerhaftere Unterkunft. Er wird ein paar Wochen hier bleiben. Ich werde noch ein paar Einzelheiten mit ihm besprechen, aber nicht heute.“ Heute wollte er nach dem Abendessen ins Bett und seine Ruhe haben. Er wartete noch auf Soach. Als dieser das Schloss betrat, tauschten sie einen kurzen Blick aus, der ausreichte, um sich auf ein Ziel zu verständigen. Gemeinsam spazierten zum Krankenflügel, um sich die neue Heilerin anzusehen und Lily zu beruhigen. Sie hatten das Ziel noch nicht erreicht, als ihnen die Fee auch schon buchstäblich entgegen geflogen kam und sich Soach an den Hals warf. Dann drückte sie sich einfach nur fest an ihn. Crimson sah die Tränchen in den Augen glitzern und ging taktvoll weiter, ließ den beiden etwas privaten Raum. Als er die Tür zur Krankenstation hinter sich schloss, klapperte es im hinteren Bereich. „Einen Moment, ich muss etwas fertigstellen,“ rief eine Stimme, die nach Autorität klang. Das hatten viele Heiler so an sich, er dachte nur an Vindictus' Herumkommandiererei, und sogar Lily konnte ganz schön biestig werden, wenn sich jemand nicht an ihre ärztlichen Anweisungen hielt. Umso mehr überraschte ihn die kleine Frau, die schließlich an den Betten vorbei auf ihn zu kam. Sein erster Gedanke war, dass sie eine Amazone sein musste – eine Schamanin, um genau zu sein. Die Kleidung zeigte das deutlich. Sie trug ein figurbetontes Kleid aus Leder und kniehohe Stiefel aus dem gleichen Material. Um den Hals hing eine auffällige Kette aus kleinen glatt geschliffenen Knochen, Holzstücken und Edelsteinen, wobei nichts davon richtig rund war. Dazwischen gab es einige Raubtierzähne. Schmuck im gleichen Stil zierte ihre Oberarme und Fußknöchel, aber nicht ihre Handgelenke. Als Alchemist dachte sich Crimson sofort, dass sie wohl das Risiko vermeiden wollte, dass das Zeug bei ihrer Arbeit störte. Ein paar Federn steckten in ihrem Haar. Selbiges war weiß vom Alter und streng zu einem langen Zopf zurückgebunden. An dem dafür benutzten Lederband steckten einige verschiedene Federn. Aus einem von Falten zerklüfteten Gesicht starrten ihn zwei stahlblaue Augen kritisch an. „Du bist also der Schlossherr,“ stellte sie fest. Obwohl sie ihm nur bis zur Brust reichte, fühlte Crimson sich von oben herab gemustert. „Ja... ich heiße Crimson,“ sagte er und erinnerte sich noch rechtzeitig daran, grüßend den Kopf zu neigen. Bei Amazonen konnten man nie wissen, wie sie reagierten, wenn sie sich nicht mit gebührender Höflichkeit behandelt fühlten. Ihr Blick glitt an ihm herab und wieder hinauf. „Ich hörte, deine Mutter sei eine Amazone? Amazia?“ Er nickte. Sie musterte ihn erneut, und es kam ihm vor, als verkniffe sie sich nur aus Respekt vor einer Schwester einen bissigen Kommentar. „Amazia ist eine ganz passable Kämpferin, aber sie gehört nicht zu meinem Stamm,“ meinte sie schließlich. „Nun ja... als Magier taugst du wohl, wenn man den Geschichten glauben darf. Es ist immer ein gewisses Risiko, sich mit Magiern zu paaren, auch wenn das in meinem Stamm üblich ist, um die Nachfolge der Schamanin zu sichern. Keine Ahnung, was Amazia damit bezweckt hat. Und ich denke da nur an die arme Rohka...“ Crimson musste kurz in seinem Gedächtnis kramen, um darauf zu kommen, dass sie Erias Mutter meinte. Die war ja auch einem Magier zum Opfer gefallen, sozusagen. „Ähm... und Ihr seid?“ erkundigte er sich mit einem verkrampften Lächeln. Sie hob eine Augenbraue. „Dsasheera. Du darfst mich Ehrwürdige Dsasheera nennen. Alle anderen Männer in diesem Schloss müssen mich überhaupt nicht ansprechen.“ „Ähm, aber... Ehrwürdige Dsasheera... wie sollen sie Euch dann mitteilen, welche Beschwerden sie haben?“ wagte Crimson zu fragen. Die Alte sah ihn an, als hätte sie ein besonders widerliches Insekt vor sich. „Wieso sollten sie das tun? Ich bin wegen der schwangeren Fee hier, oder nicht?“ Das zumindest nahm er an. „Als... ihre Vertretung, solange sie als Heilerin ausfällt, dachte ich.“ Dsasheera runzelte missbilligend die Stirn. „Was meinst du damit? Jungchen, sie ist schwanger, nicht verkrüppelt! Sie wird ein Kind gebären, das ist schon alles. Wenn jede Frau aufhören würde zu arbeiten, nur weil sie ein Kind hat... ha!“ Jungchen? Crimson spürte eine Ader an seiner Stirn pochen. Zum Glück wusste er, wie Amazonen über Männer dachten, aber anscheinend potenzierte sich diese Meinung mit zunehmendem Alter. „Ähm... ich bin überrascht, dass Ihr schon hier seid... hat Euch Vindictus' Nachricht denn schon erreicht?“ versuchte er, Konversation zu betreiben. „Nein, ich bin hier, weil ich davon geträumt habe, dass er mir eine schreiben will,“ sagte sie. Für einen Moment fühlte er sich veralbert und suchte nach einer schlagfertigen Erwiderung, doch ihm fiel keine ein. Statt dessen ging ihm ein Licht auf. „Ihr... Ihr seid...“ Sie verschränkte die Arme. „Stotter nicht so rum, Jungchen! Und du willst der Schlossherr sein, also ernsthaft...“ Hinter ihm ging die Tür auf. „Hallo, Mutter.“ Die Shamanin verdrehte die Augen. „Da siehst du, warum ich von Magiern abrate. Ich habe sechs Kinder, fünf davon Töchter. Aber wer von ihnen erbt meine Gabe?“ „Das hat nichts damit zu tun, dass mein Vater ein Magier ist,“ meinte Ujat. „Eher damit, dass er Heiler ist und sich einen Sohn gewünscht hat.“ Dsasheera saugte heftig die Luft ein und riss entgeistert die Augen auf. „Unsinn! Das hätte ich gewusst! Außerdem war er noch jung, er hätte nicht... hmpf!“ Sie unterbrach sich. „Wie dem auch sei... gibt es noch etwas, Schlossherr? Sonst entschuldige mich bitte, ich habe noch zu tun.“ Sie machte auf der unbeschuhten Ferse kehrt und marschierte zurück in den Bereich, in dem Patienten nichts verloren hatten. Ujat wandte sich Crimson zu. „Mein Vater hat vorgeschlagen, dass Soach noch diese Nacht hier verbringt, aber unter den gegebenen Umständen habe ich davon abgeraten.“ „Äh, dann wusstet Ihr schon, dass sie hier ist...?“ Der Ältere seufzte. „In gewisser Weise. Ich muss mir das dringend wieder abgewöhnen, aber es macht zu viel Spaß... Vielleicht werde ich es einfach ausnutzen, solange es anhält.“ „Wird Soach seine Magie zurückbekommen?“ fragte Crimson impulsiv. Ujats Augen zuckten, ohne zu blinzeln, und es schien, als blickte er durch sein Gegenüber hindurch. „Nein,“ sagte er. „Der Krieger Rahzihf hat ja auch seinen Arm nicht zurückbekommen, nicht wahr?“ Als Lily sich an ihn schmiegte, fiel Soach ihr leicht vergrößerter Umfang auf, auch wenn sie es durch ihre Kleidung noch kaschieren konnte. Er streichelte ihren Rücken und atmete den blumigen Geruch ihrer Haare ein. Schon oft hatte er Frauen so gehalten, die seine Kinder in sich trugen, und er hatte Verantwortung übernommen, aber letzten Endes hatte es nie lange angehalten. Konnte es mit Lily anders werden? Sie gehörte immerhin keinem unbekannten Orden an einem einsamen Ort an, pochte nicht auf die Unabhängigkeit der Frau und hatte keine Verpflichtungen gegenüber ihrem Reich, ihrer Familie oder sonst jemandem – jedenfalls nicht, soweit Soach wusste. Vielleicht war es an der Zeit, das herauszufinden. „Lass uns nicht hier auf dem Flur herumstehen,“ schlug er vor. Sie nickte und zog ihn zu dem anderen Krankenzimmer, in dem eigentlich nur Betten und ein paar Regale mit Ausrüstung standen. „Setz dich auf ein Bett und lass dich ansehen... oh, dein schönes Haar, Soach...“ Sie strich über die unregelmäßigen Reste, dann über seine Wange. Er setzte ein Lächeln auf. „Aus medizinischer Sich sehe ich wohl schrecklich aus, was?“ „Nun ja, wie jemand, der gerade eine schwere Krankheit hinter sich hat.“ Sie hingegen schien viel geweint zu haben, so viel, dass jetzt keine Tränen mehr kamen. Und sie wirkte übernächtigt, wahrscheinlich vor Sorge um ihn. „Hat Catherine dir erzählt, was passiert ist?“ fragte er sie. „Er hat nur erzählt, dass du gefangengenommen wurdest, aber ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass mir alle etwas verschweigen. Naja, alle, die etwas wissen könnten, das waren ja nur Cathy und Shiro.“ „Da ja nun alles vorbei ist, kann ich es dir ja auch erzählen... Dieser Lord Arae wollte sich an meiner Mutter rächen, denn er ist der Sohn des Tyrannenherrschers, den sie damals gestürzt hat. Deshalb gab er mir Gift, so dass ich in ihren Armen sterben sollte, wenn sie kommt, um mich zu retten. Es lief dann aber etwas anders... Crimson kam und befreite mich, und der Lord starb im Kampf. Ich bekam das Gegenmittel, und das war es dann schon. Vindictus hat mich noch eine Weile im Bett bleiben lassen, du weißt ja, wie er ist.“ Das musste reichen, fand Soach. Lily runzelte skeptisch die Stirn. „Das klingt sehr harmlos, ich könnte fast annehmen, dass du mich nicht beunruhigen willst.“ „Ich habe vielleicht ein paar Details weggelassen,“ gab er zu. „Zum Beispiel das mit deinen Haaren,“ stellte sie fest. „Er schnitt sie mir ab, um sie mit einem Boten zu meiner Mutter zu schicken,“ gab Soach Auskunft, und das entsprach ja auch der Wahrheit. Lily seufzte. „Dass du immer denkst, du müsstest mich schonen... naja, vorerst bin ich froh, dass du lebend zurückgekommen bist. Aber sag mal... dieser Lord ist jetzt tot, kriegen wir da nicht irgendwie Ärger?“ Er grinste. „Doch, der Zirkel des Bösen will an seiner Stelle Crimson aufnehmen, aber sie müssen noch abstimmen, also erzähl es nicht gleich rum.“ „Du willst Mitglied der Organisation werden, die dir... äh...“ „Sprich es ruhig aus, Lily.“ „Die dir die Magie genommen hat.“ Wenn sie es sagte und nicht er, konnte Soach die Information an sich abprallen lassen, als wäre es nur ein verbreiteter Irrtum. „Ja, so sieht es aus,“ nickte er. „Sie haben mich auch hierher geschickt, vergiss das nicht.“ „Das war wohl eine der besseren Ideen dieser Leute,“ stimmte sie zu. „Aber bringt uns das nicht einen Haufen Feinde ein, wenn wir zu ihnen gehören?“ „Auch neue Verbündete,“ entgegnete Soach. „Jetzt mach dir doch nicht immer so viele Sorgen.“ Wenigstens schien sie vergessen zu haben, ihn nach weiteren Einzelheiten der letzten zwei Tage zu befragen. Er musste erst einmal selbst all diese Erinnerungen ordnen, denn als es geschah, hatte er kaum darüber nachdenken können. Hatte er wirklich seiner Mutter versprochen, sie zu beerben, wenn sie das wollte? Dieses Problem konnte er noch eine Weile verdauen, bevor es ernst wurde. Allerdings fiel ihm etwas anderes ein. „Meine Eltern sind mit hierher gekommen. Wir sollten ihnen von dem Baby erzählen.“ Lily schreckte plötzlich zusammen. „Ohje, ich habe vergessen, den Brief abzuschicken! Möglicherweise ist er noch gar nicht fertig... es war so viel los... Naja das ist vielleicht besser, ich wusste eh nicht so recht, wie ich das alles formulieren sollte.“ „Habe ich erwähnt, dass Ray die Witwe von Arae zur Frau genommen und den Sohn adoptiert hat?“ warf Soach ein. „Mutter war außer sich. Bestimmt wird es sie freuen zu hören, dass sie einen weiteren legitimem Erben erwarten kann, der tatsächlich blutsverwandt mit ihr ist.“ „Dann lass uns gleich gehen, ich will es hinter mir haben,“ bat Lily. „Sonst bin ich die ganze Zeit nervös...“ Soach konzentrierte sich kurz auf die Schlossmauern, um seine Eltern zu suchen. Im allgemeinen Trubel der ankommenden Personen waren sie noch nicht weiter gekommen als in die Eingangshalle, wo Fire die Gelegenheit nutzte, ihnen Eria vorzustellen. Das passt ja, dachte Soach. Der Weg war nicht weit, somit näherten sie sich gemütlich und Hand in Hand. Als sie die plaudernde Gruppe erreichten, welche aus Charoselle, Ishzark, Iquenee, Fire und Eria bestand, waren alle gerade am Gratulieren. „Somit bekomme ich mein erstes Urenkelkind!“ freute der Herrscher der Eisigen Inseln sich. „Wer hätte gedacht, dass es von dir ist, Fire! Aber Soach war nicht älter als du jetzt, als er Kayos bekam... glaube ich wenigstens.“ „Das hatter doch gar nicht gewusst, oder?“ hakte Fire nach. „Nein, ich erfuhr es erst vor fast zwei Jahren,“ nutzte Soach die Gelegenheit, sich in die Unterhaltung einzubringen. Die Aufmerksamkeit wandte sich ihm zu. Fire grinste und zog Eria zur Seite. Soach kam gleich zur Sache. „Ich möchte euch Lily vorstellen. Sie ist ebenfalls schwanger – von mir.“ Seiner Mutter klappte die Kinnlade herunter. Ishzark hob eine Augenbraue. Iquenee hingegen reagierte völlig ungewohnt: Sie umarmte ihn und quiekte dabei vor Freude. „Ist ja witzig, herzlichen Glückwunsch, Bruder! Dann kann es ja mit seinem Neffen oder seiner Nichte im Sand buddeln!“ Sie ließ von ihm ab und umarmte Lily. „Willkommen im Kreise derer, die es mit ihm aushalten, meine Liebe.“ Ishzark räusperte sich und fand seine Stimme wieder. „Ja, herzlichen Glückwunsch, Junge!“ „Äh... sie ist eine Fee, nicht wahr?“ fragte Charoselle vorsichtig. „Ist damit etwas nicht in Ordnung?“ fragte Soach zurück. Sein Unterbewusstsein läutete die Alarmglocke, nachdem Ray so sehr für seine Lebenspartnerin kritisiert worden war, und seine Stimme klang ein wenig schärfer als beabsichtigt. „Lass nur, Soach,“ sagte Lily. „Deine Mutter ist eine Unterweltlerin. Ihre Reaktion war abzusehen.“ „Ich war nur überrascht,“ stellte Charoselle klar. „Ich kenne dich ja vom Sehen, Lily, schließlich bin ich nicht zum ersten Mal hier. Aber ich habe dich nie als potentielle Mutter meiner Enkelkinder betrachtet... Soach bevorzugte bisher einen anderen Frauentyp.“ Lilys ablehnende Haltung schien völlig zu verfliegen und weiblichem Interesse zu weichen. „So? Magierinnen, schätze ich.“ Die Ältere zögerte. „Nun ja, wie soll ich sagen... starke Frauen. Nicht so eine sanftmütige Heilerin.“ Ein bisschen abseits fingen Eria und Fire schallend an zu lachen, und auch Soach spürte, wie seine Mundwinkel sich nach oben bewegten. Seine Mutter hatte Lily noch nie als ihre behandelnde Ärztin erlebt. Die Fee zuckte mit den Schultern. „Mir war gar nicht bewusst, dass ich besonders sanft zu ihm war, wenn er verletzt im Krankenflügel auftauchte.“ „Das ist mir auch nicht aufgefallen,“ presste Soach mit einem amüsierten Räuspern hervor. „Ich frage mich, ob das Baby Flügel haben wird!“ lenkte Ishzark das Thema in ungefährlichere Bahnen. „Vielleicht nicht, seine meisten Kinder sind Magier,“ meinte Charoselle. „Nun, das schließt Flügel nicht aus, oder?“ beharrte ihr Mann. „Hat nicht Dark welche, der Partner von Kayos und Herr von Drachenfels?“ „Nun ja...“ Charoselle rieb sich das Kinn. „Seine Mutter hat auch Flügel, nicht wahr? Dann nehme ich an, dass Lily ebenfalls geflügelte Kinder bekommen kann. Da du halb Unterweltler bist, Soach, hast du auch die Chance, dass es ein kleiner Unterweltler wird.“ „Wieso habe ich das Gefühl, dass dich das freuen würde?“ platzte Soach heraus und bereute das sogleich, denn nun kamen sie wieder zurück zu dem heiklen Thema. „Das würde ich lustig finden,“ meinte Lily, womit sie ihn ziemlich überraschte. „Meine Eltern würden wahrscheinlich durchdrehen!“ Das zumindest sorgte für einen allgemeinen Lacher. „Ich werde jetzt erst einmal nachschauen, wo wir untergebracht sind,“ verkündete Iquenee. „Vielleicht können wir vor dem Abendessen schnell in euer tolles Bad einkehren?“ „Sicher, es kann aber sein, dass es nicht leer ist,“ warnte Soach sie. „Mein Bruder, ich bin Kriegerin, mir ist es ganz egal, wer sonst noch dort ist.“ Sie grinste ihn neckisch an und marschierte davon. „Ich glaube, wir schließen uns an,“ entschied Ishzark. „Wir sehen uns beim Essen.“ Als die drei außer Hörweite waren, sagte Fire: „Also kriegt ihr am besten nen Magier, sonst sind irgendwelche Eltern sauer.“ „Das sind meine vermutlich sowieso,“ seufzte Lily. „Ich konnte ihnen noch nie etwas recht machen, aber ich habe trotzdem immer getan, was ich für richtig hielt. Vermutlich werden sie auf meinen Brief überhaupt nicht reagieren.“ „Mann, ich hab's echt gut,“ stellte Fire fest. „Meine Eltern beschwer'n sich kein Stück. Sach mal, Eri, haste eigentlich deinem Vadder gesagt, dass du schwanger bist?“ „Uhm... dazu konnte ich mich noch nicht überwinden, aber ich ließ ihm ausrichten, dass er mich besuchen soll, sobald er Zeit hat,“ murmelte sie und schaute errötend auf ihre Füße. „Hoffentlich hältst du mich nicht für feige...“ „Ich kann's dir nich verübeln,“ winkte Fire ab. „Liegt bestimmt dran, dassich der Sohn von meinem Vadder bin.“ „Naja, zum Teil vielleicht,“ räumte sie ein, „Aber bestimmt findet er mich zu jung... dabei kriegen viele Frauen in meinem Alter schon Kinder.“ „Am Ende wird er sich freuen, auch wenn er vorher Bedenken äußert,“ meinte Soach. Eria lächelte hoffnungsvoll. „Ja, wahrscheinlich. Ähm... wie wäre es, wenn wir schonmal zum Speisesaal gehen... vielleicht können wir was helfen...“ „Lass das heute mal die anderen machen,“ widersprach Lily ihr. „Unsere Männer sind doch eben erst wiedergekommen.“ „Auch wieder wahr...“ Sie spazierten in aller Ruhe zum Speisesaal und warteten, bis zumindest Crimson und alle Gäste da waren und das Abendessen anfing. Die Schüler und Lehrer tauchten nicht immer zu diesem Anlass auf, da gab es ein gewisses Zeitfenster, in dem jeder einmal vorbeikommen konnte. Soach hatte das Gefühl, dass im Moment besonders wenige Schüler kamen, ob das aber an dem Besuch lag oder daran, dass sie ihn mieden, weil sie nicht wussten, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollten, konnte er nur spekulieren. Er nutzte die Gelegenheit, seine Mutter auf den Boten anzusprechen, Fawarius' Sohn. „Den habe ich in den Kerker werfen lassen,“ sagte sie gleichgültig. „Hatte noch keine Zeit für andere Maßnahmen.“ „In den Kerker?“ wiederholte Soach erschrocken. „Na was sollte ich machen?“ Charoselle zuckte mit den Schultern. „Der Kerl brachte mir dein Haar und einen Fetzen Haut...“ „Ahaa, noch ein weggelassenes Detail,“ bemerkte Lily. „Es war die Stelle, wo sein ehemaliges Schlossherz sein Mal hinterlassen hatte,“ erklärte die Herrscherin ihr. „Arae muss sich überlegt haben, dass ich das wohl erkenne.“ „Oh.“ Lily blickte auf ihren Teller. „Tut mir Leid, Soach. Hingen da Erinnerungen dran?“ Soach seufzte. „Sicher, aber ich werde sie deswegen nicht vergessen.“ „Soll ich etwas Bestimmtes mit dem Boten machen?“ erkundigte Charoselle sich. „Ja, sein Vater macht sich Sorgen. Ich wäre dir dankbar, wenn du ihn einfach freilassen und hierher schicken könntest,“ antwortete ihr Sohn. Sie nickte. „Nun gut, wenn du es so willst.“ „Danke.“ Soach konzentrierte sich auf sein Essen, nachdem er diese Sache erledigt hatte. Oder zumindest versuchte er das. Jedoch kam er nicht umhin zu bemerken, dass er hauptsächlich von Magiern umgeben war. Zwar hätte er es nie zugegeben, aber er fühlte sich wie ein Außenseiter. Dieses Gefühl entbehrte jeder Vernunft, denn es handelte sich um Familienangehörige, Freunde und gute Bekannte, und selbst die Lehrer und Schüler im Schloss, die sonst nicht viel mit ihm zu tun hatten, respektierten ihn als die Seele des Schlosses. Bisher. Alle wussten von seinem Schicksal, würden sie ihn deswegen in Zukunft anders behandeln? Vielleicht nicht in böswilliger Absicht, aber aus Mitleid? Seine Sorgen zeigten sich wohl auf seinem Gesicht, jedenfalls legte Lily bald darauf ihre Hand auf seinen Arm und sagte: „Du solltest dir vielleicht etwas Ruhe gönnen, du scheinst noch nicht wieder ganz in Ordnung zu sein.“ Er war froh über die Ausrede. Er aß einen letzten Bissen, küsste Lily auf die Stirn und verabschiedete sich von seinen Eltern. „Wir sehen uns dann morgen...“ Damit verließ er den Speisesaal, und sobald die Tür hinter ihm einrastete, hastete er zu seiner kleinen Kammer, die er seit seiner Ankunft im Schloss bewohnte. Hier, umgeben von Zauberbüchern, den Kleidungsstücken eines Chaoshexers und dem den Sachen anhaftenden Geruch nach seiner eigenen Magie, holte ihn die Realität endgültig ein. Es gab niemanden mehr, dem er etwas vormachen musste, also warf er seine Kleider auf einen Stuhl, kroch unter die Bettdecke und rollte sich dort mit dem Gesicht zur Wand zusammen. Etwa eine Viertelstunde lag er so da und überlegte, ob es wohl sinnvoll wäre, in Tränen auszubrechen und zu hoffen, dass es ihm danach besser ging, aber das hätte bedeutet, sich die Hoffnungslosigkeit seiner Lage einzugestehen. Dann klopfte es an die Tür, und der Besucher trat ein, ohne auf seine Antwort zu warten. Es gab nur wenige, die überhaupt wussten, wo er schlief. „Fawarius bat mich, dir das zu bringen,“ sagte Crimson. Ein leises Geräusch verriet, dass er etwas auf den Tisch stellte. „Warum hast du nicht mich gefragt?“ „Fawarius war gerade da, und du hattest mit dem Besuch zu tun,“ murmelte Soach. „Hoffe es stört dich nicht, dass er den Alchemieturm benutzt hat.“ Er wusste, dass Crimson mit den Schultern zuckte, obwohl er nicht hinsah. „Ist fast fair. Ich habe auch seinen benutzt. Außerdem hast du es ihm erlaubt, da will ich mich nicht so anstellen.“ Soach streckte wortlos eine Hand aus und ließ sich den Trank aushändigen. Fawarius hatte ihn in ein Portionsfläschchen abgefüllt, also schluckte er alles von dem Zeug. Er hatte dem Alchemisten eine Drachenschuppe von Gandora gegeben, damit er kein Meras für die Wirkung brauchte. Ob wohl alle ausgebrannten Magier das Problem hatten, dass Zaubertränke bei ihnen nicht wirkten? Oder war es nur am Anfang so? Seine Stimmung wirkte sich auf das Schlossherz und damit auch auf das Gemäuer selbst aus, aber Crimson ging dagegen an und verhinderte, dass die Sache überhand nahm. Kurz bevor er einschlief, fragte Soach sich noch, ob der Trank wohl eine beruhigende Komponente enthielt. Crimson blieb noch eine Weile in dem Zimmer, sah sich ein wenig um und wachte darüber, dass Soach fest schlief und sich nicht unruhig herumwälzte. Dann beschloss er, in der benachbarten Kammer zu schlafen, die zwar nicht bewohnt war, aber ein gebrauchsfertiges Bett enthielt, wie viele Räume im Schloss. Er machte sich nichts vor. Soach litt unter dem Verlust seiner Magie und hatte jetzt nichts mehr, was ihn davon ablenkte. Tagsüber ging es vielleicht noch, indem er sich beschäftigte, aber nachts konnte er über alles nachdenken. Davon abgesehen war eine Ausbrennung ein traumatisches Erlebnis, ebenso ein Kampf gegen den Tod. So etwas veränderte einen Mann. Crimson merkte es bereits an sich selbst, und dabei war er immer nur Zeuge gewesen. Er dachte daran, dass bald die Vertreter des Zirkels vorbeikommen würden, um ihm die Entscheidung mitzuteilen, ob er tatsächlich aufgenommen wurde. Vielleicht konnte Soach sich darüber ja ein wenig freuen... Kapitel 21: Risiken und Nebenwirkungen -------------------------------------- Der Schlossherr wunderte sich einen Augenblick, wo er sich befand, als er die Augen aufschlug und in ein dunkles Zimmer blickte. In der nächsten Sekunde erschloss sich ihm sein Aufenthaltsort aber auch schon, und dann begriff er, was ihn geweckt hatte. Er zog seine Robe über, denn ein Nachthemd hatte er hier nicht, und ging zu dem kleinen Bad, das Soach zu benutzen pflegte. Aus dem Raum erklangen herzhafte Flüche. Crimson machte sich über seine telepathische Verbindung bemerkbar und betrat den Raum, ohne anzuklopfen. Der sich ihm bietende Anblick bewirkte... Erheiterung. „Aha, das hat Fawarius also für dich gekocht.“ Er hielt sich eine Hand fest vor den Mund. Soach seufzte und wandte sich zu ihm um. Er stand an der Waschschüssel, wo auch ein Spiegel an der Wand hing. Er trug lediglich eine dünne Stoffhose, die ein Mann zum Schlafen oder unter einer richtigen Hose tragen konnte. In der rechten Hand hielt er einen Dolch, an dem Spuren des gleichen Seifenschaumes zu sehen waren, der auch sein Gesicht bedeckte – genau genommen, den Vollbart, der dort wuchs. An manchen Stellen färbte der Schaum sich rötlich, weil Soach sich geschnitten hatte. Sein Kopfhaar hing bis über das Gesäß. Soach hatte es grob zusammengebunden, vermutlich, um es aus dem Weg zu halten. Es wirkte ungekämmt. „Ich bat Fawarius um ein Haarwuchsmittel, um wenigstens meine Haare wieder in ihren früheren Zustand versetzen zu können,“ sagte Soach in einem genervten Tonfall. „Jedoch sind sämtliche Haare an meinem Körper gewachsen. Sieh dir das an!“ Er deutete auf einige Härchen auf seinem Arm, die dunkler wirkten als sonst, und einen leichten Flaum auf seiner Brust, der Crimson nie aufgefallen war. „Ganz zu schweigen von... anderen Stellen.“ „Wahahahahaaah!“ Crimson konnte nicht länger an sich halten, prustete und krümmte sich vor Lachen. Er musste sich mühsam am Türrahmen festhalten, während sein bester Freund ihn anstarrte und darauf wartete, dass er sich beruhigte. Ab und zu zuckten Soachs Mundwinkel, aber er schien sich nicht ganz dazu durchringen zu können, der Situation etwas Lustiges abzugewinnen. „Warum... warum hast du vorher keinen Bart gehabt?“ kicherte Crimson. „Als ob du jemals in die Verlegenheit kommst, dich rasieren zu müssen,“ meinte Soach. Da traf er einen Punkt. Crimson benutzte einen Zauber, der verhinderte, dass ihm ein Bart wuchs. Schlimmstenfalls musste er sich einmal im Monat kleine Stoppeln entfernen – was er dann auch mit Magie erledigte. Es gelang ihm, etwas ernster zu fragen: „Hättest du das Problem dann nicht schon gestern oder vorgestern haben müssen?“ Soach zuckte die Achseln. „Der Zauber, den ich verwendet habe, muss nicht ständig aufrechterhalten werden, sondern wirkt, bis er entfernt wird. Aber das Haarwuchsmittel hat die Wirkung offenbar aufgehoben.“ „Scheint so. Vielleicht sollten wir jemanden um Rat fragen, der einen Bart hat, zum Beispiel Ujat oder Fawarius,“ überlegte Crimson. Soach blickte unschlüssig in den Spiegel. „Kannst du nicht... mit Magie...?“ „Hm, na gut, ich kann's ja mal versuchen,“ lenkte Crimson ein. „Wasch mal die Seife raus.“ Das tat Soach, und Crimson kamen erneut fast die Tränen vor Lachen. „War der Bart noch länger?“ gluckste er und betrachtete das unregelmäßig gestutzte Haarwunder. Soach verdrehte die Augen. „Sicher... Ich hab erst einmal alles abgeschnitten, so gut ich konnte. Drüben in meinem Zimmer habe ich eine Schere.“ „Naja, es... lässt dich irgendwie... hihihi... verrucht aussehen!“ „Möchtest du mir vielleicht als nächstes eine passende Karriere vorschlagen, vielleicht als Waffen schwingender Krieger?“ Der leicht verletzte Tonfall ernüchterte Crimson. „Entschuldige,“ murmelte er. „Setz dich auf den Wäschekorb...“ Besagter Korb erfüllte auch den Zweck eines Stuhls in diesem Raum oder wurde zumindest so benutzt. Soach setzte sich, und Crimson berührte zögernd die schwarzen Haare in seinem Gesicht. „Ich mache das normalerweise nur bei mir selbst...“ gab er zu bedenken. „Nicht zweifeln, Crimson. Mach.“ *** „Das ist nicht euer Ernst.“ Vindictus fasste sich an den Kopf, während er die Informationen verdaute. Er war eigentlich gerade aufgestanden, um sein morgendliches Training zu absolvieren, statt dessen trieb er sich auf der Krankenstation herum, wo sein Dienst erst in zwei Stunden anfing. Er wollte sich einen Stuhl holen, um an ein bestimmtes Regal heran zu kommen, besann sich dann aber eines besseren. „Jungchen, komm gefälligst her und hol mir die Goldblattsalbe herunter.“ Crimson gab sie ihm, dann kehrten sie hinter den Vorhang zurück, wo Soach auf einer Behandlungsliege saß. „Es ist völlig unverantwortlich, was du getan hast!“ schimpfte der Heiler den Prinzen aus. „Gerade erst hast du dich von einer fast tödlichen Vergiftung erholt, dein Körper hat die Anstrengung noch nicht ganz verkraftet, und schon säuft du wieder magisches Zeugs! Denkst du denn überhaupt nicht nach? Deine Haare hätten auch noch ein paar Tage warten können, wenn du es schon nicht erwarten kannst, dass sie von selbst nachwachsen! Meine Güte, und sowas hatte eine Eins in Heilkunde auf der Eisigen Universität! Ich muss wohl mal ein ernstes Wörtchen mit den Kollegen reden und fragen, ob sie euch da nicht auf die Gefahren von übermäßigem Trankgebrauch hinweisen!“ Er drückte Soach die Salbe in die Hand und wandte sich Crimson zu. „Und du Held... große Klappe und alles, aber kannst nichtmal Haare aus jemandes Gesicht entfernen? Naja, in Heilkunde hast du ja nie wirklich aufgepasst!“ Soach verteilte schweigend die Salbe in seinem lädierten Gesicht, das ein deutliches Beispiel dafür darstellte, wie man es nicht machen sollte. Die linke Wange zierten zwei Schnitte, die er sich mit dem Dolch selber zugefügt hatte beim Versuch, sich damit zu rasieren. Die andere Seite sah hingegen aus, als hätte sie jemand mit einer heißen Klinge berührt. Von der Wange bis zum Ohr erstreckte sich ein breiter, geröteter Streifen, und weiter unten, fast schon am Kinn, leuchtete ein weiterer, dieser sogar mit einem leicht blutenden Rand. Crimson hatte die Hände hinter dem Rücken ineinander gelegt, stand mit gesenktem Blick da und ließ die Schimpftirade über sich ergehen. Wenigstens sah er seinen Fehler ein, was schonmal eine Verbesserung zu früheren Zeiten darstellte. „Und jetzt wird einer von euch dem Schlossherz sagen, dass es Ujat herzitieren soll, falls der nicht schon unterwegs ist, damit er dich vernünftig und auf althergebrachte Weise rasiert!“ fuhr Vindictus fort und fuchtelte dabei mit dem Finger in Soachs Richtung. „Wie kann man nur so eitel sein! Ich an deiner Stelle hätte mir die Haare ordentlich schneiden lassen und basta, wachsen tun sie von alleine wieder! So, ich gehe jetzt schwimmen!“ „Warte mal!“ rief Soach. „Was ist mit, äh... Ich meine, kannst du einen Zauber auf mein Gesicht legen, damit das nicht wieder nachwächst?“ Vindictus setzte seinen allerstrengsten Blick auf, und seine Hoheit hatte den Anstand, eingeschüchtert zu tun. „Oh, du würdest dich wundern, was ich alles kann, Soach. Aber vielleicht wird es mal Zeit, dass du lernst, dass man nicht immer alle Probleme mit Magie lösen sollte!“ Der verbale Hieb traf direkt in die offene Wunde, das sah er ihm an. Aber er schonte den ehemaligen Magier nicht. Je eher Soach aufhörte, sich einzureden, dass er seine Magie zurückbekommen konnte, desto besser für ihn. Immerhin, eins musste er ihm zugute halten. Er hatte keine Angst vor Magie, etwas, das sonst bei ausgebrannten Magiern häufig zu beobachten war, nachdem die Magie ihnen so große Schmerzen bereitet hatte. Aber was das anging, hatte Vindictus sich geirrt. Als er die Krankenstation verließ, gab er Ujat praktisch die Klinke in die Hand. „Ich nehme an, du weißt, um was es geht, aus welchem Grund auch immer,“ sagte er zu ihm. „Ich habe alles dabei,“ antwortete sein Sohn und zeigte ihm eine kleine Holzschachtel. „Fein,“ grummelte Vindictus. „Erklär dem Kerl, wie man es ohne Magie richtig macht.“ Damit war die Sache für ihn erst einmal erledigt. Er rieb sich unbewusst das Kinn, wo schon seit langem kein Bart mehr wuchs, denn für solchen Unsinn hatte er keine Zeit. Demnach gab er sich auch nicht damit ab. Allerdings, so musste er zugeben, hätte Soach sicherlich ein sorgsam gestutzter Bart gestanden. Schulterzuckend vertrieb er den Gedanken und widmete sich ganz seinem Frühsport, der zu seinem Ärger heute ein wenig zu kurz kam. Als es Zeit für das Frühstück wurde, hatte Ujat nicht nur Soachs restlichen Bart entfernt, sondern auch dessen Kopfhaare oberhalb der Gürtellinie abgeschnitten, so dass ihre Länge in etwa dem ursprünglichen Zustand entsprach. Soach band sie sich im Nacken zusammen und stellte sich dabei ungefähr so geschickt an wie Kayos, wenn man den bei ihm stets heraushängenden Strähnen irgendeine Bedeutung beimessen wollte. Er hatte auf Pflasterchen für sein Gesicht verzichtet, da die Salbe die verletzten Stellen grob heilte, und außerdem konnte er eh nicht verbergen, dass er bezüglich der Haare nachgeholfen hatte. Ein Gesprächsthema war demnach vorprogrammiert. Ujat packte sein Rasierzeug zusammen. „Ich zeige Euch morgen noch einmal, wie es gemacht wird. Vielleicht könnt Ihr in der Zwischenzeit ein eigenes Rasiermesser auftreiben.“ Soach seufzte. „Habt Ihr nicht einen Zauber dafür?“ „Ich möchte mir nicht den Zorn meines Vaters zuziehen,“ entgegnete Ujat, und diese Argumentation konnte Soach ohne weiteres nachvollziehen. Er beschloss, sich das Frühstück und die damit verbundenen Fragen zu ersparen und statt dessen einen Spaziergang ins Dorf zu unternehmen, um sich eine neue Garderobe zuzulegen. Damit Lily später nicht schmollte, fragte er sie, ob sie mitkommen wollte, und so machten sie sich kurz darauf auf den Weg. Soach benutzte noch einmal die Kleidungsstücke aus dem Hause Arae, denn ansonsten besaß er nur Magierroben oder Lederkombinationen im Chaos-Stil. „Ich bin überrascht,“ sagte Lily, als sie sich in gemütlich langsamem Schritt vom Schloss entfernten. „Ich habe gedacht, du würdest trotzdem weiter deine Roben tragen.“ „Das würde möglicherweise einen falschen Eindruck erwecken,“ entgegnete Soach ausweichend. Tatsächlich hatte er darüber nachgedacht, aber wie ein Magier gekleidet zu sein bedeutete, dass die Leute dann auch erwarteten, dass er zauberte, und diese Erwartung konnte er derzeit nicht erfüllen. Er achtete sehr darauf, in all seine diesbezüglichen Äußerungen, auch die gedanklichen, immer Worte einzubauen, die die Vergänglichkeit seiner Lage betonten, da er sich weigerte, an eine Endgültigkeit zu glauben. Lilys Anwesenheit erwies sich als praktisch, denn sie konnte einfach besser Kleidung aussuchen. Allzu viel Auswahl gab es freilich nicht. Der Schneider in dem Hundertseelendorf, das zu Crimsons Schloss gehörte, stellte hauptsächlich praktische Stücke aus naturfarbenen Materialien her, also quasi etwas Ähnliches wie das, was Soach bereits trug. Sonderwünsche machte der Schneider auch, aber das dauerte ein paar Tage oder noch länger, wenn er die benötigten Stoffe erst besorgen musste. „Du könntest ein paar helle Hemden kaufen und einfärben,“ schlug Lily vor. „Crimson kann doch Farbstoffe herstellen.“ „Ich habe nichts gegen Brauntöne,“ meinte Soach. „Vor allem harmonieren die Hemden dann mit den Hosen.“ „Willst du welche aus Leder?“ fragte Lily. „Hier, sie haben auch Stoffhosen. Die reichen, wenn du nicht außerhalb des Schlosses unterwegs bist.“ „Ja, vermutlich. Ich bräuchte auch Stiefel, fällt mir ein, meine gehören eigentlich Malice.“ „Dann gehen wir zum Schuster, wenn wir hier fertig sind.“ „Oh... und ein Rasiermesser. Kriegt man das beim Schmied?“ „Wir fragen einfach.“ Soach wählte Hosen in dunklen Farben und kombinierte diese mit verschiedenen hellen Hemden. Lily drängte ihn dazu, welche mit dezenten Rüschen am Kragen oder den Ärmeln auszusuchen. Sie fand, dass er es sich erlauben konnte, schließlich war er ja bald im Zirkel des Bösen – falls nicht der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass diese Leute es sich anders überlegten. Mit Bündeln von neuer Kleidung sowie einem Paar Stiefel und einem nagelneuen Rasiermesser beladen kehrte das Paar zum Schloss zurück. Soach stand vor ganz neuen Problemen, denn er war es gewohnt, so kleine Dinge wie ein Messer einfach magisch in der Luft verschwinden zu lassen. Das Konzept der Hosentasche kannte er bisher nicht. Sie benutzten einen seitlichen Dienstboteneingang, nicht das Haupttor. So kamen sie leicht zu seinem Zimmer, ohne jemandem zu begegnen. Soach öffnete seine Kleidertruhe und starrte unschlüssig auf den Inhalt. Vielleicht passten seine Neuerwerbungen hinein, ohne dass er die älteren Sachen heraus nahm. Er wollte die Magierkleidung auf jeden Fall behalten. Bestimmt konnte er sie doch eines Tages noch gebrauchen. Er stapelte die Hemden und Hosen auf Roben und Lederkostümen und schloss mit etwas Nachdruck den Deckel. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe jetzt Hunger,“ sagte Lily. „Der Hauptandrang ist bestimmt schon vorbei, kommst du mit?“ Soach konzentrierte sich einen Moment auf den Speisesaal und stellte fest, dass nur ein paar Schüler da waren. „Na gut.“ Lily trat auf den Flur, wartete, bis er sie an der Hand nahm und ging dann dicht neben ihm her. Er forschte nach, wo seine Familie sich aufhielt. Aber er fand nur seine Eltern – sie saßen mit Crimson in dessen Büro bei einer Tasse Tee und unterhielten sich über die Politik der Eisigen Inseln, vermutlich auch über die Thronfolge. Iquenee und die Soldaten mussten das Gelände verlassen haben, jedoch hielten sich die Drachen noch in der Nähe auf. [Sie sind zu einem kleinen Geländelauf aufgebrochen,] teilte Catherine ihm mit. [Neo haben sie auch mitgenommen. Er schien nicht begeistert zu sein, möglicherweise ist er aus der Übung.] „Ich finde es gruselig, wenn du das machst... mit dem Schloss reden, meine ich,“ murmelte Lily. „Stört es dich?“ frage er. „Ich dachte, ich könnte es relativ unauffällig.“ „Es fällt auch nicht besonders auf, aber mir schon. Du bekommst so einen nach innen gekehrten Blick. Aber daran werde ich mich wohl gewöhnen.“ „Könntest du dich auch daran gewöhnen, wenn ich König der Eisigen Inseln wäre?“ Lilys Flügel flatterten kurz, vermutlich völlig unbewusst. Soach fand das süß. „Oh, das wäre bestimmt interessant,“ überlegte die Fee. „Würden wir dann im Schloss deiner Mutter wohnen? Ich meine, geht das denn?“ „So weit habe ich mir das noch nicht überlegt,“ gestand Soach. „Aber zumindest habe ich meiner Mutter versprochen, dass ich ihr Erbe sein werde, wenn sie das wünscht.“ Nebenbei fiel ihm auf, dass sie automatisch davon ausging, dass sie an seiner Seite sein würde. Er drehte diese Erkenntnis in Gedanken hin und her und erprobte sie wie einen neuen Geschmack. Eine seiner Beziehungen war gescheitert, als die Frau von seiner adligen Herkunft erfuhr. Das zumindest schied bei Lily aus, und es würde sie auch nicht stören, dass er ein Magier war... Er seufzte innerlich. Vielleicht würde es sie stören, dass er darauf beharrte, seine Magie wiederfinden zu müssen, dass er die Ausbrennung wie eine Krankheit betrachtete und ruhelos sein würde, bis er Heilung fand. „Hey, du bist schon wieder so geistesabwesend.“ Sie stieß ihn sanft mit dem Ellenbogen an. „Worüber schweigst du jetzt schon wieder?“ Soach fühlte sich ertappt. „Ich... denke nur im Moment viel nach. Wie es weitergeht und so.“ „Naja, klar tust du das,“ meinte sie. „Aber hör mal, wenn du schon mit deinen Sorgen nicht zu mir kommen willst, dann geh zu Crimson, ja? Versprich mir das.“ Er lächelte. „In Ordnung, das verspreche ich.“ So fühlte er sich zumindest nicht mehr verpflichtet, ihr alles zu sagen, und musste sie nicht unnötig beunruhigen. Beim Speisesaal stießen sie fast mit Gorz zusammen, der auch gerade hinein wollte. „Hey! Genau der Mann, den ich suche. Ich brauche einen Trainingspartner!“ rief der Unterweltler. „Sonst roste ich noch völlig ein.“ Soach hob eine Augenbraue. „Hat dich Crimson auf mich angesetzt?“ „Nee, Vindictus. Er meint, körperliche Betätigung würde dir guttun und dein Selbstbewusstsein steigern.“ Gorz log niemals. Eher schwieg er. „Ich stimme Vindictus zu,“ warf Lily ein. „Er hat bestimmt auch an Kampftraining gedacht.“ „Ja, aber nicht in den nächsten drei Tagen,“ nickte Gorz. „Wir treffen uns in einer Stunde am Strand.“ Damit marschierte er in den Saal und widmete sich dem Essensangebot. Im Laufe des Tages fragte sich Soach, ob alle sich verabredet hatten, um ihn von seinen Grübeleien abzulenken. Erst hetzte ihn Gorz am Strand entlang und ließ ihn dann meditative Bewegungsübungen machen. Die Folge war eine angenehme Erschöpfung, die tatsächlich den Geist für eine Weile erfrischte. Gorz verpflichtete Soach auch für den nächsten Tag. Als sie ins Schloss zurückkehrten, gab Crimson ihm eine Liste mit Tränken und bat ihn, diese im Alchemieturm zuzubereiten. Keiner davon war neu für Soach, sie dienten dem Auffüllen der Bestände, von denen Soach genau wusste, dass sie es keinesfalls nötig hatten, aber er widersprach nicht. Die Tätigkeit erforderte keine Magiebenutzung. Während er Zutaten für einen Heiltrank zerkleinerte und zugleich das kochende Schlafmittel im Auge behielt, überlegte er, sich von Fawarius zeigen zu lassen, wie die Kampfalchemie funktionierte. Bei der Zubereitung einiger Gebräue für diese Kunst brauchte er Magie, aber die konnte er über das Schloss benutzen. Generell konnte er einiges durch seine Verbundenheit mit dem Schloss erreichen, er hatte seine Möglichkeiten noch gar nicht ausgelotet. Allerdings wusste er jetzt schon, dass es nicht das war, was er wollte. Kaum hatte er seine Arbeit beendet, meldete Catherine, dass aufgrund des unerwarteten Besuchs Hilfe in der Küche benötigt wurde, und so schälte und zerstückelte er noch ein wenig mehr Zutaten, nur für einen anderen Zweck. Dann half er, die Speisen aufzutischen, ließ einige besorgte Fragen der Schüler zu seinem lädierten Gesicht über sich ergehen und aß selber eine Portion. Bei dieser Gelegenheit traf er auch wieder seine Eltern. Möglicherweise hatte Crimson sie vorgewarnt, jedenfalls kommentierten sie sein Erscheinungsbild nicht, als sie sich ihm gegenüber an den Tisch setzten. „Wir haben beschlossen, dass wir bleiben werden, bis der Zirkel des Bösen entschieden hat, wohin du geschickt werden sollst,“ teilte Charoselle ihm mit. „Die sollen sich nicht einfallen lassen, dich von hier zu entfernen!“ „Wenn ich Glück habe, machen sie auch gar keine Schwierigkeiten,“ sagte Soach. „Aber ich bin trotzdem erleichtert, euch da zu haben, nur für den Fall.“ Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er das Ergebnis erfuhr, immerhin gehörte das noch zur Ausbrennung und verzögerte sich wahrscheinlich nur durch die Umstände. Der Zirkel diskutierte möglicherweise noch, ob Crimson wirklich aufgenommen werden sollte oder nicht. „Iquenee wird schonmal mit den Soldaten abreisen. Dann kann sie am Hof die Stellung halten,“ sagte Ishzark. „Nur General Raiho wird noch bleiben. Die Hofetikette verlangt, dass jemand zu unserem Schutz dabei ist.“ Soach prustete in sein Essen. „Zu Eurem Schutz. Sicher. Das ist nötig.“ Hoffentlich kamen sie nicht auf die Idee, auch ihm einen Aufpasser zuzuteilen. Noch während Soach mit dem Nachtisch beschäftigt war, meldete sich Catherine in seinem Kopf. [Die Tanks sind lange nicht mehr überprüft worden, kannst du das heute noch machen?] [Ich kümmere mich darum,] versprach Soach. [Ihr wollt mich heute alle beschäftigt halten, was?] [Denk daran, dass niemand alleine da runter gehen soll,] ermahnte das Schlossherz ihn, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. [Ich könnte Gorz mitnehmen,] schlug Soach vor. [Ich sage ihm Bescheid.] Cathys unmittelbare Gegenwart verschwand vorerst. „... und dann dachte ich an einen Fackelzug durch die Stadt,“ hörte Soach seine Mutter sagen. „Äh, was ist mit einem Fackelzug?“ „Junge, sprich doch nicht immer mit deinem Schloss, wenn ich mit dir rede!“ beschwerte Charoselle sich. „Ich habe gerade erklärt, wie man bei meiner Jubiläumsfeier den Kronprinzen präsentieren kann.“ „Oh... ich dachte, alle versammeln sich im Saal, und du sagst sowas wie 'als meinen Nachfolger bestimme ich diesen', und fertig? Vielleicht ein Buffet für die Gäste...“ „Wo wir gerade dabei sind,“ fiel es der Herrscherin ein, „Wie stellst du dir deine und Lilys Feier zu eurem Bund vor?“ „Wie bitte?“ Irgendwie hatte Soach eine andere Frage erwartet. „Na du willst doch mit ihr den Bund schließen, oder etwa nicht? Sie wohnt immerhin bei dir hier im Schloss, da kannst du nicht einfach weiterziehen, wenn du verstehst, was ich meine...“ „Deine Mutter möchte nur nicht, dass du es so machst wie Ray, ohne dass sie ein Fest organisieren kann,“ erklärte Ishzark. Soach rieb sich nachdenklich das Kinn. Fühlte er da etwa schon wieder Stoppeln? „Aber du kannst immer noch ein Fest organisieren, um seinen Bund mit Fuma zu feiern.“ „Ich werde mich hüten!“ empörte Charoselle sich. „Aber erwarten das die Araes nicht?“ gab Soach zu bedenken. „Fuma ist ja keine Blutsverwandte, sie war nur Edeh Araes Frau. Außerdem schickt es sich nicht, dass man die Feier so viel später macht.“ „Wenn du meinst...“ „Du hast aber den Bund noch nicht mit ihr geschlossen, oder?“ hakte Charoselle in lauerndem Tonfall nach. Soach schüttelte eilig den Kopf. „Ich, äh... habe Lily noch gar nicht gefragt.“ „Für einen Kronprinzen ist es auf jeden Fall besser, eine Frau an seiner Seite zu haben,“ sagte Charoselle. „Und solange ich keinen anderen bestimme, ist das immer noch deine Rolle! Schließlich bist du der älteste.“ „Ja, Mutter.“ Soach nahm sein Geschirr und stellte es auf den dafür vorgesehenen Tisch an der Seite. Dann ging er noch einmal bei seinen Eltern vorbei. „Ich muss die Energietanks überprüfen. Das sollte regelmäßig gemacht werden.“ „Du willst uns aber nicht aus dem Weg gehen, oder?“ fragte Ishzark mit einem Schmunzeln. Soach schenkte beiden ein ehrliches Lächeln. „Tut mir Leid, wenn es den Eindruck macht. Wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen.“ Das Paar sah sich kurz an. „Gut, das interessiert uns,“ sagte Charoselle. Zu dritt spazierten sie zu den Stufen, die in den Keller führten. Gorz erwartete Soach schon. Er lehnte lässig an der Wand. „Wen hast du denn da dabei, traust du dich etwa nicht alleine?“ neckte der Unterweltler ihn. Dann erkannte er die Personen. Schleunigst gab er seine lümmelnde Haltung auf und stand mehr oder weniger stramm. „Äh, Lord Ishzark, Sir! Und Lady Charoselle, es äh, ist mir eine Ehre, Hoheiten!“ „Das sind doch nur meine Eltern,“ winkte Soach ab. „Nicht etwa hohe Tiere oder gar... naja doch, aber sie sind ganz harmlos, wenn man sie nicht reizt.“ Gorz verzog gequält das Gesicht. „Wissen sie... ich meine... was damals passiert ist?“ „Ach, dass dein Schwert in meiner Lunge steckte und auf der Brust wieder rauskam?“ half Soach ihm auf die Sprünge. „Argh!“ Gorz schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. „Willst du mich umbringen?“ „Dir scheint es wirklich an Training zu fehlen, wenn er dich so verletzen konnte,“ kommentierte Ishzark. „Vielleicht sollte ich das persönlich übernehmen.“ „Ganz so ein Held wie du wird aus mir eh nicht. Davon abgesehen passierte das nur, weil ich abgelenkt war.“ „Ablenkung ist...“ „Tödlich, ja, ich weiß.“ Soach erzähle lieber keine weiteren Einzelheiten mehr. Als sie das dunkle Kellergewölbe betraten, wollte er ein Licht erschaffen und wurde mit einem leeren Gefühl im Bauch belohnt. Innerlich seufzend ließ er seine Finger an der Wand entlang gleiten, worauf die Seelenschrift neben ihnen matt zu leuchten begann. Der Effekt breitete sich drei Meter vor und drei Meter hinter ihnen aus und folgte ihnen, als sie sich in Bewegung setzten. „Aha, das funktioniert also noch,“ kommentierte Gorz. „Bist du jetzt eigentlich ein Unterweltler, Soach?“ Das kam überraschend. „Wie bitte? Nein... man nennt das ausgebrannter Magier.“ Die Worte kamen ihm recht einfach über die Lippen, weil sie in seiner Vorstellung nicht automatisch implizierten, dass er nie mehr ein Magier sein konnte. „Deine Aura ist wie ein Unterweltler,“ meinte Gorz schulterzuckend. „Ich dachte, das kommt jetzt vielleicht durch, weil du ja eh halb einer bist.“ „Uhm... wer weiß,“ murmelte Soach. „Merkst du nicht, dass er eine ganz und gar seltsame Aura hat?“ brachte sich seine Mutter in das Gespräch ein. „Es ist die Aura von jemandem, der keine Seele in sich trägt.“ Gorz machte eine Bewegung, als würde er etwas über seine Schulter werfen. „Macht mir nichts aus, ich kenne ihn nur so. Daher kann ich den Unterschied zu vorher nicht beurteilen, außer dass er vorher für mich ein Magier war und jetzt wie ein Unterweltler wirkt.“ „Du bist unsensibel,“ meinte Charoselle. „Aber vielleicht bin ich als seine Mutter einfach empfänglicher für solche Dinge...“ Sie gingen durch die Gänge weiter und schwiegen für eine Weile. Diese Aufgabe war nichts für jemandem mit Platzangst. Es gab zwar genug Raum, dass zwei Personen nebeneinander her gehen konnten, und die Höhe ließ sich nicht bemängeln, aber das änderte nichts daran, dass rundherum Mauern waren. Schließlich gelangten sie an eine Sicherheitstür aus Metall, die sich erst öffnete, als Gorz sie fest nach innen drückte. Dahinter befand sich ein erster Tankbehälter. Soach trat an ihn heran und schob das Sichtfenster auf. Das Glas war gelb gefärbt, um den Betrachter weniger zu blenden. Diese Neuerung hatte Crimson bei der letzten Wartung hinzufügen lassen, weil Soachs Augen empfindlicher für den Anblick waren als andere. Die gelbe Schicht ließ sich aber auch wegschieben, sollte es jemand wünschen. „Möchtet ihr mal schauen?“ Soach trat beiseite und ließ seine Eltern einen Blick auf das leuchtende Meras werfen, das sich in dem Tank befand. Charoselle schien es milde interessant zu finden, während Ishzark sich gar nicht sattsehen konnte. „Ich habe noch nie pure Magie gesehen!“ staunte der Krieger. „Ja, verblüffend, nicht wahr...“ Soach kontrollierte die Zuleitung am Container, überprüfte alle Verschlussklappen und stelle sicher, dass die Türen leicht auf und zu gingen. Im Prinzip konnte jeder diese Tätigkeit ausführen, aber Crimson überließ das generell gerne ihm, weil er die Magie sah und leicht erkennen konnte, wenn etwas nicht stimmte. „Selbst hier unten,“ flüsterte Charoselle halb zu sich selbst. Ihr Blick behielt die Seelenschrift im Auge. „Überall in diesem Schloss fühle ich meinen Sohn um mich... aber wenn er vor mir steht, ist es, als wäre er nur eine leere Hülle.“ Soach sah von seiner Arbeit auf. „Du hast nie erwähnt, dass du es so schlimm findest...“ „Als wir in Araes Haus waren, konnte ich mir einreden, dass du einfach deine Aura unterdrückst, obwohl ich wusste, dass es davon kam, dass deine Seele nicht bei dir ist, wenn du Lotusblüte verlässt,“ sprach die Herrscherin der Eisigen Inseln. „Aber hier... es ist sehr seltsam. Nicht direkt schlimm, nur seltsam.“ Soach nahm das so zur Kenntnis und versuchte, für seine Mutter aufmunternd zu lächeln. Sie gingen durch eine Tür an der gegenüberliegenden Seite zu einem anderen Tankraum und wiederholten den Vorgang dort. Da nicht alle dieser Räume miteinander verbunden waren, mussten sie anschließend zurückkehren und einen anderen Weg einschlagen. Die Aufgabe zog sich insgesamt eine Weile hin. Seine Eltern wurden dennoch nicht müde, ihm zu folgen, und Gorz schlenderte pflichtschuldig mit. Die Worte des Rothaarigen gingen Soach im Kopf herum. Was, wenn er wirklich zu einem Unterweltler mutierte? Brachte das nicht auch gewisse Kräfte mit sich, die nichts mit Meras zu tun hatten? Soweit er wusste, benutzten Unterweltler Kapall statt Meras, ebenso wie Feen. Soach fühlte, wie Aufregung von ihm Besitz ergriff. Er konnte es kaum erwarten, seine Arbeit zu beenden, denn er wollte mit jemandem reden, der ausbrennen konnte. Vielleicht gab es eine winzig kleine Hoffnung. Nach der Wanderung durch die unterirdischen Pfade des Schlosses gelüstete es der Gruppe erst einmal nach etwas zu trinken und einer kleinen Zwischenmahlzeit. Dafür kehrten sie in den Speisesaal zurück, wo sich immer Karaffen mit Wasser und Becher befanden. Außerdem gab es heute Kekse. Sie waren ein wenig verkohlt. „Die sind seit einigen Tagen nicht ganz wie sonst,“ kommentierte Gorz, stopfte sich aber nichts desto trotz eine Handvoll in den Mund. Soach dachte sich seinen Teil und schwieg dazu. Sein Zustand beeinflusste generell die Stimmung im Schloss, warum dann nicht auch die Küchenleistung? „Ich fand dunkle Kekse eigentlich schon immer ganz nett,“ meinte Ishzark. „Obwohl... hmpf... diese sind etwas zu dunkel...“ Soach verschlang ebenfalls einige Kekse und spülte sie rücksichtslos mit Wasser hinunter, Hauptsache, es beruhigte seinen Magen. „Ich möchte Vindictus etwas fragen,“ kündigte er an, als er wieder Platz im Mund hatte. „Wir sehen uns beim Abendessen... in etwa einer Stunde.“ Da niemand widersprach – nicht dass er ihnen viel Gelegenheit dazu bot –, machte er sich auf in den Krankenflügel. Er schob die große Flügeltür leise auf und sich selbst durch den Spalt. „Nein, das ist nicht meine Aufgabe,“ hörte er eine Frau in befehlsgewohntem Ton sagen. Das musste die neue Heilerin sein, Dsasheera. Soach hatte sie noch nicht persönlich getroffen. Sein Blick folgte unwillkürlich den Stimmen. „Ich habe dich zwar hergebeten, weil die Fee sich nicht selbst untersuchen kann, aber du kannst es nicht ablehnen, dich auch um andere zu kümmern!“ Vindictus stand vor einem der Vorhänge, hinter dem sich vermutlich ein Patient aufhielt, und lieferte sich ein Wortgefecht mit der Mutter seines Sohnes, die sich ihm gegenüber aufgebaut hatte, die Hände in die Seiten gestemmt. „Das schwangere Mädchen, gerne,“ sagte Dsasheera. „Aber der Lümmel da geht mich nun wirklich nichts an!“ „Wo ist das Problem?“ verlangte Vindictus zu erfahren. „Du wirst doch wohl einen Schnitt im Finger verbinden können!“ „Dazu braucht er doch wohl mich nicht!“ „Soweit ich weiß, hast du Saambells aufgeschlagenes Knie ohne weiteres behandelt!“ beharrte Vindictus. „Was soll... oh. Es liegt daran, dass wir hier einen Mann haben, nicht wahr?“ „Ich bin eine Amazonenshamanin. Ich behandle nur Männer, die Partner oder Söhne meiner Schwestern sind!“ setzte die Frau mit erhobenem Kinn fest. „Du bist hier in einem Schloss mit vermischten Geschlechtern. Selbstredend wirst du jeden behandeln, der darum bittet, auch Männer!“ verlangte der Alte. „Das werde ich nicht!“ widersprach sie. „Ich verstehe...“ Vindictus schien sich abwenden zu wollen, doch auf einmal wirbelte er herum und verpasste Dsasheera einen brutalen Fausthieb gegen den Kiefer, der sie taumeln ließ. Soach staunte. Er hatte auf die Schnelle nicht erkannt, wie das gelingen konnte, denn Dsasheera war zwar relativ klein, doch Vindictus hatte aus seiner Perspektive lediglich einen guten Blick auf ihre Brüste, was sicher nicht das Schlechteste war. „Du wirst auch die Männer behandeln, verstanden?“ befahl er barsch. Sie atmete hörbar ein und aus. „Nun gut...“ Damit verschwand sie hinter dem Vorhang, wenn auch nicht übermäßig schnell. Vindictus wandte sich Soach zu. „Anscheinend siehst du uns schon eine Weile zu,“ meinte er in ruhigem Tonfall, die Hände hinter dem Rücken faltend. „Versuch das ja nicht bei ihr. Ich habe das Privileg, der Vater ihres Sohnes zu sein. Wenn du sie schlägst, könnte sie das als Anmache auffassen. Entweder das, oder sie macht dich platt. Was kann ich für dich tun?“ „Ich habe über etwas nachgedacht,“ begann Soach. „Gorz wollte wissen, ob ich jetzt ein Unterweltler bin, und das brachte mich darauf, dass ich ja noch Kapall haben müsste, nachdem das Meras ausgebrannt wurde...“ Vindictus nickte geduldig und mit ernstem Blick. „Kann ich nicht auch Kapall benutzen, um Magie zu wirken?“ fragte Soach geradeheraus. Vindictus hob eine Augenbraue, rieb sich den nicht vorhandenen Bart (Soach beneidete ihn darum) und seufzte schließlich. „Ich hätte mir ja denken können, dass du auf solche Ideen kommst.“ Er winkte den Prinzen, ihm zu folgen, und ging zu den Tischen mit der alchemistischen Ausrüstung. Dort stieg er auf einen Stuhl und nahm eine fast volle Wasserkaraffe zur Hand. „Du kennst das sicher aus dem Unterricht deiner Kindertage... Ich drücke mich mal sehr vereinfacht aus: Jeder von uns bekommt bei seiner Zeugung eine gewisse Menge Magie und zwei Becher, von denen einer Meras und einer Kapall heißt. Das Individuum kann den Inhalt der Karaffe in die beiden Becher aufteilen...“ Vindictus nahm zwei Teebecher und füllte sie unterschiedlich hoch mit Wasser. „Stellen wir uns einfach vor, dass die Becher groß genug sind, um den gesamten Inhalt zu fassen, ohne zu berücksichtigen, dass vielleicht manch einer kleinere Becher hat oder keine ganz so volle Kanne. So. Der rechte Becher ist voller als der linke. Wenn das Kapall ist, wird der Besitzer ein Unterweltler oder eine Fee, ist es Meras, dann ein Magier oder Krieger. Ich lasse der Einfachheit halber andere Typen weg, mit denen ein Mensch sich paaren könnte.“ Soach nickte. „Ja, soweit ist mir das klar. Das lernt jeder Magier in der Schule oder von seinem Meister.“ „Das reicht ja kleinen Kindern auch, um das Thema zu verstehen.“ Vindictus trank den volleren Becher aus und stellte ihn zur Seite. „Die Ausbrennung zerstört den Merasbehälter. Dadurch verlierst du die Fähigkeit, Magie einzusetzen, und für eine Weile kann dein Körper nicht gut auf Zaubertränke oder Heilmagie reagieren. Doch es ist wie mit den Sinnen. Fällt einer weg, übernehmen die anderen so gut wie möglich seine Aufgaben. Blinde können besonders gut hören, riechen und fühlen, wie du sicher weißt. Wenn du nun kein Meras mehr hast, werden bestimmte biomagische Funktionen deines Körpers allmählich von deinem Kapallbestand übernommen. Zum Beispiel müsstest du deinen Effekt weiterhin benutzen können, und in einigen Wochen dürftest du kein Problem mehr mit Tränken und auf dich wirkende Magie haben. Allerdings...“ Vindictus sah Soach sehr ernst an. „... kann es sein, dass der Anpassungsvorgang bei dir länger dauert und nicht ganz so reibungslos abläuft wie bei anderen ausgebrannten Magiern, die ich kenne.“ Er stellte den Merasbecher wieder dazu und kippte das Wasser aus dem Kapallbecher zurück in die Kanne. „Stell dir vor, das wäre deine Kanne. In deinem besonderen Fall lief es vermutlich so ab...“ Vindictus füllte den Merasbecher fast mit zum Überlaufen und der Kapallbecher bekam nur ein paar Tropfen. „Meiner Einschätzung nach hast du all dein Potential in Meras investiert und das Kapall nur mit der Mindestmenge bedacht, so dass du ein mächtigerer Magier sein konntest. Bildlich gesprochen natürlich... im Prinzip hat man darauf keinen Einfluss. Sonst hättest du vermutlich versucht, überhaupt kein Kapall zu haben.“ Der Alte grinste. „Ja, das... kann gut sein,“ musste Soach zugeben. Vindictus nickte und fuhr fort: „Ohne wenigstens eins von beiden kannst du nicht leben. Es ist dementsprechend nicht möglich, jemandem Meras und Kapall auszubrennen, ohne die Person zu töten. Also musst du zumindest ein bisschen Kapall haben. Aber selbst wenn es eine anerkannte Wissenschaft wäre, damit zu zaubern, kämst du damit nicht weiter, denn es ist viel zu wenig. Was du hast, brauchst du für deinen Effekt und was der Körper sonst noch an biomagischen Vorgängen ausführt. Davon abgesehen ist Kapall ganz anders beschaffen als Meras, was auch der Grund ist, dass Feen und Unterweltler ganz andere Fähigkeiten haben als Magier und manche Krieger. Und Gorz irrt sich, du wirst kein Unterweltler, wenn du kein Meras mehr hast. Ich gestehe ihm aber durchaus zu, dass es ihm so vorkommen könnte.“ Soach starrte auf den Boden. „Bist du sicher? Ich meine... nur weil es noch nie vorgekommen ist...“ „Ich bin sicher, Soach. Glaub mir, ich würde es dir wünschen. Aber Kapall ist nicht mit Meras zu vergleichen und kann es demnach nicht einfach ersetzen.“ „Warum ist es nicht zu vergleichen?“ beharrte Soach. „Es ist doch beides... Magie!“ „Ja, und gängigen Theorien zufolge waren wir alle früher mal Fische, was aber nicht heißt, dass wir uns heute noch mit Fischen paaren können.“ Vindictus tätschelte verständnisvoll Soachs Arm. „Klammere dich nicht an falsche Hoffnungen, Soach. Es geht nicht. Stell dich der Realität.“ Doch Soach wollte sich keiner Realität stellen, in der es keine Magie mehr für ihn gab. Genau dies wollte er dem alten Heiler ins Gesicht schreien, aber sein Respekt vor Vindictus hielt ihn zurück. Und die Tatsache, dass Dsasheera hinter dem Vorhang hervorkam und nachsah, was vor sich ging. Sein Verhalten warf vermutlich jetzt schon kein gutes Bild auf das männliche Geschlecht. In den Regalen fing Alchemistengeschirr an zu klappern. Soach wusste, dass es seine Schuld war, aber er konnte es nicht verhindern. Ein leeres Glas mit einem Rührstab darin fiel herunter. Vindictus fing es auf, doch er musste es in der Luft schweben lassen, weil sein Arm nicht reichte. Das war fast zuviel. Es schnürte Soach die Kehle zu, und Druck entstand hinter seinen Augen. „Stimmt hier etwas nicht?“ fragte Dsasheera scharf. Soach hörte ihre Stimme wie durch Wasser. Wage war er sich Vindictus' warnender Blicke bewusst. Er hielt den Atem an und schloss die Augen, doch es nützte nichts. Im Gemäuer breitete sich ein energetisches Summen aus... und dann... Hörte es plötzlich auf. „Ah, hier bist du...“ Soach blickte auf und sah Crimson hereinkommen. Der Schlossherr lächelte, aber seine Augen trugen einen konzentrierten Ausdruck. „Ich habe etwas mit dir zu besprechen wegen der Beseelungsfeier,“ sagte Crimson. „Können wir in mein Büro gehen?“ „Uhm... natürlich.“ Soach wandte sich kurz zu Vindictus um. „Danke für deine fachkundige Meinung,“ presste er hervor. Im Vorbeigehen nickte er noch Dsasheera höflich zu. Crimson und er traten auf den Flur, doch sie gingen nicht zum Büro. Soach hielt es für besser, das Schlossgelände für eine Weile zu verlassen, um weiteren Schaden zu vermeiden... Kapitel 22: Das Böse im Schloss ------------------------------- Rings um ihn herum ragten schattenhafte Gestalten auf und hielten ihn gefangen. Kaltes Metall schnitt in seine Handgelenke und umklammerte seine Knöchel. Magie blitzte silbern vor ihm auf. Der Zauber erhellte das Gesicht der alten Frau, dann ließ sie ihn auf den Gefangenen los. Gleißendes Licht schlug in seine Brust ein und erfüllte seinen ganzen Körper mit Schmerz... Crimson fuhr aus dem Schlaf hoch. Keuchend drückte er eine Hand auf die Brust, verkrallte die Finger in das schweißnasse Nachthemd. Voller Erleichterung erkannte er sein Turmzimmer, doch im nächsten Moment sprang er aus dem Bett und presste die Hand gegen eine Stelle an der Wand, von der er wusste, dass die Seelenschrift dort entlang verlief. Sie leuchtete unter seinen Fingern auf. Das Schloss bebte ganz leicht. Steine verschoben sich minimal gegeneinander. Den Schlossherrn überkam das alles verschlingende Gefühl, die Qualen seiner Seele irgendwie beenden zu müssen, zum Beispiel, indem er alles einstürzen ließ. [Soach! Reiß dich zusammen!] Doch das tat Soach bereits, wie er wusste. Schon die dritte Nacht in Folge verfolgten ihn die Erinnerungen in seine Träume, hatten ihn vorher wahrscheinlich nur verschont, weil er immer unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen gestanden hatte, die traumlosen Schlaf förderten. Beim ersten Mal hatte Crimson sich fast von seinem Balkon gestürzt, aber noch rechtzeitig bemerkt, was mit ihm passierte. Durch seine tiefe Verbundenheit mit seinem Freund teilte er auch dessen Träume – jedenfalls jene, die ihn sehr aufwühlten. Ein Nachteil, aber Crimson tat nichts dagegen. Er begrüßte es zwar nicht, die Ausbrennung aus Soachs Perspektive zu erleben, aber immerhin wusste er rechtzeitig, wenn die Seele des Schlosses instabil wurde. Catherine kannte solche Probleme bisher nicht. Der Prinz der Eisigen Inseln hatte ihn stärker gemacht, seine Persönlichkeit gefestigt und ihm ganz neue Möglichkeiten verschafft, indem er ihm Magie gab. Was vorher dem Schlossgeist Stärke verliehen hatte, drohte nun, ihn zu ruinieren. Crimson fand es immer schwieriger, in der Dreierkonstellation der Starke zu sein. Und das nach kaum einer Woche. Vielleicht, überlegte er, ist es deswegen nicht ratsam, Schlösser mit den Seelen noch lebender Personen zu versehen. Der Schlossherr rannte die Treppen seines Turms hinunter, ohne sich irgendetwas überzuziehen. In der ersten und zweiten Nacht mit Alpträumen hatte Crimson nicht so schnell reagiert und dann Soach auf dem höchsten Turm angetroffen, von dem aus immer die Drachen mit ihren Reitern abflogen. Dort hielt der Mann sich zwar des Öfteren auf, aber in seiner derzeitigen Gemütsverfassung war nicht auszuschließen, dass er Dummheiten machte. Auf halbem Wege stolperte Crimson über eine Unebenheit im Boden und fiel beinahe lang hin. Er konnte den Sturz einigermaßen abfangen, schlug sich allerdings den rechten Ellenbogen auf. Er nahm sich nicht die Zeit, die Bodenfliesen zu überprüfen. Vermutlich verschoben sie sich durch das ständige Beben. Als er endlich vor Soachs Zimmer ankam, wollte er einfach hineinstürmen, doch die Tür war von innen abgeschlossen. „Soach! Mach auf! Oder ich lasse Cathy die Tür öffnen!“ Von drinnen kam eine zögerliche Antwort. „Einen... kleinen Moment...“ Er hörte Wasser plätschern und Stoff rascheln. Schließlich klickte das Türschloss und Soach zog die Tür auf. Crimson trat in den von der Seelenschrift an den Wänden erleuchteten Raum. In dem magischen Licht wirkte der Prinz blass und niedergeschlagen. Er trug wieder nur eine Stoffhose. Auf seinen Armen und dem Oberkörper zeigten sich vereinzelte Blutergüsse, denn er hatte am vergangenen Tag das Kampftraining mit Gorz aufgenommen. Zum Glück hatten sie nur Kampfstäbe benutzt. Soachs Gesicht wies deutliche Spuren von unglücklichen Bewegungen mit dem Rasiermesser auf. Crimson wollte sich das noch ein paar Tage ansehen und dann jemanden finden, der mit einem Zauber das Problem aus der Welt schaffen konnte, am besten Vindictus, damit er sich hinterher nicht über die falsche Anwendung beschweren konnte. „Es... geht schon wieder,“ murmelte Soach und blickte betreten zur Seite. „Ist irgendetwas vorgefallen wegen mir?“ „Ich glaube, nichts Schlimmes.“ Eigentlich konnte er das auch selber feststellen, aber Crimson wies nicht darauf hin. Soach seufzte langgezogen. „Ich hoffe, wir hören bald etwas vom Zirkel. Diese Ungewissheit geht mir zusätzlich auf die Nerven. Ich liege ewig wach, weil ich daran denken muss, und dann träume ich dieses Zeug...“ Er setzte sich auf sein Bett, sah aber nicht so aus, als wolle er gleich wieder schlafen. Crimson zuckte mit den Schultern. „Du weißt doch, wie das ist... sie brauchen eine Weile, ehe sie alle Mitglieder versammeln oder zumindest nach ihrer Meinung befragen können.“ „Hmm... und dann ist da noch diese Sache mit der Rehabilitandenstelle...“ „Du machst dir Sorgen, dass sie dich wegschicken? Zumindest da kannst du ganz beruhigt sein, das lasse ich nicht zu. Ähm... möchtest du einen Schlaftrank? Du hast schon letzte und vorletzte Nacht nicht richtig geschlafen.“ Soach schlang die Arme um sich, als würde er frieren. „Ich... weiß nicht. Vielleicht etwas, das kein Meras benötigt, um zu wirken. Vindictus hat erklärt, dass mein Körper dafür jetzt Kapall nimmt, aber erst muss er sich umstellen.“ „Oh. Ich habe auch andere Sachen im Inventar. Ich hole schnell was.“ Crimson wollte schon vorschlagen, dass der Körper sich vielleicht auch angewöhnen konnte, mit Kapall zu zaubern, aber etwas hielt ihn zurück. Sein Unterbewusstsein kannte die Antwort. Er begab sich zügig zur Krankenstation, brühte einen beruhigenden Tee auf und kehrte mit dem Becher zu Soach zurück. Aber so konnte es nicht weitergehen. Crimson wachte darüber, dass Soach sich wieder hinlegte, nachdem er den Tee getrunken hatte, und wartete, bis der Mann schlief. [Catherine,] sandte er an sein Schlossherz. [Finde heraus, ob wir Bücher zum Thema Traummagie im Inventar haben, oder ob es einen Spezialisten gibt, den ich fragen kann.] Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, Soach vor seinen Träumen zu bewahren und damit das Risiko für das Schloss zu vermindern. [Ich werde das Kristallschloss kontaktieren,] antwortete Cathy. Er ging die Verzeichnisse der Bibliothek und der Schatzkammer durch. Alle Bücher, die jemals einer seiner Herren gelesen hatte, konnte er auch inhaltlich prüfen. Das dauerte allerdings eine Weile. Nun ja... vielleicht zehn Minuten. Indessen schlich Crimson aus dem Zimmer des früheren Chaosmagiers und begab sich, diesmal in gemäßigtem Tempo, zurück in seines. Unterwegs begegnete ihm eine Gestalt in einem Morgenmantel, die eine Lichtkugel neben sich her schweben ließ. „Oh... hallo, Paps.“ „Crimson... ich dachte mir, dass du zu Soach unterwegs bist,“ sagte Shiro leise. Sein Sohn runzelte die Stirn. „Woher weißt du denn, wo der sein Zimmer hat?“ „Ich weiß so einiges über dieses Schloss und seine Seele, seit Turmalinda quasi eine Dauerverbindung zu euch hat,“ verriet der Lichtmagier. „Die tratschen ja alle wie die Waschweiber, einschließlich Draconiel.“ Shiro schaffte es, positive Energie auszustrahlen, obwohl das Schloss um ihn herum in einen Mantel der Frustration gehüllt war. Möglicherweise, weil er von der Stimmung im Kristallschloss zehren konnte, die zweifellos etwas besser ausfiel. „Wann ist nochmal diese Beseelungsfeier, die deine Schüler planen?“ erkundigte er sich. Crimon musste kurz nachdenken, denn derzeit wusste er nicht immer ganz genau, welches Datum sie hatten. „In knapp zwei Wochen...“ „Dann hat mein Bruder ja noch ein bisschen Zeit. Er ist ziemlich zielstrebig damit beschäftigt, Briefe zu schreiben und Boten zu weit entfernten Orten zu schicken... mal ganz was neues für den alten Herumtreiber. Er versucht, Soach zu helfen.“ „Onkel Kuro? Ich dachte, er hasst Soach.“ „Er sagt, dass er das nur tut, damit sein Sohn seinen Chaosmagier wiederhaben kann,“ grinste Shiro. „Dafür muss er eben eine Möglichkeit finden, damit du deinen zurück bekommst.“ Crimson sah zwar wenig Hoffnung, ließ sich aber durch Shiros Worte etwas aufheitern und die Stimmung auf das Schlossherz überschwappen. „Ich glaube, ohne eure Hilfe wäre ich schon untergegangen,“ murmelte er. „Ihr beeinflusst Cathy mit eurer guten Laune zum Positiven.“ „Dafür sind wir ja da...“ sagte Shiro. „Kuro beschwert sich zwar ständig, weil er sich ein kleines bisschen traurig fühlt, obwohl er keinen Grund dafür sieht, aber er würde dich nie im Stich lassen. Und was Dark angeht... ich denke mal, im Moment geht es dem ziemlich gut.“ „Ich will es gar nicht so genau wissen,“ lachte Crimson. „Aber wenn es die Stimmung hebt, soll er mal schön weitermachen...“ Er konnte Cathy gerade noch davon abhalten, ihn einen Blick in das Zimmer werfen zu lassen, in dem Dark übernachtete, und zwar nicht alleine. Das ging ihn nun wirklich nichts an, aber natürlich spürte das Schlossherz seine heimliche Neugier. Seine Wangen fühlten sich heiß an. Falls sein Vater etwas merkte, zeigte er es nicht. „Du kennst dich nicht zufällig mit Traummagie aus?“ fragte Crimson ihn. Shiro schüttelte den Kopf. „Nicht besser als du, und damit solltest du auch vorsichtig sein. Aber das sage ich immer. Also warum tust du nicht, was ein Chaosmagier tun würde, und versuchst es einfach? Du bist schließlich am engsten mit ihm verbunden.“ „Ah. Anscheinend weißt du, worum es dabei geht...“ Crimson fröstelte ein wenig, da er nichts als ein dünnes Nachthemd anhatte, und setzte den Weg zu seinem Turm fort. Shiro heftete sich an seine Fersen. „War ja nicht schwer zu erraten. Ihr zwei braucht vermutlich gar keine Traummagie, um euch einen Traum zu teilen.“ „Allerdings nicht,“ seufzte Crimson. „Mir hat es eigentlich gereicht, die Ausbrennung als Zuschauer zu sehen.“ „Davon träumt er also... das war wohl zu erwarten,“ murmelte sein Vater. „Wenn du das nächste Mal dort bist, in seinem Traum, versuche, ihn in deine Perspektive zu versetzen. Das wird die Sache zumindest ein wenig leichter machen, hoffe ich. Dann versuche, die Szene zu verlassen.“ „Bist du sicher, dass du dich damit nicht auskennst?“ „Ach... es ist nur das, was ich tun würde.“ Shiro begleitete seinen Sohn bis in dessen Zimmer. Crimson stellte keine Fragen und widersprach auch nicht, als der Ältere sich auf den Stuhl am Schreibtisch setzte und sein Licht dämpfte. Es tat ganz gut, dass noch jemand da war, um aufzupassen, dass er nach einem möglichen weiteren Alptraum einen kühlen Kopf behielt. Soach gähnte. Diese Nacht hatte ihn Crimsons Tee zwar wieder einschlafen lassen, aber nicht für lange. Er hatte sein morgendliches Training auf etwas früher verlegt und sich dann um das Frühstück gekümmert. Es bestand aus Omelettfetzen, denn er schaffte es nicht, die Dinger unbeschadet in der Pfanne zu wenden. Der Geschmack... nun, er ließ sich aushalten, wenn man Röstaromen mochte. Eines der Mädels schickte ihn zum Abwasch. „Überlasst uns lieber das Kochen, schließlich wollen ja alle satt werden.“ Soach seufzte. So war er also vom Prinzen und Chaoshexer zum Tellerwäscher geworden. Doch selbst das gestaltete sich schwierig... er zerbrach versehentlich einen Tonbecher und schnitt sich daran, stach sich an einer Fleischgabel und verletzte sich an einem Messer. Die Küchenmädchen scheuchten ihn zur Krankenstation, damit er sich die blutenden Finger heilen lassen konnte. Zum Glück traf er Vindictus an, bemerkte aber, dass Lily auf einem der Betten lag und sich gerade von Dsasheera untersuchen ließ. Die Amazone betastete mit geschlossenen Augen ihren Bauch. Soach trat näher, unbeachtet von der Heilerin. „Scheint alles gut zu sein, meine Liebe,“ sagte Dsasheera. „Oh! Ich glaube, das werden Flügel! Herzlichen Glückwunsch!“ Lily kicherte. „Das ist ja schön! Dass man das jetzt schon erkennen kann!“ „Nun ja, es hilft, dass ich hellsehen kann, Kind.“ Etwas zupfte an Soachs Ärmel. Er blickte nach unten. „Steh da nicht rum, du blutest ja alles voll.“ Vindictus drängte ihn zu einem Stuhl, so dass er die Hände begutachten konnte. „Ohne Magie stellst du dich ja echt idiotisch an...“ Soach spürte das Kribbeln eines Heilzaubers in seinen Händen, doch es dauerte ziemlich lange, die kleinen Küchenverletzungen zu heilen. „Dein Kapall scheint allmählich seine Aufgaben wahrzunehmen. Aber wie ich schon sagte, ist es wenig, also versuch, schlimme Wunden zu vermeiden,“ grummelte Vindictus. Soach hob eine Augenbraue. „Ich dachte, das mit dem Kapall gilt nur für Tränke.“ „Schon, und ich kann auch mein eigenes Meras benutzen, wenn ich dich heile, aber es funktioniert besser mit der körpereigenen Kraft des Patienten,“ erklärte der Heiler. Er runzelte die Stirn. „Was ist das... hast du dich am Bein auch verletzt?“ Soach sprang rasch auf und entzog ihm seine Hände. „Äh... wahrscheinlich meinst du was von gestern... beim Training mit Gorz... Danke, Vindictus, ich habe es ziemlich eilig. Ähm... voller Terminkalender wieder einmal.“ „Ja... wie du meinst...“ Soach flüchtete regelrecht und sah sich nicht einmal nach Lily um. Draußen stieß er fast mit Legend zusammen. „Oh, Soach, ich hab dich gesucht. Hast du kurz Zeit?“ „Äh, sicher...“ Soach packte den Arm des jungen Mannes und zog ihn mit sich, bis er genug Abstand zwischen sich und Vindictus gebracht hatte. Mit dem Alten musste er vorsichtiger sein. „So, was gibt es?“ Der blonde Schüler schien sich nichts dabei zu denken. „Die anderen baten mich, dich etwas zu fragen, weil sie sich selbst nicht recht trauen. Und zwar: Ist es möglich, dass du bei der kommenden Beseelungsfeier auf ein Stichwort die Schriftzeichen an den Wänden aufleuchten lässt?“ Soach blinzelte überrascht. „Das sollte kein Problem sein.“ „Hervorragend! Ich werde es ihnen sagen!“ verkündete Legend. „Wieso trauen sich die Schüler denn nicht selbst, mit mir zu reden?“ hakte Soach nach, obwohl er es sich denken konnte. Legend zögerte ein wenig. „Sie, äh, scheinen nicht recht zu wissen, wie sie jetzt mit dir umgehen sollen. Ich habe ihnen erklärt, dass sie sich ganz normal verhalten sollen und auch ruhig Fragen stellen können, die dich vielleicht an deine verlorene Magie erinnern. Schließlich nützt es nichts, das Thema zu tabuisieren...“ Legend biss sich auf die Lippe und blickte zur Seite. „Oder... wäre es dir lieber, wenn...“ Soach zwang ein Lächeln in sein Gesicht. „Stimmt, du hast ganz Recht, ich will auf keinen Fall wie ein Invalide behandelt werden, und ihr könnt auch ruhig mit mir über Magie reden, das macht mir nichts aus.“ Die Lüge kam glatt über seine Lippen, wenn auch etwas hastig. Legend wirkte entgegen seiner sonstigen sorglosen Art direkt schüchtern und unsicher. „Naja, also dann planen wir das ein, nicht wahr... es wird sicherlich ein schöner Effekt.“ „Ja, dafür sorge ich schon,“ versprach Soach. „Wenn es noch Einzelheiten gibt, die ich dazu wissen sollte, sagt mir Bescheid.“ „Ist gut. Das war es auch schon.“ Legend verzog sich eilig. Als er wieder allein war, rieb sich Soach stöhnend die Schläfen. Die Beseelungsfeier. Die hatte er ganz verdrängt. Hoffentlich stand er das wirklich so einfach durch, wie er behauptete. Allerdings blieb ihm noch etwas Zeit bis dahin, um entweder etwas gelassener zu werden oder völlig durchzudrehen. Damit ihm niemand anmerkte, wie aufgewühlt er schon wieder war, unternahm er einen weiteren Spaziergang ins Dorf. Wenn er sich so oft wie möglich vom Schloss fern hielt, ging es den Bewohnern auch besser, und er selbst konnte sich einreden, dass er keine Magie anwendete, weil es auf solchen Alltagsmissionen keinen Grund dafür gab. Was das anging, machte er sich auch nur etwas vor, denn vermutlich benutzte kein Magier im Schattenreich so viel Magie im Alltag, wie er es getan hatte. Wozu ein Magier sein und dann nur in Bedarfsfällen zaubern? Er musste zugeben, dass er immer die staunenden Blicke genossen hatte, wenn er Dinge aus dem Nichts holte und Bücher in der Luft schweben ließ, einfach so nebenbei. Doch umso schwieriger gestaltete sich der Verlust dieser Fähigkeiten nun für ihn. Ob es wohl ausgebrannte Magier gab, die sich gar nicht daran störten? Personen, die danach einfach eine andere Karriere anfingen und ihre Kräfte kaum vermissten? Soach konnte sich das nicht vorstellen. Auf halbem Weg zum Dorf hielt er inne und setzte sich auf einen Stein am Wegesrand, den er seit jeher des Öfteren für diesen Zweck benutzt hatte – schon vor fast einem Jahr, als er geübt hatte, sich ohne seine Seele vom Schloss zu entfernen. Von hier aus betrachtete er die Mauern von Lotusblüte und beobachtete die magischen Strömungen, die es umgaben, während Cathy arbeitete. Er beschloss, sich in der Bibliothek und in der Schatzkammer nach Literatur umzusehen, die ihm helfen konnte, obgleich das Schlossherz die Inhalte schon darauf überprüft hatte. Vielleicht war etwas seiner Aufmerksamkeit entgangen, etwa ein Buch, das noch niemand gelesen hatte. Dies war immerhin besser, als gar nichts zu unternehmen. Aber zunächst hatte er noch etwas im Dorf zu erledigen, und er wollte fertig sein, bevor im Schloss zu viel los war. Crimson gewann zunehmend den Eindruck, dass sein Freund sich ein wenig gegen ihn sperrte, aber das schob er darauf, dass Soach sich bemühte, seine Niedergeschlagenheit zu verheimlichen, möglicherweise sogar vor sich selbst. Er ging neuerdings jeden Tag ins Dorf und machte Besorgungen oder lieferte den Bewohnern Tränke aus dem Schlossfundus, oder er ging am Meer entlang, manchmal auch im Rahmen seines Trainings mit Gorz. Im Großen und Ganzen jedenfalls hielt er sich oft außerhalb des Gebietes auf, das Cathy kontrollierte. Wenn er das tat, verminderten sich die negativen Folgen seiner angeschlagenen seelischen Verfassung auf das Schloss, obgleich sie nie ganz verschwinden konnten – eben weil diese Seele dem Schloss gehörte, aber noch von dem ausgebrannten Magier mitbenutzt wurde. Crimson ließ ihn gewähren, behielt ihn aber im Auge. Er sorgte sich, dass Soach vielleicht zu viel Zeit alleine verbrachte. Kurz nach dem Frühstück jedoch ergaben sich wieder Sorgen anderer Art, denn die Abordnung des Zirkels des Bösen kam endlich an. Crimson empfing die Gruppe vor dem Haupttor, wobei er bemerkte, dass sie sich alle ziemlich in Schale geworfen hatten für diesen offiziellen Anlass. Mit einem selbstironischen Lächeln nahm er seinen eigenen Alltagsaufzug zur Kenntnis, bestehend aus einer verwaschenen roten Robe und alten Sandalen. Nun ja. Wenn diese Leute sich nicht vorher anmelden konnten, sollten sie sich lieber nicht beschweren. Zu seiner Erleichterung erkannte er Lord Genesis unter den Besuchern, und auch Marquis Belial befand sich in der Gruppe. Sie reisten auf eigenen Flügeln, ebenso wie zwei von drei fremden Zirkelmitgliedern, die Crimson allerdings alle vom Sehen kannte. Derjenige von ihnen, der anscheinend keine Flügel besaß, reiste auf einem Drachen an, und ein zweiter Drache trug Opa Sage und Oma Cosmea. Ein etwas kleineres Exemplar verspätete sich und ließ Thaumator absteigen. Crimson spürte starken Unwillen in sich aufsteigen. Seine Großmutter konnte er gerade noch ertragen, aber was hatte der jüngere Ausbrenner hier zu suchen? Der flügellose Fremde ging ganz vorne. Er war ein gutaussehender Mann mit einer Flut rotbraunen Haares, den Crimson auf Mitte dreißig schätzte, doch bei einem Unterweltler konnte das täuschen. Seine Augen leuchteten goldgelb, und das linke war von einer andersartigen Haut umgeben, die aussah wie Drachenschuppen. Crimson hatte das Phänomen erst für eine Narbe gehalten, sich aber bei näherem Hinsehen korrigiert. Der Körper verschwand unter einem schwarzen Umhang mit protzigen Silberapplikationen am Kragen, doch der Fremde holte eine Hand hervor, um sie auf die linke Brust zu legen, wo die meisten Wesen das Herz hatten. Er neigte feierlich das Haupt. „Seid gegrüßt, Lord Crimson vom Lotusschloss. Ich bin Vanis, amtierender Vorsitzender des Zirkels des Bösen.“ Er wandte sich zu seinen Begleitern um. „Ihr kennt Lord Genesis, Marquis Belial, Thaumator, Meister Sage und Lady Cosmea. Diese beiden Herren sind Finsterlord Asmodeus und Finsterlord Desire.“ Crimson grüßte die Gruppe ebenfalls mit einem Nicken. Asmodeus hatte nachtblaue Federflügel und Desire rote, beide schienen Feen zu sein, wenn ihn sein Gespür nicht trügte. Sie trugen hübsche Rüstungen, dienten den anderen möglicherweise als Geleitschutz. Die sichtbare Haut war hell, fast schneeweiß. „Wir sind gekommen, um über Eure Aufnahme in den Zirkel zu sprechen,“ lenkte Vanis seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Natürlich. Gehen wir in mein Büro.“ Crimson erinnerte sich an seine Manieren und ließ die Leute durch das offene Haupttor eintreten. Die Torflügel schlossen sich wie von Geisterhand hinter ihnen. Als sie einige Schritte weit gekommen waren, leuchtete plötzlich ein Kreis aus Schriftzeichen unter Thaumator auf, gleich danach auch unter Cosmea. Sage, der neben seiner Partnerin ging, streckte instinktiv die Hand nach ihr aus und stieß gegen eine Barriere. „Was hat das zu bedeuten?“ empörte die Magierin sich. Catherine tauchte neben Crimson auf. „Diese beiden sind hier nicht willkommen!“ „Cathy, das ist vielleicht nicht der richtige Augenblick,“ zischte Crimson seinem Schlossherz zu. Doch der Geist ließ sich nicht beirren. „Es gibt gar keinen Grund, warum sie unbedingt dabei sein müssen!“ „Also wirklich! Ich kam mit, weil ich Crimsons Großmutter bin!“ sagte Cosmea. „Und was ist mit dem da?“ Cathy zeigte auf den jüngeren Kollegen. Thaumator lächelte dünn. „Ich bin Mitglied im Zirkel und wollte dabei sein, wenn ein neuer Kollege beitritt. Das ist wohl kaum verwerflich, oder?“ „Für solche Gelegenheiten wird immer bevorzugt eine Gruppe von Personen geschickt, die der Betreffende kennt,“ ergriff Vanis das Wort. „Jedoch mindestens sieben. Das ist Tradition.“ „Das sind acht, schmeiß den Kerl raus!“ zeterte Cathy. Crimson fiel es auch schwer, den Mann zu dulden, der an Soachs Ausbrennung beteiligt gewesen war, doch er konnte sich denken, woran das lag. Die Seele des Schlosses lehnte ihn ab, und ebenso Cosmea, wenn auch nicht so stark – immerhin war sie seine Großmutter. Allerdings konnte er den beiden im Grunde genommen nichts vorwerfen. Ernst sagte er zu seinem Schlossherz: „Cathy, mir ist klar, dass du so reagierst, weil Soach... nun, ich will nicht sagen, sie fürchtet... er möchte sie eben verständlicherweise nicht wiedersehen. Jedoch ist es nichts Persönliches, hörst du? Sie verurteilten ihn zur Ausbrennung der Magie, und jemand musste es machen.“ Davon abgesehen hatten sie Thaumator und Cosmea ja schon beim letzten Besuch geneckt, diese neue Gelegenheit hatte nichts mit Soachs Ausbrennung zu tun. Es ging um die Aufnahme in den Zirkel. Crimson war sich unangenehm bewusst, dass die Besucher seinen Machtkampf mit dem Schlossgeist genau verfolgten. Vielleicht sah auch Cathy das in diesem Moment ein, jedenfalls löste er sich mit einem letzten wütenden Schnaufen auf. „Ich bitte um Verzeihung,“ murmelte Crimson. „Es ist für uns alle momentan nicht leicht.“ „Ja, Belial erzählte, dass die Seele des Rehabilitanden Sorc an dieses Schloss gebunden ist. Ich möchte mir kein Urteil darüber erlauben,“ meinte Vanis. „Wenn das dann geklärt ist, können wir mit dem eigentlichen Grund unseres Kommens fortfahren.“ „Ja, bitte.“ Crimson führte die Männer und Cosmea zu seinem Büro. Er hatte nicht genügend Stühle in dem Raum, aber die Geflügelten wollten ohnehin lieber stehen bleiben. Vanis breitete einige Papiere auf dem Kaffeetischchen aus. Dabei kamen wieder seine Arme zum Vorschein – sie waren mit Fell bedeckt, das erst auf den Handrücken aufhörte. „Der Zirkel des Bösen hat Euren Antrag auf Aufnahme mit einer Mehrheit von 58% gebilligt. Herzlichen Glückwunsch. Außerdem seid Ihr nun der Besitzer der Ländereien von Edeh Arae, da sein Clan keine Einwände erhoben hat.“ Crimson fragte sich im Stillen, ob Lady Charoselle dem Arae Clan dazu geraten hatte. Er nahm zur Kenntnis, dass es nun so aussah, als hätte er darum gebeten, Mitglied im Zirkel zu werden, dabei wäre er selbst nie auf diese Idee gekommen. Vermutlich eine Formsache. „Ähm... der Anteil der Zustimmungen erscheint mir fast ein wenig gering, sollte ich mir da Sorgen machen?“ hakte er nach. „Ach was,“ winkte Vanis ab. „Niemand konnte behaupten, Euch nicht zu kennen, wo Ihr doch erst kürzlich Gast bei uns gewesen seid, aber manche stimmen dagegen, einfach damit es kein einstimmiges Ergebnis wird. Einige sind auch Araes Sympathisanten, doch das muss Euch nicht beunruhigen.“ Es beunruhigte Crimson trotzdem, und er hatte einige Mühe, gelassen zu bleiben. „Danke,“ sagte er mit möglichst festem Tonfall. „Ich hätte es auch bedauert, mich mit den Araes streiten zu müssen.“ Die letzte Bemerkung brachte ihm ein paar hochgezogene Augenbrauen, was ihm gut gefiel. Eigentlich lag es ihm fern, sich mit einem ganzen Unterweltlerclan anzulegen, aber vor dem Zirkel des Bösen galt es, Stärke zu zeigen. „Besitzt ihr schon ein eigenes Wappen, das ihr dort auf einer Flagge hissen könnt?“ erkundigte Vanis sich. „Ich habe eine Schulfahne, geht die?“ fragte Crimson. Dann besann er sich und drückte sich noch einmal anders aus: „Ich meine... ja, wir haben noch einige Exemplare in Reserve. Ich werde noch heute einen Boten hinschicken.“ „Sehr gut,“ nickte der Zirkelvorsitzende. „Wir haben Euch auch eine Flagge mitgebracht. Die Flagge des Zirkels, die Ihr von nun an von Euren Türmen wehen lassen könnt.“ Auf das Stichwort holte Sage die Flagge unter seinem Umhang hervor und überreichte sie seinem Enkel mit einem Augenzwinkern und einem Lächeln, das wie stolze Anerkennung wirkte, so als sei der Alte froh, dass wenigstens einer seiner Enkel ihm nachfolgte. Crimson nahm einen schwarzen Stoffbeutel entgegen, in dem die Flagge zusammengefaltet zu sein schien. Etwas unsicher fragte er sich, ob sie wohl von ihm erwarteten, dass er sie auspackte, aber Vanis beantwortete ihm das indirekt, indem er auf weitere Punkte zu sprechen kam. „Hier sind einige Informationsblätter für Euch, und hier... das Buch über unsere Geheimschrift, in der Ihr Briefe an andere Mitglieder verfassen könnt. Lernt sie so schnell wie möglich. Hier das Buch über unsere Traditionen und Regeln, Kleiderverordnungen und allgemeine...“ An dieser Stelle unterbrach Crimson ihn. „Moment. Heißt das, ich muss mir so einen rüschenbehafteten Kleidungsstil anschaffen?“ „Rüschen? Oh, weil einige unserer Mitglieder das mögen!“ Vanis lachte amüsiert. „Nicht doch, aber wir haben zu bestimmten Anlässen beispielsweise eine Pflicht für schwarze Roben. Außerdem solltet Ihr Euch überlegen, stilistische Merkmale in Eure Alltagskleidung zu integrieren, an denen Ihr leicht zu erkennen seid. Nur für den Wiedererkennungswert, es kann praktisch alles sein. Und es gibt den Brauch, Gästezimmer mit vornehmer Kleidung auszustatten. Solche Dinge stehen da drin.“ „Oh... dann fahrt doch bitte fort.“ Das tat der Vorsitzende. Crimson bekam weitere Bücher, Merkzettel und Infobroschüren. Für letztere hatte der Zirkel offenbar eine Vorliebe, das wusste er ja, seit er Soach als Rehabilitand hier beherbergte. Zuletzt händige der Unterweltler ihm eine Einladung zum nächsten Zirkeltreffen aus. „Es ist üblich, dass jedes Mitglied einen Begleiter mitbringt, der helfende Tätigkeiten ausführt, etwa Akten tragen oder so. Das macht auch generell einen einflussreichen Eindruck,“ erklärte Vanis. „Habt Ihr schon jemanden für dieses Amt im Hinterkopf?“ „Soach,“ antwortete Crimson sofort. Das folgende Schweigen war direkt ohrenbetäubend. „Nun... vielleicht sollten wir dieses Thema jetzt besprechen,“ meldete sich Marquis Belial zu Wort. „Ihr wart doch so gut wie fertig, oder, Vanis?“ „Ich glaube, das Wichtigste ist gesagt. Bitte, Marquis.“ Der Vorsitzende lehnte sich zurück und ließ Belial reden. Der Sachbearbeiter für den Rehabilitanden Sorc trat an den Tisch heran und reichte Crimson eine Liste. „Dies ist eine Aufzählung der Personen und Gruppen, die sich als Rehabilitationsstelle beworben haben. Wir haben entschieden, Euch zu begünstigen, jedoch werden wir all diesen Bewerbern mitteilen, dass sie persönlich Angebote oder Forderungen unterbreiten dürfen, die Sorc annehmen oder ablehnen kann.“ „Forderungen?“ wiederholte Crimson. „Was wäre das zum Beispiel?“ „Nichts Schlimmes,“ versicherte der Marquis. „Nur wird es den ein oder anderen geben, der sein Angebot nicht so freundlich formuliert wie die übrigen, das ist alles. Viele werden vermutlich gar nicht reagieren, etwa das Kristallschloss.“ „Wo steckt Soach eigentlich?“ fragte Sage. „Oh... er ist...“ Crimson schloss die Augen und sah nach. „Er war auf einem Botengang, wird aber bald hier sein.“ „Ich dachte schon, er traut sich nicht,“ bemerkte Cosmea. Soach zuckte ertappt zusammen, während er die Einkäufe auf seinem Bett abstellte. Er tauschte nur schnell seine Stiefel gegen ein saubereres Paar aus, dann ließ er die Sachen erst einmal stehen und begab sich zügig zum Büro. Dort begegnete er Milla, die vor der Tür stand und sich anscheinend nicht zum Anklopfen überwinden konnte. Sie trug ein Tablett mit einem Teegedeck bei sich. „Hey. Was machst du denn da? Traust du dich nicht rein?“ sprach er sie an. Sie wirkte geradezu erleichtert, ihn zu sehen. „Oh, Soach! Nun, ähm... da sind lauter Leute vom Zirkel des Bösen drin, die machen mich ganz nervös! Ich bin eh schon so aufgekratzt, seit... Nun ja, seit... das mit dir passiert ist.“ „Verstehe,“ meinte er. „Das Schloss überträgt die Stimmung seiner Seele auf euch.“ „Ja, ich glaube schon. Was ist denn mit deiner Hand passiert? Alles in Ordnung?“ „Zu viel Neugier in der Schmiede im Dorf.“ Vindictus würde vermutlich den Kopf schütteln angesichts seines ungeschickten Verbandes an der rechten Hand, aber er wollte auf keinen Fall schon wieder zu ihm. Soach hatte im Dorf extra Vorräte an Bandagen für seinen persönlichen Bedarf besorgt. Salben stellte Crimson ja selber her oder beauftragte ihn damit, so konnte er sich auch daran bedienen, ohne dass sich die Heiler wunderten. Unter den gegebenen Umständen musste Soach nur darauf achten, die Zutaten immer wieder nachzufüllen. Er nahm der Schülerin das Tablett ab. „Ich kümmere mich darum.“ „Ja, danke.“ Milla gab es ihm mit einem Lächeln. Soach legte die bandagierte Hand auf die Klinke, während die andere das Tablett balancierte. Wenigstens sorgte die Tatsache, dass darin Cosmea und Thaumator saßen, dafür, dass seine Gedanken bei seiner Magie waren, so dass er nicht versuchte, das Tablett schweben zu lassen. Er straffte seine Haltung, setzte eine möglichst neutrale Mine auf und trat ein. Alle Blicke richteten sich auf ihn, bis auf Crimsons, der in die Lektüre eines Zirkelformulars vertieft war. Genesis kam ihm sogleich entgegen und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Soach! Bist du wieder wohlauf? Das freut mich.“ „Ja... Danke der Nachfrage.“ Soach stellte das Tablett auf den Tisch und verteilte Tassen, in die er dann Tee eingoss. „Hallo, Vanis,“ sagte er, als er dem Vorsitzenden eine reichte. Crimson sah von seinem Formular auf. „Ihr kennt euch?“ „Er wäre fast mein Schwager geworden,“ verriet Vanis. „Oh... Kriegerbeerentee. Lecker.“ Soach klemmte sich das Tablett unter einen Arm und hielt sich daran fest, während er sich neben Crimsons Stuhl stellte und abwartete, ob jemand etwas zu seiner Person zu sagen hatte. „Konntest du unser bisheriges Gespräch verfolgen?“ fragte Vanis ihn geradeheraus. „Ich war so frei,“ gab Soach zu. Er hatte das Gefühl, dass Thaumator ihn anstarrte, widerstand aber dem Drang zurückzustarren. Vielleicht bildete er es sich auch ein. „Dann hast du ja mitbekommen, was wir besprochen haben, und dass du hier bleiben kannst, sofern dir kein anderes Angebot gefällt,“ fuhr Vanis fort. „Dein Schlossherr wollte dich als den Vertrauten an seiner Seite.“ „Von mir aus gibt es da kein Problem,“ versicherte Soach genauso schnell, wie Crimson verkündet hatte, dass er Soach für diese Aufgabe wollte. Belial holte sein Klemmbrett unter dem Umhang hervor. „Ich werde das erst einmal notieren, und wenn sich nichts anderes ergibt...“ „Es wird sich nichts anderes ergeben,“ unterbrach Soach ihn. „Mein Platz ist genau hier. Auf Schloss Lotusblüte, an der Seite des Schlossherrn.“ Er wusste, dass Crimson grinste, obwohl er nicht hinsah. „Ihr glaubt nicht wirklich, dass mein Schlossherz und ich diesen Mann aus unseren Fängen lassen würden?“ fragte der weißhaarige Magier herausfordernd in die Runde. „Lord Crimson, letztendlich müsst Ihr akzeptieren, wie wir entscheiden,“ wandte Belial ein. „Sagt wer?“ entgegnete Crimson. „Ich möchte zu Protokoll geben, das ich mich an die Regeln gehalten und mich ordnungsgemäß für diesen Rehabilitanden beworben habe, aber ich kann auch anders. Und sagtet Ihr nicht sowieso, dass er hierbleiben kann?“ „Wenn die Bewerber ihn nicht überzeugen,“ erinnerte der Marquis ihn. „Dann ist das ja geklärt,“ setzte Crimson fest. Lord Genesis lachte. „Habe ich euch nicht gesagt, dass wir einen interessanten Neuling kriegen werden?“ Er leerte seine Teetasse. „Wenn es keine Umstände macht, würde ich mich gerne in ein Gästezimmer zurückziehen, ich schlage mir jetzt schon zum wiederholten Mal den Tag um die Ohren. Vielleicht bringt unser Gastgeber mir ja später das Frühstück...“ Die Gruppe johlte, als wüssten alle, wie er das meinte. Vanis erhob sich. „Dann können wir ja nun zum entspannten Teil übergehen. Angelus, du kennst ja das Schloss schon, aber wir anderen würden uns gerne etwas umsehen. Führst du uns herum, Crimson? Ich darf doch du sagen?“ „Ja, also, wenn ich das auch darf?“ entgegnete Crimson mit einem etwas verdutzten Gesichtsausdruck. „Wir benehmen uns nur bei offiziellen Anlässen so förmlich,“ erklärte Sage. „Du hast hoffentlich genug Platz, Crimson, wir wollen gerne ein oder zwei Tage bleiben.“ „Was?“ riefen Soach und Crimson wie aus einem Munde, dann mussten sie zusammen darum kämpfen, dass Cathy sich nicht materialisierte und seine Meinung dazu kundtat. [Schmeißt Thaumator raus!] zeterte der Geist. [Cathy, es ist schon gut. Du hasst ihn doch nur meinetwegen...] versuchte Soach ihn zu beruhigen. Damit der innere Dialog nicht so auffiel, beschäftigte er sich damit, die Teetassen wieder auf dem Tablett zu stapeln. Crimson indessen klinkte sich aus und kümmerte sich um die Besucher. Soach bekam mit, dass er die Gruppe aufforderte, ihm nach draußen zu folgen, um sich zunächst die Gärten anzusehen. [Ich könnte dafür sorgen, dass er sich bei einem Sturz den Hals bricht!] schlug Catherine vor. [Nein, lass ihn einfach zufrieden. Vielleicht... ist es ganz gut, dass ich mich mit ihm auseinandersetzen muss.] Soach gefiel es auch nicht, dass die beiden Magier, mit denen er so negative Erinnerungen verband, sich in seinem Seelenbereich befanden, aber im Prinzip stimmte es, was Crimson vor kurzem gesagt hatte... jemand hatte das Urteil vollstrecken müssen. Das war alles. Als er mit den Teetassen fertig war, bemerkte er, dass Lord Genesis zurückgeblieben war. „Crimson meinte, du könntest mir mein Zimmer zeigen,“ sagte der Vampir. „Sicher, bitte folgt mir.“ Soach führte Genesis zu einem Gästezimmer im ersten Obergeschoss. Er wählte eines mit Balkon mit Blick zum Meer. „Braucht Ihr noch etwas? Ich fürchte, wir haben noch keine Nachtgewänder bereitgestellt, aber ich könnte eines besorgen...“ „Es wird gehen,“ versicherte der Vampir. „Was ist mit deiner Hand passiert?“ „Ich hab mich am Herd verbrannt,“ antwortete Soach knapp. Genesis ließ es dabei bewenden und war dabei, die Vorhänge zuzuziehen, als Soach ihn verließ. Der Prinz kam kaum ein paar Schritte weit, da fiel seine Mutter geradezu über ihn her. „Na? Hat sich entschieden, was sie mit dir machen?“ begehrte sie zu erfahren. Ishzark hielt einen Meter Sicherheitsabstand zu ihr. „Sie hat auf die Bürotür gelauert und dich verfolgt,“ flüsterte er deutlich hörbar, aber seine Frau ignorierte ihn. „Es ist alles in Ordnung, Mutter,“ konnte er ihr nun endlich mitteilen. „Von dir ist diese Bemerkung immer ein Grund zur Vorsicht!“ meinte sie misstrauisch. „Was ist mit deiner Hand?“ Soach verdrehte die Augen. „Eigene Trotteligkeit.“ „Ich hab dir immer gesagt, dass du dich viel zu sehr auf deine Magie verlässt, mein Junge,“ seufzte sie. „Jetzt bist du völlig hilflos...“ „Es ist nur eine Gewöhnungsphase,“ wiegelte er das Thema ab. „Macht euch keine Sorgen. Ähm... ich muss noch das Teetablett in die Küche bringen, dann erzähle ich euch alles, ja?“ Soach ging noch einmal ins Büro, um wie angekündigt das Tablett wegzubringen. Dort angekommen, erschien ihm Catherine. „Wird es weitere solche Unfälle geben?“ fragte der Schlossgeist mit strenger Mine und deutete auf die verbundene Hand. „Und wenn schon,“ murmelte Soach mit einem Anflug von Trotz. „Das ist meine Sache.“ Kapitel 23: Schlosspsychologie ------------------------------ Schloss Lotusblüte tischte für gewöhnlich nur Mittagessen für Schüler auf. Insofern verfügte die Speisekarte nicht über Bankettvorschläge. Da Crimson keinerlei Vorwarnung erhalten hatte, stürzte er sich auch nicht wegen des Besuchs in spontane Umplanungen oder Nahrungsmitteleinkäufe. Bisher hatte er in den Unterlagen des Zirkels des Bösen keinen Hinweis darauf gefunden, dass es ein Problem damit gab, eine Schule zu führen und gleichzeitig im Zirkel zu sein. Und vielleicht bestand auch keine Verpflichtung, Gäste fürstlich zu bewirten – sie satt zu kriegen schien zu reichen. Die sieben Gäste jedenfalls taten sich ohne zu murren an dem Gemüseeintopf nach einem Rezept von Kuro gütlich. Crimson gewann sogar den Eindruck, dass sie es genossen, einfach nur den Teller beladen zu müssen. Da inzwischen auch jeder ein Gästezimmer bezogen hatte, präsentierten sich die Leute vom Zirkel etwas lockerer: Alle hatten ihre schwere Reisekleidung und protzige Teile abgelegt, die Magier zum Beispiel ihre Hüte und Reisemäntel, die dunklen Feen ihre Rüstungen und Vanis den mit Silber verzierten Umhang. So wirkten sie gleich viel weniger einschüchternd auf die Schüler und generell normaler. Besonders Desire und Asmodeus waren kaum wiederzuerkennen, denn sie liefen in Leggings, Sandalen und einem locker sitzenden Hemd herum. Außerdem gehörten sie zu denen, die ihre Flügel wegzaubern konnten. Das kannte Crimson beispielsweise von Weaver, Darks Mutter, aber Lily verfügte offenbar nicht über diese Fähigkeit. Marquis Belial trug seine Flügel noch, nicht jedoch seine Rüstungselemente und den weißen Umhang, unter dem immer sein Klemmbrett steckte. Übrig blieb eine ärmellose Robe in dunklem Violett. Er hatte sein silberfarbenes Haar zusammengebunden, was ihn viel unimposanter machte. Die sieben Zirkelmitglieder saßen zusammen mit Crimson am Tisch und benahmen sich alle wie beste Kumpels, wobei Crimson der Neue war. Dem Schlossherrn war das fast unheimlich, vor allem, da auch Thaumator ab und zu einen Scherz einwarf, obwohl er sonst immer wie der Spaßverderber vom Dienst guckte. Sein Humor war auch eher trockener Natur. Meras schlich um den Tisch herum und beschnupperte die Fremden. Diese wiederum nahmen die Katze aufmerksam in Augenschein, da sie bisher die einzige ihrer Art war. Meras interessierte sich besonders für Sage, möglicherweise, weil sie sich dort das meiste magische Futter erhoffte. Es dauerte nicht lange, und der Alte machte sich einen Spaß daraus, ihr kleine Lichtkugeln als Leckerlis zuzuwerfen. Cosmea gefiel der Garten, den sie vorhin besichtigt hatten. Sie wollte einige Ableger von Crimsons Pflanzen haben, wogegen sie ein paar der ihren zum Tausch anbot. „Habt Ihr von den Kaninchen welche übrig?“ fragte Vanis. „Kann man die essen?“ „Äh... ja und ja,“ antwortete Crimson. „Sie stammen von den Eisigen Inseln und machen sich ganz gut als Verteidiger, auch wenn sie nicht so aussehen. Wir lassen sie auf dem ganzen Gelände frei laufen. Cathy kann den Kräutergarten magisch abriegeln und die Tiere innerhalb unserer Grenzen halten. Sie vermehren sich, so lange genug Futter da ist.“ „Faszinierend.“ Vanis machte durch seine behaarten Arme immer den Eindruck, als wäre er eine Form von Werwolf. Möglicherweise rochen die Kanillas und Wilden Langohren besonders gut für ihn. „Insgesamt ist dies ein schönes Schloss,“ brachte Desire sich ein. „Fast zu schade für eine Schule. Viele Leute würden in so einer Gegend gerne Urlaub machen.“ „Es spricht nichts dagegen,“ erwiderte Crimson, „Wenn man Kinder mag.“ „Man hört, dass bei dir mehrfach Nachwuchs ansteht,“ merkte Asmodeus an. „Also in deinem Schloss.“ Crimson nickte. „Naja, zwei. Es ist eine witzige Konstellation, weil die Väter Soach und sein Sohn Fire sind. Das eine Baby wird also Onkel oder Tante des anderen sein.“ Cosmea seufzte und sagte in Sages Richtung: „Erinnerst du dich noch daran, als Shiro und Kuro klein waren? Sie haben so viel Wirbel in unseren Turm gebracht, ich wünschte manchmal, wir hätten auch ein Mädchen gehabt.“ Einige Blicke wanderten zu dem Tisch, an dem Shiro saß und nicht erkennen ließ, ob er das Gespräch hörte. Soach war heute nicht zum Essen aufgetaucht, doch seine Eltern fragten nicht nach ihm. Er war sicher noch beschäftigt. „Mädchen machen nur Ärger!“ lachte Vanis. „Ich muss es wissen, ich habe zwei Schwestern, drei Nichten, fünf Cousinen und zwei Töchter. Der große Nachteil ist, dass sie Kinder von unbekannten Vätern anschleppen können.“ Crimson bezog das nicht auf Soach, denn falls dieser eines der besagten Kinder gezeugt hatte, war er sicherlich als Vater bekannt. Er kam sich vor wie ein Grünschnabel neben all den Herrschaften, die bereits Eltern oder Geschwister von Eltern waren. Seine Tochter zählte da irgendwie nicht, sie war nicht wirklich Teil seines Lebens. Der Gedanke stimmte ihn wehmütig, so dass er sich gerne ablenken ließ, als Belial von seinem Neffen berichtete, der gerade seine erste Mission als Krieger unternahm. Er erhielt generell viele persönliche Informationen, die er sich unmöglich alle merken konnte. Lediglich Thaumator hielt sich mit Angaben zu seiner Person zurück, was daran liegen mochte, dass ab und zu Putz von der eigentlich makellosen Zimmerdecke auf seinen Teller fiel oder sein Stuhl auf einmal bedrohlich kippelte, weil er auf einer Unebenheit im Boden stand. Er ging dazu über, seinen Eintopf mit einem magischen Schild zu schützen. Crimson hatte Cathy zwar gebeten, die Gäste zufrieden zu lassen, aber ganz zurückhalten konnte der Geist sich offenbar nicht. Er nahm es hin, solange es nicht schlimmer wurde. Als alle ihr Essen beendet hatten und allmählich aus dem Saal strömten, blieb Thaumator noch einen Moment zurück und nahm Crimson beiseite. „Du bist auch Alchemist, oder?“ „Ja, das ist ursprünglich eigentlich nur ein Hobby gewesen,“ meinte Crimson. „Fawarius macht immer eine bestimmte Salbe für mich. Wäre es wohl möglich, dass ich etwas Nachschub bekomme, während wir hier sind? Ob du es ihn machen lässt oder dir von ihm das Rezept geben lässt, ist mir egal.“ Crimson holte gerade Luft, um zu antworten, als sich Catherine neben ihm materialisierte. „Kommt gar nicht in Frage, such dir deinen Kram woanders!“ keifte er den anderen Magier an. „Wenn dieses Zeug hier zusammengemischt wird, werde ich den Kessel umschmeißen und---“ Crimson brachte das Schlossherz mit einem scharfen Gedankenbefehl zum Schweigen. [Niemand wütet in meinem Alchemieturm. Auch du nicht.] Cathy starrte ihn mit offenem Mund an. „Warum fällst du mir in den Rücken?“ „Du hast gedroht, im Alchemieturm den Kessel umzuschmeißen. Da kenne ich keinen Spaß. Und ich möchte, dass du unsere Gäste höflich behandelst.“ „Ach ja? Soll ich mal so höflich zu ihm sein, wie er zu Soach war?“ schrie Cathy außer sich vor Wut. „Merkst du nicht, dass der Kerl sich nur einschleimen will?“ Crimson seufzte. „Tut mir Leid. Cathy weiß nicht, wie er damit umgehen soll, deshalb wird er wütend. Ich werde Fawarius mit unserer Flagge zu Araes früherem Wohnsitz schicken, dann kann er sich dort um Euer... um dein Anliegen kümmern,“ beschloss Crimson. Den älteren Mann zu duzen, kam ihm noch ein wenig ungewohnt vor. „Das ist mir auch recht, danke,“ sagte Thaumator. „Und was dich betrifft, Schlossherz... Ich habe keine Feindschaft mit dir. Du solltest deine Probleme mit deinem Schlossherrn ausmachen, aber nicht vor Besuchern, das hinterlässt einen ungünstigen Eindruck. Als Mitglieder im Zirkel des Bösen solltet ihr das unbedingt vermeiden.“ „Was fällt dir ein, mich zu belehren!“ motzte Cathy hinter ihm her, als der Magier zu den Treppen ging und nach oben verschwand, vermutlich zu seinem Zimmer. „Du eingebildeter, arroganter, aufgeblasener Pinkel!“ Crimson wischte sich stöhnend mit einer Hand durchs Gesicht. Ein paar Schüler standen noch in der Nähe herum und lauschten angestrengt. Thaumator hatte Recht, sein Schlossherz blamierte ihn zu oft vor anderen. Solche Differenzen gehörten in private Räume. „Komm mit ins Büro, Cathy,“ sagte er und ging schon einmal vor. Der Geist schwebte ihm nicht hinterher, sondern tauchte auf, sobald er hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte. Trotzig verschränkte er die Arme. „Wird das jetzt eine Standpauke, wie sie sonst die Schüler kriegen?“ Crimson schloss mit einem Wink seiner Hand die Tür und seufzte. So etwas lag ihm nicht. „Cathy... jeder versteht, wie dir zumute ist. Diese Gefühlswelt, die du derzeit erlebst, ist ganz neu für dich, und nun sind auch noch die Leute hier, die Soach immer an die Ausbrennung erinnern... Aber du musst unbedingt versuchen, dich davon zu distanzieren. Cosmea und Thaumator taten nur ihre Pflicht, sie sind keine schlechten Menschen...“ Seltsamerweise widersprach Cathy nicht. Crimson erwartete eigentlich einen weiteren Wutausbruch, doch der Geist schwebte einfach da und starrte zur Seite. Manchmal sahen Kinder so aus, wenn sie gleich zu weinen anfingen. „Cathy? Hast du mir zugehört?“ Sein Schlossherz wandte ihm einen verletzten, vorwurfsvollen Blick zu. „Du denkst, ich leide nur unter Soachs Gefühlen. Vielleicht fällt dir auf, dass ich auch mitkriege, dass dir deine Erlebnisse zusetzen. Aber hast du mal daran gedacht, wie es mir geht? Ich habe eine Seele, Schlossherr, ich bin zu eigenen Gefühlen fähig! Ich musste miterleben, wie sie Soach fast umbrachten, ohne genau zu wissen, was mit ihm passiert! Wenn nun sein Bewusstsein irgendwo verloren gegangen wäre? Sie setzten ihn der Gefahr eines möglicherweise tödlichen Rituals weit weg von mir aus! Denkt jemand auch mal an mich? Kommt jemand auf die Idee, es hier zu machen, wo sein Bewusstsein in Sicherheit ist? Nein, wozu auch! Es ist ja nur eine Ausbrennung und keine Hinrichtung! Dann kommt er endlich zurück, nur um gleich wieder aufzubrechen und von Arae fast umgebracht zu werden!“ Cathys Stimme klang tatsächlich weinerlich, aber seine projezierte Gestalt sah keine Tränen vor. „Du hast Recht, Crimson,“ fuhr er fort. „Ich komme mit Soachs Leid nicht klar. Aber noch viel weniger mit meinem eigenen! Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn ich die Seele abgelehnt hätte, als er sie mir anbot! Dann müsste ich mir nicht immer solche Sorgen machen! Als du bei ihm warst, während er im Sterben lag, da hoffte ich fast... ich dachte, wenn du sein Bewusstsein mitbringst, ist alles gut. Dann würde auch der Schmerz über seine verlorene Magie aufhören. Sollte ein Freund so denken? Aber warum nicht. Ich bin nur ein Schlossherz, eine künstliche Intelligenz, die zufällig in den Besitz einer Seele gelangt ist.“ Was immer Crimson erwartet hatte, das war es nicht. Er starrte Catherine an und wusste nichts zu sagen. Es stimmte: Jeder vermutete, dass das Schlossherz unter Soachs Verlust litt, weil es die Gefühle seines Seelengebers teilte; dass es außerdem die Niedergeschlagenheit seines Schlossherrn spürte und sich überfordert fühlte. Aber Crimson hatte nie in Erwägung gezogen, dass Cathy eigene Gefühle dabei haben könnte, die nicht aus denen der anderen entstanden, wohl aber aus dem gleichen Grund existierten. Cathy stand da wie ein kleines Kind mit aufgeschürften Knien, das niemand tröstete, weil der ältere Bruder sich den Arm gebrochen hatte. „Du sagst ja gar nichts,“ stellte der Schlossgeist schließlich fest. Crimson räusperte sich. „Also... es stimmt, ich habe das nicht bedacht. Mir war nicht klar... ich meine... Ich habe unterschätzt, wie empfindungsfähig du geworden bist...“ „Es ist ja nicht so, als konnte ich vorher nichts empfinden!“ stellte Cathy klar. „Aber es war trotzdem irgendwie... anders. Ich fühle mich schlecht, wenn ich das sage, aber bestimmt wäre es besser gewesen, wenn Soach gestorben wäre, als ich seine Seele bekam. Sein Bewusstsein wäre mit meinem verschmolzen, und wir hätten uns nur noch darum gesorgt, die Mauern stabil zu halten.“ Crimson musste zustimmen. Aus dem Blickwinkel des Schlosses ging vieles leichter, wenn der Seelengeber nicht mehr lebte. Beseelte Schlossherzen entstanden eigentlich auch immer dadurch, dass jemand für ihre Erschaffung sein Leben opferte. Dann gab es aber auch von Anfang an nur ein Bewusstsein, das bereits über eine eigene Persönlichkeit verfügte und sich manchmal nur ungern einem Schlossherrn unterordnete. Wie zum Beispiel Draconiel. „Draconiel zetert herum, er meint, du wärst ein Vollidiot, Stümper und diverse andere Sachen,“ informierte Cathy ihn passenderweise und starrte auf den Boden. „Er hat mir immer gesagt, dass es sich irgendwann rächen würde, die Seele eines lebenden Chaoshexers akzeptiert zu haben. Ich habe gedacht, er sei einfach nur ein Besserwisser. Aber er hatte Recht.“ In Momenten wie diesem hätte Crimson sein Gegenüber eigentlich tröstend umarmt, aber er konnte den Geist nicht berühren. Dennoch stand er auf, ging um den Schreibtisch herum und streckte die Hand aus. Sie fand keinen Widerstand. „Es tut mir Leid, Cathy, ich habe dich wohl nicht angemessen als eigene Person betrachtet...“ Er ließ die Hand sinken. „Weiß Soach davon?“ „Oh nein, ich habe genug Sorgen mit ihm,“ antwortete Cathy schnell. „Wenn er wüsste, was wir eben besprochen haben, würde er...“ Der Geist biss sich auf die durchscheinende Lippe. Crimson konnte es sich jedoch schon denken, Soach neigte vermutlich zu Selbstmordgedanken, auch ohne dass er wusste, dass sein Tod dem Schloss Erleichterung verschaffen würde. „Ich wäre damit klargekommen, wenn er gestorben wäre, weißt du,“ murmelte Cathy, das Thema wieder aufgreifend. „Wenn sein Bewusstsein bei mir geblieben wäre, hätte er in mir weitergelebt. Aber ich schäme mich, weil ich so nicht reden würde, wenn alles normal wäre.“ Crimson gelang ein Lächeln. „Es ist ganz menschlich, manchmal über so etwas nachzudenken, wenn das die einfachste Lösung sein könnte. Aber ich bin sicher, dass du Soach nie absichtlich umkommen lassen würdest.“ „Natürlich nicht. Es fühlt sich nur so schlimm an, dass ich ihm gar nicht helfen kann.“ „Ja, das geht uns allen so. Das bedeutet aber, dass du ihn magst.“ Cathy warf Crimson einen erstaunten Blick zu. „Wahrscheinlich hast du Recht. Hast du mich dazu gebracht oder sind das meine eigenen Gefühle?“ „Wer weiß,“ philosophierte Crimson. „Es ist schwierig, das zu unterscheiden, wenn jemand eine so enge mentale Bindung zu dir hat. Ich weiß auch manchmal nicht, ob ich selbst fühle, was ich fühle, oder ob es von dir und Soach kommt. Beispielsweise, als Cosmea und Thaumator das Schloss betraten. Ich liebe meine Großmutter, aber im Moment habe ich immer das Bild einer Frau vor Augen, die einen silbernen Magieblitz auf meinen besten Freund loslässt. Und gerade jetzt...“ Er runzelte die Stirn in dem Bemühen, das Gefühl zu deuten. „Ich spüre... Zorn.“ „Das kann gut sein,“ zischte Catherine. „Diese Leute hätten Soach umbringen und sein Bewusstsein verloren gehen lassen können! Alle Aufzeichnungen beschreiben die Ausbrennung als einen Vorgang mit einem gewissen Risiko! Du warst nicht vorbereitet und hättest nicht gewusst, wie du sein Bewusstsein festhalten kannst. Wenn Soach dort gestorben wäre, hätte ich ihn verloren!“ Da wurde Crimson einiges klar: Canthys Abneigung gegen Thaumator und Cosmea hatte er immer für eine Auslebung von Soachs Ängsten gehalten, und das mochte auch stimmen, aber zusätzlich gab es für das Schlossherz einen ganz eigenen Grund. Cathy hatte es vor wenigen Minuten schon erwähnt, aber Crimson war zu überrumpelt gewesen von dem gesamten Wortschwall, als dass er es bewusst wahrgenommen hätte. „Dann hättest du dir also gewünscht, dass sie es wenigstens auf dem Schlossgelände tun?“ hakte er nach. „Ja, genau!“ nickte Cathy eifrig. „Aber wahrscheinlich befürchteten sie, dass ich Soach befreien würde. Und weißt du was? Das stimmt auch! Ich hätte nicht zugelassen, dass sie ihm so etwas antun! Das... passt nicht zusammen, nicht wahr?“ „Äh, nein. Allerdings kann ich dich vollkommen verstehen. Zu dem Zeitpunkt habe ich aber auch nicht an dich gedacht, nur daran, was gleich mit Soach passiert.“ Crimson sah die Szene noch lebhaft vor sich, wie sie Soach abführten und dieser einen letzten Blick zurück warf, ehe er sich in sein Schicksal fügte... „Ich glaube, das ist nachvollziehbar,“ gestand Cathy ihm zu. „Aber dadurch wird es nicht besser. Warum wird es nicht besser, wenn ich es doch verstehe?“ „Das ist manchmal einfach so,“ sagte Crimson schulterzuckend. „Genauso, wie wir einsehen, warum Soach das alles überhaupt auf sich genommen hat, aber davon wird das Problem nicht gelöst, das sich jetzt daraus ergibt.“ „Nein, leider nicht“, sagte Cathy leise. Sein Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. „Crimson... Soach, ähm... er... tut Dinge...“ „Was für Dinge?“ fragte Crimson alarmiert. Der Geist schien mit sich zu ringen. „Soach... uh... Soach ist in der Schatzkammer und sucht nach Büchern, die ihm vielleicht weiterhelfen,“ brachte er schließlich hervor und sah ziemlich unglücklich mit dieser Aussage aus. „Oh... mach dir deswegen keine Sorgen, das hat er mir gesagt,“ beruhigte Crimson ihn. „Deswegen war er auch nicht beim Essen, er muss wohl die Zeit vergessen haben.“ „Ja, das wird es sein.“ Cathy schaffte ein schwaches Lächeln. „Ich habe nur Angst, dass er nichts findet. Was wird er denn dann machen...“ „Das ist zu befürchten,“ stimmte Crimson zu. „Weißt du was? Wir holen einen kleinen Imbiss für ihn und gehen zu ihm. Und vielleicht reden wir mit Thaumator und Cosmea über das, was du mir erzählt hast, vielleicht ist das ja auch ganz neu für sie. Ich meine... es ist kein Geheimnis, dass du Soachs Seele besitzt, aber wenige machen sich darüber Gedanken, was das bedeutet. Das können wir vielleicht auch nicht verlangen.“ Cathy verzog schmollend das Gesicht. „Nicht? Nun, von uns können sie dann auch nicht erwarten, dass wir sie alle freundschaftlich empfangen. Im Übrigen hast du mich gar nicht gefragt, ob ich im Zirkel des Bösen sein will. Aber bevor wir darüber streiten: Soach wollte es gerne. Also werde ich mich nicht weigern.“ Da atmete Crimson wirklich auf, denn die Aufnahme in den Zirkel war einer der wenigen Lichtblicke für Soach im Moment. „Sag schonmal in der Küche Bescheid, ich gehe hin und hole das Essen für ihn.“ „Na gut... du siehst mich dann unten wieder.“ Cathy löste sich auf, doch wenn Crimson wollte, konnte er sich telepathisch mit ihm weiter unterhalten. Das vermied er bei diesem Thema aber lieber, denn Soach konnte sonst leichter mithören. Er bemerkte etwas in seinem Geist, den Hauch einer Präsenz. Hatte Soach vielleicht ohnehin alles mitbekommen? Vorsichtshalber suchte er nach ihm, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Aber Soach schirmte sich vor ihm ab, erst nach mehreren Versuchen konnte Crimson Kontakt zu ihm aufbauen. [Oh, tut mir Leid... ich war völlig in ein Buch vertieft,] meldete sein Freund sich schließlich. [Lass dich nicht stören... Cathy und ich wollten gleich zu dir kommen.] [Mach dir nicht die Mühe, ich kann nach oben kommen. Zum Essen ist es hier nicht der geeignete Ort.] Crimson stimmte zu, und kurz nachdem er das Essen geholt hatte, erschien Soach im Büro. Er trug drei große Bücher in einer stabilen Tragetasche aus Stoff bei sich und zwei kleinere in der anderen Hand. „Wir sollten überlegen, die Bücher aus der Schatzkammer in die Bibliothek einzugliedern – vielleicht in eine geheime Abteilung.“ Das zog Crimson ernsthaft in Erwägung. „Die Bibliothek ist auch eher klein. Wenn das hier eine ernst zu nehmende Schule werden soll, sollten wir dort anbauen. Meines Wissens haben die Lehrkräfte jeweils eigene Regale voller Bücher, die sie manchmal den Schülern ausleihen. Das ist ja fast peinlich. Vielleicht sollten wir einen Bibliothekar einstellen.“ „Aber Crimson, das hier wird keine ernst zu nehmende Schule,“ gab Soach zu bedenken, wobei er seine Bücher auf dem Kaffeetisch ablegte. „Wir sind ein Auffangbecken für Außenseiter. Aber das ist doch, was du wolltest, oder? Dich von der Akademie unterscheiden...“ „Ja... vermutlich...“ Im Prinzip war diese Schule aus einer fixen Idee heraus entstanden. „Da fällt mir ein... eine Woche ist um. Ich muss entscheiden, ob der Unterricht wieder aufgenommen wird.“ Catherine materialisierte sich in der Mitte des Zimmers. „Hey, kann mir euch mal jemand Bescheid sagen, wenn ihr eure Meinung ändert und nicht in die Schatzkammer geht?“ „Als ob du das nicht mitgekriegt hast,“ grinste Soach und schlug dem Geist kumpelhaft auf die Schulter. Das konnte er, fiel Crimson wieder einmal auf. Cathy schwankte unter der Berührung. Der Schlossherr musterte Soach genauer, während dieser sich zu ihm an den Schreibtisch setzte und das bereitstehende Essen verdrückte, einen Teller mit warmgehaltenem Eintopf. Der ausgebrannte Magier gab sich gelassen und sogar gut gelaunt, aber er wirkte blass und aß ohne großes Interesse. Er schien mit den Gedanken woanders zu sein. Crimson fragte lieber nicht, ob er in den Büchern etwas gefunden hatte, um die Stimmung nicht zu verschlechtern. „Deine Eltern haben übrigens beschlossen, noch ein paar Tage zu bleiben,“ ließ er ihn statt dessen wissen. „Schätzungsweise war es die Idee deiner Mutter – sie denkt, sie müsste dich vor den Zirkelleuten beschützen.“ „Das kann gut sein,“ nickte Soach. „Ich erwartete ja, sie würde mich wegen der Thronfolge nerven. Aber sie verbringt auch viel Zeit mit Kayos, ist mir aufgefallen. Dann sehe ich sie manchmal bei Fire und Eria, oder sie geht zu Lily auf die Krankenstation und versucht sie zu überreden, dass sie nicht mehr arbeitet, bis das Kind da ist. Also schätzungsweise bin ich nicht der einzige Grund.“ „Naja, dann ist ihr zumindest nicht langweilig,“ meinte Crimson. „Und Ishzark?“ „Wenn er nicht bei Mutter ist, unterhält er sich viel mit den Leuten vom Zirkel oder auch mal mit Gorz. Ab und zu mag er es auch, wenn er einfach nur in der Sonne liegen kann. Er beschäftigt sich schon.“ Soach löffelte den Rest des Eintopfs aus. „Du erwähntest die Thronfolge...“ Das Thema hatte Crimson seit ein paar Tagen immer in den Hintergrund verdrängt. „Können wir... ich meine... wenn du König wirst, kannst du dann zugleich deine Arbeit hier fortsetzen? Das käme mir unangemessen vor.“ Soach seufzte. „Ich weiß nicht. Aber selbst falls meine Mutter mich zum Thronfolger ernennt, muss ich den Posten nicht gleich antreten. Wir werden Zeit haben, uns etwas einfallen zu lassen. Im Moment... nun, ganz im Ernst... ich bin nicht in der Verfassung, ein Reich zu regieren.“ „Nein... vermutlich nicht.“ Crimson spürte, wie Soach sich abkanzelte, indem er ihre mentale Verbindung abschwächte, bis nur noch ein Grundeindruck seiner Emotionen durchsickerte, wie die Geräusche einer Diskussion durch eine geschlossene Tür. Einerseits erleichterte ihn das, aber er sorgte sich auch, denn so musste Soach damit alleine fertig werden. „Kann ich... irgendetwas für dich tun?“ fragte er. Soach schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Dann sah er Crimson mit einem traurigen Lächeln an. „Nichts, wozu du dich bereiterklären würdest. Ich muss irgendwie damit klarkommen.“ Hinter ihm drehte Cathy sich um wie jemand, der heimlich trauert. Kurz darauf wandte er Crimson wieder sein Gesicht zu, doch der Schlossherr konnte den Blick nicht deuten. Cathy schien ihn auf irgendetwas aufmerksam machen zu wollen, aber vielleicht irrte er sich da auch. Da dies alles vollkommen lautlos geschah, merkte Soach nichts davon. „Warum liest du diese Bücher nicht hier im Büro?“ schlug er Soach vor. „Dann bist du nicht so alleine. Oder stört es dich, wenn ich mich ein bisschen um die Post kümmere und die Unterlagen des Zirkels durchsehe?“ Soach ging zu der Sitzgruppe hinüber, nahm auf einem bequemen grünen Sessel Platz und griff nach einem Buch. „Du störst mich nicht, Crimson. Ich mag deine Gesellschaft, das weißt du doch.“ Cathy stemmte die Hände in die Hüften. „Und was ist mit mir?“ „Du störst mich auch nicht und darfst gerne hierbleiben,“ sagte Soach. „Schließlich habe ich dir meine Seele geschenkt, nicht wahr? Auch wenn das im Moment vielleicht eine dumme Idee gewesen zu sein scheint.“ Cathy schwebte zu einem Sessel gegenüber von Soach und setzte sich, oder besser, er schwebte so, als würde er sitzen. Allerdings ließ er dabei zwischen sich und dem Polster einige Zentimeter Platz. „Es gibt... immer auch Nachteile,“ brachte der Geist hervor. „Ich gehe ja davon aus, dass es nicht ewig so bleibt!“ „Auf die ein oder andere Art wird es sich bessern, ja,“ versicherte Soach. Später am Tag zog Soach mit Gorz los. Indessen bat Crimson seine Großmutter und Thaumator um ein Gespräch. Zu diesem Zweck gingen sie draußen spazieren, denn Cosmea wollte das gute Wetter ausnutzen. In dieser Gegend wurde es eigentlich nie wirklich kalt. Dennoch erweckte Thaumator einen im wahrsten Sinne des Wortes verschlossenen Eindruck: Während alle anderen einen Großteil ihrer Kleidung abgelegt hatten und auch mal die Ärmel hochkrempelten, verzichtete er zwar außer auf Hut und Umhang auch auf die formelle Magierrobe, doch die Schnüre an seinem Oberhemd waren sowohl am Kragen als auch an den Ärmeln festgezogen und mit einer Schleife geschlossen. Eine dunkle Hose steckte in fast kniehohen Reisestiefeln, die zwar bequem, aber auch sehr warm aussahen. Möglicherweise fror Thaumator leicht, beschloss Crimson. Oder er war einfach sehr eitel. Dagegen ging Cosmeas goldfarbene Robe schon eher als Kleid durch, mit einem großzügigen Ausschnitt und luftigen, weiten Ärmeln. Eine violette Schärpe um die Hüften setzte einen farblichen Akzent. „Was wolltest du denn mit uns besprechen, mein Junge?“ beendete sie seine Überlegungen. Sie befanden sich noch auf dem Schlossgelände, so dass Cathy problemlos zuhören konnte. „Es geht um mein Schlossherz,“ begann Crimson. „Catherine leidet sehr unter Soachs Zustand, wie euch ja sicher aufgefallen ist...“ „Das war nicht anders zu erwarten,“ meinte Thaumator. „Auch, dass wir beide als Sündenböcke herhalten müssen.“ „Oh, das ist mir gar nicht aufgefallen,“ warf Cosmea ein. „Aber ich habe wohl auch den Verwandschaftsbonus.“ „Für Catherine seid ihr diejenigen, die Soach ausgebrannt haben, das ist klar. Aber das ist nicht der einzige Grund... er findet, dass ihr zu wenig Rücksicht auf ihn als Schlossherz genommen habt, denn Soach hätte sterben und sein Bewusstsein verloren gehen können. Als es passierte, wusste Cathy auch gar nicht, was eigentlich los ist, nur, dass etwas Schlimmes mit Soach passiert. Er kann uns auf weite Entfernungen nicht so beobachten wie hier, versteht ihr?“ Crimson beobachtete, dass Thaumators Stirn sich in Falten legte, als hätte er auf etwas Saures gebissen. Seine Augen starrten auf einen Punkt in der Luft. Cosmea indessen reagierte etwas lebhafter. „Aber diese Sorge war völlig unbegründet. Wir hörten auf, als wir es nicht mehr verantworten konnten weiterzumachen. Dann kamen wir noch einmal hierher, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist – weil Soach sich so gewehrt hat, dass wir sicher waren, dass wir nachbessern müssten. Und weil es Tradition ist. Man macht es aus reiner Vorsicht so. Ich würde nie einfach das Ritual fortsetzen, nur weil ich es kann. Die Sicherheit geht vor.“ „Das alles konnte aber keiner von uns wissen,“ entgegnete Crimson. „Cathy ist ein beseeltes Schlossherz. Er stand seine eigenen Ängste aus, während er voller Ungewissheit auf eine Nachricht wartete. Und dafür macht er euch verantwortlich. Seiner Meinung nach hättet ihr Soachs spezielle Situation berücksichtigen müssen – zum Beispiel, indem ihr die Ausbrennung hier durchführt, wo Soachs Bewusstsein nicht verloren gehen kann.“ „Wäre es nicht an dir als Schlossherr gewesen, daran zu denken?“ widersprach Cosmea sofort. „Wir haben das Urteil vollstreckt. Das allein war unsere Aufgabe. Auch wenn es wegen der grausamen Natur des Rituals nicht so ausgesehen hat – wir taten es mit der nötigen Vorsicht.“ Crimson dachte sorgfältig über seine Antwort nach. „Vielleicht... wäre das tatsächlich meine Sache gewesen. Aber ich hatte anderes im Kopf. Mein Chaoshexer sah seinem Untergang entgegen, wie bitte hätte ich da an so etwas denken sollen? Trotzdem hast du wohl Recht. Aber das ändert nichts daran, dass Cathy euch verantwortlich macht. Ihr wart die Fachleute in dieser Situation. Ich wusste über die Ausbrennung nur, dass sie einem Magier für immer die Magie nimmt und dass es kein angenehmer oder schön anzusehender Vorgang ist.“ Cosmea holte erneut Luft, doch Thaumator hob eine Hand, was sie schweigen ließ. „Lass gut sein, Comea,“ sagte er. „Es geht doch gar nicht darum, wer woran hätte denken müssen. Das Schlossherz möchte, dass seine Gefühle anerkannt werden. Nicht mehr und nicht weniger. Ist es nicht so, Catherine?“ Zum Schluss sprach er zum Schloss blickend in die Luft. Cathy musste davon ziemlich überrascht sein, denn es dauerte mehrere Sekunden, ehe er sich genau vor Thaumators Nase materialisierte. „Und, was hast du jetzt dazu zu sagen?“ motzte der Geist den Magier an. Crimson kam es fast so vor, als wäre Cathy enttäuscht, weil er keinen Grund für einen Wutausbruch bekam. Thaumator legte feierlich eine Hand auf sein Herz und machte ein sehr ernstes Gesicht. „Ich bitte um Entschuldigung. Bei nächster Gelegenheit werden wir diesen Punkt im Protokoll ergänzen, damit bei einem ähnlichen Fall keine solchen Pannen mehr passieren.“ Crimson konnte Cathys maßloses Erstaunen spüren, und auch er selbst hatte an dieser Stelle mit mehr Schwierigkeiten gerechnet. Allerdings hatte er hingegen von seiner Großmutter mehr Verständnis erwartet. Cosmea räusperte sich kurz. „Ja, gute Idee. Auch ich bedaure unsere Unachtsamkeit außerordentlich.“ Cathy schwebte eine Weile nur da, anscheinend unschlüssig, was er davon halten sollte. Dann fand er doch wieder etwas, um sich aufzuregen. „Das ist jetzt alles, einfach so? Aber... Statistiken zufolge kommen zwanzig Prozent aller ausgebrannten Magier um! Sie sterben bei der Prozedur, weil es einfach zu schlimm ist, oder hinterher an diesen Pfuschsachen!“ „Wie meine Kollegin schon sagte... aus diesem Grund haben wir es so gemacht, wie es war,“ erklärte Thaumator ruhig. „Todesfälle bei Ausbrennungen kommen meist durch Stümperei zustande. Wenn der ausführende Magier nicht rechtzeitig aufhört, oder wenn er zu früh aufhört und sein Werk später nicht überprüft. Hinzu kommt ein Prozentsatz an Kandidaten, die sich nach der Ausbrennung das Leben nehmen.“ Bei der letzten Bemerkung zuckte Cathy zurück, als hätte er sich verbrannt. „Ja, genau... darum muss ich mir jetzt auch noch Sorgen machen!“ „Mach aber dafür bitte nicht uns verantwortlich,“ verlangte Thaumator. „Irgendjemand musste das Urteil vollstrecken. Es war nichts Persönliches.“ „Aber... ihr hättet ihn gar nicht dazu verurteilen müssen!“ jammerte Cathy. „Es war die übliche Vorgehensweise in seiner Situation, so bedauerlich das auch ist,“ stellte Cosmea klar. „Es hätte auch eine Hinrichtung werden können, bedenke das bitte. Er war bereits Rehabilitand Stufe drei, und das auch nur auf Fürsprache seines Sohnes. Außerdem war es Soachs eigene Entscheidung. Wir haben damit gerechnet, dass er seine Aussage im letzten Moment ändern würde, aber er tat es nicht.“ Die Vorstellung, dass Soach eigentlich selber schuld an seinem Zustand war, nagte an Crimson, und an Cathy anscheinend auch. Der Chaosmagier hatte einfach nur ganz sicher gehen wollen, dass Kihnahf nichts zustieß, und daher hatte er ziemlich vorschnell gehandelt und Arae quasi in die Hände gespielt. Wie musste sich das anfühlen, seine Magie zu opfern und dann zu erfahren, dass es nicht nötig gewesen wäre? „Cathy, vielleicht solltest du das Thema jetzt fallen lassen,“ schlug er dem Schlossherz vor. „Es lässt sich nicht rückgängig machen, deshalb ist es vor allem wichtig, dass wir Soach helfen, damit klarzukommen. Du hast doch jetzt den beiden gesagt, was dir auf dem Herzen lag.“ „Ja, aber... sehen die es auch wirklich ein?“ „Vermutlich... soweit Außenstehende ein Schlossherz verstehen können.“ Die Andeutung, dass die beiden Gäste vielleicht gar keine Ahnung von der Materie hatten, schien sich zu ihren Gunsten auszuwirken, und sie waren so schlau, nicht zu widersprechen. „Sie sollen trotzdem nicht zu lange hier bleiben!“ schloss Catherine, schnaubte verstimmt und verschwand. „Es scheint, du hast ihm mit deiner Entschuldigung ein bisschen den Wind aus den Segeln genommen, Thaumator,“ bemerkte Cosmea. „Ich esse meine Suppe lieber ohne Bestandteile der Zimmerdecke,“ entgegnete ihr Kollege. Crimson war erleichtert, dass dieser Konflikt nicht eskaliert war, andererseits... vielleicht hätte es Cathy geholfen, sich einmal auszutoben. Aber nicht auf Kosten der Gäste. Kapitel 24: Thaumators Geschichte --------------------------------- Vindictus nutzte wie immer die frühe Stunde, um eine Runde schwimmen zu gehen. Meistens leistete Crimson ihm Gesellschaft, aber mit ihm rechnete er heute nicht, immerhin hatte er am Abend noch Lord Genesis besucht und ihm, wie sie es nannten, das Frühstück gebracht. Das konnte sich ein paar Stunden hinziehen. Wahrscheinlich holte Crimson gerade Schlaf nach. Da das Schloss derzeit einige Gäste beherbergte, wich der Heiler heute von seiner Gewohnheit ab, im Bademantel hinaus zu gehen, was sich als gut erwies: Er wollte zum Strand abbiegen, als er eine Gestalt weiter vorne hinter den Gesteinsformationen am Rande des Schlossgeländes verschwinden sah. Eigentlich ging es ihn nichts an, aber vielleicht war es einer der Besucher und derjenige wusste nicht, dass es erst zwei Kilometer weiter wieder einen gut nutzbaren Zugang zum Meer gab, ansonsten nur Klippen. Vindictus marschierte hinter ihm her, wobei er ganz gut aufholte, weil der andere im Spazierschritt ging. Nach einigen Minuten drehte sich der Mann zu ihm um. Es war Thaumator. Eigentlich hätte er ihn schon an seiner weinroten Protzrobe erkennen müssen. „Ihr entfernt Euch wohl vom Schloss, weil Ihr Euch beobachtet fühlt, was?“ neckte Vindictus den Jüngeren. Dass Cathy den Magier nicht leiden konnte, ließ das Schlossherz jeden wissen, allerdings hatte er im Laufe des vergangenen Tages aufgehört, ihm Deckenputz ins Essen fallen zu lassen. „Es wäre lästig, jeden Schritt mit Bedacht zu setzen, während ich meinen Körper in Form halte,“ lächelte Thaumator freundlich. „Ihr habt wohl außerhalb der Grenzen Eure strenge Maske abgesetzt.“ „Oder ich habe Respekt vor erfahreneren Magiern. Nennt es, wie Ihr wollt.“ „Bis zur nächsten Stelle mit einem vernünftigen Strand ist es noch ein Stück zu gehen.“ „Nun... wollt Ihr mit mir kommen und es mir zeigen?“ Vindictus witterte die Gelegenheit zu einem interessanten Gespräch und stimmte zu, obwohl seine alten Knochen nicht mehr so gerne weite Strecken zurücklegten. Aber in gemütlichem Tempo war nichts dagegen einzuwenden. Sie setzten sich in Bewegung, und er gewann den Eindruck, dass auch Thaumator bevorzugt langsam ging. „Vielleicht hättet Ihr lieber nicht herkommen sollen,“ bemerkte er. „Weil man hier traumatische Ereignisse mit mir verbindet?“ fragte Thaumator. „Nun ja... ja. War das Euer erstes Mal?“ „Hm? Ach so, Ihr denkt, es wäre die Neugier, die mich hertreibt, um zu sehen, was aus meinem Opfer wird? Oder vielleicht das schlechte Gewissen?“ Thaumator schien eine Weile darüber nachzudenken, sagte dann aber: „Es war nicht das erste Mal, sondern das neunte. Ich brannte acht andere vor ihm aus.“ Vindictus atmete so heftig ein, dass er sich daran verschluckte. „Was... das neunte Mal?“ hustete er. Verärgert schickte er verirrten Speichel aus seiner Luftröhre. „Ich lernte es von meiner Mutter. Sie brauchte meine Hilfe, um sich von meinem Vater zu befreien,“ gab Thaumator bereitwillig Auskunft. „Er wurde mein erstes Opfer. Da war ich siebzehn und unerfahren, deshalb starb er nach zwei Tagen elendig an den Folgen meines Pfusches. Das gleiche passierte im Laufe des folgenden Jahres mit zwei Magiern aus seinem Gefolge, die nach seinem Tod Jagd auf meine Mutter und mich machten. Wir brachten noch einen weiteren ihrer Feinde um. Er wollte lieber sterben, als ausgebrannt zu werden, was mich wunderte – schließlich führte Ausbrennung meines Wissens zum Tod. So erfuhr ich mit dreiundzwanzig, dass man den Zauber eigentlich überleben soll. Doch Mutter wollte es mir nicht besser erklären, sie fand, dass ich es gut machte, wie es war. Also forschte ich selber nach, indem ich nach geeigneten Büchern suchte, aber es gab keine, die es wirklich genau beschrieben. Schließlich drohte ich meiner Mutter an, ihr nicht mehr zu helfen, und konnte so erreichen, dass wir unser nächstes Opfer, ihren eigenen Bruder, tatsächlich überleben ließen. Sie machte es mit mir zusammen und zeigte mir, worauf zu achten ist. Als ich sechsundzwanzig war, erwischten wir eine Spionin in unserer Burg. Ich mochte sie und fühlte mich von ihr benutzt. Sie beteuerte ihre Unschuld bis zu der Sekunde, in der das Ritual begann. Danach verfluchte sie mich, sie schwor Rache und wurde die beste bekannte Attentäterin des Schattenreichs, nur um mich zu vernichten. Im Gegenzug fanden wir ihre jüngere Schwester und brannten sie aus. Mutter verpfuschte das Ritual absichtlich, so dass sie zwar entkommen, aber in den Armen der älteren sterben sollte. Da ahnte ich zum ersten Mal, dass meine Mutter mich für ihre Machenschaften benutzte, dass wir nicht immer nur ungerechtfertigt verfolgt worden waren... all die Jahre hatte sie mich getäuscht...“ Thaumators Blick schweifte in die Ferne, und er pausierte seine Geschichte, bis Vindictus schließlich fragte: „Und die achte... lasst mich raten, das war Eure eigene Mutter.“ Der andere Magier widersprach nicht, was er als Bestätigung deutete. „Und was wurde aus der Attentäterin?“ hakte er nach. „Habt Ihr sie irgendwann getötet?“ „Nein, ich konnte nicht gegen sie kämpfen, denn ich hatte ihr Unrecht getan. So floh ich vor ihr und wehrte mich gerade genug, um immer wieder zu entkommen. Vier Jahre lang. Dann ging ich ihr in die Falle.“ „Aber... auch sie tötete Euch nicht, oder Ihr wärt der am besten getarnte Zombie, der mir je untergekommen ist.“ Taumator rieb sich eine Stelle an der rechten Hüfte, als helfe ihm das beim Nachdenken. „Nein... sie folterte mich. Sie wollte, dass ich etwas von dem Leiden erfahre, das sie und ihre Schwester erlebt hatten. Natürlich konnte sie mich nicht ausbrennen und kannte auch niemanden, den sie damit beauftragen konnte. Aber sie konnte meinen Körper verletzen. Und das tat sie. Seltsamerweise fühlte ich mich, als würde meine Seele gereinigt. Als würde ich meine Schuld bezahlen, indem ich mich ihrer Rache ergab. Als ich schon dachte, ich müsse sterben, änderte sie ihre Meinung.“ Ein Lächeln stahl sich auf Thaumators Gesicht. „Inzwischen haben wir zwei wunderschöne Töchter und einen attraktiven Sohn.“ „Was!“ rief Vindictus geschockt und überrascht zugleich. „Ihr nehmt mich auf den Arm!“ „Ich bin im Zirkel des Bösen, wir nehmen niemanden auf den Arm, wenn es um so etwas geht.“ „Nun ja... es ist aber sehr ungewöhnlich...“ „Es mag seltsam erscheinen, wenn ich es so knapp zusammenfasse, ja,“ räumte Thaumator ein. „Als ich meine Mutter ausbrannte, war ich achtundzwanzig. Insofern war Soach mein erstes Mal seit fast dreißig Jahren... Cosmea hat sich damals meiner angenommen und mir noch viele Feinheiten beigebracht. Aber natürlich konnte ich nicht üben. Deshalb hatte ich Angst, dass ich es vermassle. Oh, hatte ich Angst...“ „Dann... kommt Ihr deshalb hierher. Um Euch zu vergewissern, dass er in Ordnung ist,“ erkannte Vindictus. Thaumator nickte bedächtig. „Ja... ich glaube schon. Der Zirkel hat noch zwei andere Mitglieder, die ausbrennen können, aber beide haben kaum Erfahrung. Cosmea wollte es mit mir zusammen machen. Sie meinte, die anderen würden es nicht schaffen. Jeder weiß, dass Soach... nun, wir rechneten nicht damit, dass er es dazu kommen lassen würde, weil seine Magie ihm so viel bedeutete. Doch er ließ es geschehen, und zugleich erlebte ich nie zuvor so viel Widerstand. Im Nachhinein fühle ich mich irgendwie für ihn verantwortlich.“ „So ist das also...“ Vindictus rieb sich das Kinn. Indessen lag Lotusblüte ein gutes Stück hinter ihnen und er führte den jüngeren Magier einen Pfad zwischen den Klippen hinunter zu einem anderen Stück Strand. „Seid vorsichtig, an dieser Stelle sollte niemand alleine schwimmen gehen, wegen der Strömungen. Das Schloss wurde in einer ruhigeren Zone erbaut.“ „Ist gut,“ nickte Thaumator diese Information ab. „Dann hoffe ich, dass Ihr ein guter Schwimmer seid, falls Ihr mich retten müsst.“ Sie lachten kumpelhaft, während sie ihre Kleidung ablegten. Für gewöhnlich brachte der alte Heiler einem unbekleideten Männerkörper lediglich berufliches Interesse entgegen. Thaumator allerdings musste wohl jeder einfach anstarren – weil sein Körper auf eindrucksvolle und grausame Weise die Geschichte bestätigte, die Vindictus gerade gehört hatte. Die Haut an seinen Beinen sah zusammengeschmolzen aus und zeigte einen dunkleren Blauton als der Rest. Die Brandnarben endeten kurz über dem Knie. Dazu kamen zahlreiche andere Narben, die Vindictus als Schnitte, Verätzungen und am linken Unterarm sogar als Bisswunden von einem Wolf oder ähnlichem Tier identifizierte. „Wurde das anständig versorgt? Habt Ihr Schmerzen?“ fragte er auf typische Heilerart. Thaumator bewegte seine leicht deformierten Zehen und zuckte mit den Schultern. „Es zieht immer ein bisschen, vor allem, wenn es anderes Wetter gibt. Ich creme die Narben regelmäßig ein. Naja, was soll‘s. Ist lange her.“ Er schritt zum Wasser, wobei Vindictus ein ganz leichtes Hinken der rechten Seite identifizieren konnte, das Laien vielleicht gar nicht auffiel. Als Thaumator ihm den Rücken zuwandte, zeigte sich ihm ein ähnliches Bild wie auf der Vorderseite. Hier stammten die Narben anscheinend von einer Auspeitschung, so etwas hatte Vindictus schon öfter bei Kriegern gesehen, die aus Gefangenschaft zurückgekehrt waren. Traf ja auch auf den Magier zu. „Soll ich mir das alles mal ansehen, wenn wir zurück im Schloss sind?“ bot Vindictus an. „Nein, nicht im Schloss,“ lehnte Thaumator sogleich ab. „Das Schlossherz muss meine Schwächen nicht kennen.“ „Aber wenn Ihr Eure Geschichte dem Schlossherz erzählen würdet...“ begann Vindictus, beendete den Satz aber nicht. Der Blick seines Gesprächspartners ließ ihn verstummen. „Ich brauche kein Verständnis und kein Mitleid,“ stellte Thaumator klar. „Jetzt lasst uns schwimmen.“ Er war mit seinen entstellten Beinen sehr viel schneller als Vindictus mit seinen kurzen, oder zumindest musste der alte Heiler laufen, um mit ihm Schritt zu halten. „Wartet doch!“ rief Vindictus. „Ich hab da noch eine Frage...“ „Ja?“ Thaumator wurde erst langsamer, als ihn die kniehohen Wellen dazu zwangen. Er wandte sich halb um. „Warum... warum tragt Ihr einen Nabelring?“ keuchte Vindictus, als er zu ihm aufschloss. Der Jüngere berührte das unscheinbare Schmuckstück an seinem Bauch. „Was Ihr alles bemerkt... Warum tragt Ihr keinen?“ „Eh?“ Vindictus ließ es dabei bewenden, da Thaumator offenbar keine Antwort darauf geben wollte. Im Prinzip ging es ihn ja auch gar nichts an. *** Soach schenkte Crimson noch einen belebenden Tee ein. „Ich hätte da eine Idee, die dir vielleicht hilft.“ „Was für eine Idee?“ grummelte Crimson und ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. „Wir könnten uns aufteilen,“ sagte Soach. „Ich bin dein Stellvertreter. Solange der Besuch da ist, könnte ich den Tag übernehmen und du die Nacht. Oder umgekehrt, ganz wie du möchtest, aber mir scheint, dir liegt eher die Nacht. Dann kannst du schließlich mit Genesis frühstücken.“ „Angelus wollte eigentlich abreisen, weil er meint, sein Nachtrhythmus passt nicht hierher...“ murmelte Crimson gegen die Tischplatte. „Nun ja, wenn er darauf besteht... aber dann solltest du dich jetzt noch ein wenig hinlegen. Vielleicht bis Mittag. Wie lange wart ihr denn beschäftigt?“ „Gar nicht mal so lange. Ein oder zwei Stunden. Aber dann haben wir uns noch über allerhand nebensächliche Themen unterhalten, wie alte Freunde eben...“ „Na das ist doch auch schön.“ Soach fühlte sich einigermaßen ausgeschlafen, weil Crimson ihm am Abend einen Schlaftrunk aufgedrängt hatte. Vielleicht sollte er sich wirklich für eine Weile angewöhnen, sich so zu behelfen, aber er wollte nicht davon abhängig werden. Andererseits... kam es darauf noch an? Eigentlich nicht. Crimson schob den Tee weg. „Trink du den. Wenn ich schlafen soll, ist das Zeug keine gute Idee.“ Er warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. „Uh... ich muss noch unbedingt...“ „Nein, Crimson. Was du unbedingt musst, ist schlafen,“ widersprach Soach. „Du schläfst wegen mir in letzter Zeit generell weniger als sonst.“ „Aber kommst du klar?“ „Nun... wird schon gehen. Vielleicht hilft es, wenn ich mit normalen Sachen beschäftigt bin.“ „Na gut, aber wenn was ist, weck mich einfach,“ gab Crimson nach. Er gähnte herzhaft, als er sich erhob und zur Tür wankte. Die Bissmale von letzter Nacht schimmerten durch den Vorhang seines Haares. Soach begleitete ihn bis zu den Treppen, wo der Schlossherr darauf bestand, dass er den Rest alleine schaffte. Also verabschiedete er sich dort von ihm. Auf dem Rückweg hing Meras plötzlich an seinen Fersen. „Oh... dich habe ich gar nicht kommen hören,“ begrüßte Soach die große Katze. „Aber bei mir gibt es für dich nichts zu holen. Vielleicht solltest du lieber...“ Meras strich ihm um die Beine, dass er fast stürzte. Sie stieß mit dem Kopf gegen seine Hände, um Streicheleinheiten einzufordern, und schnurrte lautstark. Soach lächelte. „Ich fühle mich geehrt, dass du mich nicht auf meine Fähigkeiten als Nahrungsgeber reduzierst,“ neckte er das Geschöpf. Meras machte ein gurrendes Geräusch, das in ein Maunzen überging. Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hoch. Soach kraulte sie kräftig im Nacken und unter dem Kinn. „Na fein, komm mit zum Frühstück, aber danach muss ich arbeiten.“ Die Katze schlenderte hinter ihm her wie an einer unsichtbaren Leine, so dass Soach sich fragte, ob Crimson sie vielleicht zu seinem Schutz abgestellt hatte. Zusammen erreichten sie den Speisesaal, wo mäßiger Betrieb herrschte. Wenn kein Unterricht stattfand, verschliefen viele Bewohner diese Mahlzeit. Die Herrschaften vom Zirkel verteilten sich heute an den Tischen und redeten mit den Schülern oder dem Kollegium. Soach entdeckte Lord Genesis an dem Tisch, an dem auch seine Eltern, Shiro Dark, Kayos, Fire und Eria saßen. Das ließ für ihn eigentlich keinen Platz, aber als Shiro ihn bemerkte, stand er auf und bot ihm seinen an. „Kommt Crimson heute nicht?“ fragte der Lichtmagier. „Er hat sich noch etwas hingelegt,“ ließ Soach ihn wissen. „Die Nacht war kurz.“ „Oh.“ Shiro fragte nicht weiter, sondern ging sich einen anderen Platz suchen. Da alle anderen paarweise dasaßen, bekam Soach den Stuhl neben Genesis. „Ich dachte, Ihr wolltet abreisen,“ begann er. „Doch nicht am hellichten Tag!“ Der Vampir tat empört. „Ich wollte in den späten Nachtstunden aufbrechen, doch dann haben Crimson und ich uns zu lange verquatscht. Naja, so kann ich auch gleich noch bleiben, bis die Kollegen morgen abend abreisen. Werde mich nach dem Mittagessen schlafen legen.“ Dark warf Meras einen Magieball zum Fressen zu. Die Katze fing ihn und setzte sich dann wieder neben Soach. Er streichelte sie automatisch. „Dsasheera meint, dass wir ein Mädchen bekommen,“ sagte Eria und strahlte in die Runde. Kayos schluckte schnell sein Essen. „Hey, das ist toll! Was ist das dann, meine Nichte? Und dann kriege ich noch eine Schwester oder einen Bruder. Hat Dsasheera gesagt, was Lilys Kind wird?“ „Zu uns nich,“ antwortete Fire und blickte seinen Vater an. „Ich weiß nur, dass es wahrscheinlich Flügel hat,“ gab Soach Auskunft. „Also wird es wohl kein Chaosmagier, aber einer reicht ja auch.“ Die Gruppe am Tisch lachte und Kayos musste sich ein paar Sticheleien gefallen lassen. „Habt ihr euch eigentlich inzwischen überlegt, ob ihr den Bund mit einer großen Feier schließen wollt?“ nahm Charoselle das von ihr so gerne besprochene Thema wieder auf. Dieses Mal allerdings ging es ihr um Fire und Eria. Die jungen Leute tauschten Blicke aus. Eria sah errötend in ihre Tasse und Fire kratzte such verlegen am Kopf. „Mutter, ich glaube, es kommt nicht gut an, wenn du die beiden auf diese Art drängst,“ grummelte Soach, wobei er unerwähnt ließ, dass er selbst ja auch nicht die erste Frau behalten hatte, die ein Kind von ihm geboren hatte. Auch nicht die zweite oder dritte... Doch Charoselle beachtete seinen Einwand gar nicht. „Ihr müsst mir eure Entscheidung nur mitteilen, dann organisiere ich alles.“ „Was meinste, Eri. Hälste‘s mit mir aus?“ fragte Fire seine Freundin. Sie schien fast im Erdboden zu versinken. „Oh... vor all den Leuten...“ „Ach, is doch das beste dran! Jau, lass uns ne fette Feier davon machen!“ „Ähm... na gut...“ Eria fing sich allmählich und lächelte breit. In ihren Augen schimmerten Tränchen der Rührung. Charoselle klatschte in die Hände. „Na also! Wenn sich mein Sohn auch noch durchringt, können wir gleich doppelt feiern!“ „Ich denke drüber nach,“ versprach Soach, damit sie Ruhe gab. Einen Moment konzentrierten sich alle auf ihr Essen. „Thaumator scheint unpünktlich zu sein,“ brach Genesis die Stille am Tisch. „Er trainiert immer früh, aber er ist nie unpünktlich. Sage, wart ihr mit ihm unterwegs?“ Am Nebentisch drehte sich der alte Magier zu ihm herum. „Thaumator habe ich heute noch gar nicht gesehen. Cosmea und ich stehen auch nicht mehr so früh auf, wir machen unsere körperliche Ertüchtigung im Laufe des Vormittags.“ Soach schloss die Augen ließ sein Bewusstsein in das Schloss wandern. „Thaumator ist nicht auf dem Gelände...“ „Merkwürdig,“ meinte Genesis. „Aber er kennt sich hier nicht aus, vielleicht hat er sich verlaufen.“ „Als ob er sich verläuft,“ erklang Cosmeas Stimme von der anderen Seite des Zimmers. „Fehlt denn sonst noch jemand?“ Soach überprüfte die Anwesenheit der Bewohner. „Legend scheint unterwegs zu sein. Und Milla. Aber sie sind heute damit dran, Lebensmittel aus dem Dorf zu holen. Vindictus fehlt auch. Auf der Krankenstation sind Lily und Dsasheera. Dabei hatte Lily den Nachtdienst, weil es da ruhiger ist... Vindictus sollte sie eigentlich längst ablösen.“ Soach blinzelte und sah zu seiner Mutter auf. „Könntest du Dsasheera fragen, ob sie etwas weiß?“ „Wieso ich?“ fragte Charoselle, faltete aber bereits die Serviette zusammen, die auf ihrem Schoß gelegen hatte. „Übrigens ist es gruselig, wenn du mit dem Schloss...“ „Ja, ich weiß. Dsasheera kann hellsehen, und du bist eine Frau. Das bringt uns schneller eine Antwort,“ erklärte Soach. Er ließ weg, dass seine Mutter auch noch das passende Alter hatte, um mit der Amazone gut auszukommen. *** Thaumator stolperte an den Strand und ließ Vindictus in den Sand fallen. Der alte Heiler spuckte Wasser aus und konnte es dank seiner Kräfte effektiv aus seinen Lungen befördern, bevor sein Begleiter auf die Idee kam, ihn beatmen zu müssen. Hoffentlich sah sie niemand in dieser peinlichen Situation. „Ihr habt nicht übertrieben, die Strömungen hier sind stark,“ keuchte Thaumator. „Warum seid Ihr so weit raus geschwommen, wenn Ihr das doch wusstet?“ „Selbstüberschätzung,“ brachte Vindictus hervor. „Ähm... wo sind unsere Klamotten?“ „Ich glaube, da drüben.“ Vindictus folgte Thaumators Fingerzeig. Das Meer befand sich zu ihrer Linken und der Strand bog sich von ihrem Standpunkt aus nach rechts in das Land hinein. Die Stelle, wo sie hinunter gegangen waren, ließ sich ganz leicht an den fehlenden Klippen erkennen. Dahinter verdeckten einige weitere Felsen, die ins Meer ragten, den Blick auf den unteren Teil von Schloss Lotusblüte. Es sah nach einem Weg von gut zwanzig Minuten aus. „Verdammt... ich bin zu alt, um nackig am Strand spazieren zu gehen,“ murmelte er. „Ihr hättet Euch beizeiten einen entstellten Körper anschaffen sollen, dann hättet Ihr eine ganz andere Beziehung zu Eurem Kleiderschrank,“ grinste Thaumator. „Passt mal auf.“ Er schloss die Augen und hielt die Hände auf Hüfthöhe neben sich, wobei kleine Flämmchen in ihnen entstanden. Auf dem Boden im Sand bildete sich ein Feuerring und züngelte an ihm hoch. Aber anstatt ihn zu verbrennen, ließen die Flammen überall Kleidung entstehen: Stiefel, Hosen, ein Hemd mit Rüschen an der Knopfleiste und darüber eine Magierrobe, die vorne zu knöpfen ging. Zum Schluss entstand sogar ein spitzer Zaubererhut mit breiter Krempe. Die Hauptfarbe aller Kleidungsstücke war Weinrot, bis auf das schwarze Hemd, und alle Säume waren golden bestickt. Thaumator zog die Robe aus und gab sie Vindictus, bei dem das edle Stück wie eine Schleppe auf dem Boden schleifte. Dann rückte er den Hut zurecht und schnippte einen imaginären Fussel vom Hemd. Das Jungchen vom Lotusschloss muss noch einiges lernen, dachte Vindictus. „Seid Ihr ein Feuermagier? Ich dachte, Ihr gehört zur Finsternis.“ „Nein, mein Element ist Feuer, aber bevor Ihr fragt, das macht nicht grundsätzlich immun gegen Feuer,“ sagte Thaumator leichthin. „Auch Feuermagier können durch Feuer hingerichtet werden. Für sie ist es nur besonders peinlich.“ Gemeinsam marschierten sie los in Richtung Schloss. Besser gesagt, Vindictus marschierte, während Thaumator bequem spazierte. Nach wenigen Minuten verlangsamte der Ältere sein Tempo, was sein Begleiter kommentarlos mitmachte. Er war echt zu alt für sowas, obgleich er sich noch für relativ gut in Form hielt. „Ach, um Eure Frage von vorhin zu beantworten... ich hatte nie eine Schwäche für Schmuck.“ „Hm?“ Thaumator sah zu ihm nach unten und schien den Zusammenhang zunächst nicht zu verstehen. Dann erhellte sich seine Mine. „Ach ja... der Nabelring.“ „Also, warum tragt Ihr den? Oder ist das ein Geheimnis?“ „Ach was. Meine Frau trägt den gleichen. Es ist funktioneller Partnerschmuck.“ „Wieso funktionell?“ „Nun... sie hat keine eigene Magie mehr, also teile ich meine mit ihr.“ Vindictus horchte auf. „Das geht? Könnte Soach sich sowas auch anschaffen?“ „Vermutlich. Die Frage ist, ob ihm das reicht. Er kann die Kraft eines anderen niemals so benutzen, als wäre es seine, und er müsste erstmal jemanden finden, der bereit ist, sich dafür zur Verfügung zu stellen.“ „Also das ist wahrscheinlich das kleinste Problem. Ich werde mal mit Kayos reden.“ Thaumator hob eine Augenbraue. „So, wirklich? Nun, ich bin gespannt. Rose kommt ziemlich gut damit klar, auch meine Schwägerin hat sich daran gewöhnt. Aber Soach... ich schätze ihn anders ein, und nach der Stimmung im Schloss zu schließen...“ „Moment,“ unterbrach Vindictus. „Eure Schwägerin? Nicht etwa die, die Ihr ebenfalls ausgebrannt habt? Ich dachte, sie wäre tot...“ „So wie ich es erzählte, könnte dieser Eindruck entstehen,“ räumte Thaumator ein. „Aber sie überlebte. Genau genommen war es Cosmea, der es gelang, sie zu retten. Orchidee hat ebenfalls jemanden, dessen Magie sie benutzt. Sie verriet mir jedoch nicht, wer es ist. Genau genommen redet sie überhaupt nicht mit mir. Sie schreibt Rose ab und zu Briefe.“ „Cosmea und Ihr scheint eine gemeinsame Geschichte zuhaben,“ stellte der alte Heiler fest. Thaumator ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort. „Ja, Ihr habt Recht. Cosmea und Sage versuchten immer wieder, meine Mutter und mich auszuschalten. Als ich mit meiner Mutter fertig war, floh ich sowohl vor ihnen als auch vor Rose. Nun... Rose erwischte mich zuerst. Danach habe ich einige Gedächtnislücken, aber irgendwann wachte ich auf und befand mich in der Obhut eines Heilers in Cosmeas und Sages Turm. Nach meiner Gesundung hielt der Zirkel des Bösen Gericht über mich. Cosmea unterstützte mich und es wirkte sich positiv aus, dass ich meine eigene Mutter besiegt und mich selbst ergeben hatte. Naja... genau genommen hatte ich mich nicht ergeben, sondern war irgendwie bei ihnen gelandet, aber offiziell habe ich mich gestellt. Einige Jahre später wurde ich selber Zirkelmitglied.“ Es entging Vindictus nicht, dass eine gewisse Zeitspanne in der Erzählung fehlte, Zeit, in der der Feuermagier möglicherweise eine Strafe verbüßt hatte. Aber er beließ es dabei. Außerdem brauchte er seinen Atem, um durch den trockenen Sand zu stapfen. Seine Füße sanken ein und rutschten weg. Falls Thaumator damit Probleme hatte, verbarg er es gut. Als sie in der Bucht ankamen, wo die Kleidung noch fast wie vorher dalag, zeigten beide Anzeichen von Erschöpfung. Daran gab es nichts Verwerfliches, schließlich strengte auch Schwimmen an, besonders, wenn die Strömung dazwischenkam. Vindictus für seinen Teil bemühte sich an seinem Lebensabend nicht mehr, den anderen den Starken vorzuspielen, war aber überrascht, dass Thaumator sich nicht nach Kräften verstellte, stolzer Zirkelmagier, der er war. Als der Heiler die geliehene Kleidung abgelegt hatte, ließ Thaumator alle Teile, die er zuvor herbeigezaubert hatte, wieder verschwinden und fing an, seine ursprüngliche Kleidung anzuziehen. „Entschuldigt,“ rief jemand von oben herab, eine Frau. „Ist das dort drüben Schloss Lotusblüte?“ Vindictus sah überrascht auf und hielt seine Unterwäsche vor seine privatesten Teile. „Äh... ja.“ Er konnte die Fremde nicht genau erkennen, denn sie war einfach zu weit weg. Allerdings schien sie mehrere Gepäckstücke mit sich zu tragen. „Warum seid Ihr nackt?“ fragte sie nun. „Äh...“ Vindictus setzte reflexartig zu einer Erklärung an, unterbrach sich dann aber. Was für eine Frage war das bitte? „Was glaubt Ihr denn, was zwei nackte Männer gemeinsam am Strand tun?“ rief Thaumator, der gerade in seine Hose schlüpfte und das Hemd schon lose übergestreift hatte. Seine Worte brauchten mehrere Sekunden, um von der Dame verarbeitet zu werden. „Oh... nun ja. Es steht mir wohl nicht zu, das zu bewerten. Ich will nicht weiter stören.“ Sie drehte sich schwungvoll um. Etwas zuckte auf ihrem Rücken – Flügel? Taumator hatte verdutzt in seinen Bewegungen innegehalten. „Das habe ich eigentlich nicht gemeint,“ murmelte er. Vindictus begegnete seinem Blick und spürte ein Zucken in den Mundwinkeln. Beide Männer fingen an zu lachen. Dann erinnerte sich der Alte, in seine Leinenhosen zu steigen und die Robe überzuziehen. Abgesehen von den Schuhen fand er das ausreichend im hiesigen Klima. „Schwitzt ihr nicht?“ fragte er Thaumator. „Feuermagier zu sein hilft,“ entgegnete dieser. Er hatte seine elegante Magierrobe angelegt und griff gerade nach seinen Stiefeln. „Wartet... lasst mich Eure Beine sehen.“ Vindictus streckte bereits die Hände aus, eine Angewohnheit, die, wie ihm kurz darauf aufging, vielleicht nicht auf Gegenliebe stieß. Der Jüngere zögerte. „Wozu soll das gut sein?“ Der Heiler ließ die Hände sinken. „Ähm... ich möchte mich nicht aufdrängen. Aber hier sind wir ja nicht im Schloss. Vielleicht kann ich etwas bewirken.“ „Vier Heiler haben sich das angesehen,“ sagte Thaumator. „Zuerst der, der meine Wunden damals behandelt hat. Er meinte, ich könne froh sein, dass ich überhaupt überlebt habe.“ Vindictus schnaubte verächtlich. „Der hat vermutlich nur den natürlichen Heilungsprozess beschleunigt und dann war es für ihn erledigt. Es gibt Heilung und es gibt Heilung.“ „Etwa anderthalb Jahre danach sagte mir eine Heilerin der Feen, dass sie mir nicht helfen könne, weil mein Unterbewusstsein ihre Kräfte blockierte,“ fuhr Thaumator fort. „Ein anderer wollte nichts für mich tun, weil er wusste, wer ich bin und fand, dass ich es verdiene.“ „Das hat vermutlich die Blockade noch verstärkt,“ mutmaßte Vindictus. „Auch der beste Heiler ist machtlos, wenn der Patient die Hilfe verweigert. Das muss nicht bewusst geschehen – wahrscheinlich habt Ihr Euch Vorwürfe gemacht und die Narben gewissermaßen als gerechte Strafe betrachtet. Ihr wolltet nicht geheilt werden.“ „Schon möglich,“ meinte Thaumator. „Ich wagte mich dann erst etliche Jahre später wieder zu einem anderen Heiler, der als besonders fähig galt. Er stellte jedoch fest, dass die Narben schon zu sehr zu mir gehörten, als dass sie noch von mir getrennt werden könnten. Er verglich es mit einem Baum, der Rinde über eine Verletzung wachsen lässt. Man lässt es besser in Ruhe.“ „Pah! Manche Stümper können nur frische Wunden behandeln. Vermutlich überstieg es seine Fähigkeiten,“ winkte Vindictus ab. Er verschränkte die Arme vor der Brust und hob das Kinn. „Ich kann sogar Tote erwecken, also lasst mich sehen.“ „Aber... diese Toten werden dann Zombies...“ begann der Feuermagier. Er blies nachdenklich die Luft aus. „Nun gut... was kann es schaden...“ Er ließ die Stiefel fallen und setzte sich in den Sand, winkelte ein Bein an und krempelte die Hose bis zum Knie hoch. Manch einer mochte da nur eine vernarbte Fläche sehen, die zu behandeln es sich nicht lohnte, Vindictus aber sah eine Herausforderung, die seiner würdig war. Er legte seine Hände vorsichtig auf die geschädigte Haut, genoss das Gefühl, wie all seine Sinne darauf ansprangen und sein Verstand wie von selbst eine erste Analyse erstellte. So ging es vielleicht auch Soach mit der Chaosmagie. In diesem Moment bemitleidete er den Mann aus tiefster Seele. So faszinierend der Anblick von Brandnarben auch war, wenn sie einem anderen gehörten – Vindictus schloss die Augen und ließ ein Bild in seinem Kopf entstehen. Sein erfahrener Heilerinstinkt versetzte ihn in die Vergangenheit und ließ ihn beinahe Zeuge der Folter sein, die sein Patient durchgemacht hatte. Ah, er betrachtete ihn bereits als seinen Patienten. Nun... den ließ er bestimmt nicht mehr gehen, bevor er mit ihm fertig war. Die Fläche war wahrscheinlich mit brennbaren Hilfsmitteln verbrannt worden, was die weitestgehend gleiche Schädigung erklärte. Vindictus weitete seine Sinne auf den Rest des Körpers aus. Er fand Spuren von mindestens drei verschiedenen Klingen. Schnittnarben waren immer sehr gradlinig mit sauberen Rändern. Es gab sie nicht auf dem Rücken, dort dominierten dafür die Überbleibsel von Hieben mit einer Peitsche oder etwas Ähnlichem, deutlich erkennbar an der Art, wie die Haut unter der Gewalteinwirkung aufgerissen war. Oh... Thaumator hatte sich einmal den rechten Arm gebrochen, schätzungsweise als Kind, wie er am Grad der Verwachsung erkannte. Die Bissnarben am Arm stammten auch aus dieser Zeit. Junge Menschen neigten ja häufig dazu, wilde Tiere und Risiken generell zu unterschätzen. Hingegen waren die Verätzungen, die ihm vorhin schon aufgefallen waren, wesentlich jünger, maximal fünfzehn Jahre. „Ein glorreicher Kampf gegen einen giftigen Schlangendrachen,“ bemerkte Thaumator.“ „Ah ja, das erklärt... Hä?“ Vindictus schreckte aus seiner Konzentration hoch. „Ihr murmelt vor Euch hin,“ grinste sein Patient. „Sehr aufschlussreich.“ „Ähem.“ Anscheinend nahm er es ihm nicht übel. „Dann könnt Ihr mir vielleicht sagen, was Euch gebissen hat...“ „Mein Drache, damals noch ganz jung. Aber es war ein Unfall. Er bewahrte mich vor einem tödlichen Sturz, indem er meinen Arm festhielt.“ „Oh... gutes Tier.“ „Bezeichnet ihn nie in seiner Gegenwart als Tier.“ Thaumator lächelte bei den Worten, also blieb Vindictus locker. „Eure Beine... Wie ist das passiert?“ wagte der Heiler zu fragen. Er bemerkte erhöhte Herzfrequenz und eine schnellere Atmung bei seinem Patienten. Hatte es vorhin noch so ausgesehen, als könne er sein Leben einfach kurz zusammenfassen und einem so gut wie fremden Mann erzählen, so mussten die Details ihn doch ein wenig aufregen. „Ihr müsst das nicht erzählen, wenn es schwierig für Euch ist.“ Thaumator ließ seinen Oberkörper zurücksinken, bis er auf dem Sand lag. Sein Blick richtete sich auf die Ferne... möglicherweise in die Vergangenheit. „Wir befanden uns in einer Art Heiligtum, einem verlassenen Ort, wo Magie nicht wirkt. Sie fesselte mich an den steinernen Alter und wickelte nasse Tücher um meine Beine. Ich konnte es riechen... ein rituelles Öl, das normalerweise in Feuerschalen verbrannt wird... die Tücher waren mit dem Zeug durchtränkt. Sie hatte noch viel mehr Tücher und jede Menge von dem Öl. Ihr ursprünglicher Plan sah nicht vor, dass ich überlebe. Doch wir hatten viel geredet, Dinge klargestellt... und als sie mit der Fackel näher kam, rang ich ihr das Versprechen ab, mit mir den Bund zu schließen, falls ich mich davon erhole.“ „In so einem Moment?“ staunte Vindictus. „Konntet Ihr sie nicht, nun ja... um Gnade bitten?“ „Vielleicht. Ich empfand es aber schon als Gnade, dass sie nur meine Beine verbrannte. Aber um das zu verstehen, kennt Ihr noch immer viel zu wenige Einzelheiten. Wisst Ihr... aus uns wäre vielleicht schon früher etwas geworden, wenn meine Mutter sie nicht fälschlich beschuldigt hätte. Rose fühlte sich von mir verraten, und von jemandem verraten zu werden, den Ihr mögt, tut noch viel mehr weh als bloßer Verrat. Dann die Sache mit ihrer Schwester...“ „Der Schock einer solchen Verletzung hätte Euch töten können!“ „Ja... aber ich überlebte. Und gewann eine Frau, die selbst im Bett Messer am Körper trägt – wenn auch sonst nichts.“ „Schön für Euch,“ grinste Vindictus. „So eine hatte ich auch mal, aber Amazonen binden sich nicht für lange.“ Er ließ von Thaumators Bein ab. Der Feuermagier stand auf, krempelte sein Hosenbein wieder herunter und schlüpfte in seine Stiefel. „Nun? Wurde Eure wissenschaftliche Neugier befriedigt?“ „Ich kann die Narben verschwinden lassen, wenn Ihr es zulasst,“ verkündete Vindictus und beobachtete den Effekt. Thaumator fuhr herum und starrte mit großen Augen zu ihm herunter. „Ihr beliebt zu scherzen.“ „Ich bin Heiler im Zirkel des Bösen. Mit sowas mache ich keine Witze.“ Er genoss es, Thaumators eigene Worte auf ihn zurück zu werfen. „Aber... all die anderen Heiler...“ widersprach der Jüngere halbherzig. „Stümper,“ meinte Vindictus achselzuckend. „Zweifellos junge Burschen.“ „Naja... jünger als Ihr.“ „Genau. Ich kann eine Wunde so heilen, dass sie einfach nicht mehr stört. Aber dafür würde eine Salbe und Verbandszeug aus dem Gepäck eines Helden reichen. Oder ich mache es ordentlich. Dann seht Ihr hinterher nichts mehr.“ Vindictus baute sich stolz auf und kam sich zehn Zentimeter größer vor. „Mit so alten Narben ist es schwierig im Vergleich zu einer frischen Wunde. Aber noch lange nicht unmöglich. Gewöhnliche Heiler würden natürlich davon abraten, und selbst ich warne vor den Risiken. Aber ich bin Necromant. Die üblichen Moralvorstellungen sind anders bei mir.“ „Da ich im Zirkel des Bösen bin, kann ich damit leben,“ sinnierte Thaumator. „Ich werde Rose eine Nachricht schicken. Wenn sie einverstanden ist, dürft Ihr es versuchen.“ „Ihr macht das von Eurer Frau abhängig?“ „Es ist die Frau, die nicht alles an mir verbrannte, obwohl sie die nötigen Mittel und genug Gründe hatte.“ „Auch wieder wahr.“ Vindictus freute sich schon darauf, diese Person kennen zu lernen und zu sehen, wie das Pärchen miteinander umging. „Aber wie lange würde es dauern?“ erkundigte sich Thaumator. „Gewiss klappt das nicht an einem Tag, oder? Dann hätten wir ein Problem, denn das Schlossherz hat mich praktisch dazu aufgefordert, so bald wie möglich zu verschwinden.“ Vindictus rieb sich das Kinn. „Hm. Da fällt mir schon was ein. Aber wir werden nicht ewig verheimlichen können, was wir tun. Ist es Euch unangenehm, jemandem die Narben zu zeigen? Ich meine... Ihr habt sie mir gezeigt.“ „Es ist mir nicht direkt unangenehm, es ist nur... privat,“ erläutert Thaumator. „Wenn ich als Zirkelmagier unterwegs bin, zeige ich keine Schwäche, also verdecke ich die Narben. Außerdem ist es oft anderen Leuten unangenehm, sie zu sehen. Manche fühlen sich von dem Anblick abgestoßen. Andere fangen an, mich zu bemitleiden. Beides will ich nicht. Aber möglicherweise tat es mir gut, mit einem Fremden darüber zu reden.“ „Soach würde sagen, es gibt keine Zufälle. Das Schicksal hat Euch zu mir geführt!“ Vindictus ballte eine Faust im Triumph. Thaumator verdrehte lachend die Augen. „Das könnte natürlich sein.“ Sie verließen gemächlich den Strand, wobei es leider erst einmal etwas bergauf ging, bis sie den oberen Landabschnitt erklommen hatten. Von hier ging es relativ ebenerdig zum Schloss weiter. Da der ganze Ausflug mehr Zeit in Anspruch genommen hatte als geplant, hatten sie vermutlich das Frühstück versäumt. Vindictus‘ Magen beklagte sich über die Leere. Sein Begleiter hatte es wohl gehört und warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. „Also... gehen wir in der Küche räubern oder verhalten wir uns wie Männer und leiden schweigend bis zum Mittag?“ „Ich würde sagen, wir verhalten uns wie Zirkelmagier und lassen uns was in den Saal bringen,“ schlug Vindictus vor. „Aber erst muss ich kurz auf der Krankenstation Bescheid sagen, sie warten da sicher schon auf mich.“ „Ich komme mit – wenn sich jemand beschwert, nehme ich die Verantwortung auf mich, schließlich war ich es, der woanders schwimmen wollte,“ bot Thaumator an. Da widersprach Vindictus gewiss nicht. Als sie sich dem Schlossgelände näherten, zog der Feuermagier seine Kleidung noch einmal glatt, straffte seine Haltung und befleißigte sich eines arroganteren Schrittes. Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, doch die Andeutung eines Lächelns blieb sichtbar, wenn man wusste, wie Thaumator aussah, wenn er lächelte. „Zurück im Zirkelmodus, wie ich sehe,“ murmelte Vindictus. Das Lächeln wurde deutlicher. „Nennt es, wie Ihr wollt.“ Vielleicht habe ich seine harte Schale geknackt, dachte Vindictus selbstzufrieden. Oder Thaumator hatte nie eine besessen und man musste sich nur die Mühe machen, sich mit ihm zu befassen. Wie auch immer... an seinem Arbeitsplatz schien einiges los zu sein. Schon von weitem hörten die beiden das Gezeter von mehreren Frauen durch die geschlossene Tür. Ab und zu mischte sich ein Mann ein. Die Stimme von Lady Charoselle kristallisierte sich heraus: „... allgemein bekannte Vorurteile, aber was soll man von einer Fee, die nie ihr Nest verlassen hat, anderes erwarten!“ „Ihr sprecht von Vorurteilen, aber anscheinend denkt Ihr tatsächlich, dass Feen in Nestern wohnen!“ regte eine fremde Stimme sich auf. „Das war bildlich gemeint!“ keifte Charoselle. „Versteht Ihr absichtlich alles falsch, was ich sage, oder seid Ihr wirklich so hinterweltlerisch? Ich frage mich ohnehin, warum Ihr Eure Tochter nicht über die Risiken aufgeklärt habt, bevor es so weit kam. Jetzt ist es zu spät!“ „Das würde ich so nicht sagen, sie kann immer noch...“ „Beendet diesen Satz lieber nicht,“ unterbrach Dsasheera die Fremde. Sie klang sehr bedrohlich. Vindictus trat ein, wobei er schwungvoll die Tür aufstieß. „Was geht hier vor?“ Schnell nahm er das Bild in sich auf. Lily lehnte mit verschränkten Armen an einem der Betten und starrte mit wütendem Blick auf den Boden. Lady Charoselle und Dsasheera schienen ein Team zu bilden, das sich mit einem Pärchen stritt, welches ihnen gegenüber stand. Vindictus hatte diese Leute noch nie gesehen, aber sie mussten Feen sein, denn beide trugen gefiederte Flügel auf dem Rücken und hatten blumige Haarfarben, sie ein zartes Rosa und er ein pastelliges Lila. Die Frau blickte sich zum Eingang um und bekam große Augen. Sie streckte anklagend den Zeigefinger aus. „Ah! Das sind die beiden Schwulen vom Strand!“ Hinter ihm machte Thaumatur ein hustenähnliches Geräusch, als würde er sich das Lachen verkneifen. „Und wer, bitte, seid Ihr?“ gelang es Vindictus zu fragen. „Guten Morgen, Vindictus,“ sagte Lily. „Das sind Petunia und Lavender. Meine Eltern...“ Kapitel 25: Blutfeen -------------------- Kurz nach dem Frühstück machte Cathy Soach darauf aufmerksam, dass es auf der Krankenstation zu Streitereien kam. Als er eintraf, war bereits Vindictus dort und versuchte zu vermitteln. Allerdings kam er kaum zu Wort. „Ich übernehme die Pflege meiner Tochter schon selbst, ich kenne mich mit den speziellen Bedürfnissen einer schwangeren Fee besser aus als Ihr!“ sagte die hochgewachsene Frau mit den rosafarbenen, schulterlangen Haaren, die laut Cathys Information Petunia hieß und Lilys Mutter war. Ihre weiß gefiederten Flügel zuckten vor Aufregung. „Mir kommt es nicht so vor, als läge Euch das wohl Eurer Tochter mehr am Herzen als Euer Ruf!“ entgegnete Dsasheera. „Ich bin hier, um mich um die schwangeren Frauen in diesem Schloss zu kümmern. Wir Amazonen machen keinen Unterschied zwischen Kriegern, Magiern, Unterweltlern oder Feen – ich habe alles schon auf die Welt geholt.“ „Feen, die keine Amazonen sind, kann man nicht trauen!“ beharrte Charoselle, wobei sie geschickt Feen ausließ, die Amazonen waren. Lily schien sich von diesen Worten nicht angegriffen zu fühlen, obgleich sie nicht zu den Amazonen zählte. Als sie Soach entdeckte, kam sie zu ihm und ließ sich wortlos von ihm in die Arme schließen. Ihr Vater, Lavender, besaß ebenfalls weiße Federflügel. Er trug sein lavendelfarbenes Haar zu einem kurzen Zopf geflochten. Im Gegensatz zu den Frauen fiel ihm der Neuankömmling auf. „Ihr seid dann wohl Prinz Soach,“ stellte er fest und musterte den Vater seines zukünftigen Enkelkindes mit einem kritischen Blick von oben bis unten. „Also doch ein Unterweltler...“ „Äh... nein!“ protestierte Soach. „Nur zur Hälfte!“ Das war schon der zweite, der ihn für einen Unterweltler hielt. Lavander und seine Frau trugen helle Reisekleidung, aber die Hosen saßen weit und locker über knöchelhohen Stiefeln und auch die Ärmel der Hemden schlossen zwar am Handgelenk mit einem schnürbaren Bund, waren aber weit geschnitten. Luftig, leicht, Feenstil. Falls sie Umhänge benutzt hatte, lagen die wohl bei ihrem Gepäck, welches sich an der Seite auf den Stühlen stapelte. Thaumator, der sich aus irgendwelchen Gründen ebenfalls hier aufhielt, nahm das Gepäck gerade in Augenschein, dann setzte er sich auf einen frei gebliebenen Stuhl und wartete. Durch Lavenders Worte war wohl auch Petunia auf Soach aufmerksam geworden und stürzte sich verbal auf ihn. „Finger weg von Lily! Du hast schon genug Schande über sie gebracht! Komm, Lily, wir gehen am besten nach Hause und kümmern uns dort um dich!“ Sie streckte die Hand nach Lily aus, doch Meras baute sich vor der schwangeren Fee auf und gab ein hohes, nicht so ganz melodisches Jaulen von sich. Soach hatte noch nie so ein bedrohliches Geräusch von der Katze gehört. Eigentlich kannte er das von den Tieren nur, wenn sie sich untereinander drohten, und Meras war nicht einmal eine richtige Katze. Sie legte die Ohren nach hinten und bleckte fauchend die Zähne. Hätte sie längeres Fell gehabt, wäre sie jetzt wahrscheinlich optisch doppelt so groß geworden. „Was heißt hier, mein Sohn hat Schande über Eure Tochter gebracht?“ zischte Charoselle. „Immerhin ist das Baby von königlicher Abstammung!“ „Sollen wir uns jetzt etwa noch dafür bedanken, dass er sie mit seinem Unterweltlersamen infiziert hat?“ erwiderte Petunia. Sie versuchte allerdings nicht mehr, sich Lily zu nähern. „Meine Herrschaften, das hier ist eine Krankenstation...“ begann Vindictus, doch niemand beachtete ihn. „Zu Hause wartet ihr Verlobter schon seit Jahren darauf, dass sie von ihrer fixen Idee, diese seltsamen Heilkünste in fremden Gegenden zu erlernen, endlich ablässt!“ teilte Lavender den Anwesenden mit. Soach spürte, wie Lily sich verspannte. Vielleicht erwartete sie jetzt eine zornige Reaktion von ihm, denn sie hatte nie einen Verlobten erwähnt. Aber der Typ konnte ihr nicht besonders viel bedeuten, sonst wäre sie längst wieder bei ihm gewesen. Sie hatte allerdings einmal erzählt, dass ihre Eltern es nicht guthießen, dass sie andere Heiltechniken erlernte als die traditionellen ihrer Familie. Das schien noch leicht untertrieben zu sein. „Nicht nur, dass ich der Familie des jungen Mannes jeden Monat erklären muss, warum Lily noch immer nicht nach Hause kommt – jetzt schleppt sie auch noch ein Mischlingsblag an! Zu allem Überfluss womöglich eine... eine Blutfee!“ Petunia spieh das letzte Wort aus, als wäre es eine bittere Frucht auf ihrer Zunge. „Es reicht jetzt!“ sagte Vindictus. Es gelang ihm, sich sehr laut zu äußern, ohne zu brüllen. „Ich bin Vindictus, der Heiler von Schloss Lotusblüte und verantwortlich für diese Abteilung! Ich dulde nicht, dass hier solcher Lärm verursacht wird!“ Zwar gab es derzeit keine Patienten, aber er gewann die volle schweigsame Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Dsasheera warf ihm einen schmachtenden Blick zu, und Soach vermutete, dass der Alte sich schon deswegen durchsetzen musste, damit er nicht vor ihr das Gesicht verlor. „So. Und jetzt unterhalten wir uns wie Erwachsene!“ verlangte Vindictus. „Also, wo ist das Problem?“ Petunia und Lavender starrten ihn an, wobei auf ihrem Gesicht deutlicher als auf seinem ein gewisser Ekel zu erkennen war. „Ich will den Schlossherrn sprechen,“ entschied die Feenfrau. „Das wäre dann momentan ich,“ brachte Soach sich ein. „Solange Crimson nicht verfügbar ist, vertrete ich ihn.“ Petunia unterzog ihn der gleichen Musterung wie bereits ihr Partner. „Ah ja. Wenn es denn sein muss... Wir wünschen, eine Weile im Schloss zu bleiben, um unserer Tochter beizustehen. Wir sind Heiler der klassischen Feenheilkunde.“ „Oh, natürlich, das verstehe ich.“ Soach setzte ein Lächeln auf. „Ich lasse jemanden kommen, der Euch zu Eurem Zimmer führt.“ Er ließ Cathy Gorz herbeordern. [Er soll ein kleines, schnuckeliges Zimmer aussuchen, das keinen Balkon hat.] Cathy verstand ihn ganz genau. Und Gorz wenige Minuten später auch. Als Soach das geklärt hatte, sahen ihn alle auf die typische Art an, die er immer bekam, wenn er mit dem Schlossherz kommuniziert hatte. „Die Vorbereitungen dauern einige Minuten, wir sind leider nicht auf so viel Besuch eingestellt, und wir beherbergen derzeit schon acht Personen aus dem Zirkel des Bösen. Aber es wird gleich jemand kommen, wenn Ihr solange draußen warten wollt...“ Soach zeigte recht verbindlich zur Tür. Lilys Eltern wandten sich betont indigniert ihrem Gepäck zu und schreckten geradezu zurück, als sie merkten, dass Thaumator noch immer direkt neben den Taschen saß. Sie fingen sich aber gleich wieder, schnappten sich ihre Habseligkeiten und marschierten hinaus. Thaumator verfolgte den Vorgang mit mildem Interesse. Er war in ein handliches Buch vertieft. Als die beiden ungeladenen Besucher fort waren, atmete Lily deutlich auf. „Puh... immer kritisieren sie mich! Ich wollte gar nicht, dass sie herkommen. Wenn ich gewusst hätte, dass das passiert, hätte ich ihnen nicht geschrieben, aber ich dachte, sie sollten wissen, dass sie Großeltern werden.“ „Mir ist ja klar, dass Feen und Unterweltler nicht so drauf stehen, wenn sie vermischt werden, aber warum regen sich alle über uns so auf?“ fragte Soach niemanden im Besonderen. „Und was ist eine Blutfee?“ „Moment, ich rege mich gar nicht darüber auf!“ stellte seine Mutter klar. „Nun ja, aber glücklich bist du auch nicht darüber, oder?“ beharrte Soach. Die Herrscherin der Eisigen Inseln seufzte. „Nein... aber ich respektiere deine Entscheidung.“ „Das Wort Blutfee habe ich früher ab und zu gehört,“ murmelte Lily. „Ich dachte, das wäre eine Märchengestalt... Zu kleinen Mädchen sagt man manchmal, dass sie artig sein sollen, damit ihre Kinder keine Blutfeen werden. Und wenn Jungs ungehorsam sind, holt sie die Blutfee. Das sind offenbar böse, entartete Feen, die Kinder entführen.“ Charoselle schien mit sich zu ringen, schwieg aber. Dafür meldete sich Vindictus zu Wort. „Ich habe ein Buch darüber. Ujat hat es in Araes Bibliothek gefunden, deshalb habe ich es mitgenommen. Denn wenn ihm so etwas auffällt... nun ja. Moment, ich hole es.“ Er ging in den hinteren Teil der Krankenstation, wo Fachbücher, Nachschlagewerke und Putzlappen lagerten. Zwischen anderen Werken holte er ein relativ großformatiges, aber nur wenige Zentimeter dickes Buch hervor, das, wie sich herausstellte, den Titel Blutfeen und andere Abnormitäten trug. Er gab es Lily. „Abnormitäten?“ murmelte Lily und starrte mit großen Augen auf den goldgeprägten Titel. „Ich habe mir erlaubt, das Kapitel zu lesen, falls der Bedarf nach diesem Wissen entstehen sollte,“ fuhr Vindictus fort. „Offenbar ist eine Blutfee das Kind einer Fee mit einem Unterweltler, wobei es keine Rolle spielt, was davon der Vater und was die Mutter ist. Bevor du widersprichst, Soach, sie können auch in der zweiten Generation entstehen, also wenn beispielsweise ein Krieger, der eine Fee zum Vater hat, eine Magierin schwängert, deren Vater ein Unterweltler ist. Als Heiler würde ich annehmen, dass es ganz seltene Fälle gibt, wo sich das Unterweltler- und Feenblut noch über viel mehr Genrationen weitervererbt, aber solche Fälle sind scheinbar nicht bekannt. Der Autor nimmt an, dass es zu allen Zeiten etwa hundert lebende Blutfeen gibt, die aber zum Teil nicht wissen, was sie sind, oder aber im Verborgenen existieren.“ „Wie kann man das nicht wissen?“ fragte Soach. „Oder anders ausgedrückt, woher wissen wir, ob unser Kind eine Blutfee ist?“ „Diese Kinder sind von Geburt an schwach und kränklich,“ erklärte Vindictus. „Sie brauchen innerhalb der ersten Lebenswochen das Blut eines Unterweltlers, eines so genannten Blutspatrons. Dadurch bessert sich ihr Zustand sofort und sie entwickeln die für Blutfeen typischen Fähigkeiten. Wenn sie kein Blut bekommen, überleben sie auch, dann aber, so die Theorie, bleiben sie Feen mit mittelmäßigen Kräften. Natürlich kann man später nicht mehr nachprüfen, ob jemand, der als Baby krank war, in Wahrheit eine Blutfee ist.“ Lily streichelte geistesabwesend ihren Bauch. „Ähm... und was ist daran jetzt so schlimm?“ „Blutfeen gelten als böse,“ erläuterte Vindictus weiter. „Es mag ein Vorurteil sein, wie es sie auch gegen Chaosmagier gibt, aber tatsächlich waren viele bekannte Blutfeen Tyrannen, Eroberer oder einfach Landplagen.“ „Naja... das gleiche gilt für zahlreiche normale Feen, viele Unterweltler, etliche Magier, nicht wenige Krieger und jede andere Gruppe, die man sich vorstellen kann,“ behauptete Lady Charoselle. „Und zweifellos gibt es auch Blutfeen, die gut sind, nur weiß es niemand, weil sie sich verstecken müssen.“ Von der Seite räusperte sich Thaumator, dessen Anwesenheit Soach völlig vergessen hatte. „Tatsächlich scheinen keine Fälle von guten Blutfeen dokumentiert zu sein,“ sagte er. Er klebte mit den Augen in dem Buch, das er gelesen hatte. „Hier... Ludovica die Drachenjägerin. Sie soll zahlreiche Drachen gejagt und getötet haben, um ihre Rüstung mit ihren Zähnen zu schmücken. Nebenbei rottete sie ganze Dörfer aus, wenn ihr die Einwohner nicht gefielen. Sie starb, als sie sich einen Drachen als Gegner wählte, der etwas zu groß für sie war. Umbold der Schlächter verdingte sich als Söldner. Oft bestritt er ganz alleine die Schlacht, metzelte seine Feinde und manchmal auch Verbündete nieder. Er wurde zuletzt von einer Gruppe aus Magiern zur Strecke gebracht. Arvenna die Zerstörerin spezialisierte sich auf die Remodellierung von bebauten Flächen, bis sie eines Tages unter den Trümmern ihres eigenen Turmes begraben wurde, den ihre Feinde in die Luft sprengten. Allerdings brachte sie noch eine Handvoll dieser Feinde um, bevor sie ihren Verletzungen erlag. Naja, Ihr versteht die Botschaft... Die letzte bekannte Blutfee, die Schwarze Alice, hatte insgesamt fünf Männer, mit denen sie den Bund schloss, um sie dann umzubringen und zu beerben. Alle waren reich oder einflussreich oder beides. Sie starb dann schließlich an Sanguitis, einer Krankheit, die nur Blutfeen befällt. Ihr Blutspatron hätte ihr helfen können, doch er verweigerte die Hilfe, was ihn zu ihrem letzten Opfer machte.“ Charoselle war mit ein paar Schritten bei dem Magier. „Was ist das für ein Buch?“ Thaumator zeigte ihr den Einband. „Der Schrecken des Blutes. Eine chronologische Auflistung der Blutfeen. Es lag hier bei dem ganzen Kram auf den Stühlen.“ „Ihr meint, Ihr habt es geklaut,“ ging es Vindictus auf. „Aber nicht doch,“ wehrte Thaumator ab. „Ich habe es hier ganz offen gelesen. Wenn diese Leute es nicht wiederhaben wollen, ist das nicht meine Schuld.“ Charoselle schnappte ihm das Buch weg und blätterte es rasch durch. „Eine sehr einseitige Abhandlung, wie es aussieht.“ „Ihr scheint andere Blutfeen zu kennen,“ bemerkte Dsasheera. Die Herrscherin der Eisigen Inseln warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Ich habe im Laufe meines Lebens viele Leute kennen gelernt und auch viele Verbrecher zur Strecke gebracht.“ Lily drückte das Buch Blutfeen und andere Abnormitäten an ihre Brust. „Ähm, Dsasheera... Ihr habt mir doch gesagt, dass mein Baby Flügel hat... es könnte auch ein Unterweltler sein, nicht wahr?“ Die alte Amazone sah sie ernst an. „Theoretisch ja. Aber es sind gefiederte Flügel.“ „Marquis Belial vom Zirkel hat auch gefiederte Flügel und ist ein Unterweltler,“ wandte Soach ein. „Wer weiß, vielleicht ist er eine getarnte Blutfee,“ murmelte Vindictus. Er schielte zu Thaumator, doch der Magier ging nicht darauf ein. Die beiden wirkten heute plötzlich wie alte Kumpel. „Mal ganz im Ernst, Soach,“ sagte seine Mutter. „Glaubst du wirklich, dass das ein Unterweltler ist, wenn du das Chaos praktisch verkörperst?“ Soach ließ die Information sacken. Er berücksichtigte auch, dass Ujat das Buch mit der Erklärung über Blutfeen gefunden hatte, der Hellseher, der immer behauptete, Hilfsmittel für seine Gabe zu brauchen, dann aber mit dem lebensrettenden Mittel gegen ein tödliches Gift ankam, als sonst niemand mehr Rat wusste. „Naja... dann ist es halt so,“ beschloss er. „Mutter, du bist eine Unterweltlerin, du könntest doch der Blutspatron werden.“ Charoselle hob abwehrend die Hände. „Ich ahnte, dass du damit anfangen würdest, aber ich bin dafür zu alt. Stell dir vor, das Kind kriegt diese Blutfeenkrankheit, und ich lebe dann schon nicht mehr.“ „Dann frage ich Gorz,“ meinte Soach leichthin. „Oder Belial.“ Doch Lily griff nach seinem Arm. „Soach, machst du dir keine Sorgen? Ist es nicht besser, das geheim zu halten?“ „Aber ganz im Gegenteil,“ bestimmte Soach. „Soll unser Kind immer Angst haben, dass seine wahre Natur entdeckt wird? Wir werden es so erziehen, dass alle sehen, wie gut Blutfeen sein können!“ „Das sieht dir ähnlich,“ seufzte Charoselle. „Aber überleg dir das gut. Denk an das Kind, nicht an deine persönlichen Wünsche. Es ist ja noch ein bisschen Zeit.“ Auch Lily wirkte skeptisch. „Als bekannte Blutfee könnte es... benachteiligt werden...“ Soach legte sanft seine Hände auf ihre Schultern und sah sie eindringlich an. „Lily, der Grund, warum Blutfeen böse werden, liegt doch auf der Hand! Ihnen wird von Anfang an gesagt, dass sie schlecht sind, dass sie zu einer verdorbenen Art gehören, nur Unheil bringen... Wenn du so aufwachsen würdest, und wenn alle dich meiden, verspotten und beleidigen... würdest du dann nicht böse werden?“ „Wir sollten es lieber geheim halten,“ beharrte die Fee. „Wenn es ein Thema ist, das so schlimm ist, dass niemand darüber redet...“ „Es ist ein Thema, über das geredet werden sollte!“ widersprach Soach. „Wenn diese Blutfeen so gefürchtet sind, sollten Eltern ihre Kinder davor warnen, sich mit Unterweltlern einzulassen! Aber es wird tabuisiert, und dann wundern sie sich, wenn es so kommt wie mit uns jetzt! Was ist denn eigentlich so schlimm an ihnen, außer dass sie als Babys Blut trinken?“ „Du meinst, was sie von anderen Feen unterscheidet?“ hakte Vindictus nach. „Das stand in dem Buch nicht. Dort ist immer nur von den speziellen Kräften der Blutfeen die Rede.“ „Aha... dann müssen wir vielleicht ein Buch finden, das sich speziell mit diesem Thema befasst. Oder steht es vielleicht in dem da?“ Soach deutete auf das kleinere Exemplar aus dem Gepäck der Feen, das seine Mutter in der Hand hielt. Charoselle sah nach. „Es ist lediglich eine Auflistung böser Blutfeen mit einer kurzen Zusammenfassung ihrer Lebenswege, die meistens tragisch enden.“ „Das passiert mit keinem meiner Kinder!“ setzte Soach fest. „Ich finde einen Blutspatron und jemanden, der ihm beibringen kann, was es bedeutet, eine Blutfee zu sein. Wenn Blutfeen wirklich besondere Kräfte haben, wäre es Verschwendung, sie nicht...“ „Soach!“ unterbrach Lily ihn. „Was redest du denn da! Habe ich dazu nicht auch noch etwas zu sagen? Es ist schließlich auch mein Kind! Vielleicht wäre es besser, keinen Blutspatron zu besorgen und es einfach eine mittelmäßige Fee werden zu lassen!“ Diese Reaktion traf Soach unvorbereitet. „Aber... Lily...“ brachte er lediglich hervor. Dsasheera drängte sich plötzlich zwischen ihn und die Fee, wogegen auch Meras nichts unternahm. „Komm, Kindchen, beruhige dich erstmal. Männer verstehen das ohnehin nicht...“ Soach zuckte vor der Amazone zurück, vermied, dass sie ihn berührte. So gelang es ihr ziemlich einfach, Lily von ihm wegzuführen. Er blieb perplex zurück. „Vielleicht... warst du wirklich etwas vorschnell,“ sagte Charoselle zögerlich. „Werdende Mütter sind empfindlich, besonders, wenn es um ihre Kinder geht.“ Soach ließ den Kopf sinken. „Ja... wahrscheinlich habe ich sie zu sehr damit bedrängt.“ Die Idee, eine Blutfee als Kind zu haben, ein Wesen von besonderer Macht, mit speziellen Kräften, hatte Soach sehr fasziniert, geradezu Besitz von ihm ergriffen. Doch er schalt sich einen Narren. Selbst wenn Lily erlaubte, dass sie einen Blutspatron benutzten, brachte das doch seine eigene Magie nicht zurück. Vielleicht bekamen sie ja auch gar keine Blutfee, sondern eine ganz gewöhnliche Fee oder gar einen Unterweltler. Im Prinzip konnte es sogar ein Magier werden, wie ja Dark bewies. Und kam es darauf wirklich an? Sie würden ihr Kind nicht weniger lieben, wenn es ein Krüppel wäre. Eines stand jedenfalls fest: Für den Fall, dass dieses Kind, aus welchen Gründen auch immer, in Gefahr geriet, musste er schleunigst die Kraft finden, es dann auch zu beschützen. Im Moment kam er ja kaum mit sich selbst klar. Er verließ die Krankenstation fluchtartig, dann das Schloss und schließlich das Gelände, damit seine Emotionen nicht zu sehr auf Catherine überschwappten. Soachs Blick trübte sich. Das dringende Bedürfnis, den Kopf gegen eine Wand zu schlagen, ließ ihn fast umkehren. Statt dessen beschleunigte er seine Schritte, bis er rannte, und selbst dann versuchte er noch, das Tempo zu erhöhen. Körperliche Erschöpfung hatte ihm schon immer geholfen, mit Anspannung umzugehen... doch es reichte nicht mehr, das wusste er. Als seine brennenden Lungen ihm klar machten, dass er sich dumm anstellte, ließ er sich fallen, genoss den Schmerz des Sturzes aus vollem Lauf und blieb keuchend auf der Seite liegen. Ein schöner Stellvertreter bin ich. Die Vorstellung, andere könnten über seine Schwäche spotten, wenn sie ihn so sahen, ließ ihn kalt. Das wiederum erfüllte ihn mit Besorgnis, brachte ihn jedoch nicht dazu, sich zu erheben. „Meeeooow,“ machte Meras. Sie beschnüffelte sein Gesicht und leckte seine Nase. Anscheinend war sie ihm nachgelaufen. „Crimson hat dich wirklich als meine Wache eingeteilt, was?“ murmelte Soach. Er erhielt nicht direkt eine Antwort von der Katze, eher das subtile Gefühl, sich zu irren. Sie hatte eigene Motive, die sich ihm nicht erschlossen. Dann erhielt er von ihr eine Warnung, die ihn auf die Beine brachte. Einige Meter entfernt landeten gerade mehrere große Vögel in bunten Farben. Von jedem sprang eine Amazone in voller Kriegerinnenmontur ab, und eine blonde Schönheit erkannte er zu seinem Bedauern sofort wieder. „Hallo, Paladia. Wie geht es deiner Tochter?“ Sie richtete lächelnd ihr Schwert auf ihn, und ihre Begleiterinnen taten es ihr gleich. „Hallo, Sorc! Ich hörte, sie haben dich ausgebrannt? Herzlichen Glückwunsch! Wir sind übrigens hier, um deine Dienste als Rehabilitand der Stufe vier einzufordern!“ Es war immer ein schlechtes Zeichen, wenn ihn jemand Sorc nannte. „Das tut mir Leid, ich bin schon Crimson zugeteilt worden.“ „Da haben wir andere Informationen,“ beharrte Paladia. „Außerdem haben wir dich bei einem Fluchtversuch erwischt.“ Zugegeben, das konnte so aussehen, zumal er sich beim Sturz den Hemdsärmel und die Haut am linken Arm aufgerissen hatte. Die Hose war von Gras und Erde grün und schmutzbraun verfärbt. „Aber nein, ich habe mit der Katze gespielt,“ behauptete Soach und deutete auf Meras, die in der Nähe saß und sich den Rücken putzte. „Darüber hinaus besagen meine Informationen, dass ich alle Angebote für Rehabilitandenstellen ablehnen kann, wenn ich bei Crimson bleiben möchte. Aber wenn du schonmal hier bist, möchtest du sicher Crimson besuchen. Er schläft gerade, weil er die Nacht über wach war.“ Er drehte sich zum Schloss um. Auch hinter ihm stand eine blonde Amazone mit einem Schwert. Er kannte sie nicht direkt, doch sein mit Crimson verbundenes Unterbewusstsein identifizierte sie als dessen Mutter, Amazia. Soach schob das Schwert mit dem Handrücken zur Seite und drängelte sich vorbei, wobei er noch einem Speer und einem Dolch ausweichen musste. Dreistigkeit siegte für gewöhnlich bei Amazonen. Die Kriegerinnen stellten sich ihm erneut in den Weg und hielten ihm ihre Waffen mit etwas mehr Nachdruck vor die Nase, an den Hals, in die Rippen, an den Rücken und gegen den Bauch. Anscheinend konnte er derzeit einfach nicht mit dem nötigen Selbstbewusstsein überzeugen. „Jetzt wäre ein bisschen Magie nett, was?“ spottete Paladia. „Ist ja gut,“ gab er nach, wobei er die Hände halbhoch neben sich hielt, wo sie sie sehen konnten. „Was habt ihr jetzt vor, wollt ihr mich verschleppen?“ Meras knurrte, blieb aber auf ihrem Platz. Soach wollte sie nicht gefährden, daher versuchte er, ein Handgemenge zu vermeiden. Er hatte auch gar keine Waffen dabei, die hatte er in seinem Zimmer gelassen, damit die Besucher vom Zirkel ihm nicht vorwarfen, dass er gegen Auflagen verstieß. Dass die Gegnerinnen zu acht waren, spielte bei seiner Vorsicht selbstverständlich nur eine untergeordnete Rolle. „Genau, was machen wir jetzt, Amazia?“ fragte eine schwarzhaarige Amazone. „Dass wir ihn hier draußen schnappen, war ja nicht geplant. Sollen wir ihn gleich mitnehmen?“ Soach konnte das Schloss zu seiner Rechten sehen, insofern machte er sich keine Sorgen. Sie mussten inzwischen wissen, was hier passierte, zumal auch Meras Kontakt zu Cathy herstellen konnte. Er konzentrierte sich jetzt aber lieber nicht auf das, was dort vorging, denn er brauchte seine ganze Aufmerksamkeit hier. „Seid ihr sicher, dass eure Vögel mich tragen würden?“ fing er statt dessen ein Gespräch an, um Zeit zu schinden. Amazia betrachtete ihn abschätzend. „Hm... guter Punkt, wir sollten ihn fesseln und in der Luft baumeln lassen, damit er den Vogel nicht tritt.“ „Ich bin doch kein Tierquäler!“ grummelte er. „Aber es scheint dir nichts auszumachen, wenn unsere Vögel im Kampf gegen deine Schergen sterben!“ entgegnete Paladia. „Die Todesfälle waren... keine Absicht...“ sagte er und fragte sich im nächsten Moment, warum er sich auf diese Diskussion einließ. Natürlich hatte er niemanden ermordet, aber dennoch verursacht, dass Personen und Tiere starben. Daran gab es nichts zu rütteln, und aus der Sicht der Geschädigten machte es vermutlich keinen Unterschied. Und natürlich holte ihn dieser Teil seiner Vergangenheit immer wieder ein. „Da kommt jemand,“ meldete eine Amazone hinter seinem Rücken. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich dem Schloss zu. Amazia ließ ihr Schwert sinken und ging ein paar Schritte in die Richtung. „Die Welt ist klein,“ stellte sie fest. „Es ist Shiro.“ Es dauerte noch ein paar Minuten, bis der Lichtmagier zu ihnen stieß. Er legte einen flotten, aber nicht gehetzt wirkenden Schritt vor und trug seinen Stab bei sich. Die Amazonen warteten schweigend, und Soach wollte gewiss nicht derjenige sein, der die Stille unterbrach. Schließlich blieb Shiro stehen und hielt Amazia eine Hand hin, die sie auf Kriegerart ergriff. „Hallo, Amazia.“ „Hallo, Shiro.“ „Wie ich sehe, habt ihr einen Mann erbeutet.“ Crimsons Vater deutete mit einer Kopfbewegung auf die Gruppe um Soach. „Ja,“ verkündete Amazia, wobei sie die freie Hand in die Hüften stemmte. „Wir beobachteten, wie er vom Schloss weglief, und beschlossen, ihn aufzuhalten. Er rannte so schnell, wie es nur jemand tut, der auf der Flucht ist.“ „Das war bestimmt ein Missverständnis,“ sagte Shiro ruhig. „Das Schlossherz betrachtet Soach als sein Eigentum, und er pflegt da nicht zu widersprechen. Er kann auch gar nicht weglaufen, seit seine Seele an das Schloss gebunden ist.“ Diese Bemerkung ließ die Amazone erstaunt die Augenbrauen heben. „So? Nun, da hat unser Sohn wohl einen Weg gefunden, seinen alten Feind gefangen zu halten. Das erklärt wohl den spektakulären Sturz, den Sorc hingelegt hat.“ Soach schluckte ein paar richtigstellende Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen. „Vermutlich,“ nickte Shiro. „Soach könnte euch zwar theoretisch trotzdem begleiten, wenn Crimson es befehlen würde, aber das wird er nicht.“ Amazia verschränkte die Arme. „Der Zirkel des Bösen teilte uns mit, dass der Rehabilitand Sorc wieder zu haben ist, allerdings müssten wir selber herkommen.“ „War das der genaue Wortlaut?“ hakte Shiro nach. „Mir haben sie gesagt, dass ich meine Ansprüche anmelden und ein Angebot unterbreiten darf, aber der Rehabilitand kann entscheiden, ob er zustimmt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Kann auch sein. Soll das heißen, dass du aus dem gleichen Grund hier bist?“ „Genau. Ich bot ihm an, sich in meinem Schloss um die Gartenanlagen zu kümmern. Und damit war ich vor euch da.“ Soach klappte der Mund auf, als Shiro die Lüge so glatt über die Lippen kam. Oder hatte er was verpasst? „Tatsache ist aber, dass wir ihn jetzt in unserer Gewalt haben,“ merkte eine Amazone mit rötlichem Haar an. Amazia nickte. „Ganz genau.“ Shiro lächelte wie ein Magier, der gerade seine Chancen berechnet und sich freut. Er drückte den Arm durch, der den Stab hielt, so dass sich der Winkel änderte, mit dem das Werkzeug seines Berufes auf dem Boden aufkam. „Oh, ach so ist das. Augen zu.“ Soach kniff die Augen fest zusammen. Dadurch konnte er die Helligkeit, die einen Moment später aufflammte, nicht völlig ausschließen, aber er rettete sein Augenlicht. Amazonen hingegen befolgten keine Anweisungen von einem Mann, schon gar nicht, wenn ihnen das einen scheinbaren Nachteil einbringen könnte. Sie stöhnten oder schrien erschrocken auf, einige fluchten herzhaft. Soach merkte, wie Klingen aus seiner unmittelbaren Nähe verschwanden, und wagte einen Schritt nach vorn. Dabei bohrte sich jedoch eine letzte Schwertspitze fast in seine Rippen. Er stoppte mitten in der Bewegung. „Das könnte dir so passen,“ zischte Paladia. „Meine Schwestern mögt ihr überrumpelt haben, aber mich nicht! Und jetzt schö---uhmmm...“ Die Klinge ließ von ihm ab und er hörte einen Körper fallen. „Du kannst die Augen wieder aufmachen,“ sagte Shiro dicht hinter ihm. Soach sah sich um. Paladia lag bewusstlos am Boden. Die anderen Amazonen drückten die Hände auf die Augen, hockten da und starrten blind vor sich hin oder tasteten am Boden nach ihren Waffen. Amazia stand an ihrem Platz, hatte die Augen wie unter Schmerzen zugekniffen. „Hört endlich auf zu jammern!“ keifte sie ihre Mitstreiterinnen an. „Das könntet ihr euch in einer Schlacht auch nicht erlauben!“ Der Lichtmagier gab Soach Zeichen, ihm schweigend zu folgen. Als sie etwas Sicherheitsabstand zwischen sich und die Kriegerinnen gebracht hatten, sagte er vernehmlich: „Meine Damen, bitte folgt mir zum Schloss, denn ihr solltet eure Augen untersuchen lassen.“ Amazia fuhr zu seiner Stimme herum. „Du verdammter Magier! Das zahle ich dir heim! Was für ein dreckiger Trick!“ „Ich dachte, deine Leute wären besser auf einen Kampf mit erschwerten Bedingungen eingestellt, Amazia,“ neckte er sie. „Zumindest Paladia war wohl auf so etwas vorbereitet.“ Er stimmte ein fröhliches Wanderlied an, damit die Gruppe ihm folgen konnte. Meras trabte munter nebenher und war von dem Blendzauber völlig unbeschadet. Soach trug Paladia. Er nutzte die Gelegenheit, um kurz festzustellen, dass Crimson noch schlief, und bat Cathy, schon einmal Dsasheera und Vindictus Bescheid zu geben. Dann suchte er nach Lily. Sie beschäftigte sich damit, im hinteren Bereich der Krankenstation getrocknete Kräuter zu zermalmen. Dabei drosch sie mit dem Stößel sehr stark und schnell hintereinander in den Mörser. Wenigstens weinte sie nicht, aber sie schien auch nicht schlafen zu können, obgleich sie doch jetzt frei hatte. Anscheinend zürnte sie ihm noch, weil er sie so bevormundet hatte. Vermutlich hätte er erst einmal in Ruhe mit ihr über das Thema Blutfeen reden sollen, anstatt ihr einfach seine Entscheidung mitzuteilen. Jedoch war er davon überzeugt gewesen, dass sie seine Meinung teilte, schließlich kannte er sie als eine sehr entschlossene, energische Ärztin. Die Schwangerschaft schien sie zu verändern. Oder vielleicht... vielleicht war es die Ausbrennung, dachte er. Sie will kein Risiko mehr eingehen, nachdem das mit mir passiert ist... Nach ein paar hundert Metern wachte Paladia auf. Erst blinzelte sie stirnrunzelnd herum, dann riss sie die Augen auf und kämpfte sich aus Soachs Griff frei. „Lass mich sofort los, du... du... Verbrecher!“ „Von mir aus, du bist eh ziemlich schwer.“ „Paladia... ist mit deinen Augen alles in Ordnug? Dann kümmere dich bitte um unsere Vögel,“ ordnete Amazia an. Das kam der blonden Amazone anscheinend sehr gelegen, denn sie rauschte mit wehendem Haar davon. Eine halbe Stunde später saßen die restlichen sieben Damen auf den Stühlen der Krankenstation, während Dsasheera ihre Augen untersuchte. Sie weigerten sich, Vindictus an sich heran zu lassen, solange sie eine amazonische Schamanin haben konnten, wenn auch von einem anderen Stamm. Soach und Shiro traten mit Meras den strategischen Rückzug an. Dabei bekamen die sie noch mit, wie Dsasheera auf die Kriegerinnen einschimpfte: „Ihr solltet euch was schämen, euch so überrumpeln zu lassen! Er ist schließlich nur ein Mann, noch dazu ein Magier! Aber ich sag‘s ja, es kommt nichts Gutes von Paarungen mit Magiern. Nichts für Ungut, Amazia, dein Sohn ist sicher prächtig, aber eben auch nur ein Mann. Mein Sohn eines Magiers hat als einziger meine Gabe geerbt! Dabei habe ich so gehofft, dass eine meiner Töchter sie bekommt und mir nachfolgen kann...“ „Es hat Vorteile, nur ein Mann zu sein,“ kommentierte Shiro, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten. „Obwohl ich es war, der den Blendzauber losgelassen hat, sind die Frauen dran schuld, dass sie den Schaden haben.“ „Befürchtest du nicht, dass sie dich noch dafür zur Rechenschaft ziehen?“ fragte Soach nach. „Könnte schon sein.“ Shiro zuckte mit den Schultern. „Aber du bist jetzt gar nicht drangekommen. Soll ich dir helfen, deine Verletzung zu verbinden?“ „Oh...“ Soach warf einen Blick auf seinen Arm, an dem die Schürfwunde zwar nicht stark blutete, aber ganz allmählich die Reste des Hemdes rot färbte und dabei ein wenig brannte. „Das kann ich in meinem Zimmer versorgen...“ „Ich komme mit und helfe dir. Es ist eine blöde Stelle, um sich selbst zu verbinden, du hast nur eine Hand dafür zur Verfügung.“ „Hm... na gut,“ stimmte Soach zögerlich zu. „Aber ich habe nicht aufgeräumt...“ Shiro lachte. „Das hätte mich auch gewundert!“ Soach führte den Lichtmagier durch einige Gänge in die Gefilde des Schlosses, die in der Vergangenheit für die Bediensteten gedacht gewesen waren, und erreichte seinen persönlichen Raum. Meras huschte als Erste hinein. Shiro schien von dem bescheidenen Zimmer nicht einmal besonders überrascht zu sein, hob jedoch die Augenbrauen, als er all das Verbandszeug entdeckte, das auf dem Tisch aus einer Holzkiste quoll. Wo sich vorher Zauberbücher gestapelt hatten, lagerte Soach nun Gefäße mit Salben und anderen Mittelchen. Eine Kiste auf dem Boden enthielt gebrauchte Bandagen. Er wünschte, er hätte den Deckel verschlossen, aber um nicht unnötig Aufmerksamkeit darauf zu lenken, ließ er es jetzt so. „Wie ich sehe, bist du gut ausgerüstet.“ „Nun ja... Ich habe es vielleicht übertrieben mit all dem Zeug, aber so hab ich wenigstens erstmal was da. Ich, ähm... verletzte mich öfter mal beim Kampftraining mit Gorz oder einfach durch Schusseligkeit.“ „Zum Beispiel beim Rasieren?“ „Ja, genau! Was machst du denn dagegen? Oder Kuro? Der hat ja irgendwie immer ein bisschen Bart, aber es ist nach einer Woche immer noch ein Dreitagebart...“ „Er hat seinen Bart so beeinflusst, dass er nicht länger wird. Er findet, dass er dadurch verwegen aussieht und auf Frauen anziehender wirkt. Dafür sollte man ihm wohl gratulieren, es ist viel komplizierter, als den Bartwuchs ganz zu verhindern.“ „Oh, wirklich?“ Gut, das Gespräch ging wieder in ungefährlichere Themengebiete. „Ja, Kuro hat in seiner Jugend rumexperimentiert, bis er es so hinbekommen hat.“ Shiro besorgte sich aus der Waschecke einen feuchten Lappen. Soach zog das kaputte Hemd aus, setzte sich aufs Bett und ließ Shiro die Schürfwunde reinigen. Als der Magier eine desinfizierende Salbe auftrug, genoss er das brennende Gefühl regelrecht. Leider hielt es nur kurz an, und als Shiro den Arm ordentlich verbunden hatte, fing die Verletzung an zu jucken, da die Salbe magische Eigenschaften für schnellere Wundheilung hatte. „Das Zeug scheint immer gut zu wirken,“ murmelte Soach, während er ein frisches Hemd überzog. „Dabei stellt Vindictus es immer so dar, als wäre das unwahrscheinlich. Fehlendes Meras und so.“ „Vielleicht hat Crimson Drachenschuppen eingearbeitet, dann braucht es kein Meras.“ Meras die Katze maunzte fragend, da sie nun schon zweimal ihren Namen gehört hatte. Sie sprang zu Soach aufs Bett und streckte sich genüsslich aus. „Nein... es sind keine drin. In letzter Zeit stelle ich meistens die Sachen für die Krankenstation her, auch diese.“ „Dann reicht dafür wohl auch das Kapall, das dir bleibt.“ Soach seufzte. „Warum reicht es nicht auch für... ich meine...“ Shiro tätschelte ihm verständnisvoll die Schulter. „Verzage nicht, Soach. Wenn es einen Weg gibt, wirst du ihn finden. Lass dir Zeit. Es ist gerade mal eine Woche her...“ „Es ist, als wäre ein guter Freund gestorben...“ Soachs Stimme versagte und hinter seinen Augen baute sich Druck auf. Sein kleiner Ausflug schien nicht viel genützt zu haben. Die Mauern knirschten. Aus einem Wandregal fiel das Buch Zeitgenössische Artefaktmagie. „Und diesen Freund wirst du immer vermissen,“ prophezeite Shiro. „Aber sieh nach vorne. Ein Verlust schafft auch immer Raum für neue Möglichkeiten.“ „Du hast leicht reden...“ presste Soach hervor. Doch dann spürte er etwas... eine Welle positiver Energie, wie die Aura einer lachenden Kinderschar. Gedanken an Sandburgen am Meer, duftendes Heu auf einer großen Wiese, ein mit dem Aroma von frisch gebackenem Kuchen erfülltes Haus und einen ersten, zaghaften Kuss kamen ihm in den Sinn. Erinnerungen, aber nicht seine. Dennoch... ihm wurde bewusst, dass solche Dinge ihm blieben. Einfache und doch wunderschöne Dinge. Wie von selbst fand sein Gedächtnis Antworten: Schlittschuhlaufen auf dem Fluss im Winter, die feierliche Stille einer unberührten verschneiten Landschaft, der erste Flug auf einem Drachen, Feste am offenen Lagerfeuer... „Was... geht hier vor?“ wunderte er sich. „Mein Schlossherz hat das Bewusstsein eines zwölfjährigen Kindes,“ erklärte Shiro. „Es geht mit Problemen ganz anders um als sein Zwillingsherz. Und manchmal sieht die Welt mit seinen Augen viel bunter aus.“ „Das... kann ich mir vorstellen.“ Soach überprüfte sein Gesicht im Spiegel, während seine Gedanken zu seiner ersten Schulstunde an der Eisigen Universität wanderten. Die meisten seiner Erinnerungen hatten mit Magie zu tun, aber es waren dennoch – oder gerade deswegen – schöne Erinnerungen, die er sich nicht von der Gegenwart verderben lassen wollte. Schließlich musste er sich noch um den Besuch kümmern, und er dachte darüber nach, ob nicht ein Braten über einem Feuer am Strand eine gute Idee für das Abendessen wäre. Kapitel 26: Willkommene und unwillkommene Gäste ----------------------------------------------- Crimson betrachtete den Holzstapel bei den Felsen, der als Ersatzbrennholz diente, und sah zu, wie Fire und Legend ein Lagerfeuer am Strand vorbereiteten. Ishzark und Ray hämmerten Metallstangen in den sandigen Boden, an denen später der Braten gedreht werden sollte. Letzterer wurde derzeit in der Küche vorbereitet. Rosi, Saambell und Milla trugen Geschirr nach draußen und stapelten es auf einem Tisch, den Dharc und Veiler vorher hingestellt hatten. „Erstaunlich gut organisiert für jemanden, der nicht gerade für Ordnung bekannt ist,“ stellte der Schlossherr fest. „Gibt es sonst noch etwas, das ich verpasst habe?“ Soach stand sachlich dabei und überwachte die Vorgänge. „Die Amazonen haben sich von dem Blendzauber erholt. Deine Mutter hat deinem Vater ein violettes Auge verpasst. Er hat Salbe aufgetragen, aber es geht nur langsam weg. Ich habe ihren Antrag, mich als Rehabilitand zu kriegen, abgelehnt und der Zirkel hat das bestätigt.“ „Sie sind aber noch nicht wieder abgereist, oder?“ Crimson wollte seine Mutter und Paladia gerne noch treffen. „Aber nein, sie sehen sich noch ein bisschen hier um.“ Soach seufzte. „Was ist? Dich muss das doch nicht stören, sie bedrängen keinen Mann, der vergeben ist.“ „Da gibt es allerdings ein Problem. Als die Schwarzhaarige mit dem Fellröckchen Lily fragte, ob ich ihrer wäre, hat Lily mich wütend angesehen und der Amazone geantwortet, dass sie mich ruhig haben kann.“ „Oje. Immer noch wegen der Blutfeensache?“ „Das ist zu befürchten.“ Crimson hatte eine Menge Informationen von Cathy bekommen, während er sich angezogen hatte. Der Schlaf hatte ihm wirklich gutgetan, aber nun war schon Nachmittag! „Ach ja, dein Großvater möchte dir ein Buch zurückgeben, das du ihm letztes Jahr ausgeliehen hast. Ein Kochbuch, glaube ich,“ richtete Soach ihm aus. „Es sei nun an der Zeit, meinte er. War das ein besonderes Buch?“ Crimson musste ein wenig in seiner Erinnerung kramen, um darauf zu kommen. „Ach... das war damals, als wir in der Schatzkammer waren und uns die Bücher ansahen, mit Ray, weißt du noch? Du hast ein Buch über Artefaktmagie mitgenommen, und ich nahm eins für Dark und eins für Großvater.“ „Das war aber kein Kochbuch... oder?“ „Nein... Ich bin gespannt, was er mir zu sagen hat, immerhin hätte er es ja auch dir geben können, damit du es auf meinen Schreibtisch legst.“ Soach zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer... Vanis und ich sind einige Formulare durchgegangen und haben besprochen, was man hier verändern könnte, um es eines Zirkelmitgliedes angemessen zu gestalten. Wenn du erlaubst, kümmere ich mich darum.“ „Du hast freie Hand, Soach,“ sagte Crimson sofort. Sein Stellvertreter nickte. „Da ist noch eine Sache... Vindictus hat angefragt, ob er Thaumator hierbehalten darf. Er wollte ihn für... wie drückte er sich aus... ein medizinisches Forschungsprojekt. Es ist wirklich nicht so, dass ich es dem alten Zausel nicht gönne, aber ich habe das abgelehnt.“ „Wie du meinst.“ Crimson brauchte dafür keine Erklärung. Zum einen respektierte er Soachs Entscheidung, zum anderen verstand er ihn in diesem speziellen Fall vollkommen. „Sag mal... Vindictus ist nicht schwul, oder?“ fragte Soach. „Häh?“ Crimson wurde von der Frage völlig überrumpelt. „Nein, wie kommst du darauf?“ „Das hat sich im Laufe des Tages herumgesprochen. Angeblich hat er was mit Thaumator. Als ich das erfuhr, hatte ich seine Anfrage aber schon abgelehnt. Das muss ein Missverständnis sein. Allerdings hing der Typ heute auf der Krankenstation rum...Könnte es sein...?“ „Uhm, nun ja... dass er einen Sohn hat, muss ja kein Hindernis sein, oder?“ Beide schwiegen einige Minuten und dachten darüber nach. „Neee,“ beschloss Crimson dann. „Wenn es darum ginge, hätte er dir das sagen können!“ „Ja. Meine ich auch,“ stimmte Soach zu. „Aber wie kommen die Leute auf solche Ideen?“ „Tja, wer weiß. Vermutlich hat jemand etwas falsch gedeutet und nebenbei erwähnt, und ein anderer hat es halb mitbekommen und dem Nächsten erzählt... sowas geht ganz schnell.“ Wie Crimson ja nur zu gut wusste. Zwei geflügelte Personen in locker sitzender Kleidung, die er durch Cathys Informationen als Lilys Eltern identifizierte, traten vor ihn hin. „Ihr seid der Schlossherr, Crimson vom Lotusschloss?“ verlangte die Frau zu erfahren. Crimson nickte. „Und Ihr müsst Petunia sein.“ Sie machte sich nicht die Mühe, das zu bestätigen oder zu verneinen. „Lavender und ich sind in einem winzigen Zimmer untergebracht, in dem kaum zwei Betten Platz haben! Die Betten sind außerdem viel zu schmal und stehen nicht nebeneinander! Das Fenster ist winzig und blickt auf einen verwilderten Garten, und ein Gestrüpp nimmt ohnehin fast die ganze Sicht und behindert den Lichteinfall! Es hat kein eigenes Bad! Das kann nicht Euer Ernst sein!“ „Mein Zimmer hat auch kein eigenes Bad,“ fiel Crimson als Erstes dazu ein. „Wir haben hier und da ein Etagenbad, aber meistens wird das Bad im Keller genutzt, welches wirklich sehr schön ist – vor einem Jahr ganz neu renoviert. Davon abgesehen ist das Meer direkt vor der Tür.“ „Ihr verlangt, dass wir mit all diesen... Leuten... das Bad teilen?“ Petunia sah aus, als hätte man ihr vorgeschlagen, den Lavasee unter dem Schloss zu benutzen. „Oh, das steht Euch selbstverständlich vollkommen frei,“ entgegnete Crimson sehr freundlich. „Im Prinzip hat es ein eigenes Bad,“ wandte Soach ein. „Der Raum fünf Türen weiter. Derzeit benutzt ihn sonst niemand.“ „Ihr meint diese Abstellkammer mit Wasserbecken?“ empörte sich die Fee. „Ich darf doch sehr bitten!“ entgegnete Soach. „Wir lagern dort nur ein oder zwei Gießkannen. Wenn sie Euch stören, stellt sie einfach ins Nebenzimmer.“ „Wir wissen, dass es im Schloss größere Räumlichkeiten gibt, daher verstehen wir diese Unterbringung nicht,“ ergriff nun Lavender das Wort, da sich das Gespräch wohl für seinen Geschmack zu sehr um Bäder drehte. „Beispielsweise in einem der Türme!“ „Oh, das tut mir Leid. Aber andere Zimmer waren nicht mehr verfügbar. Wir haben bereits einige Gäste, dann gibt es mehrere Schlafsäle für die Schüler, ansonsten nur Lagerräume für überschüssige Möbel,“ erklärte Crimson. Tatsächlich bedurften noch viele Zimmer einer Grundsanierung. Theoretisch wäre wohl durchaus noch eins übrig gewesen, das mussten die beiden aber nicht wissen. „Nun gut.“ Penunia schnaubte schicksalsergeben. „Für einige Tage wird es wohl gehen, es ist schließlich für unsere Tochter.“ Sie und ihr Mann machten auf dem Absatz kehrt und marschierten Richtung Schloss davon. „Wo kommen die denn her, dass sie ein eigenes Bad verlangen?“ wunderte Crimson sich. „Kennst du ein Schloss, wo jeder ein eigenes Bad hat?“ „Nun, ich kenne eins, wo zumindest die Besitzerfamilie ein eigenes hat, aber wahrscheinlich ist es ein weit verbreitetes Vorurteil, dass es in Schlössern so läuft,“ vermutete Soach. „Vielleicht sind sie es auch gewohnt, dass ihnen immer ein Bad alleine zur Verfügung steht, wenn sie irgendwo zu Gast sind.“ „Na das haben sie jetzt ja auch,“ grinste Crimson. „Deshalb verstehe ich das Problem nicht.“ „Wie lange wollen die Zirkelleute noch bleiben?“ erkundigte Soach sich in einem verschwörerischen Flüsterton. „Bis morgen noch, glaube ich,“ antwortete Crimson genauso leise. „Hmpf. Ich werde sie fragen, ob sie noch ein oder zwei Tage länger bleiben wollen, auch wenn das bedeutet, dass Thaumator bleibt.“ „Mach das.“ Das sagte ja viel darüber aus, was Soach von diesem Feenpärchen hielt. Inzwischen war außer Crimson auch Lord Genesis wieder aus dem Bett gekrochen und schritt in einer für ihn sehr legeren Aufmachung umher – er trug ein auffälliges, blütenweißes Rüschenhemd zu einer glänzenden dunkelgrünen Hose. Immerhin war der Kragen des Hemdes nicht zugeschnürt, sondern stand locker offen, obgleich er sonst gerne noch eine Goldbrosche an der Stelle trug. Die Amazonen machten einen Bogen um ihn. Soach machte sich auf, um mit den Herrschaften vom Zirkel zu sprechen, so dass Crimson zurückblieb. Alles schien gut organisiert zu sein, die Aufgaben verteilt, wodurch er nicht gleich eine für sich fand. Während er herumspazierte, um vielleicht irgendwo zu helfen oder zu schauen, ob er nicht seinen Großvater fand, lief er einer rotblonden Amazone praktisch in die Arme. „Hey, du musst Crimson sein,“ stellte sie fest, ihn aufmerksam musternd. „Ich bin Ellaira. Du gefällst mir...“ „Ich wurde schon von einer Amazone erwählt,“ sagte er schnell. „Du meinst Paladia?“ Ellaira zuckte mit den Schultern. „Sie hat dein Kind geboren und keine weiteren Ansprüche auf dich erhoben.“ Crimson konnte gerade sehr gut nachvollziehen, wie es Soach wohl ging, auf den Lily auch keine Ansprüche erhoben hatte. Aber sie war keine Amazone. Bestimmt setzte sie trotzdem voraus, dass der Kindsvater ihr treu blieb. Er selbst hatte derzeit wirklich keinen Bedarf nach einer weiteren Beziehung zum Zwecke der Fortpflanzung. Vielleicht log Ellaira ja auch, Palladia war ihm nämlich noch nicht begegnet – ein Teil von ihm hoffte das. Die junge Amazone ergriff seinen Arm und kam ihm so nah, dass er ihren Brustpanzer spüren konnte. „Findest du mich nicht hübsch? Oh, vielleicht denkst du, ich sei zu jung? Keine Sorge, ich bin neunzehn.“ Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter. Crimson überlegte fieberhaft, wie er sie möglichst ohne Aufsehen loswerden konnte. Andererseits... vielleicht war es besser, sie bei sich zu haben, um die anderen auf Distanz zu halten. Aber erst musste er von Paladia selbst hören, dass sie ihn nicht mehr wollte. Indessen spielte Ellaira mit seinem langen Haar. Sie war wirklich ganz attraktiv, fast so groß wie er und ausgestattet mit einem festen, drahtigen Körper, welcher von Lederstücken an den wichtigen Stellen verhüllt wurde. Das rotblonde Haar trug sie offen. Es verfügte über eine leichte Krause, die es voluminöser machte und zu einer wilden Masse verband. Sie grinste. Plötzlich wanderte ihre Hand nach unten und fand mit einem geübten Griff ihr Ziel. „Huh, ich hab dich scharf gemacht, was? Du stehst voll auf deine Schwester!“ Er zuckte ungläubig vor ihr zurück. „Hey...! Was?!“ Die junge Frau kicherte ungehalten. „Keine Sorge, ich wollte nur mal sehen, ob‘s klappt, Bruder. Ja, wir haben dieselbe Mutter. Oder hast du dir eingebildet, dass sie nach Shiro keinen Mann mehr ansieht, geschweige denn erwählt?“ „Natürlich nicht,“ behauptete er. „Ich dachte einfach nie darüber nach.“ In seiner Gedankenwelt hatte er immer seine beiden Eltern als nur seine gesehen. „Die meisten Amazonen bekommen wenigstens eine Tochter,“ belehrte Ellaira ihn. „So stirbt der Stamm nicht aus.“ Sie blickte sich nachdenklich um. „Hm... ich könnte deinen Vater angraben, wäre das nicht lustig?“ „Nein, finde ich nicht,“ erwiderte Crimson etwas schroffer als nötig. Sicherlich scherzte sie, aber man konnte nie wissen. Ellaira ignorierte seinen Tonfall komplett. „Oh, Prachtexemplar voraus!“ rief sie. „Bis später, Crimson!“ Sie hüpfte hinter Mava her, der gerade einen großen Weinkrug zum Strand brachte. Bei ihm würde sie wohl auch abblitzen, aber Crimson schätzte sie so ein, dass für sie dadurch die Welt nicht zusammenbrach. Er drehte sich um – und prallte fast gegen seine Mutter. „Wie ich sehe, habt ihr euch schon bekannt gemacht,“ sagte sie amüsiert. „Hast du mir noch mehr Geschwister verschwiegen?“ grummelte Crimson. „Verschwiegen habe ich dir Ellaira nicht, nur hatte ich keine Zeit, sie dir vorzustellen,“ stellte Amazia klar. „Jedenfalls ist mir ja die Überraschung gelungen.“ „Das beantwortet nicht meine Frage!“ Sie seufzte. „Das ist die einzige.“ „Gut,“ atmete Crimson auf. „Und wer ist der Vater?“ „Oh... Gilford. Ich weiß nur nicht genau, welcher,“ winkte Amazia ab. Er starrte sie an. „Du weißt nicht, welcher?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Na, das sind Zwillinge! Nackt sehen sie total gleich aus, bis auf ein paar Narben vielleicht, aber sowas merke ich mir nicht.“ „Dann hast du die gleichzeitig erwählt gehabt?“ „Tja, sie teilen alles brüderlich. Mir war es recht, es erhöhte die Wahrscheinlichkeit auf ein Kind.“ Crimson fand es irgendwie befremdlich, dass seine Mutter mit zwei gleichen Muskelbergen ins Bett sprang. Andererseits kannte er sie ja kaum, und damals war sie jünger gewesen. „Hast du Paladia gesehen?“ fragte er sie, um das Thema zu wechseln. Amazia überlegte kurz. „Ich glaube, sie ist mit diesem Unterweltler ins Gespräch gekommen. Dem mit den roten Haaren.“ „Aha.“ Das konnte eigentlich nur Gorz sein. Dass sein Untergebener ihm womöglich die Frau ausspannte, war fast noch befremdlicher als seine Mutter mit zwei identischen Kriegern auf demselben Schlaflager. Aber es war Paladias Entscheidung... und damit stand wohl auch fest, dass sie nicht an einer langfristigen Bindung mit ihm interessiert war. Crimson ging in sich und versuchte herauszufinden, ob er wirklich und wahrhaftig darauf gehofft hatte... aber wenn er das schon nicht so genau wusste, traf es ihn wohl nicht ganz so hart. Schließlich gab es ja auch andere Frauen in seinem Leben. Er wollte sich nach Scarlett erkundigen, entschied dann aber, sich das für ein Gespräch mit Paladia aufzuheben, falls es irgendwann doch noch dazu kam. „Ach sag mal... Was läuft zwischen dir und diesem ausgebrannten Magier?“ unterbrach Amazia seine Gedanken. „Als wir eintrafen, sahen wir ihn vom Schloss wegrennen... fliehen, wenn du mich fragst. Dabei scheint er viel Wert darauf zu legen, hier zu bleiben. Passt irgendwie nicht zusammen. Wenn du dich da nicht reinlegen lässt!“ „Ja, Mutter, danke für den Hinweis.“ Crimson verdrehte innerlich die Augen, unwillig, sich auf diese Diskussion einzulassen. Er musste sich ja wohl für die Wahl seiner Verbündeten und Freunde nicht rechtfertigen, auch nicht vor seiner Mutter. Offenbar fand Amazia seine Reaktion verdächtig, denn sie hob eine Augenbraue und schien auf mehr zu warten. „Nun gut,“ meinte sie, als er nichts weiter hinzufügte. „Aber beschwer dich hinterher nicht. Falls er Zicken macht, sag Bescheid.“ Crimson nickte bloß, obwohl ihm eine ellenlange Erklärung auf der Zunge lag. Seltsamerweise kam diese Taktik wohl bei der Amazone gut an, denn sie lächelte anerkennend. „Das ist mein Junge...“ Sie tätschelte seine Schulter und entfernte sich. Da hatte er anscheinend etwas richtig gemacht. Bei näherer Überlegung erschien ihm das ganz plausibel, schließlich waren Amazonen Kriegerinnen, die machten nicht viele Worte, wenn ein Schwerthieb genügte. Lange Rechtfertigungen hätten ihn schwach wirken lassen. Er überlegte, wohin er nun gehen sollte, da erschütterte Drachengebrüll die Szene, dass alle zusammenzuckten und nach oben blickten. Ein großer Schatten verdunkelte den Himmel, aber Crimson fühlte sich nicht bedroht, obwohl seine Schüler und einige der Gäste aufgeregt riefen und nach oben zeigten. Durch Cathy konnte er etwas genauer den gewaltigen Drachen erkennen, der das Schloss einmal umkreiste und dann auf die Landeplattform zusteuerte. Dort erwartete ihn Soach. Als der Drache landete, neigte der Prinz zum Gruß den Kopf und sprach ihn mit seinem Namen an. „Emerald.“ Das Wesen war hauptsächlich grün bis bläulich und an manchen Stellen wuchsen Edelsteine auf der Haut – dem Namen nach vermutlich Smaragde. Einen faustgroßen, ebensolchen Edelstein legte Soach ihm in diesem Moment ins Maul. Crimson stöhnte innerlich. Hoffentlich fraß Emerald auch Fisch und es handelte sich nur um ein Willkommensgeschenk. Soach streichelte den Bereich zwischen den Augen, während der Drache kaute. Das Schloss kannte Emerald – er gehörte zu den Drachen, die seinerzeit für Sorc und Malice gearbeitet hatten und zu denen, auf deren Anrufung Soach bisher verzichtet hatte. Crimson erinnerte sich, einmal gefragt worden zu sein, ob er größere Drachen wollte, damals hatte er aber abgelehnt, weil er ja nur eine Schule führte. Nun gehörte ein gewaltiger, älterer Schimmerdrache zu seiner Sammlung. Er passte gerade so auf die Landeplattform, die möglicherweise nicht für diesen Zweck geschaffen worden war. Die geistige Präsenz des Geschöpfes sickerte langsam zu ihm durch. Soach schirmte ihn ab, vermutlich, damit es ihn nicht gleich überwältigte. Das wusste Crimson zu schätzen. Er vermutete, dass dies nicht der einzige Neuzugang bleiben würde. Rosi zupfte an seiner Robe. „Gehört der jetzt zu uns?“ „Ja, soweit man das bei einem Drachen sagen kann,“ nickte Crimson. „Boah,“ staunte das Mädchen und drehte sich zu den anderen um. „Habt ihr das gehört?“ Sie hatten. Legend heizte die Schüler an, und sie jubelten dem Drachen zu, was diesem zu gefallen schien. Wenn sie eins gelernt hatten, während Endymions Ritter Cross im Schloss gelebt hatte, dann wie man mit Drachen umging. Das Thema war für sie vermutlich auch interessanter als beispielsweise Alchemie oder Heilkunst. „Ist doch schon ein guter Anfang,“ vernahm er Vanis‘ Stimme. Der Unterweltler tauchte neben ihm auf. „Ich habe vorhin mit Eurem Stellvertreter gesprochen und ihm geraten, noch ein paar Drachen oder ähnliche Helfer zu besorgen. Das kann nie schaden.“ „Ich glaube, Soach hat da noch welche in der Hinterhand,“ nickte Crimson. Hoffentlich fraß der nächste nicht Diamanten, sonst würde sich die Schatzkammer ganz schnell leeren. „Übrigens eine gute Idee, die Aufnahme in den Zirkel am Strand zu feiern,“ fuhr Vanis fort. „Wir haben nichts dagegen, wenn es mal nicht in einem Ballsaal ist.“ „Oh... das freut mich.“ Crimson tat mal so, als wäre das tatsächlich seine Idee gewesen. „Hier scheint ja alles unter Kontrolle zu sein... ich möchte mal nach meinem Großvater suchen, er wollte etwas mit mir besprechen. Entschuldigt mich...“ Sage hielt sich gerade in der Schlossbibliothek auf. Das passte ja, denn auch wenn sich das Buch, über das er mit ihm reden wollte, nicht dort befand, so hatten sie doch einen guten Ansatzpunkt für das Thema. Crimson hatte schon gar nicht mehr an jenes Buch gedacht. Dass sein Großvater nun seine Meinung änderte, konnte bedeuten, dass es etwas mit dem Zirkel des Bösen zu tun hatte. Aber das hätte er ihm doch ruhig sagen können, fand er. Nun gut, in Kürze würde er mehr wissen... Vindictus überraschte es nicht, dass Thaumator nicht bleiben durfte. Soviel hatte er sich schon vorher gedacht. Derzeit überlegte er sich ein paar Möglichkeiten, die Meinung von Soach, dem Schlossherz oder Crimson, vorzugsweise allen dreien, zu seinen Gunsten zu verändern. Während er durch das Schloss streifte, sich am Strand umsah oder einfach seinen Dienst als Heiler versah, schienen immer wieder Leute hinter seinem Rücken zu tuscheln und dabei in seine Richtung zu blicken. Seltsam. Die taten ja fast so, als lebte er erst seit gestern hier! Die Schüler wuselten ansonsten umher, trugen Zeug nach draußen und benahmen sich generell wie eine Horde aufgescheuchter Niwatoris. Vindictus beobachtete sie eine Weile, und schließlich fiel seine Aufmerksamkeit auf den jungen Fire. Ein Feuermagier, der große Stücke auf sich hielt, aber die Eisige Universität ohne Abschluss verlassen hatte. Da ließ sich vielleicht was mit anfangen. Der Alte schlenderte zu ihm. „Habt ihr auch daran gedacht, eine Ausrüstung für Notfälle bereitzustellen?“ Dies war immer ein Anliegen für ihn, in diesem Falle aber vor allem ein Vorwand, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen. Fire sah ihn überrascht an. „Meinste dassis nötich?“ „Man kann nie wissen,“ ermahnte Vindictus ihn in schulmeisterlichem Ton. „Ihr habt hier schließlich Wein, und angetrunkene Leute verletzen sich eher, besonders mit einem Feuer in der Nähe. Wie leicht spielt da mal jemand mit rum!“ Fire baute sich mit stolzgeschwellter Brust auf. „Kein Problem, Legendärer Lord der Flammen passt schonn auf.“ „Oh!“ Vindictus tat überrascht. „Dann willst du nichts trinken, damit du einen klaren Kopf behältst? Ich hätte sonst Thaumator vom Zirkel gebeten, ein Auge auf das Feuer zu haben. Er ist auch ein Feuermagier, wusstest du das?“ „Neeee... nich Finsternis?“ hakte Fire nach. „Das dachten wir alle, scheint mir. Zumal ich gehört habe, dass seine Ausbrennflamme kalt ist. Aber danach kann man nicht gehen...“ So, da hatte er den Köder ausgeworfen. Soachs Sohn sprang brav darauf an. „Das... dassis der Typ, der Vadder das angetan hat?“ Er blickte sich suchend um. „Ich wa ja nich sicha...“ „Einer von zweien, ja,“ nickte Vindictus. „Also sei lieber vorsichtig und leg dich nicht mit ihm an, obwohl ich mir denken kann, wie du dich fühlst...“ „Pah... der kann mich mal!“ grummelte Fire. „Hab noch zu tun...“ Vindictus lächelte, als Fire davonstapfte. Bei manchen half es am besten, ihnen zu sagen, dass sie etwas sein lassen sollten, damit sie es taten. Der Plan hatte nur eine Macke... er konnte nach hinten losgehen. Sehr sogar, zumal er Thaumator nicht eingeweiht hatte. Vielleicht konnte er das noch nachholen. Während er darauf wartete, das Ergebnis beobachten zu können, bereitete der alte Heiler einige Notfallutensilien vor und postierte sie in Reichweite, nur für den Fall, dass bei der Strandparty irgendetwas schiefging. Die generelle depressive Stimmung des Schlosses, die für gewöhnlich auch auf die Bewohner abfärbte, fühlte sich heute besser an, vielleicht durch die Aufregung und durch die vielen Besucher, die noch nicht lange genug hier verweilten, um davon betroffen zu sein. Vindictus fühlte sich entspannt und gedachte dies zu nutzen, solange es anhielt. Plötzlich erschütterte ein lautes Drachengebrüll das Schloss – zum zweiten Mal an diesem Nachmittag. Ein roter Drache landete auf dem Turm mit der Plattform. Anders als die Schüler und andere Zeugen schenkte Vindictus ihm allerdings kaum Beachtung. Er kannte ihn aus seiner Zeit als Sorcs Necromant. Ein Weißhorn Drache, den Malice aus irgendeinem Grund Florence getauft hatte. Wenn Soach nun seine richtig großen Drachen zusammentrommelte, versuchte er wohl, dem neuen Rang als Zirkelmitglied gerecht zu werden. Als es dunkel wurde, begann Lilys Bereitschaftsdienst und Vindictus hatte frei. Er ging an seinen Arbeitsplatz, um die Fee zu fragen, ob sie vielleicht lieber am Strand mitfeiern wollte. In dem Fall gedachte er für sie einzuspringen. Er näherte sich den Flügeltüren der Krankenstation und fand dort Dsasheera vor, die anscheinend am Eingang lauschte. Sie hielt einen Finger vor den Mund, daher stellte er sich einfach schweigend zu ihr. Ein Spalt stand offen. Drinnen wurde außerdem laut genug gesprochen, um alles bequem zu verstehen. „Es ist mir völlig egal, was die Nachbarn sagen oder eure Kollegen!“ schrie Lily in einem Tonfall, der mehr als aufgebracht klang, eher... rasend vor Wut. „Wenn ich entscheide, dass mein Kind nicht als Blutfee aufwächst, dann zu seinem eigenen Schutz und nicht, weil ihr sonst schlecht dasteht! Ihr denkt immer nur an euch, schon als ich weggegangen bin, um die andersartige Medizin zu lernen, habt ihr mir vorgehalten, dass ich euch zum Gespött mache!“ „Liebes, ich kann verstehen, dass du im Moment sehr empfindlich bist. Wenn du es so machen willst, ist doch alles in Ordnung!“ sagte Petunia. „Das ist die richtige Entscheidung, glaube mir. Eine Blutfee, das ist viel zu gefährlich, sie könnte... dunkle Kräfte entwickeln!“ „Sag mal, plant ihr noch mehr Kinder miteinander, du und dieser Prinz?“ fragte Lavender. „Ich meine ja nur... vielleicht wäre es nicht ratsam, mit ihm zusammen zu bleiben. Wie soll er dich denn auch beschützen, nachdem sie ihn ausgebrannt haben?“ Aha, davon hatten die beiden also auch schon auf die ein oder andere Weise gehört. Vielleicht von Lily, aber es war ja nicht direkt geheim. „Wer sagt denn, dass ich Schutz brauche?“ erwiderte Lily scharf. „Ich mag zwar manchmal etwas emotional wirken, aber wer sich mit mir anlegt, hat selber Schuld!“ Das zumindest konnte Vindictus guten Gewissens bestätigen. „Lily Schatz, wir möchten dir doch nur helfen. Du solltest nach Hause kommen, da bist du bis zur Geburt sicher...“ Bei diesen Worten der Mutter zuckte Dsasheera zusammen und presste die Hände gegen ihre Schläfen. Vindictus kannte das, deshalb fragte er nicht nach, sondern passte lediglich auf, dass sie sich nicht den Kopf anstieß. Indessen konnte er weiter das Gespräch hören. „Ich bin zu Hause,“ entgegnete Lily der älteren Frau. „Hier habe ich meinen Arbeitsplatz.“ „Das willst du doch wohl nicht als Zuhause bezeichnen,“ empörte sich nun der Vater. „Ein Magierschloss, ich bitte dich! Hier gehen andauernd Unterweltler und andere dubiose Gestalten ein und aus! Ich dachte, nun, da du mit deiner eigenwilligen Lehre fertig bist, kommst du zurück zu uns und gründest eine Familie!“ „Du musstest eigentlich gar keine Lehre machen, dein Verlobter kann für dich sorgen,“ meinte Petunia. „Du hast doch auch was Eigenes gelernt!“ widersprach Lily ihr. „Ich habe eine Grundausbildung als Heilerin und den Rest habe ich von deinem Vater,“ teilte ihre Mutter ihr mit. „Ich habe mich um euch Kinder gekümmert und er hat gearbeitet.“ Vindictus konnte sich vorstellen, dass Lily die Augen verdrehte. Teilweise vertraten die Feen doch eine seltsame Auffassung von geschlechtlicher Rollenverteilung. „Mir geht es gut hier,“ sagte die junge Fee. „Die Leute sind nett zu mir und die Arbeit macht mir Spaß. Kamill kann sich eine andere Frau suchen! Ich dachte eigentlich, das hätte er längst getan. Schließlich findet er es doch sicherlich auch seltsam, was ich mache.“ „Er ist eben vernünftig und weiß, wie wichtig diese Verbindung für unsere beiden Familien wäre,“ erklärte Lavender. Lily seufzte. „Wir sind doch keine Adligen!“ „Umso wichtiger, die Beziehungen zu einer einflussreichen Familie von Händlerfeen auf diese Art zu festigen!“ beharrte ihr Vater. „Dann sag das doch Daisy. Aber warte... sie hat ja schon diesen Typen aus dem Geleit vom Erzlord. Guter Fang...“ „Ja, und sie erwartet schon ihr zweites Kind! Ich wäre ja noch zufrieden, wenn du seinen Kollegen genommen hättest...“ „Ja, ja. Ich muss jetzt arbeiten. Der hintere Bereich ist für Besucher nicht freigegeben. Tschüss.“ Leichte Schritte von einer Person entfernten sich rasch. Anscheinend folgte das Paar ihrer Tochter nicht. Dsasheera kam rechtzeitig wieder zur Besinnung, um Vindictus um die nächste Ecke zu ziehen. Sie waren kaum außer Sicht, als Petunia und Lavender auf den Gang traten. „Sie kommt schon noch zur Vernunft,“ seufzte die Frau. „Hoffe ich wenigstens.“ „Wir sind ihre Eltern, sie muss auf uns hören.“ Lavender ballte eine Hand zur Faust. „Warte einfach ein paar Tage. Vielleicht sollten wir Kamill herholen.“ „Bist du verrückt?“ fauchte Petunia. „Wenn er erfährt, dass Lily schwanger ist von einem Unterweltler, wird er sie nicht mehr wollen! Das geht nicht!“ „Ja, da magst du Recht haben,“ nickte ihr Mann. „Ich verstehe nicht, dass Lady Charoselle nicht strenger zu ihrem Sohn ist, aber was will man von einer Unterweltlerin erwarten. Sie unterschätzt das Problem vollkommen. Wie konnte sie ihm erlauben, mit einer Fee anzubandeln?“ wetterte Petunia. „Wenn wir das doch nur eher gewusst hätten! Dann hätte es kein Kind gegeben!“ „Vielleicht hätten wir das Mädchen von Anfang an nicht in einem Magierschloss anfangen lassen sollen,“ gab Lavender zu bedenken. „Nun ja, das allein wäre ja zur Not noch zu ertragen, aber...“ Die Stimmen verloren sich allmählich, als die beiden sich entfernten. „Prinz Soach ist kein Unterweltler, oder? Oh, ich hasse es, wenn auf solche Feinheiten nicht geachtet wird!“ fluchte Dsasheera. „Da siehst du mal, was das für oberflächliche Leute sind!“ „Und was hast du eben gerade gesehen?“ unterbrach Vindictus ihren Ärger. „Oh... das. Lass nicht zu, dass sie das arme Kindchen mitnehmen. Es sind Feen von der ganz schlimmen Sorte. Sie... sie wollen keine Blutfee in der Familie. Lily ist hier am sichersten.“ „Glaubst du, sie würden ihr etwas antun?“ „Das würde ich nicht ausschließen. Wenn sie nach Hause geht, kommt das Baby nicht lebend zur Welt. Merk dir meine Worte.“ „Da bin ich deiner Meinung, Mutter,“ mischte sich eine neue Stimme ein. Ujat kam mit einem Grinsen um die Ecke. Er trug eine kleine Holzkiste bei sich. „Ich bezweifle, dass Lily mit ihnen geht. Ich gehe sie kurz mal besuchen.“ „Warte,“ bremste sein Vater ihn. „Was ist da drin?“ „Nur ein paar Teebecher.“ Ujat nahm den Deckel von der Kiste ab und zeigte ihnen einen. Der Becher sah aus wie von einem Kind gemacht. „Meine Güte, gibt es die immer noch? Die hast du doch in der Schule gemacht, oder?“ staunte Vindictus. Ujat strich direkt liebevoll über die Oberfläche. „Ich habe letztens mal aufgeräumt und sie dabei gefunden. Ich werde sie der Krankenstation stiften... dann liegen sie nicht länger ungenutzt herum.“ Dsasheera nahm einen Becher aus der Kiste und mustere ihn. „Hm... hast du die damals in Artefaktmagie hergestellt?“ „Nein, im Heimwerkerunterricht. Aber ich habe sie in den letzten Tagen noch etwas überarbeitet beziehungsweise die Artefaktmagieklasse darum gebeten. Den da gebe ich Lily, meint ihr nicht? Es sind besonders schöne Blütenmuster drauf... für das Werk eines Kleinkindes.“ Dsasheera drehte das gute Stück in den Händen. „Ja... wirklich hübsch. Du solltest sowas öfter machen, Junge, das sind ungeahnte Talente.“ Die Familie lachte ausgelassen, dann legten sie alle Becher zurück in die Kiste, und Ujat brachte sie zu Lily. „Ob er irgendwas gesehen hat?“ fragte Vindictus. Dsasheera zuckte mit den Schultern. „Das mag schon sein.“ „Nun ja, in den letzten Tagen hat er seine Meinung zu seinen Visionen grundlegend geändert. Langsam Zeit, wenn du mich fragst.“ Vindictus zuckte mit den Schultern. „Wie war das denn früher?“ wollte die Schamanin wissen. „Oh, er war stets davon überzeugt, dass es besser wäre, Hilfsmittel wie Teetassen und Kristallkugeln zu verwenden.“ Vindictus verspürte tief in sich einen leichten Groll, weil sein Junge nicht an seine Unschuld geglaubt hatte, als er vor elf Jahren wegen angeblicher Pädophilie seinen Lehrerposten an der Akademie hatte aufgeben müssen. Ujat hatte nicht gesehen, ob die Gerüchte stimmten oder nicht, möglicherweise, weil er keinen direkten Kontakt zu einer der involvierten Personen gehabt hatte. Und selbst wenn... damals hatte seine familiäre und berufliche Situation es verlangt, dass er sich von einem solchen Vater distanzierte. Sie hatten das geklärt, aber es saß noch tief. Vindictus seufzte. Er wollte das lieber vergessen. „Was grübelst du da rum?“ schimpfte Dsasheera. „Wolltest du nicht etwas Bestimmtes hier?“ Jetzt fiel es ihm auch wieder ein. „Ja, ich wollte Lily anbieten, dass ich länger arbeite, damit sie draußen feiern kann. Aber vielleicht hat sie jetzt keine Lust mehr. Naja. Ich gehe mal fragen...“ Das tat er, und wie sich herausstellte, nahm die Fee das Angebot gerne an, was ihn überraschte. Aber es gab dem alten Heiler Gelegenheit, Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, denn Ujat bot sich an, ihm Gesellschaft zu leisten. Indessen suchte Crimson Soach auf dem Turm auf, wo dieser noch ein wenig die Aussicht genoss. Ein Beutel mit Edelsteinen und Silberbesteck lag in der Nähe der Tür, die auf die Plattform führte. Zum Glück schien Florence keine Juwelen zu fressen, dafür aber Metallteile, um sein Horn vergrößern zu können. Da bot sich ja eine ganz neue Möglichkeit, defekte Waffen zu entsorgen. Soach drehte sich nicht um, doch er hatte den Besucher offensichtlich bemerkt. „Wenigstens kann ich noch Gedankenkontakte pflegen,“ begrüßte er den Schlossherrn. „Ich habe noch ein paar mehr Drachen, aber ich will sie nicht alle am selben Tag rufen.“ „Sie sind beeindruckend,“ sagte Crimson. „Ich kann ihre Präsenz spüren, obwohl du sie von mir abschirmst...“ „Irgendwann demnächst muss ich sie auch mal auf dich loslassen, damit du dich daran gewöhnst.“ Soach wandte sich ihm endlich zu und lächelte. Das Lächeln ähnelte sehr dem von früher, doch er konnte ihm nicht die gleiche Arroganz verleihen. Dennoch war es ansteckend. „Es scheint dir heute ganz gut zu gehen, ich hoffe doch, das lag nicht daran, dass ich den halben Tag nicht da war,“ witzelte Crimson. „Nein... dein Vater hat irgendwas mit meinem Hirn angestellt. Weil sein Schlossherz das Bewusstsein eines Kindes hat...“ „Ah, ja... vielleicht erzählt er dir die Geschichte mal, da will ich aber nicht vorgreifen.“ „Was ist das für ein Buch? Kommt mir bekannt vor.“ „Oh, das.“ Crimsons Aufmerksamkeit wandte sich dem Grund für sein Kommen zu. „Wir haben es vor einer Weile aus der Schatzkammer mitgenommen und ich wollte es meinem Großvater geben, erinnerst du dich? Ich habe ihm statt dessen das Kochbuch gegeben, weil er so getan hat, als wäre es ein Verbrechen, das hier zu besitzen.“ „Ja, stimmt.“ Jetzt hatte er Soachs Neugier noch weiter angestachelt. „Also, was ist es?“ Crimson grinste entschuldigend. „Ich habe keine Ahnung! Er hat es mir nicht verraten, mir aber erlaubt, mich jetzt damit zu befassen. Es ist in der geheimen Zirkelsprache geschrieben. Möchtest du es haben?“ „Nein, wie langweilig,“ entgegnete Soach in einem ironischen Tonfall, wobei er gleichzeitig das Buch an sich nahm. Er öffnete es auf einer zufälligen Seite und legte es vor sich in die Luft, doch bevor er es losließ, bemerkte er seinen Fehler. Er schlug es mit einem Knall zu und klemmte es sich unter den Arm. „Ich werde es mir nachher in meinem Zimmer in Ruhe ansehen.“ „Gut,“ nickte Crimson. „Gehen wir zur Strandparty?“ „Na gut, es war schließlich meine Idee,“ stimmte Soach etwas zögerlich zu. Unten schien gerade das Lagerfeuer entzündet zu werden, aber irgendwie klappte es wohl nicht richtig. Die Flammen flackerten und erloschen wieder. Die beiden Männer machten sich gemütlich auf den Weg und brachten das geheimnisvolle Buch vorerst noch einmal im Büro unter, wo sie es in einem Stapel weiterer Wälzer versteckten. Kapitel 27: Spiel mit dem Feuer ------------------------------- Blacky sah sich nach seiner Großmutter um und stellte fest, dass sie sich mit Vanis unterhielt, denn beide holten gerade etwas zu trinken. Jedenfalls blieb ihm dadurch ein Moment für seine eigenen Gedanken. Eigentlich störte sie ihn nicht, im Gegenteil, er mochte ihre Gesellschaft. Aber dieses Mal war sie mit einem ernsten Anliegen an ihn herangetreten. Sie hatten sich lange unterhalten, und er musste das Gespräch erst einmal verdauen. Er spazierte allein am Strand entlang, unbeachtet von all den Leuten. Auch Dark ließ ihn in Ruhe, spürte, dass er die Zeit brauchte. Er wollte mit ihm sprechen, denn das Thema ging auch ihn an. Aber noch nicht. Die Wellen endeten gerade knapp neben seinen Füßen. Blacky dachte an die Zeit vor ein paar Jahren, als seine ganze Sorge sich darum gedreht hatte, noch einen Platz für ein weiteres Buch in seinem unaufgeräumten Zimmer zu finden. Die Dinge änderten sich, und er wusste oft nicht, ob er es gut finden sollte. Auf der anderen Seite lebte Chaos von der Veränderung. Was also hielt ihn auf? Der Strandabschnitt zwischen den Klippen und den Ausläufern des Schlosses war nicht allzu lang, maximal fünfhundert Meter, wenn überhaupt. Von hier aus konnte er also nicht allzu weit spazieren gehen, ohne sich die Füße nass zu machen. Somit kehrte er bei den Felsen wieder um und schlenderte zurück. Das Lagerfeuer war bereit, entzündet zu werden. Im Näherkommen sah Blacky, wie Fire Thaumator anhielt, der gerade vorbei ging. Neugierig beobachtete er die Szene, als er nahe genug war, um die Stimmen zu hören. „Warum übernehmt Ihr das nicht, Zirkelmagier,“ sagte Fire in bester Sprachqualität. Das ließ Blacky erst recht aufhorchen. „Wenn du möchtest...“ Thaumator machte eine Geste zum Holzstapel. Ein Flämmchen züngelte daran hoch. Fire grinste breit und zog das Flämmchen von dort weg, um es dann in seiner Hand zu halten. „Das war wohl nichts. „Kann mal passieren.“ Thaumator versuchte es noch einmal – mit dem gleichen Ergebnis. Er verengte die Augen und warf einen Blick in Fires Richtung. Ein Feuerball flog diesmal direkt zu dem jungen Magier. Fire fing auch diesen auf, dann ließ er die ersten beiden erlöschen. „Mehr habt Ihr nicht drauf?“ „Hm... ich stelle fest, dass du schlauerweise die ersten beiden Zauber aufgegeben hast, weil sie dein Meras verbrauchen statt meines, seit du sie übernommen hast,“ erörterte Thaumator in bestem Schulmeistertonfall. „Gut gemacht. Manche wundern sich, wenn die Zauber des anderen plötzlich verschwinden, weil die Energiezufuhr gestoppt wurde. Das ruiniert natürlich den Effekt des ganzen total, nicht wahr.“ Lady Charoselle erschien mit einem Weinglas in der Hand wieder an Blackys Seite und reichte auch ihm eins. „Ich frage mich, ob es schlau von meinem Enkel ist, sich mit einem viel erfahreneren Feuermagier vom Zirkel anzulegen.“ Blacky nahm einen kleinen Schluck, ohne darüber nachzudenken, und beobachtete einfach schweigend weiter. „Klugscheißer,“grummelte Fire gerade. Er verstärkte die Flammen und warf sie auf den älteren Kollegen zurück. Dieser wich einfach nur mit einer geschmeidigen Drehung aus, sorgte aber noch dafür, dass der Angriff verpuffte und keine Unbeteiligten traf, die sich inzwischen neugierig versammelten und Wetten abschlossen. Thaumator grinste. „Du willst was Anspruchsvolleres? Nimm das!“ Er erschuf eine Feuerkugel von der Größe eines Kinderkopfes in seiner Linken und warf sie ihm zu, direkt danach zwei weitere mit rechts und wieder links. Fire übernahm die Zauber, vereinte sie zu einem großen und schickte ihn zurück. Thaumator wehrte ihn dieses Mal ab und schleuderte gleichzeitig einen ebenso großen mit der anderen Hand. Der Strand wurde vom Feuer in flackerndes Licht getaucht. Blacky sah aus dem Augenwinkel, dass Mava einen Schutzschild vor den Zuschauern aufbaute und bei den kleinsten Kindern stehen blieb. Der Chaosmagier entspannte sich und genoss die Vorstellung. Thaumator versuchte es mit einem noch größeren Feuerball, der Fire nur ein müdes Lächeln entlockte. „Den Legendären Lord der Flammen beeindruckt das nicht!“ prahlte er. „Du kannst nicht ewig alles von mir übernehmen,“ prophezeite Thaumator und fuhr fort, den Jüngeren mit Flammenbällen zu bewerfen. Er erhöhte das Tempo und variierte die Größe. Fire fing alles auf und warf es zurück oder ließ es erlöschen. Das war sein Spezialgebiet und er kam so richtig in Fahrt. Blacky konnte erkennen, wie sehr er sich amüsierte. Thaumators nächster Angriff war besonders groß und leuchtete auffällig hell. „Diesen solltest du lieber nicht abfangen.“ „Pah!“ Fire ließ alle anderen erlöschen und streckte die Hände aus. „Na komm!“ Blacky trat einen Schritt vor und öffnete den Mund, überlegte es sich dann aber anders. Thaumator untermalte sein neuestes Geschoss mit einem Aufschrei der Anstrengung, als er es auf den Gegner schleuderte. Das Ding flog wie ein Komet, weiß leuchtend zog es einen Schweif hinter sich her. „Das beeindruckt mich nicht!“ lachte Fire. „Gleich kriegst du ihn zurück!“ Er stoppte den Zauber mit den Händen. Plötzlich züngelten die hellen Flammen an seinen Fingern bis zu den Ellenbogen hoch. Fire schrie erschrocken auf. Die Zuschauer hielten den Atem an. Das Licht erlosch. Es hatte gefährlich ausgesehen, aber er war nicht verletzt. Doch er merkte wohl, dass etwas nicht stimmte, und Thaumator wusste es auch. „Willst du noch?“ erkundigte sich der Feuermagier und erschuf eine von den kleinen Feuerkugeln. „Was... was ist passiert?“ stammelte Fire und starrte auf seine Hände. „Hey, das ist... unfair!“ „Ich bin nicht für meine Fairness bekannt,“ erwiderte Thaumator. Er entflammte mit einer lässigen Handbewegung das Lagerfeuer. „Aber... wie hätte ich denn... Hmpf!“ Fire verstummte. Er biss schnaubend die Zähe aufeinander, ballte die Hände zu Fäusten und marschierte zum Schloss. Für ein paar Sekunden gab es das Geräusch von Münzen, die den Besitzer wechselten. „Du wolltest ihn vor dem Zauber warnen,“ stellte Lady Charoselle leise fest. „Das ist dir aufgefallen?“ Blacky schwenkte sein Weinglas. „Und jetzt fragst du dich wohl, warum ich es dann doch nicht getan habe.“ „Ja. Und ob du wusstest, was es ist.“ „Ich wusste es. Du kannst nicht zu den größten Magiern des Schattenreiches zählen und sowas nicht wissen. Die beste Art, es zu lernen, ist durch die Erfahrung. Und die macht Fire besser jetzt und hier als später im Ernstfall.“ „Du weißt jedenfalls, wie mächtig du bist, und machst daraus keinen Hehl,“ stellte die Herrscherin fest. „Diese Eigenschaften gefallen mir.“ „Trotzdem überlasse ich die Führungsposition der Magier gerne Dark. Ich bin kein Anführer.“ Charoselle zuckte mit den Schultern. „Das dachte ich von mir früher auch, aber letztendlich wächst jeder mit seinen Aufgaben und in seine Rolle hinein.“ Sie tätschelte seine Schulter und ließ ihn für den Moment allein. Blacky leerte sein Weinglas. Er trank normalerweise nicht viel Alkohol, doch heute holte er sich ausnahmsweise mehr, um seine Konversationen mit der Herrscherin der Eisigen Insel aus dem Blickwinkel eines beschwipsten Chaoten betrachten zu können. *** Als Crimson und Soach das Außengelände betraten, fielen ihnen flackernde Lichteffekte und Magieentladungen am Strand auf. Eine Menschenmenge hatte sich beim Lagerfeuer versammelt. Da Soach sich immer noch im Dienst fühlte an diesem Tag, fasste er der erstbesten Person an die Schulter und fragte: „Was ist hier los?“ Es war Finsterlord Asmodeus, der sich zu ihm umdrehte. „Oh, Soach... dein Sohn zofft sich ein bisschen mit Thaumator...“ „Was?“ Erschrocken wollte Soach sich nach vorne drängeln, besann sich aber eines Besseren und nutzte einfach die Möglichkeit, die Szene aus Cathys Sicht von weiter oben zu betrachten. Der Schlossgeist konnte alles sehen, was in seinem Einflussbereich geschah, als würde er darüber schweben, ob nun sichtbar oder nicht. Er musste sich nur auf die Stelle konzentrieren. Wie er feststellte, gab es einen Schutzzauber für die Zeugen, und Kayos stand in der Nähe, zusammen mit Lady Charoselle. Beide sahen zu, griffen aber nicht ein. Thaumator und Fire warfen Feuerbälle hin und her, wobei es eher der Ältere war, der sie erschuf. Die Zuschauer schlossen Wetten ab. Soach verließ diese Sicht und kehrte mit seinem Bewusstsein ganz in seinen Körper zurück. „Ich glaube, es ist alles soweit unter Kontrolle,“ erstattete er Crimson Bericht. „Ich befürchte nur, Fire versucht gerade, dem Mann eins auszuwischen, der mich... der an der Ausbrennung beteiligt war. Wenn er sich da mal nicht verrechnet hat...“ „Ich denke mal, er wird sich zumindest recht gut schlagen, meinst du nicht?“ schätzte Crimson. Plötzlich änderte sich die Qualität der Luft. Das Licht bekam eine andere Farbe. Soach stürzte sich in die hintere Reihe. „Nein! Fire!“ Doch sein Schrei ging im allgemeinen Gegröle unter, und er kam einfach nicht schnell genug durch. Als er endlich in die vorderste Reihe gelangte, prallte er von innen gegen Mavas Schutzschild, während die Lichter des Duells verblassten. Lediglich das Lagerfeuer brannte nun. „Soach!“ Crimson quetschte sich neben ihn. „Fire ist nichts passiert, schau doch...“ Er deutete auf den jungen Feuermagier, der gerade wütend davonschritt. Soachs Herz saß in seinem Hals. „Ich dachte... für einen Moment fühlte es sich an wie...“ „Es muss etwas Ähnliches sein, das aber einen Magier nur kampfunfähig macht,“ meinte Crimson. „Wir können meine Großmutter fragen.“ Niemand achtete weiter auf ihr Gespräch – ringsherum wechselten Münzen und kleine Gegenstände den Besitzer. Die Versammlung löste sich langsam auf. Soach hielt krampfhaft die Augen offen, denn wenn er sie schloss, sah er vor sich den Keller im Gebäude des Zirkels. Dieses Gefühl eben... so hatte es sich auch angefühlt, direkt bevor sie mit dem Ausbrennen begonnen hatten, in dem kurzen Moment, als der vernichtende Zauber entstand und in seine Richtung schoss, aber noch nicht angekommen war. „Wie kann er es wagen, das auf diesem Gelände zu tun!“ zischte er. Es half, wenn er auf jemanden schimpfte. Er wollte Thaumator stellen und ihm die Meinung zu dem Thema sagen, befürchtete jedoch, nicht angemessen auftreten zu können. Er hatte Angst vor diesem Mann, ebenso vor Cosmea. Das passte absolut nicht in sein Bild von sich selbst. Er war ein Prinz der Eisigen Inseln, jemand, den man stets ernst nehmen sollte. Natürlich hatte er sich immer vor allem als Magier gesehen. Die Magie hatte ihn sein Leben lang befähigt, sich jeder Situation zu stellen, sogar dem Moment, in dem er sie verlor. Er wusste nicht, was danach von ihm blieb. Ein Leben als Nicht-Magier konnte er sich einfach nicht vorstellen. Eins stand allerdings fest: Er hatte sich noch nie in von seiner Angst aufhalten lassen. Entschlossen drängte er sich durch die langsam auseinandergehenden Leute. Sobald er Thaumator nahe genug kam, packte er ihn am Arm... gerade so, dass es nicht unhöflich ausfiel. „Entschuldigt...“ Der Feuermagier blieb abrupt stehen und fuhr zu ihm herum. „Oh... Soach. Kann ich Euch behilflich sein?“ Er entwand seinen Arm dem Griff des anderen, indem er sich einfach etwas anders hinstellte. So wirkte es kaum feindselig. „Ja, könnt Ihr,“ begann Soach und ließ zu, dass seine Zunge schneller handelte, als sein Gehirn nachkam. „Vermeidet solche Zauber auf diesem Gelände. Ihr wisst schon, welche Sorte ich meine.“ Sie starrten einander für zwei, drei Sekunden schweigend in die Augen. Vielleicht auch fünf. Letztendlich sah Thaumator zuerst weg, indem er höflich den Kopf neigte und dabei den Blick senkte. „Selbstverständlich. Verzeiht meine Gedankenlosigkeit. Es kommt nicht wieder vor.“ Als Soach dies abnickte, wandte der Feuermagier sich einem anderen Gesprächspartner zu und schien den Wortwechsel schon vergessen zu haben. Vermutlich besaß er aber einfach nur das Talent, seine Gefühle nicht auf seinem Gesicht zu tragen, etwas, das eigentlich Soach selbst auch zu beherrschen glaubte... bis vor einer Woche jedenfalls. Er sah sich nach Fire um, aber sein Sohn war schon fort. „Alles in Ordnung?“ fragte Crimson ihn. Er zog Soach an die Seite, weg vom Hauptgetümmel. „Geht schon,“ antwortete sein Stellvertreter. „Er hat mich nur daran erinnert... kurz bevor es anfing. In der Luft war... eine unangenehme Spannung, so als...“ Er runzelte die Stirn. „Ja, es fühlte sich an, als würde die Magie zu etwas gezwungen, das sie nicht tun wollte...“ Soach fragte sich, wie sehr die Magie selbst darunter litt, wenn jemand ausgebrannt wurde, und zwar nicht nur, weil ihr ein Medium verloren ging, sondern weil sie sogar das Mittel war, das dieses Medium zerstörte. Wie wenn man einem Krieger mit seinem eigenen Schwert den Arm abschlägt, mit dem er es führte... Er schloss erbebend die Hände zu Fäusten. Alles passte auf eine konfuse Art zusammen wie Wege, die aufeinander treffen, um gemeinsam zu einem vorbestimmten Ziel zu führen. Sein persönlicher Weg erwies sich allerdings als ziemlich steinig und steil. „Ganz sicher wollte sie das nicht tun,“ holte Crimson ihn zurück aus seinen Grübeleien. „Aber falls sie ein Bewusstsein hat, kann sie dich sicherlich verstehen. Vielleicht ist sie anfangs ein bisschen sauer, weil du es nicht verhindert hast, aber sie wird dich vor allem vermissen.“ Der Kommentar war nicht unbedingt hilfreich. Der Schmerz des Verlustes, der für eine Weile leichter geworden war, sank wieder wie ein Granitblock in seine Eingeweide. „Ich sollte lieber etwas vom Schloss weggehen,“ murmelte Soach. „Meinen Einfluss auf die Stimmung so gering wie möglich halten...“ „Aber nein... nicht jetzt, mein Freund,“ hielt Crimson ihn zurück. „Merkst du es nicht? Alle sind ganz aufgeregt und freuen sich auf den Abend. Lass dich lieber von ihnen anstecken. Du musst unbedingt positiv denken, Soach.“ Der Prinz der Eisigen Inseln zwang sich zu einem Lächeln. „Wahrscheinlich hast du Recht. Wenn ich will, dass die Magie zu mir zurück findet, darf sie keinen in Selbstmitleid versunkenen Schwächling vorfinden.“ „Das ist die richtige Einstellung,“ stimmte Crimson zu. „Komm, wir suchen uns was zu trinken, und vielleicht kannst du ja mal mit Lily reden, hm?“ „Ja... mit Lily reden sollte ich unbedingt. Aber vielleicht nicht mehr heute. Wenn wir wieder in Streit geraten, verderbe ich ihr den Abend.“ „Soach...“ „Schon gut. Ich suche nach ihr und rede mit ihr.“ Er würde ohnehin keine Ruhe finden, solange der Streit mit ihr ungeklärt in seinen Gedanken kreiste. *** Ujat stellte die selbstgemachten Becher ins Regal, wo die Heiler auch ihre anderen Trinkbecher aufbewahrten, aber zwei behielt er zurück. Indessen kochte Vindictus Wasser und brühte eine Kanne fruchtigen Tees auf. Sein Sohn gab ihm einen Becher, auf dem einige necromantische Formeln eingeritzt waren, die aber das kleine Kind damals nicht korrekt abgebildet hatte. Trotzdem fand der alte Heiler den Versuch rührend. „Ist das nicht zu viel für dich, jetzt auch noch den Nachtdienst zu machen?“ fragte Ujat. „Pah, das dürfte ne ruhige Sache werden... abgesehen von ein paar Alkoholleichen später in der Nacht, aber so viele Leute sind hier ja nicht, die unvernünftig genug sind. Oder hast du mir diesbezüglich was zu sagen?“ „Ich bleib‘ vielleicht besser hier,“ schlug Ujat vor. Vindictus konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sein Sohn war auch nicht mehr der jüngste, also befanden sich in einer Nacht, in der die Schlossbewohner am Strand feierten, zwei alte Männer in der Krankenstation in Bereitschaft. Hervorragend. Allerdings hielt er ihn sicherlich nicht davon ab, bei ihm zu bleiben. Sie schlürften eine Zeitlang den heißen Tee, jeder in seine Gedanken vertieft. Eine langfristige Beziehung hatte es in Vindictus‘ Leben nie gegeben. Wenn er Leute wie Thaumator traf, die ein glückliches Familienleben führten, wurde er ein wenig neidisch. Aber das gehörte zum Schicksal eines Necromanten... diese spezielle Kunst machte unbeliebt und früher oder später möglicherweise auch unfruchtbar. Seiner Meinung nach konnte man da immer nachhelfen, aber das konnte übel nach hinten losgehen. Somit war Ujat alles, was er an Kindern hervorgebracht hatte. Darüber konnte er sich nicht beklagen. Jeder ging seinen Weg, und seiner hatte nun einmal ein paar Nachteile. Aber dafür konnte er Tote zum Leben erwecken. Je nachdem, wie lange sie schon tot waren, fiel das Ergebnis natürlich unterschiedlich aus. „Du hast mir letztes Jahr erzählt, dass du damals nicht sehen konntest, ob ich schuldig bin,“ begann er ein Thema, das ihn immer wieder einmal beschäftigte. „Du überlegtest, zur Akademie zu reisen und um etwas zu bitten, das mir gehört hat, um damit hellsehen zu können, aber dir kam immer wieder etwas dazwischen, und als du endlich hin kamst, war es zu spät...“ Ujat sah ruhig von seinem Tee auf, scheinbar nicht überrascht. „Dieser Chaosmagier sagt immer, es gäbe keine Zufälle,“ fuhr Vindictus fort, ohne zu spezifizieren, welchen von beiden er meinte. „Ob es wohl kein Zufall ist, dass ich jetzt hier bin, und du zur rechten Zeit herkamst, um Soach vor dem Gift zu retten... musste das wohl alles so sein?“ „Falls ja, müssen wir uns wohl fragen, wofür das alles gut ist,“ lächelte Ujat. „Es muss etwas sein, das mehr als zehn Jahre lang vorbereitet wurde und noch nicht beendet ist... vielleicht fingen die Vorbereitungen auch schon viel früher an. Fällt dir eigentlich auf, dass du nicht aufgehört hast, Soach zu den Chaosmagiern zu zählen?“ „Vielleicht meinte ich Blacky!“ erwiderte Vindictus. „Nein.“ Auf Ujats Becher war ein Auge abgebildet mit Lichtstrahlen daran. „Kannst du jetzt schon Gedanken lesen?“ empörte Vindictus sich mit gespielter Strenge. „Ich konnte schon immer ganz gut raten,“ grinste sein Sohn. „Und wenn ich raten soll, würde ich sagen, dass wir Teil eines großen Zusammenhangs sind, den wir jetzt noch nicht verstehen.“ Er setzte passend ein ernstes Gesicht auf und machte eine langsame Handbewegung, die wie ein Griff nach unbekannten Mysterien aussah. Vindictus seufzte. „Mir würde es völlig genügen, ein unbedeutendes, bequemes Leben zu führen.“ Er dachte einen Moment über seine Worte nach. „Nun... vielleicht wäre es nett, berühmt zu sein, wenn schon nicht für überragende Macht, dann vielleicht für außerordentliches Heiltalent.“ Ujat lachte. „Hör auf, ich merke doch, wie glücklich du hier bist. Zumal du ja eine neue Herausforderung gefunden hast, nicht wahr?“ „Du meinst Thaumator? Naja. Das muss sich erst noch zeigen. Er wird vielleicht nicht hierbleiben können. Soach ist die Seele des Schlosses, folglich will das Schloss nicht den Mann beherbergen, der ihn ausgebrannt hat.“ „Hab Vertrauen, Vater. Ich geh mal kurz für kleine Hellseher.“ Ujat verschwand durch die hintere Tür. Der Zufall – oder auch das Schicksal – spielte Vindictus in die Hände. Der junge Fire kam durch die Tür gerauscht und direkt in seine Ecke. „Vindictus! Der olle Zirkelknilch hat mich ausgebrannt, ich kann nich mehr zaubern! Bitte sach mir, dasses nich anhält!“ jammerte der Bursche. „Es hält nicht an,“ entgegnete Vindictus. „Also, was genau ist vorgefallen?“ Fire erzählte es ihm. Allerdings wirkte die Geschichte aus dem Mund des Verlierers eines magischen Gezänks natürlich etwas aufgehübscht, so dass jener als ungerecht behandeltes Opfer dastand. Der Heiler fühlte seinen Puls, kontrollierte seine Augen und gab sich generell sehr besorgt. Seine magischen Sinne stellten fest, dass es tatsächlich kein nennenswertes Meras mehr im Körper des Jungen gab, aber es regenerierte sich schon wieder. Wie interessant, anscheinend beherrschte Thaumator weitere Ausbrennzauber außer dem, der nur einmal auf jemanden angewendet werden konnte. Die harmloseren wurden nur nicht so genannt, um Missverständnisse zu vermeiden. „Der so genannte Kontaktbrenner. Das ist ein Trick, der besonders gut wirkt, wenn er von einem Feuermagier kommt,“ erklärte er. „Der Zauber ist keinem bestimmten Element zugeordnet, sieht aber aus wie Feuer. Deshalb hast du den Unterschied kaum bemerkt, während ihr euch ohnehin mit Feuerbällen beworfen habt.“ „Aber dassis voll unfair, feige und übahaupt!“ regte Fire sich auf. „Macht ein‘n auf toller Zirkelmagier mit feinen Klamotten und so, aber kein bissel Ehre inn‘ Knochen!“ „Oh, du würdest dich wundern,“ murmelte Vindictus, der Thaumator ja inzwischen etwas besser kannte. Er räusperte sich und sprach lauter weiter: „Der Zirkel des Bösen definiert Ehre anders. Sie kämpfen nicht immer so, dass der Gegner es fair findet, aber sie treten nicht noch einmal drauf, wenn er brav am Boden liegen bleibt und seine Niederlage hinnimmt. Was fair ist oder nicht, ist ohnehin Ansichtssache. Von jemandem wie Dark hättest du diese Aktion vielleicht beeindruckend gefunden, natürlich nur mit einem anderen als dir als seinem Gegner.“ Fire schnaubte und verschränkte die Arme. „Vielleicht.“ „Dein Vater hätte das gleiche getan,“ fuhr Vindictus fort. „Chaosmagier kämpfen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Manche Leute besiegst du nicht durch Fairness. Und du bist jetzt nur sauer, weil es dich erwischt hat.“ „Hmpf,“ machte Fire. Er stapfte vor den Krankenbetten auf und ab und schien fieberhaft nachzudenken. Schließlich fragte er: „Kennste wenn, der mir das auch beibringn kann?“ Vindictus öffnete schon den Mund, um sich selbst vorzuschlagen, aber seine Fähigkeit, Magie auszubrennen, war nicht jedem bekannt. Mit sowas prahlte man auch nicht herum, wenn man ein paar Freunde behalten wollte. Was Thaumator betraf... von dem wussten es eh alle. Vindictus frohlockte innerlich und musste sich bemühen, das nicht auf seinem Gesicht erkennen zu lassen. „Warum wendest du dich nicht an den Meister des fiesen Zaubers persönlich?“ riet er dem jungen Feuermagier. Fire blieb stehen und starrte ihn mit offenem Mund an. „Nich im Ernst! Das machter doch nie! Schließlich willich ihm damit eins überbraten!“ Vindictus zuckte mit den Schultern. „Und er wird wissen, wie er es verhindern kann. Du könntest generell noch was von ihm lernen, immerhin ist er viel älter und erfahrener als du. Wusstest du, dass seine Mutter die üble Itrikaria war?“ Das festzustellen, hatte Vindictus nur einen kurzen Blick in ein Buch über Dunkle Magier gekostet. Dunkel im Sinne von böse. Der Name schien Fire ein Begriff zu sein, immerhin handelte es sich um eine bekannte Feuermagierin. „Die? Diiiieee?! Ich dachte, all ihre Blagn wärn tot! Sie hat ihr‘n eignen Macker abgemurkst, lauter Verwandte und so auch! Die war echt irre!“ „Ähm, ja. Das hörte ich.“ Oha, anscheinend war da mehr als nur eine Erwähnung im Unterricht. Aber Fire entstammte einem Hexenzirkel des Feuers, das vergaß Vindictus manchmal. Klar, dass er alles über böse Feuermagierinnen wusste. Der Junge bekam einen ganz abwesenden Gesichtsausdruck, während er sich an etwas zu erinnern schien, das er mal gelernt hatte. „Die Tussi is dann von‘nem Mitglied der eignen Familie erledigt wordn un den hat dann wer geschnappt, glaube der größte Magierfutzi von damals, war das nich Sage mit seina Frau?“ „Du bist gut informiert, wenn nur alle Schüler so fleißig wären...“ nickte Vindictus. „Weißt du noch, was mit demjenigen passierte, der Itrikaria ausgebr... ausgeschaltet hat?“ Fire wurde etwas ruhiger. Stirnrunzelnd überlegte er. „Ich dacht‘ jetz, der wär verbrannt wordn. Is ja nich so als ging das mit Feuermagiern nich. Aber bin nich sicha... Weißte, das ham mir die Hexn von Mudders Truppe erzählt, die irrn sich vielleicht.“ „Solche Gerüchte verbreiten sich ja schnell,“ meinte Vindictus schulterzuckend. „Muss nur einer gesagt haben, dass sie ihn vielleicht hinrichten, der nächste hört nicht richtig zu und erzählt weiter, dass es eine Hinrichtung gab.“ „Also das is der Typ...“ schloss Fire und deutete mit dem Daumen über seine Schulter, in die ungefähre Richtung, wo sich grob geschätzt der Strand befand. „Itrikarias Sohn.“ Vindictus konnte quasi zusehen, wie die Information in Fires Verstand verarbeitet wurde. Plötzlich bekam der Junge ganz große Augen. „Den hamse Vadder ausbrenn‘ lassn? Sin‘die übageschnappt? Wieso isser überhaupt im Zirkel, weiß das da keina?“ „Beruhige dich,“ beschwor Vindictus ihn, da er befürchtete, Fire würde gleich nach draußen rennen und Thaumator erwürgen, oder das zumindest versuchen. „Es ist nicht meine Aufgabe, ihn in Schutz zu nehmen, aber zumindest rate ich dir, ihm eine Chance zu geben. Auch dein Vater hat eine bekommen, nicht wahr?“ „Das... is ganz andas!“ fauchte Fire. „Vadder hat versucht... ich meine... er war nich so grausam, hat keine Leute abgeschlachtet... nich absichtlich... Außadem hat seine Schrecknsherrschaft nur kurz gedauat! Nichmal richtich angefangn!“ Fires Sprachmacke schien schlimmer zu werden, stellte Vindictus fest. Lag vielleicht daran, dass der Junge sich aufregte. Er seufzte. „Ich habe Thaumator nicht gefragt, habe aber Grund zu der Annahme, dass er damals in irgendeiner Form bestraft wurde. Auf jeden Fall hat er auf seine ganz eigene Art Buße getan... und jetzt ist er in einer Vereinigung, deren Mitglieder vermutlich keine Probleme damit haben, ihren Schülern krasses Zeug beizubringen, um es mal in deiner Sprache auszudrücken. Versuch es einfach, du musst ihn ja nicht mögen, nur respektieren, wenn er dein Lehrmeister sein soll.“ „Ich denk drüber nach,“ lenkte der Feuermagier ein. „Gut, kann ich sonst noch etwas für dich tun?“ fragte Vindictus. „Nein... ich wollt nur sichergehn, dassich kein‘n Dauerschadn hab.“ „Um so ausgebrannt zu werden, wie sie es mit deinem Vater gemacht haben, müsstest du gefesselt und mit Bannkreisen gesichert sein, das geht nicht einfach so im Kampf. Zum Glück, möchte ich meinen. Was Thaumator gemacht hat, verbrauchte nur ganz heimlich dein Meras. Das kann fies werden, wenn du in einem ernsten Duell bist und es nicht gleich merkst. Lass dir das eine Lehre sein.“ Falls Fire auffiel, dass Vindictus sich ziemlich gut mit der Materie auskannte, sagte er nichts dazu. Er wirkte nun sehr nachdenklich. „Vielleicht frag ich‘n echt,“ murmelte der Junge. „Bald habich Familie... Vadder soll sich nich verantwortlich fühln. Ich will‘em nich zur Last falln.“ Er biss sich auf die Lippe. Machte er sich immer noch Vorwürfe, weil die Rettung seines Lebens durch Rahzihf indirekt zu Soachs Ausbrennung geführt hatte? Darüber musste er aber selber hinwegkommen. Fire drehte sich um und wollte offenbar gehen, blieb dann aber noch kurz stehen und fragte über die Schulter: „Sag mal... wassis eigentlich dran an deina schwuln Beziehung zu Thaumator? Is das der Grund, dassde‘n mir empfielst?“ „Häh? Wer erzählt das denn rum!“ „Darüba redn alle...“ Vindictus schlug sich die Hand vor die Stirn. „Ich bin wohl mal wieder der Letzte, der davon erfährt, dass ich eine männliche Liebschaft habe. Hervorragend. Nun ja... denk an das, was wir vorhin über Gerüchte sagten...“ Doch Fire ließ sich jetzt nicht mehr so leicht abschütteln. „Aba wie kommt irgendeina auf die Idee? Habter euch zu gut unterhaltn?“ Vindictus rieb sich das Kinn und überlegte. „Hm... es müssen diese beiden Feen gewesen sein... Lilys Eltern. Das passt. Na warte...“ Diese spießigen Leute hatten eine kleine Rache verdient, befand er. In einem sehr theatralischen und ganz klar gespielt dramatischen Tonfall rief er: „Oh, ich frage mich, ob Petunia und Lavender vielleicht Blutfeen sind, so wie die gegen Blutfeen wettern... wer weiß, vielleicht wollen sie so von sich ablenken!“ Fire lachte. „Keine Ahnung, was ne Blutfee is, aber das kriegich schon raus. Ich frag einfach jeden, denich treffe.“ „Mach das,“ nickte Vindictus zufrieden. Als Fire fort war, kehrte Ujat zurück und setzte sich wieder an den Arbeitstisch, wo die Teebecher standen. Er fügte einen weiteren hinzu. „So, Thaumator soll den jungen Fire unterrichten, damit er bleiben darf. Geht nicht normalerweise der Schüler dorthin, wo der Meister wohnt?“ „In dem Fall wäre das etwas schlecht, denn er ist ja werdender Familienvater und seine Partnerin ist die Schülerin des Schlossherrn hier.“ „Wie hinterhältig von dir, Vater.“ Der Alte musterte seinen Sprössling skeptisch. „Weißt du irgendwas darüber?“ „Dauernd unterstellst du mir, dass ich irgendwas wüsste.“ „Hätte ja sein können. Warum soll ich das nicht ausnutzen?“ „Das Schlossherz kann dich hören, aber ich glaube, derzeit achtet es nicht auf dich.“ Ach herrje, das war Vindictus einen Moment lang entfallen. Nun gut. Falls sonst nichts klappte, würde er einfach Cathy darum bitten und all seinen Charme spielen lassen. Zumindest einen Versuch war es wert. Der Becher, den Ujat bei seiner Rückkehr mitgebracht hatte und in den er nun Tee goss, trug Fische als Muster. Zumindest nahm Vindictus an, dass es Fische sein sollten. Er fragte nicht, für wen dieser Becher gedacht war, sondern wartete einfach ein bisschen ab. „Wirst du eigentlich auch von den Amazonen verfolgt, oder bist du ihnen zu alt?“ erkundigte er sich, um das Gespräch in Gang zu halten. „Ich glaube, sie würden mich eher als reif bezeichnen,“ überlegte Ujat. „Aber nein, es gelang mir, ihnen aus dem Weg zu gehen.“ „Woran das wohl liegt...“ Es gefiel Vindictus, dass sein Sohn seine Kräfte ausnutzte. „Warum hattest du früher solche Bedenken, deine Gabe einzusetzen?“ „Sie war zu unzuverlässig,“ antwortete Ujat ohne zu zögern. „Die typische Hellsehergabe kommt nicht auf Wunsch, dafür aber in unpassenden Momenten, und dann drückt sie sich unverständlich aus... oder, besser gesagt, wir Menschen sind zu beschränkt, um ihre Botschaften zu verstehen. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich in meiner Jugend ein paarmal falsch gelegen habe mit meiner Interpretation der Visionen, und da hörte ich auf, sie immer gleich mit allen zu teilen.“ „Ja, das weiß ich noch,“ nickte Vindictus. „Ich dachte daraufhin, dass du als Kind zu viel Fantasie hattest und dann irgendwann aus deinen Geschichten herausgewachsen warst... bis du anfingst, dich in der Schule auf die wahrsagenden Künste zu spezialisieren. Da ergab alles wieder Sinn. Schließlich wusste ich ja, dass deine Mutter hellsehen kann.“ „Ich habe dir nie von dieser einen Sache erzählt...“ begann Ujat. „Damals bei dem Klassenausflug in die Berge. Ich sagte den anderen, dass wir nicht gehen dürften, weil sonst einer meiner Mitschüler, Emryd, abstürzen würde. Natürlich glaubte mir niemand. Es sollte nur ein harmloser Spaziergang werden. Also fing ich eine Schlägerei mit dem Jungen an, und wir mussten beide in der Schule bleiben und uns im Krankenzimmer erholen. Sie unterstellten mir, dass ich Emryd den Ausflug missgönnte und durch meine Geschichten verhindern wollte, dass er mitgeht. Ich fühlte mich missverstanden und ungerecht behandelt, dabei hatte ich sein Leben gerettet.“ „Das weiß ich doch,“ entgegnete Vindictus. „Schließlich wurde ich damals zum Direktor gebeten. Du warst gerade sieben Jahre alt, daher taten sie es zum Glück als Gezänk unter Kindern ab. Ich sagte ihnen, dass deine Mutter hellsehen kann, und dass es durchaus sein konnte, dass du eine Ahnung hattest.“ „Ja, und daraufhin konnte ich mir für die nächsten paar Wochen von allen Lehrern sarkastische Kommentare zu dem Thema anhören.“ Ujat lächelte schief und füllte seinen Teebecher nach, ohne ihn vorher ganz geleert zu haben. „Zu Beginn der Ferien, einige Wochen später, hatte ich eine weitere Vision. Sie war der anderen sehr ähnlich und drehte sich auch um Emryd, aber dieses Mal sagte ich es niemandem. Er kam nicht wieder zur Schule. Ich erfuhr, dass er den verpassten Ausflug zusammen mit ein paar Freunden nachgeholt hatte. Bei einer Mutprobe fiel er von einer Brücke und starb. Zwei seiner Freunde überlebten schwer verletzt. Und ich fragte mich, ob es etwas geändert hätte, wenn ich ihn gewarnt hätte. Oder wenn ich ihn nicht daran gehindert hätte, am Ausflug mit der Klasse teilzunehmen und ihn statt dessen irgendwie anders vor dem Sturz bewahrt hätte.“ „Oh... deshalb hat dich das so mitgenommen. Ich hab das mit dem Unfall eines Schülers damals nur am Rande mitbekommen. Es war das Jahr mit der Sandpockenepedemie in der Feenfestung, und ich war deshalb nicht zu Hause. Etliche Heiler halfen bei den Feen, weil die Krankheit unter ihnen weitestgehend unbekannt war.“ „Ich entsinne mich. Da hattest du noch diesen wunderlichen Lehrmeister.“ „Genau. Jedenfalls ist dir hoffentlich inzwischen klar, dass der Junge nicht deine Verantwortung war. Wenn du keine Vision gehabt hättest, wäre er abgestürzt und fertig. So lebte er noch etwas länger.“ „Ich kann damit leben,“ versicherte Ujat. „Schließlich war das nicht der einzige Fall, bei dem ich mich fragte, ob ich mehr hätte tun sollen, und es gab jene, wo ich dachte, zu viel getan zu haben. Zum Beispiel dieser arme alte Wanderer, dem ich half, ein Vermögen beim Wetten zu gewinnen. Er wurde später wegen eben jenes Vermögens von Banditen überfallen und fast umgebracht. Ich kam zu spät, um das zu verhindern. Dies ist das Schicksal von Leuten wie mir... deshalb beschloss ich eines Tages, nicht mehr auf meine Ahnungen zu hören. Ich befragte Teesätze und Kristallkugeln, um mir Gewissheit zu verschaffen.“ „Aber du hattest die Ahnungen,“ unterstellte ihm Vindictus. Ujat nickte langsam. „Ja... aber ich machte zu oft die Erfahrung, dass sie mehr Probleme bringen als lösen, und dass manchmal etwas Schlimmes gerade erst geschieht, weil ich versuchte, es zu verhindern. Vielleicht sagt die Gabe manchen von uns die Zukunft, damit wir besser darauf vorbereitet sind, nicht, damit wir sie ändern.“ „Hm, du hast früher selten über die Schule geredet. Wie lustig, dass du es jetzt tust,“ kicherte Vindictus. „Übrigens... wird der Tee nicht kalt?“ Er meinte den dritten Becher. In der Kanne blieb er länger warm. „Das ist kein Problem,“ versicherte Ujat. Er nahm den Becher und hielt ihn einem Neuankömmling hin. Vindictus fuhr herum, er hatte gar niemanden bemerkt. „Oh... Ihr seid es.“ „Hallo,“ sagte Thaumator. „Entschuldigt, dass ich mich so angeschlichen habe, aber ich wollte niemanden stören. Es hätte ja sein können, dass ihr hier schlaft. Ich habe Euch erst draußen gesucht...“ Er nahm den Tee entgegen. „Das ist Ujat, mein Sohn – Thaumator vom Zirkel,“ stellte Vindictus die beiden vor. Ujat und Thaumator nickten einander zu. Der Feuermagier schien zu dem Schluss zu kommen, dass er offen reden konnte. „Ich fürchte, mein Verbleib hier ist sehr fragwürdig. Ich geriet in ein kleines Duell mit dem jungen Fire.“ „Ja, ich hörte schon davon.“ „Soach war nicht erfreut darüber, dass ich seinem Sohn eine Lektion mit dem Kontaktbrenner verpasst habe. Vermutlich hat er mich nur deshalb nicht direkt rausgeworfen, weil er mich und meine Kollegen erst wenige Stunden vorher gefragt hat, ob wir noch etwas bleiben wollen.“ Das überraschte Vindictus. „Wirklich?“ Thamator drehte den Becher in seiner Hand hin und her. Der Inhalt dampfte wieder. „Ja. Ich dachte, Ihr hättet da was organisiert, aber Ihr scheint davon auch nichts zu wissen. Wie auch immer... als ich hierher kam, um Euch einen Lagebericht zu geben, begegnete ich noch einmal Fire. Stellt Euch vor... er verlangte, mein Schüler zu werden.“ Der Plan funktionierte ja besser als erwartet! „Ihr habt hoffentlich zugestimmt.“ „Natürlich nicht! Wo kämen wir denn da hin, wenn ich so mit mir umspringen ließe. Er regte sich ziemlich auf, also sagte ich ihm, wenn er es ernst meinte, solle er morgen erstmal mit zum Training kommen. Ich legte eine ziemlich frühe Zeit fest, bei Anbruch der Dämmerung. Bin gespannt, ob er das schafft.“ Vindictus rieb sich berechnend das Kinn. Noch war nicht alles verloren. „Nun... dann werde ich auch da sein. Das will ich mir ansehen. Wollt Ihr wieder schwimmen gehen?“ Thaumator verzog das Gesicht. „Nun ja... eigentlich dachte ich unter diesen Umständen eher an einen kleinen Lauf. Schafft Ihr das?“ „Das wird schwierig,“ gab Vindictus zu. „Ich hab kurze Beine und kann deshalb schlecht mithalten.“ Thaumator prustete in seinen Tee. „Irgendwie ist das nicht der Grund, den ich erwartet habe!“ „Nein? Seltsam. Allerdings könntet Ihr den Burschen ärgern, wenn Ihr schwimmen geht. Er mag das nicht besonders.“ „Vater, bleib morgen früh lieber hier und ruh dich aus, du hast ja noch eine lange Nacht vor dir,“ mischte sich Ujat plötzlich ein. Vindictus warf ihm einen Blick zu. „Du hast Recht, Junge...“ lenkte er ein. Wer war er denn, dass er jemandem widersprach, der die Zukunft sah? Kapitel 28: Rattenperspektive ----------------------------- Lily benutzte den Becher, den sie von Ujat bekommen hatte. Sie gab ihren Eltern von den regulären. „Der Weg hierher ist kürzer als zur Küche, und ich kenne mich mit den Kochutensilien besser aus. Hm, seltsam, dass Vindictus nicht da ist... er wollte doch die Nachtschicht machen...“ Da sie ihre Eltern nicht in die Ecke ließ, trug sie das Geschirr weiter vorne auf einen Tisch an der Seite, und jeder besorgte sich einen Stuhl aus dem Wartebereich. Vindictus beobachtete die Szene aus dem Bad heraus. Es war ziemlich eng, denn Ujat und Thaumator quetschten sich mit ihm in den Raum, der gerade groß genug war, dass ein Helfer dabei sein konnte, wenn ein Patient badete. „Wenn nun einer von denen mal muss?“ zischte der Feuermagier. „Es muss keiner!“ flüsterte Ujat. „Aber die trinken jetzt Tee!“ gab Thaumator zurück. „Warum verstecken wir uns überhaupt?“ „Still!“ mahnte Vindictus. Lily hatte die Teekanne gefunden – die Becher hatten die Männer mit in ihr Versteck genommen. Sie wusch sie aus, erhitzte neues Wasser und gab die Kanne ihren Eltern, damit sie eine Teemischung einfüllen konnten, die sie mitgebracht hatten. Petunia schüttete großzügig getrocknete Teile aus einem relativ großen Beutelchen. „Es tut mir leid, dass wir so einen schlechten Start hatten, Schatz,“ sagte sie mit liebreizender Stimme. „Wir wollten dir eigentlich ja helfen... hier, dieser Tee beruhigt und gewährleistet gute Nerven. Mit Honig schmeckt er besonders gut.“ Sie füllte mehrere Löffel von dem Süßungsmittel hinein – auch das hatte sie mitgebracht. Die Krankenstation besaß zwar Honig, doch Lily bot ihn nicht an. „Wir haben überreagiert, als wir erfuhren, dass es eine Blutfee sein könnte,“ drückte auch Lavender sein Bedauern aus. „Aber es gibt für alles eine Lösung.“ „Ja, ihr könntet einfach abreisen und euch nicht mehr in mein Leben einmischen,“ schlug Lily vor. „Wie wäre es, sagen wir, gleich morgen früh?“ „Ach, Kind, wir sind doch gerade erst zur Vernunft gekommen und reden endlich in Ruhe miteinander,“ winkte Petunia eilig ab. „Hier, probier den Tee. Der beruhigt die Gemüter. Lass uns besprechen, was zu tun ist.“ Sie schenkte eine Runde aus. „Nichts ist zu tun,“ beharrte Lily. „Ich warte einfach mal die Geburt ab! Aber vielleicht frage ich wirklich mal Gortz, ob er Blutspatron sein will...“ Sie griff nach ihrem Becher. Aus seinem Versteck sah Vindictus, dass Petunia den Mund aufriss, um energisch zu widersprechen, aber Lavender stieß sie mit dem Ellenbogen an. „Jetzt werden wir es ja sehen...“ murmelte Ujat dicht an seines Vaters Ohr. Als Lily den Becher an ihre Lippen hielt, zuckte sie zurück. „Aua, heiß...“ Die Bewegung bewirkte, dass sie etwas verschüttete und sich auch die Hand verbrühte. „Ach, verdammt... ich bin gleich wieder da...“ „Sie kommt hierher!“ ging es Vindictus auf. „Du hast gesagt, es muss niemand!“ „Sie muss ja auch nicht!“ erwiderte Ujat in einem lauten Flüsterton, dessen sich auch sein Vater befleißigte. „Das hab Ihr ja toll hingekriegt,“ kommentierte Thaumator. Er schaffte es, ganz leise zu sprechen, ohne zu flüstern. „Ich könnte vortäuschen, dass ich die ganze Zeit hier, äh, beschäftigt war,“ bot Vindictus an, doch er hatte kein Verlangen danach, sich so zu blamieren. Thaumator kicherte. „Lasst mich mal... wenn Ihr erlaubt...?“ Niemand protestierte, und als Nächstes bemerkte Vindictus, dass seine Perspektive sich seltsam änderte... er war immer klein, aber so klein nun auch wieder nicht. Außerdem fand er es kalt, was seltsam war, denn drei Männer in einem engen Raum strahlten eigentlich eine Menge Hitze aus, besonders, wenn sie Angst hatten, entdeckt zu werden. Appropos... was würden wohl die Feen denken, wenn sie ihn hier zusammen mit Thaumator und noch einem Mann entdeckten? Die Tür wurde nach innen aufgeschoben. Vindictus hob geblendet vom plötzlichen Licht eine Pfote vor die Augen. Moment... was?! Er stieß ein überraschtes Quieken aus. Lily sah nach unten. Hoffentlich fing sie nicht an zu schreien. Das tat sie nicht. Sie ging in die Hocke, so dass er einen Blick unter ihr Kleidchen erhaschte. Huh... wie unanständig von ihm. „Na, du, was machst du denn hier, kleiner Kerl!“ rief sie mit einer Stimme, als würde sie mit einem Kind sprechen. „Na los, husch, raus! Oh, da sind ja noch zwei. Ihr auch, los, oder ich muss Meras rufen. Dies ist eine Krankenstation!“ Ein Tier überholte Vindictus und quiekte auffordernd. Er verstand „Los, kommt!“ und vermutete, dass es Thaumator war. Er tippelte ihm nach und hörte, dass noch jemand hinter ihm war. Zu dritt huschten sie unter das nächste Regal. Im Bad hielt Lily ihre verbrühte Hand in eine Waschschüssel, wie er durch die offen stehende Tür erkennen konnte. Es schien nicht schlimm zu sein. „Lily? Was war denn da los?“ rief Lavender. Die junge Fee verließ das Bad schon wieder. „Nichts... nur eine Vulkanische Rattenfamilie. Wahrscheinlich haben sie sich aus den Höhlen hierher verirrt, wir haben unter dem Schloss einen Lavastrohm, wo sie sich wohlfühlen dürften. Aber es geht regelmäßig jemand runter, und dann sind die Zugänge offen. Gut möglich, dass sie da ins Schloss gekommen sind.“ Petunia wollte Tee nachschenken, wobei sie einen schnellen Blick mit ihrem Mann wechselte. „Warte,“ rief Lily. „Ich will etwas kaltes Wasser in die Kanne füllen, damit der Tee nicht mehr so heiß ist.“ Sie verschwand mit der Kanne im hintersten Bereich. In seinem Versteck konnte Vindictus Wasser hören und das Geklapper von Keramikgeschirr. Seine Rattenohren übertrafen die menschlichen bei weitem. Es klang, als würde Lily mehrere Gefäße öffnen und wieder verschließen. Seltsam. Er konnte aus seiner Perspektive leider nicht so gut erkennen, was genau sie tat, denn sie stand genau davor und er sah nur ihren Rücken und die Flügel. Also schaute er sich in der Zwischenzeit kurz nach den anderen um. Sie sahen aus wie Ratten, hatten aber Gesteinsstücke am ganzen Körper kleben, als wären sie vor kurzem aus einem Lavaei geschlüpft. „Eine Vulkanische Ratte?“ quiekte er die beiden anderen an. Er wollte eigentlich Thaumator ansprechen, wusste aber erst einmal nicht, welche der Feuermagier war, bis ihm die vernarbten Hinterpfoten der rechten Ratte auffielen. „Es ist ein Feuermonster, was erwartet Ihr?“ grummelte der Schuldige an dieser Gestalt in schnellen, leisen Tönen. „Horcht doch,“ piepste Ujat. Sie lauschten. Und nun fiel Vindictus auch der Geruch auf, oder besser, die Gerüche. Der Tee. Honig. Verschiedene medizinische Substanzen, Kräuter, frische Bettwäsche. Und noch etwas... Schweiß? Er sah, dass das Pärchen wieder Blicke austauschte, als wäre es ihnen unbehaglich, hier zu sein. Lily kam zurück. „Tut mir Leid, aber der Tee ist mir zu heiß. Ich schütte ihn noch einmal zurück und gieße mir dann neu ein, der ist ja dann kälter... so, passt gerade noch rein...“ Sie füllte ihren Becher neu. Es war noch immer der von Ujat. Als sie dieses Mal daraus trank, schien alles in Ordnung zu sein mit der Temperatur des Getränks. „Also, meine Liebe,“ nahm Petunia den Faden wieder auf. „Du solltest nach Hause kommen, dort können wir uns viel besser um dich kümmern. Wir können dich speziell nach Feenart versorgen, und das Kind... nun... es wird ohne Blutspatron ein normales Leben führen können.“ „Ich möchte das jetzt nicht entscheiden, bis zur Geburt kann doch noch viel passieren!“ teilte Lily ihnen mit. Ihre Mutter tätschelte ihre Hand. „Das verstehe ich doch. Gerade deshalb solltest du die Zeit bis dahin in Sicherheit verbringen.“ „Was für ein Geschleime ist das?“ quiekte Vindictus unter dem Regal. „Das nehme ich denen einfach nicht ab!“ „Wir sollten lieber irgendwohin gehen, wo ich uns zurückverwandeln kann,“ drängte Thaumator. „Ehe uns doch noch jemand unangenehme Fragen stellt. Dann könnt Ihr Eure wissenschaftlichen Studien an meiner Person vergessen.“ „Hört, hört,“ grinste Ujat sogar mit seinem Rattenmund. „Das ist wirklich ein interessanter Tee,“ bemerkte Lily. „Lasst ihr mir die Mischung da?“ „Oh ja, das hatten wir vor!“ Petunia reichte ihr den Stoffbeutel mit den getrockneten Zutaten und lächelte bis über beide Ohren. Lily nahm das Geschenk an sich, drückte es gegen ihre Brust und goss sich mit einer Hand Tee nach. „Danke... ich glaube, ich werde hier auf Vindictus warten, bestimmt musste er zu einem Notfall oder er macht gerade einen Kontrollgang. Bitte geht jetzt, ich muss nachdenken.“ „Aber wir könnten...“ begann Petunia, Lavender jedoch griff nach ihrem Arm und schüttelte den Kopf. Daraufhin gingen beide tatsächlich. Lily wartete, bis die Tür sich hinter ihnen schloss, dann verharrte sie noch ein paar Minuten regungslos, ehe sie zur Luft sprach: „Catherine. Bitte schick mir Crimson.“ Das fand Vindictus interessant... warum verlangte sie nicht nach Soach? Die beiden Kollegen schienen seine Neugier zu teilen, jedenfalls versuchten sie nicht zu entkommen, sondern kauerten sich ins Versteck und sahen zu. Wenig später erschien Crimson. „Lily! Ich hab Soach mitgebracht... er wollte mit dir reden, aber er stellte fest, dass deine Eltern bei dir waren, da hat er gewartet...“ „Was? Er hat uns aber nicht belauscht, oder?“ fragte sie mit alarmiert geweiteten Augen. Vindictus, Thaumator und Ujat duckten sich etwas tiefer in ihr Versteck. „Nein, er wollte nicht stören, hat sich aber Sorgen gemacht.“ „Nun gut. Hier.“ Lily reichte Crimson den Teebeutel. „Bitte stell sofort fest, aus was diese Teemischung besteht.“ „Ähm... okay. Was hat es damit auf sich?“ „Meine Eltern gaben mir das. Ich konnte nicht richtig riechen oder schmecken, was es enthält, weil so viel Honig drin war. Daher hab ich heimlich Ätsch-Bätsch-Kraut hinzugefügt.“ Crimson nahm eine Handvoll heraus, betrachtete es prüfend und schnüffelte daran. „Hm, manche Sachen kann man erkennen, aber ich werde etwas ausprobieren müssen, um sicher zu sein.“ Er runzelte die Stirn. „Scheint auf jeden Fall Süßdorn zu enthalten. Das dient nur einer Verbesserung des Geschmacks und wird oft für Medizin benutzt.“ „Sie sagten, es sei ein Beruhigungstee für gute Nerven oder so.“ Crimson nahm einen Schluck aus Lilys Tasse. „Bäh, das schmeckt ja nur noch nach Honig! Die meinten es wohl etwas zu gut. Ich geh in den Alchemieturm, da hab ich ein paar Substanzen für bestimmte Tests.“ „Ist gut. Hast du Vindictus gesehen? Er wollte meine Schicht übernehmen.“ „Bestimmt treibt er sich im Schloss herum und kontrolliert alles. Soll Cathy ihn suchen?“ „Oh verdammt,“ zischte Vindictus unter dem Regal. „Naja, Vater, es war deine Idee, dass wir uns im Bad verstecken,“ piepste Ujat. „Lieber nicht,“ wehrte Lily schnell ab. „Vielleicht ist er bei Dsasheera, das wäre peinlich...“ Crimson lachte. „Ja, auch wieder wahr. Also... Soach wartet draußen.“ „Okay, ich... gehe zu ihm.“ Die beiden wandten sich der Tür zu. „Los, hinterher,“ flüsterte Vindictus seinen beiden Begleitern zu. „Wenn Lily und Soach vor der Tür stehen bleiben, können wir kaum erklären, wie wir plötzlich hier drin auftauchen, also raus hier!“ Sie flitzten hintereinander an der Wand entlang. Es gab einen gefährlichen Moment, als Crimson eine der Flügeltüren nach außen drückte und sie jeden Moment wieder loslassen konnte. Vindictus rannte vor Thaumator und Ujat. Er beschrieb extra einen leichten Bogen, um vorsorglich der Tür auszuweichen, wenn sie zu schwang. Das erwies sich als ganz gut, denn tatsächlich ließ der Schlossherr los, sobald er draußen war, und das schwere Holz bewegte sich erst träge, dann schneller zurück in die Ausgangsposition. Vindictus sprang aus der Bahn und vor die andere Tür, die keine Gefahr bot, weil sie niemand bewegt hatte. „Huh, knapp,“ keuchte Ujat hinter ihm. Die feinen Rattenohren nahmen einen leisen Knall und ein abgehacktes Fiepen wahr. Vindictus verharrte und sah sich um. „Thaumator?“ Er war nicht da, nur Ujat kam hinter ihm zum Stehen. Die Tür war zu. Crimson eilte vermutlich zum Alchemieturm, während Lily sich Soach zu wandte, der auf dem Flur stand. Zum Glück schaute keiner von ihnen auf den Boden. Vindictus drücke sich gegen die Tür und versuchte, unter ihr hindurch etwas zu erkennen, aber seine Nase füllte sich mit dem Geruch des Tees und seine Augen hatten nicht die richtige Perspektive. Die Tür öffnen zu wollen war natürlich völlig sinnlos. Besser, er verschwand von hier, ehe ihn doch noch jemand sah. Kaum beendete er den Gedanken, als er plötzlich durch die Luft flog. Glücklicherweise hielten Vulkanische Ratten so einiges aus, auch harte Landungen auf Steinboden. Er sah schemenhaft Meras auf sich zuspringen, dann schlug ihre Tatze nach ihm und er flog erneut. Benommen blieb er liegen und wagte es nicht, sich zu bewegen, denn Meras war schon wieder zur Stelle und beschnüffelte ihn. Anscheinend war er nicht mehr interessant genug, wenn er sich nicht bewegte, oder aber die Katze zog es vor, Soach hinterherzulaufen, jedenfalls ließ sie plötzlich von ihm ab. „Ich bin zu alt für sowas,“ fiepte Vindictus kläglich. Er richtete sich schwerfällig auf. „Ujat?“ „Vater, wo bist du?“ quiekte es von links. Vindictus lief in diese Richtung, kauerte sich jedoch schnell ganz klein an die Wand, als ein paar Kinder vorbei kamen. Er ließ sie vorüber rennen. Sie lachten ausgelassen, und der Geruch von Essen drang ihm in die Nase. Allerdings lief ihm nicht das Wasser im Munde zusammen, denn Vulkanische Ratten fressen bevorzugt Magmabrocken. „Seht mal!“ erkannte er Saambells Stimme. „Eine Maus!“ „Wo denn? Wo?“ Diese Stimme gehörte Milla. Vindictus wagte nicht zu atmen. „Ich fange sie !“ hörte er Dharc rufen. „Da, seht ihr? Das ist aber eine Ratte, keine Maus.“ Ujat quiekte lauter, als Vindictus ihn bisher gehört hatte. „Vater, die haben mich geschnappt!“ „Warum hat sie Steine am Körper?“ fragte Saambell. „Keine Ahnung... Wir tun sie in eine Kiste und fragen morgen Crimson, was das für eine ist,“ beschloss Dharc. „Ujat! Ujaaat!“ fiepte Vindictus und sah sich hektisch um. Nach einem Moment der Orientierung konnte er den Schritten der Kinder folgen. Doch schon bald musste er die Verfolgung aufgeben, denn sie hopsten gut gelaunt voran, während ihm die Puste ausging. „Ujat...“ Er versuchte, sich zurück zu verwandeln, doch sein Verstand schien vergessen zu haben, wie Magie funktionierte. Ihm fehlte auch die Erfahrung mit Tierverwandlungen. Manche Magier verwandelten sich dauernd in etwas, aber als Heiler und Necromant arbeitete Vindictus meist im Hintergrund, wo die Notwendigkeit einfach nicht bestand. Hinzu kam noch, dass er diese Verwandlung nicht selbst ausgeführt hatte, das war immer schwieriger zu beheben als etwas, das der Magier sich selbst antat. In Ermangelung angenehmerer Alternativen versuchte er erneut, sich zu orientieren. Aus der Rattenperspektive kam ihm das Schloss ganz anders vor, vor allem Größer. Er erkannte kaum etwas wieder. Hatte er sich am Ende noch verlaufen? Er schnüffelte, doch all die Gerüche sagten ihm nichts. Schließlich erkannte er seine Mitgeschöpfe ja normalerweise nicht am Geruch. Er irrte umher auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Er befand sich in irgendeinem Gang, aber wohin der führte... möglicherweise in einen Bereich des Schlosses, wo er sonst nie hinkam. Ja... er hatte sich verlaufen. Dann fand er sich auf einmal an einer Treppe wieder und erkannte erfreut, dass er die Haupthalle wiedergefunden hatte. Von hier aus konnte es doch zur Krankenstation nicht mehr weit sein, dann konnte er bestimmt Thaumator finden, der sich inzwischen zurückverwandelt haben dürfte – falls die Tür ihn nicht erschlagen hatte. Er trippelte in die Richtung, in der sich sein Ziel befinden musste. Nun drang auch wieder der Geruch dieses sehr aromatischen Tees von den Feen in seine Nase. Er musste ganz in der Nähe sein! Seine Freude verursachte leider, dass er nicht aufpasste, und eine große Hand schnappte ihn. Er wand sich quiekend im Griff starker Finger, die ihn unglücklicherweise so hielten, dass er nicht zubeißen konnte. „Vanis, was machst du denn da?“ sagte jemand. „Ich hab einen Snack gefunden,“ lachte der Angesprochene. Vindictus konnte den Zirkelvorsitzenden erkennen, als dieser ihn vor sein Gesicht hielt. Sicher hatte er nur gescherzt, nicht wahr? Der andere war Marquis Belial, nach den Flügeln zu urteilen. „Du isst nicht wirklich Ratten, oder? Das ist ja eklig, wer weiß, wo die sich rumgetrieben hat!“ „Hm, diese kann man nicht essen, das ist eine Vulkanische Ratte,“ grummelte Vanis. „Zu hart, taugt bestenfalls als Drachenfutter. Aber seltsam... sie riecht, als käme sie aus einem Krankenzimmer. Ob die hier Versuchsratten haben?“ Vindictus baumelte plötzlich zwischen zwei Fingern und musste befürchten zu fallen, daher verhielt er sich ruhig und sah den Unterweltler ängstlich an, während dieser etwas genauer an ihm schnüffelte und ihn betrachtete. „Scheint auch nicht mehr das jüngste Exemplar zu sein. Das Fell ist schon ganz grau und die Steine auf dem Rücken wirken brüchig.“ Vanis schnüffelte noch einmal und legte die Stirn in tiefe Falten. „Riecht fast... hm... menschlich! Verwandelt sich nicht Thaumator manchmal in sowas? Aber das ist er nicht.“ Vindictus fiepte ertappt, aber im Prinzip konnte es im nur recht sein, wenn ihn jemand erkannte, deshalb versuchte er zu nicken und sich irgendwie verständlich zu machen. „Ich bin Vindictus, bringt mich zu einem Magier!“ „Kannst du verstehen, was die Ratte sagt?“ erkundigte sich Belial in leicht spöttischem Ton. „Nicht wirklich,“ sagte Vanis ernst, „Aber es klang irgendwie auch nicht wie andere Ratten. Als ob diese hier eine fremde Sprache spricht. Und glaub mir, ich kenne Ratten.“ „Wenn du es sagst.“ „Lass ihn uns zu Sage und Cosmea bringen, die können sich das Vieh mal ansehen. Guck mal, sie ist jetzt ganz brav.“ Vanis bewegte seine Hand so, dass Vindictus darauf sitzen konnte. Die Ratte machte Männchen und wackelte mit den Barthaaren. „Genau, bringt mich zu einem Magier, egal welchem!“ wiederholte er in quiekendem Rattisch. „Vielleicht ist es auch nur eine zahme Ratte von einem der Schüler,“ gab der Marquis zu bedenken. „Aber schaden kann es wohl nicht...“ Vanis setzte Vindictus auf seine Schulter. „Genau. Gehen wir.“ Vindictus nahm den Geruch von Waldboden wahr und irgendwie nach... Tierfell? Er hielt sich krampfhaft mit seinen kleinen Rattenkrallen an der Kleidung des Unterweltlers fest. Wie erklärte er das bloß, wenn er zurückverwandelt wurde? Ein letztes Mal sah er sich sehnsüchtig nach Thaumator um, aber derjenige, der die ganze Sache ohne Aufsehen hätte klären können, zeigte sich nicht. Hoffentlich ging es ihm gut. Vindictus glaubte sich zu erinnern, Geräusche gehört zu haben, denen zufolge der Feuermagier in Rattengestalt von der Tür getroffen und in die Krankenstation zurück geschleudert worden war, aber theoretisch konnte die zufallende Tür ihn auch zerquetscht haben. Er befand zwar, dass es dann Spuren gegeben hätte, aber vielleicht war ihm in seiner Aufregung etwas entgangen. Im Nachhinein traute er seiner Erinnerung nicht mehr so ganz. Darüber hinaus sorgte er sich um seinen Sohn, aber zumindest wusste er ihn in den Händen von Dharc, Milla und Saambell, die hoffentlich vernünftig mit einem Tier umzugehen wussten. Darum konnte er sich kümmern, sobald er seine wahre Gestalt zurück bekam. Indessen marschierten Vanis und Belial nach draußen zum Strand, wo das Lagerfeuer plötzlich eine seltsame Faszination auf Vindictus ausübte. Er wollte am liebsten hineinkriechen und sich zwischen die brennenden Äste kuscheln. Seine Rattenart lebte eigentlich in aktiven Vulkanen, was auch erklärte, warum er es im Schloss relativ kalt fand. Er widerstand mit einiger Mühe der Versuchung und blickte nach vorne. Vanis und Belial suchten zwar nach Sage oder Cosmea, allerdings schienen sie es dabei nicht besonders eilig zu haben. Sie trafen zwischendurch die ein oder andere Amazone und flirteten bereitwillig mit ihr, aber die Damen schienen sich noch nicht recht für jemanden entscheiden zu wollen. Eventuell mochten sie auch keinen Unterweltler mit einer Ratte auf der Schulter, allerdings sollten Tiere bei Amazonen kein Hindernis sein, im Gegenteil. Sie ritten schließlich auf Vögeln. Da fiel ihm ein... hoffentlich trafen sie nicht auf Dsasheera, denn sie würde ihn sicherlich erkennen, und diese Peinlichkeit wollte er sich unbedingt ersparen. Belial verabschiedete sich von seinem Kollegen, um sich zu einer anderen Gruppe zu gesellen, während Vanis weiter nach den Magiern suchte. Doch er wurde wieder aufgehalten, denn jemand bot ihm einen Teller mit gegrilltem Fleisch an, den er sehr gerne annahm. Er verspeiste das Essen genüsslich. Vindictus indessen saß wie auf heißen Kohlen, was in seiner jetzigen Gestalt an Bedeutung verlor, denn heiße Kohlen konnten einer Vulkanischen Ratte nichts anhaben. Ungeduldig sah er sich um, doch der Zirkelvorsitzende fand immer wieder jemanden, mit dem er ein paar Sätze sprach, nahm schließlich noch ein Glas Wein von jemandem an und unterhielt sich kurz mit Lord Ishzark. Am Ende quiekte Vindictus ihm verärgert ins Ohr. „Oh, da fällt mir ein, ich muss unbedingt Sage oder Cosmea finden, entschuldigt mich,“ verabschiedete sich Vanis endlich und drängte sich etwas zielstrebiger durch die Leute. Dabei stieß er fast mit einem Mann in einer grünen Robe zusammen, der ebenfalls jemanden zu suchen schien. „Oh, Ihr seid es, Fawarius,“ erkannte er ihn. „Wo habt Ihr denn gesteckt?“ „Lord Crimson sandte mich zu den ehemaligen Arae-Ländereien, um seine Flagge dorthin zu bringen. Ich habe dann noch etwas im Alchemielabor erledigt, und jetzt suche ich nach Thaumator,“ gab der einäugige Alchemist Auskunft. „Ist Euer Sohn zurück?“ erkundigte Vanis sich. „Noch nicht, aber die Eisigen Inseln sind weit weg. Es dauert, bis die Botschaft dort ankommt und er die Reise hinter sich hat. Ich bin zuversichtlich, dass er wohlbehalten zurückkehren wird.“ „Sehr gut, das beruhigt mich auch. Ich muss weiter – bis später.“ Zu Vindictus‘ Erleichterung hielt Vanis sich jetzt nicht mehr lange irgendwo auf. Doch bevor er Cosmea oder Sage finden konnte, kam Crimson auf ihn zu, und in seiner Begleitung befand sich tatsächlich – Thaumator! Der Mann wirkte etwas erschöpft, schien aber auf den ersten Blick keinen Schaden davongetragen zu haben. „Hallo, Vanis, wir haben dich gesucht, oder besser, die Ratte,“ sagte Crimson. Thaumator streckte eine Hand aus und ließ Vindictus zu sich hinüber krabbeln. „Ich erzähle es dir später, Vanis,“ murmelte er nur. Und an Crimson gewandt: „Ich bringe ihn auf die Krankenstation und verwandle ihn dort zurück.“ „Ja, tu das,“ nickte der Schlossherr und wandte sich zum Gehen. „Ich muss wieder zurück in den Alchemieturm, dort habe ich eine Arbeit unterbrochen.“ „Fawarius hat nach dir gesucht,“ merkte Vanis an, bevor auch Thaumator sich umdrehte. „Falls du ihn nochmal siehst, richte ihm bitte aus, dass wir uns beim Essen treffen können, vorher habe ich vermutlich keine Zeit,“ bat der Feuermagier. Endlich gelang es ihm, sich loszueisen und zurück ins Schloss zu eilen. „Habt Ihr Ujat auch gefunden?“ fiepte Vindictus aufgeregt. „Habt Ihr dem Jungchen sagen müssen, was los ist?“ Thaumator setzte ihn auf seine Schulter. Er roch nach trockenem Holz und einer dieser Duftmischungen, die im Kleiderschrank für frischen Duft sorgten. „Ich versteh kein Rattisch, wenn ich ein Mensch bin, aber ich habe Crimson gebeten, Euch mit Hilfe des Schlossherzes zu suchen. Natürlich musste ich ihm erzählen, dass wir drei herumgealbert haben, bis es schließlich zu einem kleinen Verwandlungsexperiment kam, nämlich ob man Finsternismagier in Feuergeschöpfe verwandeln kann. Leider wurden wir dann durch einen dummen Zufall voneinander getrennt. Es war ziemlich peinlich, besonders, da Crimson mich eh nicht gerade mag.“ „Hä?“ Vindictus fragte sich erst, was der Kollege da redete, bis ihm aufging, dass Thaumator nicht frei sprechen konnte. Wenn er das Schlossherz bemüht hatte, bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieses ihn noch verfolgte und belauschte. Auf der Krankenstation angekommen, sah er zu seiner Erleichterung Ujat auf einem der Betten, eingewickelt in die Decke. Thaumator setzte ihn auf dem Nebenbett ab. Er bewegte kurz die Hand, was sehr lässig aussah, und dann nahm die Welt wieder ihr gewohntes Aussehen an, betrachtet aus der Perspektive eines kleinen, alten Mannes. Selbiger atmete erleichtert auf. Die Kleidung war zum Glück auch noch da, das traf nicht auf alle Verwandlungen zu. „Hallo, Vater,“ sagte Ujat. „Ich konnte als Ratte nicht mehr so gut hellsehen, sonst hätte mich niemand erwischt. Und ich hab gefroren, weil diese Kinder mich in eine Holzkiste gesperrt haben. Da war nichtmal Heu drin.“ „Wir hätten einfach hier bleiben sollen,“ murmelte Vindictus. „Uns zurückverwandeln, wenn keiner guckt, fertig. Zur Not hätten wir halt warten müssen, bis keiner mehr in der Nähe ist.“ „Ach... nächste Woche schon werden wir davon erzählen, als wäre es ein Jungenstreich in unserer Kindheit gewesen,“ winkte Thaumator ab. Doch sein Mund wirkte angespannt und lächelte nicht, also wüsste er auch, wo der Spaß aufhörte. Vindictus ließ seine Schuhe fallen. Er zog die Decke des Krankenbettes über sich und hoffte inständig, dass es in der Nacht keine Notfälle mehr gab. „Kriecht einfach in das dritte Bett, Thaumator,“ murmelte er müde. „Dann werdet Ihr auch rechtzeitig zum Training geweckt, weil Dsasheera die Frühschicht hat.“ „Das würde ich gerne machen, aber ich bin im Zirkel des Bösen und deshalb---“ „Jetzt hört auf mit dem Zirkelgelaber,“ grummelte der Heiler. „Schlaft.“ Er bekam die Augen einen Spalt breit auf und konnte gerade so erkennen, dass der andere gehorchte und nur noch schnell Schuhe und Jacke auszog. „So ist es recht,“ lobte er. „Drei alte Lausbuben pennen auf der Krankenstation... hehehe.“ Er gestattete seinem Geist, in den Schlaf abzudriften. Zum Glück hatte er morgen keine Verabredung zu früher Stunde... Kapitel 29: Honigsüß -------------------- Soach besuchte Crimson oben im Alchemieturm, obgleich das Spektakel am Strand noch andauerte. Aber er musste jetzt erstmal sein Gespräch mit Lily verdauen. Um die Arbeit nicht zu unterbrechen, trat er leise ein und an den Tisch heran. Im Raum hing der Geruch von gekochten Kräutern. Der Schlossherr hatte den Inhalt des Teebeutels, den Lilys Eltern mitgebracht hatten, auf dem Arbeitstisch ausgebreitet und so gut es ging auseinander sortiert. Manche Bestandteile ließen sich nur schlecht identifizieren, weil die Blätter nicht im Ganzen vorkamen. Crimson brühte sie auf und gab ein weißes Pulver hinzu, worauf sich der Aufguss orange verfärbte und Auskunft darüber gab, um was es sich handelte. Er notierte das Ergebnis. „Lily hat mir erzählt, dass sie misstrauisch ist wegen des Tees,“ sprach Soach seinen Freund an. „Sie scheint sich geirrt zu haben,“ entgegnete dieser. „Meines Wissens sind all diese Kräuter und Beeren nicht gefährlich, ich habe Cathy schon um Informationen gebeten und sogar selber nochmal nachgeschlagen, obwohl Cathy jedes Buch kennt, das ich je gelesen habe.“ „Könnte eine Gefahr für ihr Baby bestehen?“ „Ich glaube nicht, aber da frage ich lieber Dsasheera... das heißt, ich lasse Lily Dsasheera fragen, mir antwortet sie möglicherweise gar nicht.“ Crimson blickte von seiner Arbeit auf. „Wie lief es bei dir? Deinem Gesicht nach zu urteilen, nicht so gut.“ Soach setzte sich auf den Sessel, den Crimson seit etwa einem Jahr hier hatte, obwohl solche Möbel eigentlich nichts in einem Alchemielabor zu suchen hatten. Aber er erwies sich immer wieder als praktisch. „Stimmt. Lily hat immer noch Bedenken, eine Blutfee großzuziehen. Ich musste ihr versprechen, keinen Blutspatron zu organisieren, aber sie will es sich zu überlegen. Vielleicht wird sie anders entscheiden, wenn es dem Baby schlecht geht, weil es Blut braucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich das lange ansehen kann. Es... muss grausam sein, eine Blutfee ihrer wahren Bestimmung zu berauben. Was, wenn das tödlich enden kann?“ „Ich dachte, es sei Gang und Gäbe, dass Blutfeen nicht wissen, was sie sind, weil die Eltern es entweder auch nicht wussten oder absichtlich dafür sorgen, dass diese Gabe nicht hervorkommt. Anscheinend überleben die Kinder das, sind aber anfangs krank.“ „Ja, oder so sieht es aus. Wie kann man das absichtlich zulassen? Und ich bin sicher, dass Kinder daran sterben können, es wird nur nicht dokumentiert, weil es dann einfach heißt, es sei an einer Krankheit gestorben.“ Soach fuhr sich seufzend durch die Haare. „Dies ist ein echtes Streitthema bei uns. Nicht wegen Lavender und Petunia, sondern weil Lily sich darum sorgt, dass eine Blutfee meistens ein schlimmes Ende nimmt, wenn sie ihre Kräfte entfaltet.“ „Aber das liegt an all den Vorurteilen,“ meinte Crimson. Soach nickte. „Ja, das habe ich ihr auch immer wieder gesagt, aber Lily findet, dass wir dagegen nichts tun können, schließlich können wir die Meinung der Leute nicht ändern. Ich hingegen würde gerne beweisen, dass eine Blutfee gut sein kann, denn dann ändert sich vielleicht der schlechte Ruf, den sie haben. Es ist natürlich ein gewisses Risiko, schließlich kann das auch anders laufen, also... dass es wirklich eine böse Blutfee wird...“ Crimson lächelte. „Zweifelst du, mein Chaosmagier?“ Soachs linke Augenbraue zuckte. „Mach dich nicht über mich lustig. Ich bin nicht... ich kann nicht mehr... ich meine...“ „Du kannst es nicht aussprechen,“ bemerkte Crimson. „Also hast du noch Hoffnung.“ „Ich weiß nicht. Eher weigere ich mich einfach nur, mein Schicksal zu akzeptieren. Hoffnung hätte ich das jetzt nicht genannt.“ „Kommt auf‘s gleiche raus.“ Crimson ließ seine Arbeit erst einmal ruhen und setzte sich auf die Fußbank, die zu dem Sessel gehörte. „Weißt du... zeitweise denke ich, dass du dich damit abfinden solltest, aber dann wieder... nun ja. Es ist jetzt erst gut eine Woche her. Vielleicht muss du dich noch etwas erholen, und dann kannst du, ich weiß nicht, nach einer Lösung suchen... Ich meine, wenn dieser ganze Trubel vorbei ist, die Leute vom Zirkel weg sind und geklärt ist, dass du als Rehabilitand bei mir bleibst.“ Soach seufzte. „Da erinnerst du mich an was. Die Amazonen sind ja wahrscheinlich nur der Anfang. Vielleicht wollen mich einige von den anderen ja auch noch umbringen.“ „So ist das, wenn man deine Vergangenheit hat, mein Lieber.“ Der Prinz der Eisigen Inseln schwieg dazu. Wenn er sich in die Lage der Geschädigten versetzte, konnte er es sogar verstehen. „Habe ich es verdient?“ fragte er Crimson leise. „Ich empfinde keine echte Reue für meine Taten, sondern übernahm lediglich vor dem Gericht des Zirkels die Verantwortung dafür – in dem Wissen, dass die mich vielleicht hinrichten.“ Crimson schaute grübelnd an die Wand. „Nun... du weißt, dass du Schuld auf dich geladen hast, deshalb warst du bereit, dafür zu sterben, oder? Das könnte eine Form der Reue sein, auch wenn sie sich nicht in Form von Gewissensbissen auswirkt.“ „Vielleicht hast du Recht,“ stimmte Soach zu. „Vielleicht ist es bei Chaosmagiern so.“ Er seufzte und lehnte sich tiefer in den Sessel. „Damals wollte ich lieber sterben, als ausgebrannt zu werden. Vielleicht habe ich aber genau das verdient, weil es mich härter trifft als der Tod, und deshalb kam es so. Das Schicksal wartete, bis ich bereit war, mich einem solchen Urteil zu stellen...“ „Trifft dich die Ausbrennung wirklich härter als eine Hinrichting?“ hakte Crimson nach. „Du hast doch um dein Leben gekämpft, als du die Chance hattest zu sterben.“ „Das war reiner Trotz,“ redete Soach sich heraus. „Ich habe es Arae nicht gegönnt.“ Sie saßen eine Weile schweigend da, bis es an der Tür klopfte. „Das wird Fawarius sein,“ sagte Crimson. „Cathy hat ihn herbestellt, weil ich seine Meinung hören will. Soll ich ihn lieber auf später vertrösten?“ Soach winkte schnell ab. „Ach was... doch nicht wegen mir! Außerdem will ich ja auch, dass dieser Tee untersucht wird.“ „Nun gut.“ Crimson wandte sich zur Tür und rief: „Herein!“ Tatsächlich trat der ältere Alchemist ein. „Ihr habt mich rufen lassen, Lord Crimson.“ „Au weia, nicht so förmlich!“ Crimson stand auf und ging zurück an seinen Arbeitsplatz. „Bitte kommt mal her und seht Euch das an. Ich habe diese Teemischung untersucht. Hier sind meine Ergebnisse. Aber ich hätte gerne Eure Meinung gehört.“ Fawarius betrachtete die Versuchsanordnungen, untersuchte die Kräuterhaufen und überflog die Aufzeichnungen. „Zu welchem Zweck tut Ihr das?“ „Lily hat diesen Tee von ihren Eltern erhalten. Sie befürchtet, dass etwas darin sein könnte, das dem ungeborenen Kind schadet.“ „Das könnte man meinen, wenn Süßdorn drin ist, das wird gerne benutzt, um verräterische Gerüche zu verbergen,“ nickte Fawarius. „Ich persönlich habe es immer verwendet, damit mein Sohn seine Medizin nimmt, als er noch klein war.“ „Bitte überprüft meine Arbeit und schaut, ob Ihr vielleicht mehr herausfinden könnt. Möglicherweise regen wir uns umsonst auf, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher,“ bat Crimson. Der stolze Crimson suchte die Hilfe eines Kollegen, um Lily zu helfen! Soach wurde es ganz warm ums Herz. Doch dies wurde bald wieder übertüncht von düsteren Gedanken. Wenn es nun tatsächlich sein Schicksal war, seine Magie zu verlieren, als Strafe für seine Untaten? Er hatte der Magie versprochen, nach einem Weg zu ihr zurück zu suchen, aber verschwendete er nicht sein Leben, wenn er darauf bestand, ein Magier zu sein? Vielleicht sollte er lieber akzeptieren, dass es aus war damit, und statt dessen ein guter Familienvater sein. Immerhin bekam er wahrscheinlich eine Blutfee mit Lily. Das allein war als Problem groß genug. Er beobachtete die beiden Alchemisten bei der Arbeit. Genau genommen arbeitete jetzt Fawarius, und Crimson brachte ihm manchmal Substanzen, die er verwenden wollte. Zwischendurch fachsimpelten sie über Themen, bei denen Soachs Aufmerksamkeit abdriftete, weil er davon nicht genug verstand. Somit grübelte er wieder einmal über sein Schicksal nach. Ein Chaosmagier fragt nicht warum, es sei denn, die Suche nach dem Grund löst das Problem. Aber in diesem Fall gilt es wohl einfach, eine Entscheidung zu treffen... Soll ich mich gegen die Magie entscheiden? Um dann was zu werden? Krieger? „Dann kommt Ihr zum gleichen Ergebnis,“ drang Crimsons Stimme in sein Bewusstsein. „Ich kann Lily also Entwarnung geben.“ „Warum kam sie eigentlich darauf, dass ihre Eltern dem Baby etwas antun wollen?“ fragte Fawarius. „Sollten sich Eltern nicht alles Gute für ihr Kind wünschen?“ „Ja, sollte man meinen. Ihr hättet diese Leute erleben sollen! Es gefällt ihnen nicht, wer der Vater ist,“ antwortete Crimson. „Befürchten sie eine Blutfee?“ „Ihr... wisst von Blutfeen?“ „Sicher. Ich habe für einen Unterweltler gearbeitet. Die alte Lady Arae, Edehs Mutter, war sogar Blutspatronin einer Blutfee.“ Bei diesen Worten sprang Soach auf. „Was sagt Ihr da? Kanntet Ihr diese Frau? Und die Blutfee?“ „Ja, ich kannte die verstorbene Lady,“ bestätigte Fawarius. „Ich traf auch einmal ihren Schützling. Wenn man es nicht weiß, sieht man es einer Blutfee nicht an. Es ist nicht so, als hätten sie Vampirzähne oder dergleichen. Bestenfalls eine etwas unheimliche Aura für eine Fee.“ „Dann könnte mein Kind auch als Blutfee ganz einfach unerkannt bleiben?“ „Davon könnt Ihr ausgehen.“ Diese Enthüllung war ein Lichtblick. „Was für Kräfte haben Blutfeen denn?“ Fawarius hob abwehrend die Hände. „Tut mir Leid, aber das weiß ich nicht. Nur hat es wohl mit Blut zu tun. Deshalb ja auch der Name. Naja... und weil sie als Baby Blut trinken müssen. Aber später fallen sie überhaupt nicht auf, wenn sie ihre Kräfte nicht einsetzen.“ „Ich wüsste allerdings gerne mal, was das für Kräfte sind,“ beharrte Soach. „Immer ist nur von speziellen Fähigkeiten einer Blutfee die Rede, aber es scheint niemanden zu geben, der darüber genauer Auskunft geben kann – etwa, ob diese Feen sich in Raubtiere verwandeln können oder so.“ „Naja, vermutlich ist das auch individuell verschieden, könnte ich mir vorstellen,“ warf Crimson ein. „Allerdings ist anzunehmen, dass es ein paar Sachen gibt, die jede kann, und dann einige persönliche Fähigkeiten... wie wenn man Magier ist.“ „Ich wünschte nur, es gäbe ein Buch, das diese Sachen auflistet,“ meinte Soach. „Dann könnten wir uns schonmal darauf einstellen.“ „Nun ja... ich schlage vor, dass wir Lily das Ergebnis mitteilen gehen. Sie wird erleichtert sein,“ beschloss Crimson. Soach ging zur Tür, hielt dort jedoch inne. „Fawarius... könntet Ihr mir Kampfalchemie beibringen?“ Der Alchemist hob die Augenbraue über dem verbliebenen Auge. „Sicher... aber ich hatte eigentlich erwartet, dass Lord Crimson sich dafür interessiert.“ „Ich habe gar nicht mehr darüber nachgedacht,“ fiel es Crimson auf. „Ich kann auch zwei Personen unterrichten, wenn Ihr das wünscht,“ schlug Fawarius vor. „Dann muss ich nicht alles zweimal erklären. Und es wäre besser, wenn Ihr es jeweils von mir hört, als wenn einer von Euch es dann dem anderen zeigt. Bei mir habt Ihr, wenn ich das sagen darf, eine erfahrenere Quelle.“ Soach tauschte einen Blick mit Crimson aus. „Gut... machen wir es so. Ich bin nicht sicher, ob das meine Sache ist, aber ich möchte es ausprobieren.“ „Gut, dann findet bitte einen Zeitraum, den wir drei dafür nutzen können.“ Er zögerte einen Moment. „Ich finde auch... wenn es Euch recht ist, können wir die förmliche Anrede weglassen. Aber ich bin hier nur Gast, also entscheidet Ihr...“ „Ihr seid der Älteste... insofern soll es uns recht sein,“ nickte Crimson. Zusammen gingen die drei Männer die Treppen hinunter und suchten Lily. Die Fee hielt sich draußen etwas abseits vom Lagerfeuer auf und kaute auf etwas Gemüse herum. Sie gingen zu ihr und berichteten, was sie herausgefunden hatten. Crimson gab ihr seine Aufzeichnungen, damit sie sich zusätzlich ein eigenes Bild machen konnte. „Am besten fragst du Dsasheera, ob vielleicht was dabei ist, das deinem Kind schaden könnte, sie weiß das wahrscheinlich besser als wir. Uns ist jedenfalls nichts Verdächtiges aufgefallen.“ Lily steckte die Notizen erst einmal ein, denn es war für sie ohnehin zu dunkel zum Lesen. „Ich sehe mir das in Ruhe an, jetzt ist es gerade ungünstig... danke für eure Nachricht. Hm, seltsam. Ich benutzte einen Becher, den mir Ujat gegeben hat. Er soll die magische Eigenschaft haben, dass er mich vor Schaden bewahrt.“ „Also war das der Grund, warum du dachtest, mit dem Tee wäre etwas nicht in Ordnung?“ horchte Soach auf. „Nun ja... ich fand den Tee viel zu heiß, aber meine Eltern anscheinend nicht. Ich dachte, das sei ein Zeichen gewesen. Vielleicht aber auch nur Zufall,“ überlegte sie. „Ich habe die Mischung oben gelassen, aber ich bin dafür, dass wir den Tee mal in den Becher füllen und nachprüfen, ob sich das Ergebnis wiederholt,“ sagte Crimson. „Wenn das ein Artefakt von Ujat ist, sollten wir dies nicht ignorieren.“ „Dann sollten wir uns morgen vor dem Frühstück auf der Krankenstation treffen, wenn die Nachtschicht zu Ende ist. Dann kommt auch Dsasheera und kann uns vielleicht helfen,“ entschied Lily. Die Männer nickten zustimmend. Während sie sich unterhielten, kam eine Amazone der Gruppe nahe. Es war die rotblonde. Sie schlich um die Männer herum und sah sich jeden genau an. Schließlich drängelte sie sich zwischen Soach und Fawarius in den Kreis. „Hallo Crimson!“ rief sie. Dann sprach sie Lily an. „Deiner?“ Sie deutete auf Soach. An dieser Stelle war Soach froh, dass er mit der Fee gesprochen und den Streit geklärt hatte. Allerdings zögerte sie dennoch und warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Ich würde sagen, ja,“ antwortete sie schließlich. Soach atmete auf und zog sie enger an sich. Die junge Kriegerin nahm das schulterzuckend zur Kenntnis. „Dann ist dieser aber frei!“ Sie klemmte sich an Fawarius‘ Arm. „Hallo. Ich bin Ellaira!“ „Ähm... freut mich.“ Der grün gekleidete Magier wusste anscheinend nicht so recht, auf was er sich gerade einließ. Crimson verschränkte die Arme vor der Brust. „Bring sie ja nicht zum Weinen, sonst mach ich dir Feuer unterm Hintern. Sie ist nämlich meine Schwester!“ Während Fawarius‘ Mine zu einem verwirrten Ausdruck wechselte, setzte Ellaira ein spöttisches Grinsen auf. „Du benimmst dich schon so richtig wie ein großer Bruder.“ „Dir ist klar, dass sie eine Amazone ist?“ gab Soach dem Magier einen Hinweis. „Oh, ähm... bin ich dafür nicht zu alt?“ stammelte Fawarius. Ellaira kuschelte sich an seine Brust und fuhr mit dem Zeigefinger ein imaginäres Muster auf seiner Robe nach. „Ein erfahrener Mann ist für den Anfang gar nicht schlecht.“ „Wie viele hast du heute eigentlich schon angegraben?“ neckte Crimson sie. „Ich kann mich erinnern, dass du hinter Mava hergelaufen bist.“ „Oh, ja.“ Ihr Tonfall wechselte zu sehr neutral. „Er ist mir entkommen. Ganz fieser Trick.“ „Du hast uns nie gesagt, ob du eine feste Frau hast, Fawarius“ bemerkte Soach. „Äh, Nizahrs Mutter und ich, wir sehen uns ab und zu, sind aber nicht mehr zusammen,“ gab der Alchemist zögerlich Auskunft, was sicherlich nicht dazu beitrug, Ellaira loszuwerden. So eilig schien er es damit aber auch nicht zu haben. Da inzwischen die Nacht fortgeschritten war, hielten sich nicht mehr so viele feiernde Personen draußen auf. Die älteren Schüler, ein paar Lehrer und Lord Genesis liefen noch herum. Sie fütterten ab und zu das Legerfeuer, damit es noch eine Weile brannte, aber es flackerte nicht mehr so hoch wie zu Anfang. Nur gelegentlich grillte sich noch jemand etwas über den Flammen. „Ich glaube, ich hatte gar kein Abendessen,“ bemerkte Soach. „Ich auch nicht,“ schloss sich Crimson an. „Kümmern wir uns um die Reste?“ Sie suchten die Tische nach ein paar letzten Stücken des Bratens ab aßen sie kalt. Ein paar Obstbeilagen fanden sich auch noch, nicht zu vergessen der Wein. Fawarius und Ellaira setzten sich bald ab, aber Crimson, Soach und Lily hockten noch eine Weile im Sand und starrten ins Feuer. Insgesamt hing eine sehr positive Stimmung in der Luft. Die Schlossbewohner hatten den Tag genossen, und die letzten ließen ihn langsam ausklingen. Soach wunderte sich, weil er Fire gar nicht mehr sah. Er verzichtete darauf, ihn im Schloss von Cathy suchen zu lassen, denn vielleicht erwischte er ihn dann in einer privaten Situation. Als Seele des Schlosses musste er auch nicht immer alles wissen. Nach etwa einer Stunde gesellten sich Dark und Kayos zu ihnen. Soweit Soach wusste, hatten sich die beiden in ihrem Zimmer verschanzt, um den Amazonen zu entgehen, aber jetzt hielt sich die Gefahr in Grenzen. Amazonen respektierten leider keine schwulen Partnerschaften. In der Nähe hatten sich weitere Gruppen gebildet, die sich leise unterhielten. Ab und zu stand jemand auf und warf Holz vom Reservestapel ins Feuer, doch als es am Horizont über dem Meer hell wurde, hörten sie damit auf. „Ihr seid ja immanoch wach, oda was?“ riss Fire Soach und die anderen aus ihrer konzentrierten Betrachtung der letzten Glut. Soach sah ihn links von seiner Gruppe stehen, und zwar mit ordentlich zusammengebundenen Zöpfchen und Kleidung, die nicht ganz so abgewetzt aussah wie sonst. „Bist du schon auf oder hast du auch nicht geschlafen?“ fragte er seinen Sohn. „Ich hab mich früh aufs Ohr gehaun, weilich jetz trainiern geh. Wette, der olle Thaumator rechnet nich damit.“ „Trainieren. Mit Thaumator,“ fasste Soach zusammen. Er hakte sich bei Lily aus und stand auf. „Genau! Bevorde dich aufregst, ich will den als Lehrer habm. Bald habich en Kind, da mussich ordntlich was drauf ham. Dassde dich nicht sorgst, Vadder.“ Fire baute sich besonders gerade auf und straffte die Schultern. „Ich möcht‘ dasser hier wohnt!“ „Nein.“ Soachs Antwort kam schneller, als sein Gehirn logisch darüber nachdenken konnte. „Ist er denn überhaupt damit einverstanden? Das kann ich mir irgendwie nicht denken! Ich hab ihm nämlich zu verstehen gegeben, dass er hier nicht willkommen ist! Außerdem wohnen Schüler eigentlich bei ihren Meistern!“ „Deshalb musser ja hier sein, da kannich bei Eri bleibm!“ erwiderte Fire. „Ich muss weg, er is villeicht auch schon da, soll nich denkn, dassich kneif.“ Er hastete Richtung Haupttor davon. Soach sah seinem Jungen nach und beobachtete, wie eine dunkelrot gekleidete Gestalt zu ihm stieß, worauf sie zusammen weggingen. Sein Körper erbebte. War es Wut? Abscheu? Oder vielleicht Panik? Schwer zu sagen. Jedenfalls wollte er diesen Magier nicht unter seinem Dach wissen. Ein paar Tage konnte er ihn tolerieren, aber nicht auf Dauer. Wann immer er ihn sah, kamen die Erinnerungen hoch... Soach stellte fest, dass seine Fingernägel sich in seine Handballen bohrten, so fest hatte er die Fäuste geballt. Er zwang sich, ein wenig lockerer zu werden. „Alles in Ordnung, Papa?“ Kayos legte ihm eine Hand auf die Schulter, was ihn vor Schreck zusammenzucken ließ. „Nicht wirklich,“ murmelte Soach. „Kann sich Fire keinen anderen Lehrer suchen? Braucht er überhaupt noch einen?“ Kayos zuckte mit den Schultern. „Man lernt nie aus. Ich glaube auch nicht, dass er es aus purer Sympathie für Thaumator tut, sondern wie er sagte: Er denkt an seine Familie, will sie verteidigen können, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein.“ „Das... geht einfach nicht!“ presste Soach hervor. „Ich will es nicht!“ Er wusste, dass die anderen ihn wahrscheinlich für engstirnig oder rechthaberisch hielten , aber niemand versuchte, seine Meinung zu ändern. „Wie wär‘s mit einem heißen Tee?“ Schlug Crimson vor. „Ich hole den aus meinem Turm, den Lilys Eltern mitgebracht haben, und dann verkosten wir ihn mal zusammen.“ „Ich geh schonmal Wasser kochen,“ rief Lily und ging voraus. „Kommst du, Soach?“ „Ja... sicher.“ Soach folgte Lily zur Krankenstation. *** „Hey, steht auf, ihr Knallköpfe! Oder habt ihr ein gesundheitliches Problem zu beklagen?“ Dsasheera zog den beiden Männern die Decke weg. „Sei still, Weib, ich hab Kopfschmerzen,“ grummelte Vindictus. Er konnte sich in wenigen Sekunden selbst heilen, aber das sagte er ihr nicht. Ujat kroch aus dem Bett und wankte zur Tür. „Zimmer...“ murmelte er. „Schlaf...“ „Letzte Nacht scheint ihn richtig mitgenommen zu haben,“ stellte sein Vater fest. Während er seine Kleidung zurecht zog und in seine Schuhe schlüpfte, sah er sich nach Thaumator um – der anscheinend schon aufgestanden war. Sein Bett wirkte fast unbenutzt. Kurz nach Dsasheeras Ankunft tauchten auch Soach, Lily, Dark und Blacky auf. Lily ließ ihre männlichen Begleiter mit in die hintere Ecke kommen. Die Gruppe begrüßte die beiden älteren Heiler höflich, und Lily wandte sich an Dsasheera. Sie las dabei etwas von ein paar handgeschriebenen Notizen ab. Vindictus hörte nicht genau hin, denn er versuchte noch, richtig wach zu werden. Es schien aber um den Tee ihrer Eltern zu gehen. Ein paar Minuten später kam auch Crimson dazu – mit besagtem Tee. In der Ecke wurde eine Kanne voll davon gekocht. Vindictus gesellte sich dazu. Vielleicht konnte er ja auch einen Becher voll abgreifen. Lily nahm wieder den Becher an sich, den sie von Ujat bekommen hatte. „Das ist er,“ sagte sie und zeigte ihn herum. „Ich dachte, er hätte mich vor einer Gefahr gewarnt, aber vielleicht war der Tee wirklich nur zu heiß...“ „Mach es einfach mal so wie vorher,“ forderte Soach sie auf. Sie warteten, bis der Aufguss gut durchgezogen war, dann füllte Lily etwas in verschiedene Becher ab, wobei sie ihren für sich behielt. Auch Dsasheera und Vindictus bekamen einen. „Schmeckt sehr krautig,“ stellte Blacky fest. „Etwas bitter.“ „Dabei ist schon Süßdorn drin,“ ergänzte Crimson. Lily trank einen Schluck, ohne dass sie sich verbrühte oder sonst etwas geschah. „Oh... ich habe ihn noch nie pur getrunken, meine Eltern hatten Recht... am besten tut man Honig rein.“ Sie fing an, den Honig in den Regalen zu suchen. „Scheint aber harmlos zu sein,“ verkündete Dsasheera, die auch von dem Getränk kostete. „Den Zutaten nach fiel mir schon nichts Besonderes auf, aber ich kann auch nichts Beunruhigendes sehen. Die gute Wirkung auf die Nerven möchte ich mal nicht ausschließen.“ Lily wirkte fast enttäuscht. „Kein Kraut, das ungeborene Kinder tötet?“ Sie stellte das Honigfass mit dem Honig, der zum Verzehr bestimmt war, auf den Tisch. Die alte Amazone schüttelte den Kopf. „Definitiv nicht.“ Alle nahmen sich Honig. Es dauerte ein bisschen, bis alle damit versorgt waren. Vindictus rieb sich das Kinn. „Sagt mal... wenn es nun am Honig liegt?“ „Was?“ Lily hatte ihren Becher fast schon wieder an den Lippen, senkte ihn jetzt aber eilig wieder. „Wie meinst du das?“ „Honig enthält Stoffe, die durch die Verarbeitung im Bienenstock hinein gelangen. Darunter sind einige Enzyme, die andere Stoffe aufspalten können. Dadurch kann sich die Beschaffenheit einer Medizin verändern,“ erklärte Vindictus. „Zum Beispiel darf man den Gualos-Hustentrank nicht mit Honig vermischen, sonst wirkt er nicht.“ „Wenn das der Fall ist, müsste ich mir ja wieder die Lippen verbrühen!“ die Fee trank den halben Becher leer, ganz ohne Probleme. „Ich sehe keine Gefahr,“ sagte Dsasheera, nachdem sie das gleiche getan hatte. „Der Honig scheint ein reiner Geschmacksverbesserer zu sein. Das überrascht mich ehrlich gesagt ein bisschen, aber vielleicht haben wir Petunia und Lavender Unrecht getan, indem wir sie verdächtigten.“ „Ich habe diese Zutaten alle noch einmal ganz genau überprüft und keinen Hinweis gefunden, dass es Probleme mit Honig geben könnte,“ ließ Crimson sich vernehmen. „Auch Fawarius konnte nichts Verdächtiges finden.“ Die Amazone ignorierte ihn. „Es scheint, Kindchen, deine Eltern wollten wirklich Frieden mit dir schließen, aber du hast richtig gehandelt, sie zu verdächtigen. Ich habe im Gefühl, dass du auf keinen Fall mit ihnen nach Hause gehen solltest.“ Lily starrte in ihren Tee. „Nun... vielleicht hoffen sie immer noch, dass ich mitgehe, wenn sie nett zu mir sind. Aber das tue ich nicht.“ „Und ich werde ihnen kein bequemeres Zimmer zuweisen, nur weil sie aufgehört haben zu wettern,“ teilte Soach der Gruppe mit. Seine Bemerkung sorgte für allgemeines Gelächter. Vindictus jedoch beschlich das Gefühl, dass er etwas übersah, aber vielleicht bildete er es sich auch bloß ein – immerhin verfügte er nicht über eine hellseherische Begabung. „Wir sollten alle noch etwas schlafen,“ sagte Dark. „Ich denke mal, dass die meisten von uns nur wenig Schlaf hatten diese Nacht...“ „Da habt ihr selber Schuld,“ erwiderte Dsasheera. „Stellt euch nicht so an!“ Der Dunkle Magier lächelte, als sie sich umdrehte und an ihre Arbeit ging. „Ja, Madam.“ „Ich habe die Schicht am Nachmittag. Jetzt hab ich erstmal Hunger,“ ließ Vindictus die anderen wissen und machte sich auf den Weg zum Speisesaal. Er hatte auch gar nichts von dem ganzen gegrillten Zeug bekommen, dadurch, dass er eine Weile als Ratte zugebracht hatte. Wie zu erwarten zeigten sich zum Frühstück nur wenige Schüler, kaum Personal und lediglich Marquis Belial sowie die Finsterlords Asmodeus und Desire vom Zirkel. Das Frühstücksangebot fiel auch ein bisschen einseitig aus: Brot und verschiedene süße Aufstriche, alternativ etwas Käse. Bei den Aufstrichen war auch Honig dabei. Vindictus beschmierte sein Brot damit, aber die Erkenntnis kam ihm dadurch nicht. Ihm fiel lediglich auf, dass dieser Honig viel fester war als der, den sie auf der Krankenstation hatten, einfach weil dieser hier als Brotaufstrich diente und der andere als Süßungsmittel. Das Schloss bezog den Honig von einem reisenden Apotheker, der auch mit alchemistischen Zutaten handelte. Der alte Heiler grübelte noch immer und glaubte die Lösung zum Greifen nah, als auf einmal Cathy neben ihm sichtbar wurde. „Vindictus, bitte melde dich auf der Krankenstation. Es geht um leichte bis mittelschwere Brandverletzungen an zwei Personen,“ sage der Schlossgeist. „Brandverletzungen? Doch nicht etwa...“ Vindictus hastete zu seinem Arbeitsplatz und fand wie befürchtet Thaumator und Fire dort vor. Allerdings ging es den beiden ganz gut, dafür dass beide sich mit Feuermagie bekriegt hatten – das sah der Heiler auf den ersten Blick. Thaumator hielt seine Jacke in der Hand, und der rechte Ärmel seines Hemdes hing in Fetzen. Auf der Haut verteilten sich mehrere frische Brandwunden in unterschiedlichen Größen, die schon heftig Blasen schlugen. Fire hatte seine Lederweste ausgezogen. Sein Oberkörper war zu großen Teilen gerötet, auch das Gesicht hatte etwas abbekommen. Es sah aus, als hätte er sich verbrüht. Die beiden Männer standen im Eingangsbereich herum, da sich anscheinend niemand um sie kümmerte. Fire zeigte einen angespannten Gesichtsausdruck wie jemand, der sich das Jammern verkneift. Thaumator wirkte relativ gelassen. „Wo ist denn Dsasheera?“ fragte Vindictus. „Sie hätte ja wenigstens mal eine Brandsalbe heraussuchen können. Hinter den Vorhang, alle beide. Ich komme gleich wieder.“ Während der Alte nach der Amazone Ausschau hielt, ließ er seinen Ärger auf seinem Gesicht sichtbar werden. Was dachte sie sich, die Patienten einfach zu ignorieren? Dsasheera saß hinten im Arbeitsbereich und trank entspannt einen neu aufgebrühten Tee. Dabei kontrollierte sie in aller Ruhe das Inventar. „Hey, Weib!“ fuhr Vindictus sie an. „Hast du nicht gemerkt, dass Patienten da sind?“ Sie blickte mit gelangweilter Mine in seine Richtung. „Es sind Männer.“ „Wir haben darüber gesprochen!“ erinnerte Vindictus sie. „Solange du hier bist, hast du auch Männer zu behandeln! Jetzt schnapp dir eine Brandsalbe und komm mit!“ Auf ihrem Gesicht erschien ein spöttisches Grinsen. „Und wenn nicht?“ Vindictus schlug ihr seinen vernichtenden Effekt um die Ohren, dass sie mit einem Aufschrei vom Stuhl fiel. „Brandsalbe. Jetzt.“ Er kehrte zu den Patienten zurück, ohne zu kontrollieren, ob sie ihm folgte. Vor ihr durfte er niemals Schwäche zeigen, selbst wenn er wollte. Fire saß auf der Behandlungsliege, während Thaumator seitlich davon stand. Vindictus respektierte diese Situation stillschweigend und nicht sonderlich überrascht. Man konnte meinen, dass Thaumator Vorrang hatte, weil seine Verletzungen auf den ersten Blick schwerer wirkten, oder weil Fire ihm aus Respekt vor dem Alter den Vortritt ließ. Magier kümmerten sich jedoch grundsätzlich darum, dass zuerst ein Schüler behandelt wurde, ehe sie selbst Hilfe in Anspruch nahmen. Vindictus lächelte innerlich. Hatten sie sich schon geeinigt? Er zog sich den obligatorischen Stuhl heran und legte seine Hände um Fires leuchtend rosafarbenen Arm. Der Bursche zuckte ein wenig und biss die Zähne zusammen. „Was hast du denn gemacht? Ich dachte, du wärst gegen Feuer immun!“ „Bin ich auch,“ presste Fire hervor. „Aber nicht gegen Wasserdampf.“ „Oh? Wie ist das denn passiert?“ Fire warf einen kurzen Blick auf den älteren Feuermagier, berichtete dann: „Wir waren erst laufen, dann haben wir ein bisschen, äh... geübt. Thaumator beschwor einen Lavagolem. Ich konnte die Kontrolle übernehmen. Aber wir befanden uns in der Nähe des Strandes. Er ließ einen Schwall Wasser auf den Golem niedergehen, und das ganze Ding explodierte zu Dampf und halbflüssiger Lava.“ Vindictus hob überrascht die Augenbrauen. „Wasser?“ „Man muss immer ein Ass im Ärmel haben,“ lächelte Thaumator. „Soso. Fire, sag mal, was ist mit deiner Sprache passiert? Hast du dir die Zunge auch verbrüht?“ „Der Kerl da hat gesagt, ich soll anständig reden, wenn ich sein Schüler sein will!“ motzte der Junge. „Ich mach alles, was er verlangt, aber er hat mich noch immer nicht angenommen!“ „Nun ja, wahrscheinlich testet er deine Entschlossenheit.“ Endlich kam Dsasheera mit der Brandsalbe. Ohne auf Anweisung zu warten, begann sie, Fire damit einzureiben. Na bitte. „Diese Salbe wird deine Haut beruhigen und in ein paar Stunden ist alles in Ordnung,“ versprach Vindictus ihm. „Du solltest dich gleich nach dem Frühstück etwas hinlegen, während sie wirkt. Komm heute Nachmittag wieder hier vorbei.“ Fire nickte und ließ sich geduldig von der Amazone behandeln. Ab und zu wies sie ihn an, sich umzudrehen oder etwas in der Art, doch zu mehr Konversation mit ihm ließ sie sich nicht herab. Inzwischen wandte Vindictus sich Thaumator zu, indem er ihn zum anderen Ende der Liege dirigierte und seinen Stuhl dorthin trug. „Seid Ihr verrückt, einen glühenden Lavagolem mit kaltem Wasser zu überschütten? War Euch das Risiko nicht bewusst?“ „Sicher war es das, aber ich weiß auch, dass Fire gegen Feuer immun ist. Die Frauen vom Flammenbrunnen-Hexenzirkel belegen ihre Kinder gleich nach der Geburt mit starken Schutzzaubern, die wirken, solange sie sie aufrechterhalten können... meistens, bis sie sterben.“ Fire horchte auf. „Woher wisst Ihr, dass meine Mutter im Flammenbrunnen-Hexenzirkel ist? Und dass sie Ihre Kinder mit Zaubern schützen?“ „Ich mache meine Hausaufgaben,“ antwortete Thaumator ausweichend. Fire grinste. „Seht Ihr, Ihr wollt mich als Schüler! Ihr erkundigt Euch sogar schon nach mir!“ „Du solltest dich auch nach mir erkundigen, vielleicht gefällt dir nicht, was du erfährst,“ merkte Thaumator an. Fire hob einen Arm, damit Dsasheera Salbe auftragen konnte. „Ha! Ich weiß, dass Eure Mutter Itrikaria war, eine Feuermagierin, die bis vor ungefähr dreißig Jahren das Schattenreich terrorisiert hat! Wie es aussieht, ist sie tot, denn Ihr seid nicht mehr gegen Feuer immun!“ Vindictus konnte für einige Sekunden ein ganz leichtes Ansteigen der Herzfrequenz bei seinem Patienten feststellen, während er die eitrige Brandblase, die der Hand am nächsten war, langsam im Inneren neue Haut bilden ließ. Er verkniff sich das Grinsen, schließlich hatte er selbst dem Jungen diese Information gegeben. Moment... „Heißt das, Itrikaria war auch eine Hexe dieses Zirkels?“ „Allerdings,“ verkündete Fire. „Sie wollte ihre Kolleginnen für ihre Pläne einspannen, und als diese das ablehnten, stahl sie das Buch von Incanta, des Zirkels heiliges Buch der Feuermagie, tötete auf ihrer Flucht zwei Hexen und einen anwesenden Magier, löste einen Vulkanausbruch des Infernogipfels aus und versetzte Jahre später das Schattenreich in Angst und Schrecken. Sie war schwanger, als sie den Zirkel verließ.“ „Wie zu erwarten von einem Sprössling des Flammenbrunnens. Weiß alles über Itrikaria,“ stellte Thaumator fest. „Vindictus, das juckt ganz schrecklich.“ „Seid tapfer, großer Feuermagier,“ spöttelte der Heiler und wandte sich einer weiteren Brandblase zu. Die Lava hatte zum Teil ältere Narben verbrannt. Eine gute Gelegenheit, narbenfreie Haut zu erschaffen. Dsasheera indessen hatte ihre Aufgabe erledigt und zog sich wieder in die Ecke zurück. „Bring mal einen Becher Tee zur Stärkung für die beiden!“ rief Vindictus ihr nach. Sie kam nach ein paar Minuten mit zwei Bechern wieder, die sie auf ein Beistelltischchen knallte. „Ich bin nicht dein Dienstmädchen!“ „Das ist Gastfreundschaft,“ teilte er ihr mit. „Pah!“ Dsasheera drehte sich um und ging weg. „Es sind schließlich nur Männer!“ „Denk dran, was wir besprochen haben!“ setzte Vindictus hinzu, darauf bedacht, das letzte Wort zu haben. „Was zofft ihr euch andauernd?“ wunderte Fire sich. „Die ist ja heute wieder übel gelaunt...“ Der Alte lächelte verschmitzt. „Sie fordert mich heraus. Ich bin der einzige ihrer Männer, der nie vor ihr zurückgewichen ist, nie nachgegeben hat. Nach den Regeln ihres Stammes bin ich ihr Partner. All ihre anderen Kerle sind illegale Nebenbuhler, die ich gnädig geduldet habe.“ Er erlebte die Befriedigung, dass beide Männer ihn erstaunt und beeindruckt anstarrten. „Muss ich Eria dann auch schlagen und im Streit immer gewinnen?“ Fire wirkte ganz entsetzt. „Sie ist von einem anderen Stamm, erkundige dich, was für Bräuche sie dort haben,“ schlug Vindictus vor. „Aber im Prinzip brauchst du dich gar nicht daran zu halten, schließlich ist sie nicht offiziell eine von ihnen. Sie ist Crimsons Schülerin.“ „Deine Frau hätte uns aber etwas mehr Honig gönnen können,“ befand Thaumator. „Ist das der Tee von gestern Abend?“ „Ja, Lily hat den dagelassen,“ bestätigte Vindictus. „Was hier herumliegt, wird auch verbraucht.“ „Aber ich fand den Geruch gestern noch penetranter, was vielleicht auch nur an den, ähem, Umständen liegt. Jetzt hing das Aroma zwar auch in der Luft, das fiel mir beim Reinkommen gleich auf, aber es steigt mir nicht so zu Kopf.“ Der Feuermagier trank ein paar Schlucke und runzelte die Stirn. „Vielleicht liegt es auch am Honig. Manche sind aromatischer als andere, und der, den die Feen mit hatten, kam ganz deutlich im Geruch des Tees durch...“ Vindictus hielt in seiner Arbeit inne, als hätte ihn der Schlag getroffen. „Was sagt Ihr da?“ „Äh... Der Tee riecht heute nicht ganz so penetrant...“ „Das andere... der Honig... Natürlich! Die Feen haben ihn mitgebracht! Es war eine andere Sorte als unserer hier, und der Geruch war echt geradezu benebelnd!“ Vindictus vergaß vor Aufregung vollkommen Thaumators Brandblasen. „Catherine! Wo ist Lily?“ Der Schlossgeist materialisierte sich, kurz nachdem er den Namen gerufen hatte. „Hallo, Vindictus. Kannst du nicht etwas höflicher---“ „Wo ist sie! Keine Diskussion, Cathy!“ Cathy stemmte die Arme in die Hüften. „Ich bin nicht deine Amazone! Lily ist beim Frühstück mit ihren Eltern. Im Speisesaal. Soach ist auch bei ihnen und sie unterhalten sich nett, aber Soach findet das alles ziemlich nervig und...“ „Gut. Cathy, stell fest, ob sie Honig mitgebracht haben. Soach soll ihn an sich nehmen, wenn es so ist.“ Vindictus rannte bereits aus dem Krankenflügel Richtung Speisesaal, so schnell seine kurzen Beine es erlaubten. Thaumator und Fire blieben ihm dicht auf den Fersen. „Worum geht es denn eigentlich?“ wollte Fire wissen. „Nicht jetzt, das sieht nach einem Notfall aus,“ mahnte Thaumator. Er machte etwas mit seiner Kleidung, während er lief. Vermutlich zauberte er ein heiles Hemd herbei. Sie platzten ziemlich unzeremoniell in den Speisesaal. Nur zwei Tische waren besetzt, daher fanden sie die Gesuchten schnell. Soach stand da mit dem Honigfässchen in der Hand. „Lily! Hast du davon gegessen?“ rief Vindictus und deutete auf eine halbe Scheibe Brot mit Honig auf ihrem Teller. „Was soll das? Warum stört Ihr uns?“ protestierte Petunia. „Eine halbe Scheibe,“ antwortete Lily. „Wieso?“ Vindictus packte ihr Handgelenk und ließ seine Sinne einen Schnelltest ihres Körpers machen. „Tut mir Leid, aber das muss jetzt sein.“ Er gab ihrem Magen ein paar kurze Impulse, worauf sie sich auf den Tisch erbrach. Leider konnte er keine Rücksicht auf irgendwelche Anwesenden nehmen, denen er damit vielleicht den Appetit verdarb. Jedoch handelte es sich bei denen, die am anderen Tisch saßen, um Shiro und Mava. Als sie mitbekamen, was vor sich ging, kamen sie herüber. „Können wir helfen?“ fragte der Herr des Kristallschlosses. „Bringt Lily auf die Krankenstation, Dsasheera soll sie untersuchen,“ wies Vindictus den Mann an. Die junge Fee sah ihn unsicher und etwas blass um die Nase an. „Aber... ist das nötig?“ Shiro hob Lily auf seine Arme und trug sie hinaus. Sie widersprach nicht weiter. Mava blieb und verfolgte aufmerksam die weiteren Vorgänge. Soach blickte der Fee besorgt nach, schien aber lieber erst einmal den Sachverhalt aufklären zu wollen. „Lily ist vollkommen gesund!“ regte ihre Mutter sich auf. „Jedenfalls bis Ihr kamt! „Wir haben gerade ein familäres Frühstück genossen und uns sogar mit ihrem Geliebten unterhalten,“ ergänzte Lavender. „Warum zerstört Ihr das?“ Vindictus ließ sich von Soach den Honig aushändigen. Er schnüffelte, nahm den Portionierlöffel und kostete. Diese Sorte war eher flüssig und recht dunkel, sehr aromatisch, der Geschmack fast betörend süß. Doch er war kein Experte für Honig, daher konzentrierte er sich darauf, ob das Zeug etwas mit seinem Körper anstellte, das es nicht tun sollte. „Diesem speziellen Honig wird eine stimmungsaufhellende Wirkung zugeschrieben, was ist verkehrt daran?“ verlangte Petunia zu erfahren. „Darf ich?“ Thaumator nahm Vindictus den Löffel ab und probierte selber. Er drehte und wendete die Probe mit der Zunge im Mund hin und her, dann nahm er noch einen Löffel voll und wiederholte den Vorgang sorgfältig mit geschlossenen Augen. „Ja, kein Zweifel. Heldenglöckchen.“ „Helden... glöckchen?“ Soach bekam diesen leicht verträumten Gesichtsausdruck, der anzeigte, dass er mit dem Schlossherz kommunizierte. Konzentriert starrte er in die Luft. Erst weiteten sich die Augen wie vor Schreck, dann wurden sie ganz schmal und blickten geradezu bedrohlich, während sich die Kiefermuskeln deutlich anspannten. Im Zimmer breitete sich eine unheimliche Aura aus, die Vindictus, so ungern er es zugab, in Angst versetzte. Er kam sich plötzlich sehr klein und unbedeutend vor. Das Gefühl schien vom Gebäude selbst zu kommen. Soach mochte ein ausgebrannter Magier sein, aber er war immer noch die Seele des Schlosses. Keine gute Kombination für Leute, die sein Kind bedrohten... Kapitel 30: Süßer Rausch des Zorns ---------------------------------- Die unsichtbaren Schriftzeichen überall an den Wänden leuchteten auf, erglühten in einem kalten Silberlicht. „Ihr solltet besser sofort verschwinden,“ knurrte Soach leise, aber ganz deutlich. „Verlasst das Schlossgelände und bleibt nicht in der Gegend. Jetzt!“ Seit der Ausbrennung hatten seelischer Schmerz, Angst und Trauer sein Denken beherrscht, und durchaus auch ein bisschen Selbstmitleid. Das alles war wie weggeblasen. „Wie bitte, wir haben nicht einmal gepackt!“ empörte Petunia sich. „Genug!“ brüllte Soach. Er packte den Tisch und wuchtete ihn aus dem Weg, beseitigte das Hindernis, das ihn von Lilys Eltern trennte. „Raus! Oder ich vergesse mich!“ Die beiden sprangen von ihren Stühlen auf und wichen mehrere Schritte vor ihm zurück. Lavender stellte sich vor seine Frau. „So lassen wir uns nicht behandeln!“ „Ihr könnt noch von Glück reden, dass ich euch nicht direkt in die nächste Existenzebene befördern kann!“ schrie Soach ihn an. „Ihr wagt es, in meiner Gegenwart einen Anschlag auf mein Baby auszuführen, und erwartet auch noch zuvorkommende Behandlung? Lullt mich ein mit eurem Gelaber, dass ihr Frieden schließen wollt? Gorz hat Recht, Feen lügen, dass sich die Balken biegen!“ Er vollführte eine Bewegung in Richtung der großen Bogenfenster, deren bunte Scheiben daraufhin allesamt zersplitterten und klirrend zu Boden krachten. „Fliegt, bevor ich euch in die Finger kriege! Sonst habt ihr die längste Zeit Flügel besessen!“ Er schleuderte einen Stuhl in ihre Richtung. Endlich schienen sie den Ernst der Lage zu begreifen und rannten zu den Fenstern. „Aber wir wussten nicht, dass der Honig so wirkt...!“ unternahm Petunia einen letzten Versuch. „Lügnerin!“ Soach bekam einen weiteren Stuhl zu fassen. Er ließ sich ganz von seinem glühenden Zorn leiten. Es tat so gut... und machte bei allem Ernst auch noch Spaß. Er konnte auch ohne Magie Leute verängstigen! Zugegeben... Cathy half ein bisschen mit den Effekten. Soach ging die Flucht der unseligen Feen nicht schnell genug, also setzte er ihnen nach und griff nach den Flügeln. Er bekam eine Handvoll Federn zu fassen, aber beide schrien nun, insofern erfuhr er nicht, von wem sie stammten. Endlich schwirrten sie durch eins der Fenster ab. „Kommt nie wieder, ich warne euch!“ rief er ihnen nach, halb aus dem Fenster hängend. „Lasst euch nie, nie wieder blicken! Und wenn dem Baby was passiert ist, werdet ihr von mir hören, das schwöre ich! Wohin ihr auch geht, ich werde euch finden!“ Das Hochgefühl ließ ihn noch ein paar Sekunden triumphieren, doch dann machte sich die Sorge um Lily wieder bemerkbar. Dsasheera kümmerte sich vermutlich schon um sie, aber sie wusste gar nicht, mit was sie es zu tun hatten. Außer durch ihre Gabe vielleicht. Soach hätte Cathy schicken können, aber er ging lieber selber hin. Das heißt, er begab sich im Laufschritt dorthin. Vindictus hatte mit Fire, Mava und Thaumator vor der Tür gewartet. Sie standen stocksteif und still an die Wand gepresst da, als Soach vorbei stürmte. Lieber jetzt nicht seine Aufmerksamkeit erregen. „Ihr zwei,“ richtete Vindictus das Wort an Fire und Thaumator. „Folgt mir in mein privates Zimmer. Wir werden die Behandlung dort fortsetzen.“ „Habt Ihr etwa Angst vor Soach?“ fragte Mava. „Nicht mehr als du, und du hast schließlich mit bei uns hier draußen gestanden,“ entgegnete der Alte spitzfindig. „Wir sollten ihm lieber folgen,“ widersprach Fire. „Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, ihn zu fragen, ob ich Thaumator als Lehrer haben darf!“ Die anderen drei Männer starrten ihn entgeistert an. „Was?!“ „Vielleicht sollte ich erstmal zustimmen,“ merkte Thaumator an. „Schon, andererseits hat es keinen Sinn, dass ich Euch weiter belagere, wenn mein Vater nicht erlaubt, dass Ihr im Schloss wohnt. Deshalb werde ich erst seine Erlaubnis einholen, und dann seid Ihr fällig!“ Fire hob kämpferisch die Faust. „Er muss kapiern, dass es total Sinn macht, einen krassen Feuermagier im Schloss zu haben, und bald darauf sind wir ja dann schon zwei! Außerdem isses für die Familie!“ Er fing langsam wieder an, in seinen alten Sprachstil zurückzufallen, aber vielleicht nur vorübergehend. Der Junge schritt voll motiviert zur Krankenstation, die anderen folgten dichtauf. „Mava, kommst du auch mit?“ wandte sich Vindictus an den Lichtmagier. „Ich will schon wissen, wie das alles ausgeht,“ sagte Mava. „Was ist denn überhaupt los? Ist Heldenglöckchen giftig? Und was ist das überhaupt?“ „Oh, es ist eine wunderschöne Pflanze,“ brachte Thaumator sich ein. „Blüht blau, lila oder rot, duftet stark und ist in jeder Form giftig. Allerdings taugen die meisten Giftpflanzen auch als Heilpflanze und umgekehrt. Heldenglöckchen wird beispielsweise für das Elixier der Verdammten gebraucht und findet Verwendung in vielen Stimmungsaufhellern.“ „Aber dann ist es schädlich für Schwangere?“ hakte Mava nach. Thaumator holte schon Luft, aber eine andere Stimme mischte sich ein: „Die Verwendung von Tränken, die Heldenglöckchen enthalten, kann bei Frauen zu Zyklusblutungen führen.“ „Oh, Crimson!“ rief Vindictus. „Bist du hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen?“ Der Schlossherr nickte. „Hätte ich vorher gewusst, dass es um Heldenglöckchen geht, wäre mir sofort klar gewesen, was diese Leute planen. Aber ehrlich gesagt hätte ich den Geruch des Honigs wohl nicht erkannt. Damit hatte ich noch nie zu tun.“ Thaumator reichte ihm den Rest. „Bedient Euch.“ „Woher kennt Ihr das?“ fragte Crimson. Darüber hatte Vindictus noch gar nicht nachgedacht. „Genau... Ihr habt den Honig sehr sicher identifiziert. Woher kennt Ihr den Geruch? Oder war es eher der Geschmack?“ Falls der Feuermagier sich in irgendeiner Form ertappt fühlte, zeigte er es nicht. „Auch ich muss von etwas leben, nicht wahr? Meine Familie baut giftige Heilpflanzen und Pilzsorten an, die wir an einen Apotheker verkaufen, der Alchemisten beliefert. Außerdem züchte ich als Hobby Vulkanische Ratten.“ An dieser Stelle hielt sich Vindictus schnell die Hand vor den Mund und verkniff sich das Lachen. Ein prustendes Geräusch kam dennoch heraus, doch niemand beachtete ihn. Sie hatten die Krankenstation erreicht, aber noch trat niemand ein. „Wozu züchtet man Ratten?“ wollte Fire wissen. „Vulkanische Ratten,“ präzisierte Thaumator. „An ihren Körpern wachsen Steine. Ich experimentiere damit, wie sich verschiedene Futtersorten auf diese Steine auswirken.“ Crimson hing geradezu an seinen Lippen, während Mava und Fire diesen Informationen scheinbar nichts abgewinnen konnten. Vielleicht musste man Alchemist sein, um sich für Steine auf Rattenleibern zu begeistern. Vindictus für seinen Teil fand vor allem interessant, dass Thaumator mit seinen Ratten geschickt von den giftigen Sachen abgelenkt hatte, mit denen sich vermutlich vor allem seine Frau auskannte. Soach machte sich gar nicht so große Sorgen um Lily, wie unter den gegebenen Umständen angemessen gewesen wäre. Auch er hatte von dem Honig gegessen. Daran musste es wohl liegen, dass er im Moment alles etwas zu positiv sah, und das mit steigender Tendenz, je länger das Zeug in seinem Kreislauf kursierte. Heldenglöckchen konnte einem Krieger die Angst vor einer bevorstehenden Schlacht nehmen, ihn wagemutiger machen... allerdings trübte das Zeug anscheinend auch den Blick für die Realität, zumindest in Honigform. Lily lag auf einem der Betten und Dsasheera untersuchte sie mit ernster Mine. Soach nahm Befehle von der Amazone entgegen: Er suchte Medizin heraus, kochte Tee und verhielt sich unauffällig. Shiro wartete an der Seite, aber die alte Shamanin schien bereits vergessen zuhaben, dass er existierte. Als Soach alle Aufträge ausgeführt hatte, setzte er sich dazu. „Also, was ist denn nun eigentlich los?“ fragte der Lichtmagier ihn. „Lilys Eltern haben etwas dagegen, dass sie dieses Kind bekommt... sie haben versucht, es zu vergiften,“ erklärte Soach. „Heldenglöckchen ist eine giftige Pflanze, die aber auch in verschiedenen alchemistischen Zusammensetzungen vorkommt.“ „Ja, das gibt es oft,“ nickte Shiro. „Bei Erwachsenen verursacht Heldenglöckchen ein leichtes Rauschgefühl,“ fuhr Soach fort. „Man kann die Beeren pur essen, die getrockneten Blätter verräuchern, Tee daraus kochen... die Möglichkeiten sind vielfältig. Im Honig ist der Wirkstoff jedoch noch konzentrierter. Ich komme wir vor, als würde ich träumen. Es ging mir seit einer Woche nicht so gut wie jetzt gerade. Vielleicht kriege ich später Kopfschmerzen.“ Soach merkte sich das jedoch – mit jeder Minute wirke der Honig mehr, denn anders als Lily hatte er ihn bei sich behalten, und er hatte eine ganze Scheibe Brot damit gegessen. Er neigte dazu, Brotaufstrich immer sehr dick aufzutragen, auch auf die Gefahr hin, dass er dann runterlief. Inzwischen konnte er nichts Schlimmes mehr daran finden, ausgebrannt zu sein. Seiner Überzeugung nach war das ja eh nur temporär. „Du hast auch ganz rote Bäckchen,“ stellte Shiro fest. „Trink das.“ Der Magier drückte ihm einen Becher in die Hand. Soach hatte gar nicht mitbekommen, wo der herkam. Vielleicht hergezaubert? Sollte er deswegen nicht sentimentale Trauer empfinden? Aber ihm wollte nicht einfallen, wieso. Egal. Er trank den Becher aus. Wasser. Aber vermutlich half das, die Wirkstoffe im Körper zu verdünnen. „Hallo, Vadder,“ sprach Fire ihn plötzlich an. Der Junge betrat gerade den Raum und kam auf ihn zu, begleitet von ein paar weiteren Personen. Soach erhob sich von seinem Stuhl und war nicht ganz sicher, ob er dabei schwankte. Er versuchte, sich zu konzentrieren. „Oh... da bist du ja wieder. Was gibt es denn?“ „Ich will Thaumator als Lehrer. Er hat Vindictus drauf gebracht, dass es am Honig liegen könnte, also schuldest du ihm was.“ „Ich schulde ihm was, und deshalb... soll ich dir deinen Willen lassen?“ Soach glaubte, in dieser Logik eine Lücke zu erkennen, andererseits... „Ja, stimmt. Es ist ein Privileg, meinen Sohn zu unterrichten. Hm, so hab ich das noch gar nicht gesehen. Aber ich mag ihn nicht.“ „Mögen tu ich ihn auch nicht, aber ich seh das ganz von der nützlichen Seite,“ beteuerte Fire. „Er kennt viele fiese Tricks, die ich von ihm lernen will. Für meine Familie.“ „Die Familie... ja. Familie ist wichtig.“ Soach blickte zu Lily hinüber. Irgendwie war ihm klar, dass Fire seinen Zustand ausnutzte, aber das wiederum erfüllte ihn mit einem gewissen Stolz. Helden mochten es ehrlos nennen, aber zu dieser Kategorie zählte er sich nicht. Als er sich wieder zu Fire umdrehte, konnte er dessen Begleiter besser erkennen. Aha. Da hatte sein Sohn den gewünschten Lehrer ja schon mitgebracht. Der Anblick des Mannes ernüchterte ihn etwas. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieser Magier Feuerzauber benutzte, denn er kannte ihn nur mit einem silbrigen, kalten, blitzähnlichen Angriff. Ah, jetzt fiel es ihm wieder ein. Und noch etwas kam ihm in den Sinn, was ihn zu einer für ihn selbst unerwarteten Entscheidung brachte. „Ich bin unter einer Bedingung einverstanden,“ beschloss er, hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn Thaumator dich jetzt gleich als seinen Schüler annimmt.“ Mit Befriedigung sah er die erstaunten Gesichter der Anwesenden, auch wenn sein Hirn nicht mehr recht registrierte, wer es noch alles war. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf Fire... und den älteren Magier, der jetzt neben ihn trat. „Ihr steht unter Drogen, Soach, seid Ihr sicher, dass Ihr das später nicht zurücknehmen wollt?“ Oh, das konnte sein. Aber irgendwie machte es jetzt gerade Spaß. „Ich übernehme immer die Verantwortung für meine Taten, wie Ihr wisst. Seid Ihr denn sicher, dass Ihr Euch diese Verantwortung aufbürden wollt?“ forderte er den Älteren heraus. Thaumator bot ihm die Stirn. „Ich warne Euch nur. Es gibt später kein Zurück.“ Unter normalen Umständen hätte Soach diese Nähe zu ihm vermieden, aber Heldenglöckchen schaltete einige Urinstinkte aus. „Beeilt Euch, wenn Ihr heute noch einen Schüler gewinnen wollt.“ Der Feuermagier lächelte berechnend. „Wie Ihr meint.“ Er wandte sich Fire zu und legte ihm eine Hand auf die Schultern. „Vor diesen Zeugen nehme ich dich, Nyrador, als meinen Schüler an. Proteste werden für fünf Sekunden entgegengenommen ab jetzt. Fünf, vier, drei, zwei, eins, Schluss.“ Es gab eine magische Reaktion, die jeder halbwegs sensible Magier vermutlich mitbekam. Dieser Pakt war nun gültig. Soach lächele schief. „So, Ihr kennt sogar Fires richtigen Namen. Nun denn. Achtet gut auf meinen Jungen.“ Trotz der Wirkung des Heldenglöckchenhonigs fühlte sich sein Hals plötzlich ganz eng an, so als lieferte er den Sohn seinem Feind aus. Aber Fire hatte Recht... es war gut, wenn er lernte, sich seiner Haut zu erwehren, und zwar von einem, der sein Handwerk beherrschte. Soach konnte im Moment nicht so für seine Familie da sein, wie er es sich wünschte, also stellte er seine eigenen Gefühle bezüglich Thaumator zurück. Insofern kam es ihm gelegen, dass er unter Drogen stand. Bei vollem Verstand wäre es ihm wesentlich schwerer gefallen. Fire schien seine Gefühle zu erahnen, denn er fiel ihm plötzlich um den Hals und drückte ihn ganz fest. „Ich werde dich stolz machen,“ flüsterte er ihm mit rauer Stimme zu. Soach ließ es überrascht geschehen. „Ich bin sicher, das wirst du. Ich... werde dich von nun an Thaumator überlassen. Sei brav.“ „Ähem.“ Vindictus zog an Soachs Ärmel. „Wenn ihr dann alles geklärt habt, solltest du viel Wasser trinken und vielleicht einen Heiltee. Und du, Fire, gehst frühstücken und legst dich hin, wie wir es vorhin besprochen haben. Thaumator, wir waren noch nicht fertig. Hinter den Vorhang mit Euch.“ Niemand widersetzte sich gerne den Befehlen des alten Zausels. Soach beobachtete, wie die beiden Feuermagier sich weisungsgemäß in Richtung des Ausgangs beziehungsweise der Behandlungsliege begaben. Anscheinend war irgendetwas vorgefallen, von dem er nichts wusste, aber auch nichts wissen musste. Das passte auch zu dem Salbengeruch, den sein Sohn an sich hatte. Soach sorgte sich, ob Fire vielleicht etwas gefährlich lebte als Schüler von Thaumator, doch er ermahnte sich, nicht nachzufragen. „Hier, Soach.“ Shiro drückte ihm erneut einen Wasserbecher in die Hand, den er geistesabwesend leerte. „Wie schön, dass du dich beruhigt hast,“ stellte Mava fest und wirkte dabei, als hätte er Angst vor einem weiteren Wutausbruch, dabei war er doch der Letzte, der sich sorgen musste. „Warum hast du es dir plötzlich anders überlegt?“ fragte Crimson. „Du wolltest doch nicht, dass Thaumator hier wohnt.“ „Das will ich auch jetzt nicht, aber eigentlich... eigentlich ist es albern.“ gab Soach zu. „Wie auch immer... Als sein Meister ist er für Fires Leben verantwortlich, als wäre er sein eigener Sohn. Er muss die Bedürfnisse seines Schülers über die eigenen stellen und ihn mit allen Mitteln beschützen, bis er ihm genug beigebracht hat, dass der Schüler es selber kann. Damit habe ich gewissermaßen eine Sorge weniger...“ Mava schaute etwas verwirrt zur Seite, wo hinter dem Vorhang undeutliche Gesprächsfetzen zu hören waren. „Aber... mir schien vorhin auf dem Weg hierher, als wäre Thaumator nicht ganz einverstanden mit Fires Plänen. Dafür hat er es sich ziemlich schnell anders überlegt.“ „Da er ihn nicht generell abgelehnt hat, wusste er wohl, dass Fire nicht von hier fort kann, somit brauchte er mein Einverständnis, um hier zu wohnen. Ich hatte aber verlangt, dass er verschwindet, sobald der Zirkel abreist. Möglicherweise lag es nur daran.“ „Hm... die Art, wie du ihn herausgefordert hast, ließ ihm ja nicht viel Auswahl,“ grinste Crimson. Auch Soach amüsierte sich. „Nein, denn ein Magier von seinem Format lässt sowas nicht auf sich sitzen. Er musste einfach zustimmen, denn zu kneifen hätte nicht zu ihm gepasst.“ „Da scheint er aber sehr berechenbar zu sein,“ fand Mava. Soach zuckte mit den Schultern. „Egal... es ist so, wie ich es wollte, und wahrscheinlich werde ich mich noch heute darüber ärgern, nämlich wenn die Wirkung von dem Honig nachlässt.“ Er schaute zwischen Shiro, Mava und Crimson hin und her. „Ähm... euch macht es nichts aus, ihn hier zu haben, oder?“ Mava zuckte mit den Schultern. „Er ist ein bisschen distanziert, aber derzeit kehrt er ja auch noch den Zirkelmagier raus. Diese Sorte ist privat manchmal richtig umgänglich.“ „Zumal wir ja dann gewissermaßen unter Zirkelmagiern sind, daran muss ich mich erst noch gewöhnen,“ meinte Crimson. Shiro hob den Zeigefinger. „Werd nur nicht größenwahnsinnig. Insofern tut dir Thaumator im Schloss vielleicht ganz gut, dein Opa deutete an, dass auch er eine bewegte Vergangenheit hat. Er wollte allerdings keine Einzelheiten preisgeben, nur dass euer neuer Feuermagier wohl auch mal vor dem Zirkelgericht stand, ehe er selber Mitglied wurde.“ „Ach, wirklich?“ staunte Crimson mit hochgezogenen Augenbrauen. Dann allerdings wandte er sich mit ernster Mine Soach zu. „Du hast entschieden, dass Thaumator bleibt, also wird er bleiben. Cathy wird das auch hinnehmen. Ihr scheint heute ja ohnehin sehr im Einklang zu sein.“ „Äh...“ Soach kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Die Scheiben kriegt er wieder hin, oder?“ Crimson winkte ab. „Ich gehe gleich und kümmere mich darum. Bin nur froh, dass die Feen weg sind. Also, die beiden nervigen, meine ich.“ Soach spürte eine neue Welle des Zorns in sich, die aber kurz darauf von der Honigdroge verschluckt wurde und einer gewissen Heiterkeit wich. „Sie haben bis zur letzten Sekunde herumgezickt, das hättest du sehen sollen!“ „Oh, das habe ich,“ grinste Crimson. „Sagt mal, waren das nicht Blutfeen?“ fragte Mava. „Wer weiß, manch einer beschwert sich ja am meisten über etwas, das er selbst ist, um davon abzulenken,“ sinnierte Soach. „Schade eigentlich, dass Lavender und Petunia von dem neuen Gerücht noch nichts mitbekommen hatten, aber sicherlich erreicht es sie irgendwann noch.“ „Schätzungsweise verbreitet es sich schon im Kristallschloss, weil Cathy es Turmalinda erzählt hat,“ warf Shiro ein. „Und damit kannst du davon ausgehen, dass es in Kürze auch die Feenfestung erreicht. Und viele andere Gegenden, zu denen unsere Bewohner reisen.“ Diese Information versetzte Soach in Hochstimmung. So langsam hielt er es für gefährlich, sich unter Leuten aufzuhalten, am Ende brabbelte er noch vor sich hin wie ein Betrunkener! Aber noch schien keiner etwas an seinem Verhalten auszusetzen zu haben. Diesen Moment nutzte Dsasheera, um sich energisch in Erinnerung zu rufen. „Hey, ihr da! Was denkt ihr, wo ihr hier seid? Raus mit euch, wenn ihr keinen medizinischen Notfall habt! Du!“ Sie zeigte auf Soach. „Deine Frau verlangt nach dir. Euer Kind ist außer Gefahr. Ich will doch hoffen, dass du mit dem nötigen Ernst zu ihr gehen kannst, sonst verschwinde lieber!“ „Höflich wie immer,“ murmelte Soach. „Ich glaube, ihr müsst dann alle gehen.“ Er sah noch kurz zu, wie sich die Gruppe dem Ausgang zu wandte, dann ging er zu Lilys Bett. Die Amazone zog sich gerade so weit zurück, dass sie ihn noch im Auge behalten konnte. Und Soach versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, was nicht einfach war mit der Heldenglöckchen-Umwölkung. Lily sah recht gut aus, dafür dass ihre eigenen Eltern versucht hatten, sie zu vergiften – oder besser gesagt, ihr ungeborenes Kind. Auf sie selbst hätte es möglicherweise auch nur eine stimmungsaufhellende Wirkung gehabt. „Du wirkst so gut gelaunt,“ stellte sie fest. „Ich hab diesen Honig gegessen,“ lächelte er. „Dadurch ist mein Sinn für die Realität etwas getrübt. Wie geht es dir? Hatte dieser Anschlag irgendwelche Folgen?“ Lily seufzte. „Ja, allerdings... ich werde von nun an keinen Kontakt mehr mit meinen Eltern haben. Höchstens noch mit Daisy, Madam perfekte Tochter. Aber schließlich ist sie meine Schwester...“ „Das meinte ich jetzt eigentlich nicht.“ Anscheinend ging es dem Baby gut, wenn sie noch ihren Humor hatte. Lily schloss die Augen und ließ sich tief in das Kissen sinken. „Ich möchte nicht daran denken... dass meine Eltern so weit gegangen sind, nur um keine Blutfee zu bekommen... Aber sie hatten keinen Erfolg. Vindictus hat rechtzeitig eingegriffen, bevor diese Droge wirken konnte. Dsasheera konnte das, was schon in mein Blut übergegangen war, neutralisieren. Und letztendlich sterben Blutfeen wohl nicht so leicht.“ Soach hoffte, dass dieses Erlebnis ihre Meinung änderte und sie ihm erlaubte, das Kind seiner Natur gemäß aufwachsen zu lassen. Aber bisher gab es dafür keine Anzeichen. Lily schwieg und blickte traurig in die Luft. Wahrscheinlich musste sie das alles erst einmal verarbeiten, schließlich war es eine Sache, wenn die Eltern über ihr Leben bestimmen wollten, aber eine ganz andere, wenn sie tatsächlich einen Anschlag auf ein ungeborenes Baby verübten, nur weil es ungeliebte Eigenschaften vorwies. Er musste ihr Zeit geben. Und vielleicht konnten sie dann in ein paar Wochen noch einmal über das Thema reden. Für den Moment blieb er erst einmal bei ihr sitzen und hielt ihre Hand. „Ihr habt Euch ja recht spontan umentschieden,“ bemerkte Vindictus, während er eine Brandblase untersuchte, deren Haut inzwischen aufgerissen war, um den darunter befindlichen Eiter in Thaumators Ärmel zu entlassen. Der Schaden hielt sich wohl in Grenzen, denn der Feuermagier hatte sich auf dem Weg in den Speisesaal zwar eine frische Jacke herbeigezaubert, darunter aber das ohnehin beschädigte Hemd anbehalten. „Soach hat mich ja praktisch dazu genötigt,“ entgegnete der Patient. Vindictus tupfte übrig gebliebenen Eiter und abgestorbene Hautfetzen weg, und darunter kam dank seiner heilenden Fähigkeiten frische, unversehrte Haut hervor. Dieser Vorgang war eigentlich ganz normal, nur blieben meistens Narben zurück, wenn es von allein heilen musste. „Naja... wenn Ihr gewollt hättet, wäre Euch schon eine Methode eingefallen, um galant abzulehnen. Aber Ihr denkt, dass Ihr es ihm schuldig seid, oder?“ Thaumator antwortete nicht gleich darauf. „Der Junge wollte es doch so gerne,“ sagte er schließlich. „Das eben war vielleicht die einzige Chance. Soach ist ein stolzer Mann, der gewiss nicht gerne Leute in seiner Nähe duldet, die ihn an seine schwachen Momente erinnern.“ „Wenn Ihr eine Weile hier seid, wird er Euch als den Lehrer seines Sohnes sehen und nicht mehr als den Magier, der ihn ausgebrannt hat,“ prophezeite Vindictus. „Außerdem seid Ihr der Mann, der das Gift identifiziert hat, als es darauf ankam.“ Thaumator seufzte. „Keine große Sache. Aber ich habe zwei Löffel davon gegessen, vielleicht hat mich das dazu bewogen, Fires Lehrer zu werden.“ „Ausreden.“ Vindictus bemerkte, dass der andere schon die ganze Zeit mit angespannter Mine die Unterkante des Sichtschutzvorhanges anstarrte. Andere Patienten sahen aus Neugier genau zu, wie die Wunden heilten. Aber das lag nicht jedem. „Zwei haben wir noch vor uns,“ murmelte er und beobachtete heimlich die Reaktion. „Ich lasse darunter gesunde Haut entstehen, entferne dann die abgestorbene Hautschicht und...“ „Ich weiß, dass müsst Ihr mir nicht schildern,“ entgegnete Thaumator etwas eilig. „Es juckt immer noch wie verrückt...“ „Wenn Euch schlecht wird bei dem, was ich mache, sagt Bescheid,“ grinste der Alte. „Manche Patienten sind etwas sensibel. Oftmals gerade die harten Kerle.“ „Oh, dann haltet Ihr mich für einen harten Kerl?“ staunte Thaumator. „Ich spiele nur meine Rolle, nämlich einen hartgesottenen Feuermagier vom Zirkel, dem es nichts ausmacht, mal eben einen anderen Magier zu vernichten.“ „So ähnlich trifft es auf die meisten harten Kerle zu. Ich habe in meiner Laufbahn viele kennen gelernt, glaubt mir. Sie machen hier drin oft ein ganz anderes Gesicht als draußen vor der Tür.“ „Nun gut, mir ist ein bisschen unwohl,“ gab Thaumator nach. „Meine bisherigen Erfahrungen mit Heilern waren nicht gerade erfreulich.“ „Warum vertraut Ihr mir dann so sehr, dass ihr mir bei unserem ersten Treffen Eure Lebensgeschichte erzählt habt?“ „Manche Begegnungen sind so. Vielleicht sehe ich in Euch eine Art Vaterfigur. Ich hatte nie einen... liebevollen... Vater...“ Thaumator brach ab, als wäre es ihm peinlich, was er gesagt hatte. Als Vindictus ihm ins Gesicht sah, erkannte er eine leichte Röte auf den Wangen. „Ich schieb Eure Redseligkeit mal auf den Honig, auch wenn Ihr ja nicht so viel hattet.“ Sein Patient schwieg daraufhin und kommentierte auch den Heilungsfortschritt nicht mehr, bis Vindictus fertig war. „Kommt morgen wieder, damit ich nochmal einen prüfenden Blick darauf werfen kann.“ Thaumator nickte und betastete die Stellen, an denen frische Haut sich durch einen etwas helleren Farbton vom Rest abhob. Einige alte Narben wurden nun unterbrochen. „Sieht so aus, als gingen die Narben weg, wenn sie verbrannt werden.“ „Bringt mich nicht auf Ideen,“ drohte Vindictus ihm an. „Habt Ihr schon Eure Frau kontaktiert?“ „Ja, mit einem Kontaktformular des Zirkels. Aber sie sieht es vielleicht nicht sofort. Es materialisiert sich auf einem Regal im Büro.“ „Nun ja, Ihr bleibt ja jetzt hier, also haben wir keinen Zeitdruck. Sagt mal... wie wird sie das denn aufnehmen?“ „Vermutlich, indem sie ebenfalls hier einzieht. Bleibt zu hoffen, dass meine beiden jüngeren Kinder mit der Arbeit klarkommen. Toyara, meine älteste, ist selten zu Hause – sie ist Feldheilerin.“ Vindictus hob die Augenbrauen. „Feldheilerin? Also zieht sie mit Helden herum und verarztet sie auf dem Schlachtfeld?“ „Ja, so in etwa.“ Thaumator erschuf in der Luft ein Bild von einer jungen Frau in Lederrüstung, die neben einem Schwert vor allem eine Menge Gepäck mit sich herumtrug. Zur blauen Haut hatte sie rotes Haar, eine interessante Kombination. „Sie wollte von klein auf Heilerin werden, um mich zu heilen, so wie Ihr es jetzt plant. Aber ihre Noten waren zu schlecht und ihre heilmagischen Fähigkeiten reichten nicht aus. Nun ja.“ „Feldheiler machen wichtige Arbeit, aber meistens bleiben Narben,“ sinnierte Vindictus. „Es geht in ihrem Beruf auch eher darum, Leben zu retten, nicht die Eitelkeit der Patienten zu befriedigen.“ Thaumator ließ das Bild wieder verschwinden. „Genau. Dieser Beruf erfordert gute Nerven.“ „Ihr scheint sehr stolz auf Eure Tochter zu sein.“ „Ja, das bin ich. Auf alle meine Kinder.“ Er ging leider nicht darauf ein, was ihn an den anderen beiden stolz machte, und Vindictus fragte an dieser Stelle auch nicht weiter nach. Als Crimson mit den anderen Magiern auf den Flur trat, traf er dort Paladia an, die offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Shiro und Mava verzogen sich leise. „Hey,“ sagte sie lächelnd, „Ich wollte dich noch sehen, bevor wir abreisen. Gestern hat es sich irgendwie nicht ergeben...“ Crimson stellte überrascht fest, dass ihm einige böse Bemerkungen auf der Zunge lagen, die Betten und Männer beinhalteten. Mit Mühe schluckte er sie hinunter und rief sich in Erinnerung, dass er es mit einer Amazone zu tun hatte. „Das freut mich,“ entgegnete er statt dessen. „Ich hätte auch nicht gewollt, dass du gehst, ohne dass wir miteinander geredet haben. Was macht Scarlet?“ „Oh... sie gedeiht prächtig. Aber sie scheint Magie zu entwickeln. Die Shamanin hat ein Auge auf sie. Vielleicht wird Scarlet ja ihre Nachfolgerin.“ Ein verlegenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Crimson überlegte, wie er sich ausdrücken sollte, und formulierte die Frage, die ihn interessierte, dann einfach ganz direkt: „Sag mal, Paladia... zählen wir noch als Paar, ich meine... was soll ich sagen, wenn eine andere Amazone fragt, ob ich vergeben bin?“ Sie sah in einige Sekunden lang verblüfft an und lachte dann leise. „Du bist ja lieb, hast du dir Sorgen gemacht, dass ich sauer sein könnte?“ „Naja, auch,“ druckste er herum. „Aber ich würde eine andere Amazone eigentlich gerne höflich ablehnen. Geht das?“ „Nun... du kannst anmerken, dass du bereits deinen Beitrag für die Amazonen geleistet hast und das ausreichend findest,“ schlug sie mit ernster Mine vor. Crimson nicke nachdenklich. „Und, ähm... würde es dir gar nichts ausmachen, wenn ich eine andere Frau hätte?“ „Würde es dich denn stören, wenn ich einen anderen Mann erwählen würde?“ fragte sie zurück. „Möglicherweise,“ räumte er ein. Paladia grinste breit, deutlich erfreut über seine Antwort. „Tja, darauf kann ich aber keine Rücksicht nehmen. Und du sieh dich ruhig nach einer anderen um. Wir beide sind nicht für eine dauerhafte Beziehung miteinander gedacht. Aber wir können uns trotzdem lieben... wie es gute Freunde tun, die vielleicht manchmal das Bett teilen.“ Das erinnerte ihn irgendwie sehr an Silentia, aber das behielt er tunlichst für sich. Was konnte es schaden, die ein oder andere Frau zu kennen, mit der es sich hin und wieder etwas turteln ließ? Eigentlich war Paladia bisher seine längste Beziehung gewesen, wenn man das denn so nennen wollte. Es war vor allem eine Zweckbeziehung gewesen, wie es schien. Er versuchte, sich nicht gekränkt zu fühlen. „Sag mal... ich hörte, dass Sorc die Eltern von Lily rausgeschmissen hat. Sind das wirklich Blutfeen?“ fragte sie unvermittelt. Crimson hob eine Augenbraue. „Äh... ja, das kann sein, Beweise hatten wir allerdings nicht,“ fütterte er das Gerücht noch ein bisschen weiter. „Aber Sorc heißt jetzt Soach. Oder hieß eigentlich schon immer so.“ „Ja... deine Freundschaft zu diesem Kerl macht mir wirklich Sorgen,“ murmelte die Amazone. „Lass dich nicht von ihm einwickeln. Wir sind bloß froh, dass sie ihn jetzt doch noch ausgebrannt haben, so ist er zumindest weitestgehend unschädlich gemacht.“ An dieser Stelle bekam seine Zuneigung zu ihr einen Dämpfer. „Du würdest das nicht sagen, wenn du dabei gewesen wärst. Hast du mal gesehen, wie ein Magier ausgebrannt wird?“ Paladia seufzte. „Ich sehe schon, im Bezug auf ihn werden wir uns nicht einig. Dabei hättest du vor zwei Jahren noch ganz anders darüber gedacht. Du weißt schon, als die Schnitte auf deinem Rücken noch frisch waren.“ „Was hat das denn...“ begann er, doch eigentlich verstand er ja, was sie meinte. Und vielleicht hatte sie sogar Recht. Er wusste noch immer nicht, wer seine Anmeldung zum Rehabilitationsprogramm gefälscht hatte, aber im Nachhinein dankte er dieser Person für den guten Freund, den es ihm eingebracht hatte. „Lass uns nicht wegen Soach streiten,“ lenkte er ein. „Ich habe ihn besser kennen gelernt und... nun ja. Ich kann ihm verzeihen.“ „Dann will ich ihn dir zuliebe als eine andere Person betrachten... als deinen Freund Soach, während der Hexer, der uns gefangengehalten hat, Sorc war.“ „Das würde ich sehr begrüßen. Und... er hat wirklich bezahlt, glaub mir. Er...“ Crimson unterbrach sich, denn er hatte ausführen wollen, wie sehr Soach immer unter dem Verlust der Magie leiden würde, doch wahrscheinlich wollte Paladia das gar nicht hören. Vielleicht sollte er diese Information auch lieber nicht an Personen weitergeben, die nicht zu Soachs Fans gehörten. „Du musst ihn nicht weiter in Schutz nehmen,“ versicherte Paladia ihm. „Wir haben uns ja jetzt auf eine Lösung geeinigt. Ich kann aber nur für mich sprechen.“ „Dann sollten wir das Thema auch mit meiner Mutter und dem Rest deiner Gruppe klären,“ schlug Crimson vor. „Ich möchte mich ohnehin noch von ihnen verabschieden.“ „Gut, sie warten am Haupttor.“ Paladia ging vor, wartete dann aber, dass er zu ihr aufschloss, und nahm seine Hand. Seine Überraschung musste sich wohl auf seinem Gesicht gespiegelt haben, denn sie lächelte amüsiert. Als sie zu den restlichen Amazonen stießen, bemerkte Crimson, dass Ellaira ziemlich niedergeschlagen wirkte. Er löste sich von Paladia und packte seine Schwester an den Schultern. „Ist alles in Ordnung? Hat dir... jemand... wehgetan?“ „Neee.“ Sie zierte sich ein bisschen. „Es war wirklich, äh... aufschlussreich mit Fawus oder wie er hieß. Ich wollte schon bleiben, um es noch ein paarmal mit ihm zu versuchen, aber diese Schamanin von der Krankenstation riet mir davon ab. Sie meinte, Magier brächten nur Unglück.“ „Ach... ja.“ Crimson grinste ironisch. „Sieht man ja an mir...“ Auch Paladia kicherte. „Ich beschwere mich jedenfalls nicht.“ „Sie meinte, dass der Kerl ein erfahrener Alchemist ist und genau weiß, wie er verhindern kann, dass er mich schwängert,“ teilte Ellaira ihm mit. „Er hat mich also nur ausgenutzt, der Drecksack!“ „Oh.“ Das hätte Crimson zu gerne überprüft, denn Fawarius konnte ja nicht gewusst haben... oder doch? Schließlich war ihm ja seit ein paar Stunden bekannt gewesen, dass die Amazonen sich im Schloss aufhielten, bevor Ellaira sich ihm an den Hals geworfen hatte. Allerdings verwarf er seinen Plan sogleich, denn im Grunde fand er es ganz gut, dass sich seine Schwester nicht an einen Mann hängte, der altersmäßig ihr Vater hätte sein können und überdies im Schloss arbeitete. Das wäre wirklich seltsam gewesen. Es gab wichtigere Probleme. Bevor sich alle von ihm verabschieden konnten, brachte Crimson das Thema Sorc/Soach ins Gespräch und erklärte ihnen, wie er und Paladia verblieben waren. Ellaira und die übrigen Amazonen der Gruppe, die Soach nicht kannten, zuckten nur mit den Schultern, aber Amazia reagierte unerwartet wütend. „Ich bin nicht bereit, diese Sache einfach zu vergessen, immerhin habe ich dich gesehen, wie es dir ging, als du aus seinem Kerker kamst!“ „Aber... Paladia war mit mir dort und sie hat kein Problem damit...“ versuchte Crimson zu argumentieren. „Moment,“ brachte Paladia sich daraufhin ein. „Ich tue das nur für dich. Schließlich kenne ich dich gut genug, nachdem ich eine Weile bei dir gewohnt habe. Deshalb vertraue ich deinem Urteilsvermögen und respektiere deinen Wunsch.“ Dagegen konnte er nicht einmal etwas sagen. Er wusste sehr zu schätzen, dass sie Soach von Sorc trennen wollte, daher widersprach er gewiss nicht, nachher überlegte sie es sich noch anders. „Kannst du das dann nicht auch für mich tun?“ wandte er sich an seine Mutter. Amazia verschränkte die Arme und verzog das Gesicht, als hätte sie etwas Bitteres im Mund. „Naja... gut, wenn du das unbedingt willst...“ „Du musst Soach ja nicht mögen, aber behandle ihn nicht länger wie einen Verbrecher!“ bat Crimson sie mit einem ganz lieben Blick. „Nun ja... von ihm geht ja wohl kaum noch Gefahr aus, also von mir aus,“ ließ Amazia sich erweichen. Crimson gab sich damit zufrieden. „Danke, Mutter.“ Sie umarmte ihn zum Abschied. Ellaira und Paladia taten dasselbe. Dann verließen die Amazonen zusammen das Schloss und gingen zu ihren Vögeln. Crimson begleitete sie noch und sah ihnen nach, bis sie kaum noch zu erkennen waren. Kapitel 31: Feuer zum Mittag ---------------------------- Erst am Nachmittag ging es in Schloss Lotusblüte wieder normal zu, nachdem alle Bewohner ihren Rausch ausgeschlafen und einigermaßen die Kopfschmerzen wegbekommen hatten. Im Speisesaal stand ein verspätetes Mittagessen bereit, als Blacky und Dark eintraten. Es handelte sich um eine kräftige Gemüsesuppe, der man nach Wunsch Fleisch hinzufügen konnte, das in einer separaten Schale bereitstand. Beides wurde von Wärmezaubern warmgehalten. Lord Genesis und Thaumator fehlten am Tisch des Zirkels des Bösen. Auf den Plätzen, die dadurch frei blieben, saßen Soach und Shiro, um die Gäste zu unterhalten. „Dein Vater wirkt recht ausgelassen,“ bemerkte Dark. Blacky nickte. „Er tut seine Pflicht als stellvertretender Schlossherr. Er wird lächeln, selbst wenn es ihn umbringt.“ In den roten Augen fehlte einfach der Glanz. Und vermutlich hatte Soach auch nicht viel Schlaf bekommen, sondern sich erst um Lily und dann um seine Aufgaben im Schloss gekümmert, nachdem er die Nacht am Strand verbracht hatte. Blacky fühlte sich hilflos. Er mochte noch so sehr daran glauben, dass alles gut wurde – davon ging es aber seinem Vater jetzt nicht besser. Manchmal kamen auch einem Chaosmagier beinahe Zweifel. Dark drückte ihm eine Suppenschale in die Hand und dirigierte ihn zu einem Tisch, an dem nur die Hälfte der acht Plätze besetzt waren, nämlich von Fire, Eria, Ujat und Mava. Der Stuhl links neben Fire war frei, stand aber nach vorne gekippt an den Tisch gelehnt, als wäre er für jemanden reserviert. Eria saß über Eck an seiner rechten Seite, was für das Pärchen aber ganz praktisch war, denn so konnten sie sich beim Reden besser ansehen und ein bisschen turteln. Blacky suchte sich den Platz gegenüber seines Bruders aus, denn dort konnte sich Dark zu ihm setzen. Allerdings wählte er dann den Platz neben Eria, so dass sie ebenfalls über Eck turteln konnten. Ujat warf ihnen von rechts beziehungsweise gegenüber Blicke zu. Blacky wunderte sich oft, ob der Mann wohl irgendetwas sah, wann immer jemand Neues in seinen Wirkungskreis kam. Der ältere Magier hatte bereits bewiesen, dass er zur richtigen Zeit zu reden wusste. Und vor allem zu handeln. Er stand ganz oben auf der Liste der Personen, denen Blacky gerne einen großen Gefallen tun wollte. Während er das dachte, lächelte Ujat ihm zu, nickte grüßend und wandte sich wieder seinem Essen zu. „Er wollt‘ das mit Crimson besprechn,“ fing der Chaosmagier Gesprächsfetzen von Fire auf. „Weißte, wanner wieda auftaucht?“ „Frag lieber Cathy,“ sagte Eria. „Crimson schläft im Moment am Tag, weil er nachts den Vampir unterhält. Gestern waren sie im Dunkeln schwimmen, hab ich gehört. Genesis hat auch viele Tipps für ihn, wie er sich als Zirkelmitglied verhalten sollte. Aber das haben die Typen wohl alle.“ „Vor allem musser jetz wohl auch so Protzklammottn anziehn,“ überlegte Fire und grinste. „Das is wohl ne allgemeine Macke bei denen...“ Jemand nahm sich den reservierten Stuhl und setzte sich, ohne zu fragen. „Guten Tag, allerseits.“ Blacky hätte Thaumator fast nicht erkannt, denn er trug untypischerweise einen engen, schwarzen Pullover zur schwarzen Hose. Weder der Kragen noch die Ärmel sahen besonders protzig aus, und der Hut fehlte völlig. Er legte einen braunen Leinenbeutel auf den Tisch und entnahm ihm einen kleinen Teller aus gebranntem Ton, auf dem er dann einen Kerzenstummel festklebte. „Fire, Sei doch so gut und entzünde den Docht.“ Sofort unterbrach der junge Feuermagier sein Gespräch. „Ja, kein Problem, Meister...“ Er starrte das Ziel eine Minute lang an, machte dann eine Handbewegung und ließ eine Stichflamme erscheinen, die fast bis zur Decke reichte, und das wollte etwas heißen in einem Schloss. Blacky vergaß, seinen Suppenlöffel zum Mund zu führen. Allen anderen außer Ujat, der sich mit seiner Schale in der Hand zurück gelehnt hatte und sie nun genüsslich austrank, schien es ähnlich zu gehen. Mava, der neben Ujat und in direkter Nachbarschaft des Experiments saß, sprang fluchend auf und versuchte, den Schaden zu begrenzen, nachdem er seine Suppe über seine Robe verkippt hatte. „Schon ganz gut, wie du die Kerze angezündet hast, Fire,“ kommentierte Thaumator. „Den Untersetzer zu zerstören und einen verkohlten Fleck auf dem Tisch zu hinterlassen, gehörte allerdings nicht zur Aufgabenstellung, daher keine volle Punktzahl.“ Er holte einen neuen Kerzenstummel aus dem Beutel und klebte ihn auf die erkaltenden Reste des ersten inmitten einiger Tonscherben. Während Mava seine Kleidung mit einem Reinigungszauber behandelte, sah Blacky gespannt zu, ob der nächste Versuch besser verlief. Die Gespräche an den anderen Tischen verstummten. Einige Neugierige machten die Hälse lang, aber anscheinend traute sich niemand, sich dem Tisch zu nähern. Ob das an Thaumator lag oder generell an der Anwesenheit der Zirkelleute, war schwer zu sagen. Fire warf stirnrunzelnd einen Blick auf seinen Lehrmeister. Da dieser seine Anweisung nicht widerrief und auch sonst nichts mehr dazu sagte, versuchte er es einfach erneut. Danach war der verkohlte Fleck auf dem Tisch noch etwas schwärzer. „Du benutzt zu viel Meras,“ erklärte Thaumator ihm. „Ich habe mich gefragt, warum du keinen Abschluss auf der Eisigen Universität gemacht hast, ist das vielleicht der Grund?“ „Ihr habt wohl mal wieder Eure Hausaufgaben gemacht,“ grummelte Fire. „Tatsächlich hatte ich das ein oder andere Problem mit meiner Feinarbeit, aber einen Abschluss hätte ich schon noch gekriegt. Ich hatte einfach keinen Bock mehr.“ Thaumator legte wortlos einen neuen Kerzenstummel an den alten Platz, überlegte es sich dann jedoch anders und schob das Übungsobjekt etwas weiter zu seiner linken Seite. Mava rückte seinen Stuhl ein Stück nach hinten. Nachdem Fire noch drei weitere Kerzenstummel vernichtet hatte, sah der Tisch sehr... einzigartig aus. „Vielleicht liegt es an dem Chaosblut in dir,“ überlegte Thaumator. „Chaosmagier sind dafür bekannt, dass sie immer viel Energie verschwenden.“ „Hey! Das liegt einfach daran, dass wir sehr viel davon haben!“ protestierte Blacky. „Naja, aber wo er Recht hat, hat er Recht,“ grinste Dark. „Pah.“ Blacky ließ eine kleine, leuchtende Kugel in seiner Hand entstehen, beugte sich vor und hielt sie an den Docht des neuesten Kerzenstummels, der daraufhin sauber Feuer fing. „Eine legitime Lösung,“ stellte Thaumator fest. „Schließlich bestand die Aufgabe nur darin, den Docht zu entzünden. Theoretisch hättest du auch eine andere Kerze zu Hilfe nehmen können.“ Fire starrte ihn verblüfft an. „Ich dachte, ich sollte... ach, egal. Ey, Blacky... war das jetzt eigentlich Feuermagie?“ Der ältere Bruder zuckte mit den Schultern. „Licht, glaube ich.“ „Es muss nicht unbedingt Feuer sein, damit es brennt,“ nickte Thaumator. Während er sprach, erlosch die Flamme, ohne dass jemand etwas Sichtbares dazu beitrug. Fire machte es Blacky nach, indem er einen kleinen Feuerball zwischen den Fingern erschuf und damit die Kerze entzündete. Blacky fiel auf, dass es ihn einige Mühe zu kosten schien, die Kugel klein genug zu machen. Das Phänomen gab es oft: Mächtiger Magier beherrscht die tollsten Giga-Attacken, aber kriegt keinen Kleinkram hin. Zum Glück musste er selbst sich nicht zu diesem Kreis zählen, weil er viel Magie für kleine alltägliche Dinge verwendete, ähnlich wie sein Vater früher. Wie durch diese Gedanken herbeigerufen trat Soach gerade von hinten an Fires Stuhl heran und sprach den Lehrer seines Sohnes an: „Werdet Ihr eigentlich für den Schaden aufkommen, den Euer Schüler verursacht hat, Thaumator?“ „Selbstredend,“ bestätigte der Feuermagier sofort. „Ehrlich gesagt habe ich gedacht, dass ein Untersetzer reicht, um das Inventar zu schützen – aber immerhin ist er der Legendäre Lord der Flammen. Mein Fehler.“ Fire sah aus, als wollte er im Boden versinken. Sein Gesicht war ganz rot. „Äh... ich dachte, das Schloss kann eh einen neuen Tisch gebrauchen.“ „Vielleicht sollte ich dir dann die Kosten von deinem Taschengeld abziehen,“ überlegte Thaumator. „Ich kriege kein Taschengeld von Euch,“ widersprach Fire. „Doch, traditionell kriegt der Schüler eine kleine finanzielle Zuwendung von seinem Lehrer, das gehört dazu, dass er quasi den Vater ersetzt,“ gab Thaumator zurück. „Äh... das ist aber nicht nötig,“ versicherte Soach ihm. „Es steht Euch ja frei, den Junge trotzdem noch finanziell zu unterstützen, nicht dass er sich am Ende noch einschränken muss, weil ich weniger zahle als Ihr,“ erwiderte der Feuermagier. Soach seufzte. „Macht, was Ihr wollt.“ Fire beugte sich zu Eria. „Kriegst du was von Crimson?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht regelmäßig, aber Cathy lässt mich in die Schatzkammer, wenn ich das möchte.“ „Echt jetz?“ „Ja, echt. Für gewöhnlich lasse ich aber einfach alle Sachen, die ich im Dorf kaufe, auf Crimsons Rechnung setzen.“ Fire grinste breit. „Raffiniert.“ „Erst einmal hast du ja die Aufgabe gelöst,“ lenkte Thaumator seine Aufmerksamkeit zurück aufs Thema. „Wie dein Bruder ganz klar erkannt hat, war es nicht verboten, auf Hilfsmittel zurückzugreifen, obgleich ich mir das natürlich anders vorgestellt habe. Kannst du die Flamme mit Magie löschen?“ Das sah unproblematisch aus: Fire zog die Flamme in seine Hand und schloss die Finger um sie, damit war sie fort. Das überraschte Blacky nicht, denn vorhandenes Feuer unter seine Kontrolle zu bringen gehörte zu Fires speziellen Talenten. „Schön, und nun zünde den Docht wieder an, ohne dass jemand merkt, dass du es warst,“ verlangte sein Lehrer. „Sicher, dass wir das noch weiter versuchen sollten?“ fragte Fire nach. „Du hast Recht, ich sollte erst einmal was essen,“ stimmte Thaumator zu. Als er sich erhob, um sich etwas aus dem Suppentopf zu holen, taten alle Anwesenden so, als wäre nichts gewesen, und nahmen schnell ihre Gespräche wieder auf. Fire sah Eria ernst an. „Ich will schnell selber Geld verdienen für uns!“ Das schien seine Gefährtin zu überraschen. „Willst du etwa wegziehen?“ „Nein, aber trotzdem! Und irgendwann ziehen wir schon weg, ich meine... vielleicht. Ich könnte einen Job finden und wir wohnen in einem eigenen kleinen Häuschen...“ „Meine Güte, so kenne ich dich ja gar nicht,“ staunte Blacky. „Hast du einen Anfall von Verantwortungsgefühl?“ „Jedenfalls solltest du es nicht nötig haben, dich von Thaumator bezahlen zu lassen,“ mischte sich Soach ein. Er sah etwas indigniert aus, so als würde der bloße Gedanke ihn stören. Der Feuermagier tauchte schon wieder neben ihm auf, in der Hand eine Suppenschale. „Ich dachte, Ihr wolltet eine Sorge weniger haben, also vielleicht auch eine finanzielle.“ „Ich habe keine finanziellen Sorgen, aber ich möchte nicht, dass Ihr eine bekommt, wenn Ihr Fire Taschengeld gebt,“ entgegnete Soach. „Eure Kollegen deuteten an, dass Ihr nicht gerade im Geld schwimmt.“ Thaumator lachte mit einem leicht spöttischen Unterton. „Passt lieber auf, dass Ihr nicht bald selber auf dem Trockenen sitzt.“ Soach hob die Augenbrauen, verzichtete aber auf eine Erwiderung. Thaumator aß seine Suppe. „Bei den Anforderungen, die eine Mitgliedschaft im Zirkel des Bösen mit sich bringt, sollte Crimson gut rechnen,“ murmelte Dark. „Zum Glück hatte ich nicht vor, mir Geld von ihm zu leihen.“ Blacky war nicht darüber im Bilde, wovon Dark seine Bauarbeiter bezahlte, die Burg Drachenfels neu aufbauten. Derzeit hatte er auch genug eigene Sorgen. Naja, eigentlich nur zwei. Seinen Vater und Lady Charoselle. Sie erwartete in nächster Zeit eine Antwort von ihm bezüglich des Themas, über das sie sich so lange unterhalten hatten. „Entschuldigt mich,“ sagte er und verließ den Tisch, obwohl es noch interessant gewesen wäre, Fire bei seinem Unterricht zu beobachten. Aber davon konnte ihm ja später Dark berichten. Der Herr von Burg Drachenfels blieb noch sitzen und ließ seinen Geliebten alleine gehen. Das war eines der Dinge, die Blacky an ihm mochte... er konnte einschätzen, wann er Gesellschaft brauchte und wann er lieber für sich sein wollte. Der Chaosmagier entschied normalerweise alles spontan und schnell, denn das gehörte zu seiner Kunst dazu. Aber hier ging es nicht um Magie. Dark versicherte ihm zwar immer wieder, dass er seine Entscheidung respektieren würde, egal, was damit für Komplikationen einhergingen. Aber es war doch ein ziemlicher Einschnitt in ihr beider Leben. Blacky runzelte die Stirn, während er ins Freie trat. Seit wann fürchtete er sich denn vor Veränderungen? Er spazierte zum Strand hinunter und sah den Wellen zu. Hatte er sich denn nicht schon im ersten Moment entschieden? Nur seine Vernunft hielt ihn noch davon ab, diesen Schritt zu gehen, statt dessen dachte er endlos darüber nach. Ihn beschlich das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein, und er drehte sich um. „Aha... bist du mir gefolgt?“ Charoselle zuckte mit den Schultern. „Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet, dich alleine zu treffen. Also bin ich dir wohl gefolgt. Hast du dich entschieden?“ Blacky seufzte. „Du kennst meine Bedenken, aber ich mache es, weil es für Papa ist. Aber versprich mir, dich weiterhin nach einer Alternative umzusehen.“ „Kayos, ich möchte aufhören, mich nach Alternativen umzusehen. Wir haben das doch alles besprochen. Es wird für alle besser sein, wenn die Ungewissheit aufhört.“ „Ja, da hast du Recht... also gut,“ lenkte Blacky ein. „Sollen wir es ihm gleich erzählen?“ Charoselle überlegte kurz. „Nein... lass ihn uns damit überraschen. Er steht dann auch vor vollendeten Tatsachen und kann es dir nicht ausreden.“ „Also wirklich!“ Blacky lachte, zumal er merkte, dass seine Großmutter ganz erleichtert war. Die Herrscherin der Eisigen Inseln lächelte breit, was er schon lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte. „Du wirst es gut machen, davon bin ich überzeugt. Und da wir das nun geklärt haben, können wir uns wieder mit anderen Dingen befassen. Zum Beispiel Fire. Hat der sich wirklich mit dem Mann als Lehrer eingelassen, der Soach ausgebrannt hat? In dem Schloss, das Soachs Seele besitzt?“ Blacky zuckte mit den Schultern. „Ja, Papa hat es ihm erlaubt. Erst wollte Fire es Thaumator wohl heimzahlen, aber irgendwie hat er seine Meinung geändert.“ „Meine Güte!“ murmelte die Lady kopfschüttelnd. „Hoffentlich geht das gut. Thaumator ist der Sohn von Itrikaria, einer fehlgeleiteten Feuermagierin. Hinter der war ich damals auch her, wurde aber durch die Herrschaftsgeschäfte von der Jagd abgehalten. Thaumator hat seine Mutter selber erledigt und wurde dann von Sage und Cosmea gefasst. Um ein Haar hätte der Zirkel des Bösen ihn auch zur Ausbrennung verurteilt, aber da gab es wohl irgendwelche mildernden Umstände.“ „Nun, das kannst du ihm nicht zum Vorwurf machen, schließlich gab es auch bei Papa mildernde Umstände, als er zum ersten Mal vor Gericht stand.“ „Das meinte ich auch nicht,“ winkte die Unterweltlerin ab. „Ich befürchte nur, er wird Fire Flausen in den Kopf setzen. Mir reicht völlig, dass mein Sohn auf die schiefe Bahn geraten ist, da soll es nicht auch noch meinem Enkel so ergehen! Thaumator ist zwar angeblich rehabilitiert, aber er wuchs schon als Handlanger einer Gesetzlosen auf! Sowas vergisst man nicht, glaub mir. Er hat es im Blut, genau wie Edeh es hatte.“ „Oma, jetzt übertreibst du aber,“ wandte Blacky ein. „Sonst müsstest du ja auch bei mir vorsichtig sein. Schließlich hat Papa auch...“ „Dein Vater war in Versuchung durch diesen Malice! Und er hatte eine rebellische Phase, weil er nicht König werden wollte!“ „Ja, schon klar.“ Blacky vermutete, dass seine Großmutter den Haken in ihrer Argumentation durchaus bemerkte, aber nicht sehen wollte. Zugleich fiel es ihr schwer, anderen zu vertrauen, denn als frühere Chaosjägerin hatte sie ihre Erfahrungen gemacht. Zuletzt mit der Familie Arae. Da war es schon verständlich, wenn sie sich um Fire sorgte. „Aber Fire wohnt im Schloss, wo Papa ihn im Auge behalten kann. Und Thaumator somit auch,“ versuchte er sie zu beruhigen. „Das ist nun wirklich etwas, worüber du dir keine Gedanken zu machen brauchst.“ „Mache ich mir aber,“ beharrte sie. „Wer weiß, was Thaumator damit bezweckt. Er dürfte eigentlich gar keine Zeit für einen Schüler haben, den er nicht mitnehmen kann.“ „So? Ist es so zeitaufwändig, im Zirkel des Bösen zu sein?“ „Es scheint gewisse Verpflichtungen mit sich zu bringen,“ überlegte Charoselle ernsthaft. „Aber ich bezog mich eher auf seine Ländereien. Jemand muss sich darum kümmern.“ „Hat er dafür nicht seine Leute?“ „Nein... es gibt nur eine Haushälterin und einen Imker mit seiner Frau. Ich hab mich mit Vanis über ihn unterhalten, er deutete an, dass Thaumator praktisch pleite ist.“ Das überraschte Blacky, obwohl auch Soach schon so eine Bemerkung fallengelassen hatte. „Der Zirkelvorsitzende scheint aber sehr locker mit solch vertraulichen Informationen umzugehen,“ bemerkte er. Lady Charoselle zuckte mit den Schultern. „Wir kennen uns, Soach war mal mit seiner Schwester liiert. Sie haben einen gemeinsamen Sohn.“ „Ja, ich weiß, ich habe Mayet kürzlich getroffen,“ erwiderte Blacky und genoss es, zur Abwechslung mal sie zu überraschen. Seine Großmutter hob tatsächlich erstaunt die Augenbrauen. „So? Na da schau her. Wie geht es ihm?“ „Ganz gut soweit. Aber er versteht sich nicht mit seinem Halbbruder mütterlicherseits. Was vielleicht nicht verwundert, denn der ist ein Arae. Da hat ein Jagerillia schlechte Karten.“ „Jaja, die Welt ist klein,“ pflichtete Charoselle ihm bei. „Man könnte glatt meinen, es gäbe nur zwei Clans bei den Unterweltlern, und die laufen sich ständig über den Weg. Obwohl... Vanis ist ein Lytrao. Also sind es schonmal drei.“ „Richtet sich der Name eigentlich immer nach dem Vater?“ „Für gewöhnlich ja, wenn das Kind nicht von einem anderen Mann adoptiert wird. Das wird aber eigentlich nur gemacht, wenn die Frau sich bindet und es so wünscht. Valia Lytrao ist bisher noch frei. Vermutlich wird das auch so bleiben, sie ist ziemlich eigensinnig.“ „Ähm...“ Blacky rieb sich nachdenklich das Kinn. „Bin ich dann auch ein Jagerillia, oder zählt es nicht mehr, weil ich kein reiner Unterweltler bin?“ „Hmm...“ Charoselle verschränkte nachdenklich die Arme. „Manche Clans sind zwar gegen solche Verunreinigungen ihres Namens, aber es wurde sich darauf geeinigt, dass es egal ist, weil sich solch eine Verwandtschaft meistens irgendwann verläuft. Davon abgesehen schadet es der genetischen Vielfalt nicht, wenn etwas Fremdblut dazukommt. Es wird aber gerne frühzeitig dafür gesorgt, dass solche Kinder wieder einen Bund mit jemandem aus den Clans schließen. Also müsste ich dich am besten, lass sehen... mit meiner Großnichte väterlicherseits verkuppeln, dann ist alles gut.“ Der Chaosmagier grinste breit. „Untersteh dich!“ „Ich werde dich aber auf jeden Fall mal dem Clanoberhaupt vorstellen, damit es offiziell wird. Das sollte ich auch mit Soachs anderen Kindern tun.“ „Nun, dann lade dieses Oberhaupt doch zur Beseelungsfeier ein,“ schlug Blacky vor. „Da werden einige deiner Enkel anwesend sein.“ „Ach ja?“ „Es soll eine Überraschung werden, also sag Papa nichts.“ „Aaaah ja.“ Charoselle wirkte damit zufrieden und fragte auch nicht weiter nach, zumal die beiden abgelenkt wurden, als Cathy sich materialisierte. Der Schlossgeist wirkte im Freien weniger stofflich als drinnen, da das Tageslicht durch seinen Körper schien. „Blacky, komm bitte rein, da sind so komische Gestalten im Anmarsch. Als derzeitiger Chaosmagier des Schlosses könntest du Soach behilflich sein,“ bat Cathy. „Ich komme schon. Oma und ich haben auch besprochen, was wir zu bereden hatten, oder?“ „Ja, das Wichtigste haben wir durch,“ bestätigte Charoselle. Blacky nickte ihr zu und begab sich dann zurück ins Schloss. Da er dafür den Haupteingang benutzte, konnte er bereits sehen, dass sich eine Gruppe von Personen näherte, die anscheinend in einer bestimmten Formation marschierten. Für Einzelheiten waren sie aber noch zu weit weg. Charoselle blieb neben ihm sehen. „Sie sehen nicht wie eine feindliche Armee aus. Vielleicht einfach nur Pilger.“ „Warten wir es ab, sie sind bald hier.“ In der Haupthalle stieß Soach zu ihnen. Er trug seinen neutralen Gesichtsausdruck zur Schau und gab sich ganz als kompetenter Schlossherr in Stellvertretung. Zwar trug er keine besonders protzige Kleidung, aber seine Haltung sprach eine eigene Sprache. Blacky seufzte innerlich. Für die Fähigkeit, sich so zu verstellen und in jeder Situation einen gelassenen Eindruck zu erwecken, bewunderte er seinen Vater aus tiefster Seele. Um neben ihm zumindest einen guten Eindruck zu hinterlassen, straffte er seine Haltung, hob das Kinn und befleißigte sich eines festen Schrittes. Auf Soachs Gesicht erschien kaum merklich ein feines Lächeln. Zur Liste der Dinge, die er zu lernen gedachte, fügte Blacky eine umfassende Beobachtungsgabe hinzu. Als Chaosmagier fielen ihm zwar viele Dinge auf, die anderen entgingen, aber oft ignorierte sein chaotischer Verstand auch Dinge, die anderen auffielen. In diesem Beruf setzte man eben andere Prioritäten. „Gehen wir diesen Leuten ein Stück entgegen,“ schlug Soach vor. „Cathy kann erkennen, dass es anscheinend eine Gruppe ist, die sich um einen alten Mann als Anführer schart. Sie sind auch bewaffnet. Möglicherweise ist er ein hoher Herr.“ Soach ging vor. Blacky und Charoselle folgten einen Schritt hinter ihm, die Formation der Besucher imitierend. Hinter Soachs Rücken warf die Herrscherin ihrem Enkel einen Blick zu und lächelte vielsagend. Ja, Soach benahm sich eigentlich wie ein Anführer, dennoch lehnte er es ab, den Thron zu besteigen. Vermutlich wollte er sich nicht auf diese Art an ein ganzes Volk binden. Sie verließen nach wenigen Minuten das Gelände des Schlosses. Wer seinem Bauchgefühl etwas Beachtung schenkte, merkte das auch, da der Einflussbereich von Soachs Seele plötzlich aufhörte. Sie konnten die Ankömmlinge bereits deutlich sehen, und diese musterten ihrerseits ihr Empfangskomitee. Sechs Männer unterschiedlichen Alters in einheitlichen Rüstungen bewegten sich in lockerem Marschschritt auf das Schloss zu. Jeder hatte einen Rucksack mit Marschgepäck dabei. Sie trugen eiserne Brustpanzer mit einem Wappen, das den Umriss einer Meeresschildkröte zeigte, darüber über die ganze Breite eine Krone mit fünf Zacken. Dazu gab es Arm- und Beinschienen und Helme, die die Männer jeweils unter dem rechten Arm trugen, und eine Lanze in der Linken. Da viele Krieger ihre Waffe üblicherweise mit rechts führten und dabei ihren Helm auf dem Kopf trugen, symbolisierten sie so, dass sie nicht in feindlicher Absicht kamen. Die sichtbare Unterkleidung bestand aus schwarzen Lederhosen und einem feinen, glitzernden Kettenhemd. Ganz vorne ging ein großer alter Mann in einer dunkelblauen Robe, die vorne komplett zugeknöpft war. Er hatte eine Glatze mit einem weißen Resthaarkranz und einen kurzen, gepflegten Bart an Kinn und Oberlippe, ebenfalls ganz in Weiß. Als der Abstand sich auf etwa vier Meter verringert hatte, hob er einen Arm und ließ seine Eskorte anhalten, wobei er selbst noch weiter ging. Etwas an ihm störte Blacky, aber er konnte es nicht recht benennen. „Ihr müsst der Beschreibung nach wohl der Rehabilitand Sorc sein,“ lächelte der Fremde. Seine Stimme war überraschend tief. Er wandte seinen Blick Soachs Begleitern zu, wobei er Blacky nur kurz streifte. „Oh! Charoselle!“ Die Lady trat vor und umarmte ihn herzlich. „Odan! Dich hätte ich hier nicht erwartet! Bist du nicht mehr für den Meereskönig unterwegs?“ „Schon, aber ich werde langsam zu alt dafür, deshalb bin ich ja hier,“ entgegnete der Mann Namens Odan lachend. „Und was machst du hier?“ „Oh... ich besuche meinen ältesten Sohn, Soach. Das ist er.“ Charoselle legte eine Hand auf Soachs Schulter. „Und der junge Chaosmagier neben ihm ist sein Erstgeborener, Kayos.“ Odans Augen wurden ganz groß. „Wirklich? Das ist der kleine Soach? Der war damals, wie alt? Zwei? Meine Güte... ich habe wirklich kein gutes Zeitgefühl.“ Er schüttelte Soach eifrig die Hand, dann auch Blacky. „Und er hat selber schon einen erwachsenen Sohn!“ „Nicht nur einen,“ konnte sich Blacky nicht verkneifen zu sagen. Odan grinste ihn freundlich an. Seine Augen strahlten in einem wässrigen Blau, eigentlich eine Farbe, die eher blass zu wirken hatte. Merkwürdig. Blacky zog in Erwägung, dass er vielleicht etwas an ihm sah, das anderen Augen verborgen blieb. Als der Alte sich wieder Soach zuwandte, schloss er die Augen und konzentrierte sich. „So... dann ist der Rehabilitand Sorc also Prinz Soach, der Sohn von Lady Charoselle... die Welt ist wirklich klein,“ hörte er Odan sagen. „Ich nehme an, ihr kommt auf Einladung des Zirkels des Bösen,“ stellte Soach fest. „In der Tat... man teilte meinem Herrn mit, dass ein Rehabilitand mit Namen Sorc zur Verfügung stünde, aber persönlich abgeholt werden müsse.“ Als Blacky wieder hinsah, fühlte er sich fast blind, zumindest in gewisser Weise. Er sah nicht mehr all die magischen Erscheinungen, die die meisten Magier nur sahen, wenn sie eine bestimmte Art der magischen Sichtweise trainierten und einsetzten. Für ihn hingegen war es anstrengend, auf diese Sichtweise zu verzichten. „Ihr seid nicht der Erste, der an mich herantritt,“ informierte Soach den Mann höflich. „Ich habe die Möglichkeit, mir Euer Angebot anzuhören, es aber auch abzulehnen. Das hat man Euch doch sicherlich so mitgeteilt, oder?“ Odan baute sich zu voller Größe auf, wodurch er Soach knapp überragte, und machte ein ernstes Gesicht. „In der Tat, die Nachricht enthielt einen solchen Abschnitt. Aber Ihr werdet zweifellos mit meinem Angebot einverstanden sein, gibt es Euch doch Zugriff auf Magie.“ „Zugriff auf... Magie?“ wiederholte Soach ungläubig. Die Augen von Odan hatten sich nicht verändert. Die Intensität der blassen Farbe musste demnach auch anderen auffallen. Blacky erlaubte seinen eigenen Augen, wieder normal zu arbeiten. Schnell trat er einen Schritt vor. „Papa, vielleicht sollten wir unsere Gäste erst einmal herein bitten. Sie sind sicher müde und hungrig.“ „Ähm... ja, natürlich. Hier entlang.“ Falls die Aussicht, wieder Magie benutzen zu können, Soach etwas aus der Fassung gebracht hatte, war er bereits wieder in seiner Rolle als Prinz und stellvertretender Schlossherr. Er führte die Gruppe zum Schloss, wo sie bereits von Gorz und Mava erwartet wurden, die den Soldaten die Gruppenunterkünfte zeigen wollten. Die Männer zögerten, Odan allein zu lassen, doch dieser winkte gut gelaunt ab. „Geht nur. Mit Charoselle an meiner Seite kann mir nichts passieren.“ Blacky folgte dem alten Mann, Soach und Charoselle in das Büro des Direktors, wo sie zusammen in der Sitzgruppe Platz nahmen. Eines der rothaarigen Küchenmädchen kam herein und brachte eine Kanne mit wohlriechendem Tee und schöne Becher. Kurz darauf erschien ihre Kollegin mit Keksen. Als beide wieder gegangen waren, breitete sich ein erwartungsvolles Schweigen aus. „Ich komme im Auftrag meines Herrn, des Meereskönigs. Ich bin Odan, Avatar seiner Majestät König Ebenell Atanos, Herrscher am Atanos-Riff, Träger der Gezeitenkrone, Hüter der Perle von Nimhys, Gebieter allen Wassers, fünfter Erbe des Anemonenthrones. Mein Herr schickt mich, um meinen Nachfolger einzuweisen, denn ich diene ihm nun seit dreiundvierzig Jahren. Er wünscht sich eine jüngere Hülle für seine Auftritte an Land.“ „Deswegen...“ murmelte Blacky. „Ich habe die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass etwas mit Euch nicht stimmt, ich meine... anders ist.“ „Von einem Magier, der etwas auf sich hält, würde ich auch nicht weniger erwarten,“ entgegnete Odan. „Es ist schließlich nicht so, als würde ich den Umstand verheimlichen, dass ich ein Avatar des Meeresvolkes bin.“ Soach verteilte die Teebecher. „Dann habt Ihr wohl vor, mich als Euren Nachfolger zu benennen, nehme ich an.“ „Ganz recht. Wir hatten uns schon seit geraumer Zeit beim Zirkel des Bösen für einen Rehabilitanden beworben. Ein Körper ohne Seele ist allerdings besonders interessant.“ „Ja... weil man das Bewusstsein dann leichter rausschmeißen kann,“ grummelte Soach. „Wenn die Seele nicht im Körper wohnt, kann das dazugehörige Bewusstsein leichter von einem fremden Bewusstsein verdrängt werden. Dahin, wo die Seele aufbewahrt wird.“ Odan hob beschwichtigend die Hände. „Damit kennt Ihr Euch vermutlich besser aus als ich, mir wurde nur gesagt, dass es umso besser ist, wenn Ihr keine Seele im Körper habt.“ „Wie dem auch sei, ich kann Euer Angebot nicht annehmen, denn ich bin telepathisch mit mehreren anderen Geschöpfen verbunden. Das würde Eurem König gewiss nicht gefallen.“ „Ach, das ist kein Problem,“ winkte Odan ab. „Dann müsst Ihr diese Verbindungen eben kappen.“ „Das werde ich nicht, und ich lehne hiermit ganz offiziell ab,“ widersprach Soach. „Ich habe bereits entschieden, dass ich im Lotusschloss bleiben möchte. Meine Loyalität gehört Lord Crimson, dem Schlossherrn.“ „Nun, das verstehe ich schon,“ räumte Odan ein. „Aber ihr solltet lieber noch einmal darüber nachdenken. Dieses schöne Schloss steht direkt am Meer. Und mein Herr, der Meereskönig, ist es nicht gewohnt, dass er seinen Willen nicht bekommt...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)