Das Buch der Zeit von Syntis (Ein Leben, jenseits von Eden (Highlander im Crossover mit gaaaaaaanz viel anderem)) ================================================================================ Kapitel 5: Aufregung nach einem Waldspaziergang ----------------------------------------------- Noch in der selben Nacht war Jenny zu der Lichtung gegangen. In sich spürte sie, dass jemand hier gewesen sein musste. Sie umrundete die Kreise und trat an den Altar. Ihr war das Ritual mit den Jahren sprichwörtlich ins Blut übergegangen. Sie nahm menschlichen Körpergeruch wahr. Er war zwar äußerst schwach, aber er war da; und er roch nicht mal unangenehm. Genauso wie die flüchtige Wärme, die hier scheinbar zufällig war in der kühlen Nacht. Sie verharrte eine kleine Unendlichkeit vor dem Altar, unschlüssig, was zutun sei. Es war der erste Vollmond, seit ihrem Zusammentreffen mit Marius. Ob ich nicht doch nach ihr suchen sollte? Schon lange hatte sie nichts mehr von ihrer Zwillingsschwester gehört, was sie aber auch nicht weiter verwunderte. Selbst das Ritual hatte sie die letzen Jahre über alleine durchgeführt. Aber jetzt, wo sie zugelassen hatte, dass Marius' Behauptungen in ihrem Bewußtsein Fuß fassen konnten, konnte sie nicht einmal mehr den symbolischen Blutstropfen geben. Sie konnte kein Blut mehr sehen. Der Gedanke daran bereitete ihr Übelkeit. Sie ließ sich auf die Knie fallen und begann hemmungslos zu weinen bis sie schließlich schluchzend auf dem Altar lag. Der Stein nahm ihre Spende so an, als wäre es Blut - und erglühte. Das Licht war sanft und beruhigend. Jenny war nicht mehr Jenny, sondern Selen. Sie war die Wächterin. In ihrem leichten weißen Gewand, dass normalerweise etwa knielang war, lag sie da, wie ein Häuflein Elend. Der blaue Kragen, der eigentlich einen großzügigen Ausschnitt säumte, war verrutscht. Die Kette, die sie als Gürtel um die Hüfte geschlungen hatte, erinnerte sehr an einen Rosenkranz an dessen Ende ein kleiner Schlüsselbund hing. Vier bunte Schlüssel. Einer war rot, wie die Liebe; blau, wie die Treue; grün, wie die Hoffnung und schließlich gelb, wie die Eifersucht. Als sie sich wieder zurücklehnte bemerkte sie den Schlüsselbund unter ihrer Hand. Der grüne Schlüssel schien ein Eigenleben zu führen, da er sich regte. Durch ihre gespreizten Finger hindurch reckte er sich zunächst gen Himmel, dann konkret in die Richtung des Steins. Selen, die für den Moment keine Tränen mehr hatte, sah ihm zu und sah etwas anderes. Für sie war es der Beweis, dass Seren noch lebte. Es war die Hoffnung selbst, die ihr Hoffnung gab. Aber dennoch war ihr, als sei Serens Schuld die ihre, unter der sie zusammenzubrechen drohte. Insgeheim hoffte sie, dass Seren diejenige war, die hier gewesen war. Aber warum zeigt sie sich dann nicht? Vor ihrem inneren Auge sah sie Seren. Sie sah nicht sehr glücklich aus. Warum hat sie es all die Jahre nicht erwähnt? Aber sie beantwortete sich ihre Frage selbst. Sie hatte Angst, ich würde ihr Vorwürfe machen. Vielleicht hätte sie sogar Recht damit. Sie wurde sich erst jetzt ihrer Wut bewusst. Wie konnte sie mir das nur antun?? Wenn sie Seren irgendeine Absicht unterstellte, konnte sie sie auch verstehen. Seren hat sich damit selbst vom Schicksal befreit, aber zu welchem Preis? Selen fragte sich, ob sie ihn überhaupt ermessen konnte. Wie viel würde ich opfern? Sie wusste, sie hatte ein Gewissen und dieses sagte ihr einerseits, dass sie nicht das Recht hatte Seren Vorwürfe zu machen, da sie nicht wusste, ob Seren sich überhaupt bewusst gewesen war, bei dem, was sie getan hatte. Andererseits machte ihr der Wortlaut ihrer eigenen Gedanken klar, dass sie ihr nur aus ihrem eigenen Egoismus heraus Vorwürfe machte. "Angetan..." Sie kotzte das Wort heraus, als wolle sie mit ihm den schändlichen Gedanken loswerden. Es half nicht viel. Sie fühlte sich immer noch verraten und verkauft. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. "Durch den Verlust der Blutunschuld oder durch das eigene Blut wird siegen Böse über Gut." Dieser Satz aus dem Buch der Prophezeiungen kam ihr sehr pathetisch vor. Vielleicht liegt es an der Übersetzung? Mit einem Mal fiel ihr auf, dass es nur dieses Buch, oder eher das, was in ihm stand, ihr Leben zu dem gemacht hat, was es ist. Die übergroße Vorsicht, die vielen Vorschriften, die Ängste, die Qualen. Wenn wir nur nie davon erfahren hätten. Ja, so musste es sein. Für Selen verhielt es sich so, wie Ödipus und dessen Sage. Sie fragte sich, ob es hätte anders laufen können, hätten sie nicht davon erfahren. Hätte ich dann schon jemanden getötet? Sie war sich nicht so sicher, ob sie nicht doch irgendjemanden getötet hatte. Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Die wenigen Male, die sich ihr Gewissen regte, regte es sich gewaltig. Was wäre, wenn wir beide unsere Blutunschuld verloren hätten? Vor ihrem inneren Auge nahmen Bilder Gestalt an, die irgendetwas vertrautes hatten und sie dadurch um so mehr erschreckten. "So viel Gewalt. So sinnlos... " Sie wollte sich abwenden, aber ihre Phantasie verfolgte sie, zügellos spielte sie ihr ein Horrorszenario nach dem anderen vor. Selen sprang auf, wollte nur noch fliehen, aber dazu fehlte ihr die Kraft. Wimmernd brach sie über dem Stein zusammen. Nach einer Weile lag sie beinahe reglos da. Sie hatte aufgehört zu wimmern und als sie den Versuch zu fliehen aufgab, hörten auch die Bilder auf. So lag sie dort, bis die Sonne begann aufzugehen. Mit dem ersten Sonnenstrahl, der sie berührte, verschwand Selen und zurück blieb eine müde und erschöpfte Jenny. Sie wurde und wurde das vertraute Gefühl nicht los, konnte es aber auch nicht einordnen. Sich der aufgehenden Sonne, also der wachsenden Helligkeit und der Trainingssachen, die sie noch immer trug, bewußt und der Möglichkeit, Alex könne sie sehen, entschied Jenny sich dafür so zu tun, als ob sie nur eine Runde joggen gewesen wäre. Sie blickte gen Osten, zur aufgehenden Sonne. Die ersten Strahlen, die durch die Blätter brachen, brachten sie zum blinzeln. Und die Strahlen, die ihr direkt ins Auge fielen, erzeugten ihr ein Stechen im Kopf. Schnell drehte sie ihren Kopf zur Seite, sah in den Wald und sah doch nichts. Als sich ihre Augen endlich wieder an die noch vorherrschende Dunkelheit angepasst hatten, sah sie mit ungewohnter Klarheit und Schärfe was da vor ihr, neben ihr und überhaupt um sie im Wald passierte. Ihre Gedanken flogen, flogen schneller und höher als bisher. Jedenfalls erinnerte sie sich nicht daran, dass es jemals so intensiv war. Das gleißende Licht hatte in ihr eine verschüttete Erinnerung wachgerüttelt - zumindest glaubte sie es, sie war nicht sicher. Um sich darüber Klarheit zu verschaffen musste sie zurück, nachschauen. Sie hatte schließlich nicht umsonst ihr ganzes Leben in ihren Tagebüchern festgehalten. Jede Begebenheit, jede Erinnerung und größtenteils die Gedanken und Gefühle, die sie dabei hatte. Es gab wieder etwas für sie aufzuschreiben. Und, wie sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie Alex mit noch keinem Wort in ihren Aufzeichnungen erwähnt hatte. Kunststück, wenn er erst seit gestern da ist. Hab doch noch gar nichts aufgeschrieben. Sie wollte es herausfinden, ob sie sich richtig erinnerte oder nicht und dann musste sie - ob sie nun richtig lag oder doch nicht spielte keine Rolle - die Tage niederschreiben. Sie hatte über Marius noch nichts aufgeschrieben. Sie war im Chaos ihrer Gedanken und Gefühle - vor allem im Sumpf des Selbstmitleids - ertrunken. Sie hatte sich schon gewaltsam aufrappeln müssen Alex Zimmer herzurichten. Die ganzen drei Wochen waren so an ihr vorbeigezogen, als wären sie gar nicht gewesen. Wenn man das alles bedenkt, so fuhr es ihr durch den Kopf, ist es erstaunlich, was Alex unabsichtlich an nur einem Tag vollbracht hat. Obwohl sie dankbar war, sträubte sich in ihr dennoch etwas. Egal wie sympathisch er ihr war, etwas merkwürdiges ging von ihm aus. Als sie aus dem Wald trat hielt sie den Blick gesenkt, um nicht mit der gleißenden Helligkeit konfrontiert zu werden. Mit dem letzten Baum begann sie zu rennen, was ihre Joggingtour andeuten sollte. Sie wußte ja nicht mal warum er überhaupt hier war. Sie lief querfeldein über die Wiese Richtung Haus. Als sie kurz ihren Blick hob und über das Haus schweifen ließ, bemerkte sie das offene Fenster. Sie überlegte einen Moment, ist das nicht Alex Zimmer? Doch! Ob er schon auf ist? Endlich nahe genug, ließ sie ihr inneres Auge durch sein Zimmer schweifen. Ich will doch nur wissen, ob er schon auf ist, beruhigte sie sich selbst. Schließlich fand sie ihn schlafend in seinem Bett. Da sie nicht körperlich anwesend war und auch keine Geräusche verursacht hatte, konnte sie sicher sein, dass er sich nicht einfach nur schlafend stellte, er hätte ja keine Veranlassung dazu. Oder doch? Sie betrat das Haus, stand aber nicht wie sonst völlig im Dunklen, sonder sah alles, wie bei voller Beleuchtung und nicht, wie vom Hellen ins Dunkle, nämlich nichts. Nachdem sie sich ganz sicher war, dass niemand in der Nähe war, der sie hätte beobachten können, ging sie auf den großen Spiegel, der auf der anderen Seite des Foyer, gegenüber der Tür hing. Für sein Alter war der Spiegel erstaunlich groß. Er war noch ein Stückchen höher als Jenny und etwas über einen Meter breit. Vor dem Spiegel angekommen berührte sie in der Fassung einen Stein, drehte dann an den beiden anderen. Der Spiegel war kunstvoll in die Wand eingearbeitet und wurde somit zu einem Teil der Wand. Sie legte die linke Hand flach auf den Spiegel drehte mit der rechten weiter vorsichtig an den beiden Steinen. Die Steine fielen eigentlich nicht weiter auf, da rund um den Spiegel die selben Edelsteine in die Fassung eingebettet waren. Alleine, weil Jenny wusste, welche sie berühren und welche drehen musste, konnte nur sie den Spiegel als das benutzen, was er war: ein Durchgang. Sie drehte, bis ihre Hand in die Spiegelfläche eintauchte. Dann zog sie die Hand wieder raus und blieb durch die quecksilberfarbene, an dickflüssiges Gummi erinnernde Masse mit dem Spiegel verbunden. Sie zog die Hand noch weiter vom Spiegel weg, bis die Verbindung in der Mitte riss. Ein Teil blieb an ihrer Hand zurück, der andere federte zurück und verursachte die gleichen konzentrischen Kreise, wie ein Stein, den man ins Wasser warf. Sie wusste zwar, was sie erwarten würde, auf der anderen Seite, doch trotzdem hielt sie - und vielleicht weil sie es wusste - die Luft an und trat mit einem beherzten Schritt durch den Spiegel. Es war immer wieder neu, und doch immer das gleiche, wie sie feststellte. Jenseits dieses Durchgangs gab es keine Elektrizität mehr, so tappte Jenny durch das kurze Stück Gang, bis sie schließlich die erste Stufe nach unten erreicht hatte. Offiziell hatte dieses Haus keinen Keller und außer ihr gab es niemanden - lebendes - der noch davon wusste. Sie folgte dem vertrauten Lauf der Wendeltreppe hinab in die Dunkelheit. Sie kannte jeden Winkel, jede Unebenheit, da war am Ende der Treppe der niedrige Türsturz, der selbst für sie, mit ihren 1,66m noch etwas zu niedrig war. Auf der Treppe gab es eine Stelle im Geländer, die schon seit Jahren herausgebrochen war. Oder das seit Ewigkeiten aus der Wand und der Decke tropfende Wasser, das in der stillen Luft Moos gebildet hatte und das durch die ständige Feuchtigkeit immer ziemlich glitschig war. Nach etlichen ausgetretenen Stufen, die immer zu einer Linksdrehung nach unten führten, kam sie schließlich unten an, folgte dem anschließenden Gang noch ein paar Schritt weit, bis sie das vertraute blau - silber schimmernde Licht am Ende sah, dass vom links abzweigenden Gang herkam. Sie folgte ihm, so wie sie es immer tat uns stand in dem niedrigen Raum, der ganz allein ihr Reich war. Außer ihr, war nach Errichtung dieses Hauses niemand mehr hier unten gewesen. Mit einem gequälten Blick durch den Raum, erinnerte sie sich daran, dass sie schon beim letzten Besuch hier unten sich zum wievielten Mal vorgenommen hatte sauber zu machen. Irgendwann war ihr in einem Wutausbruch ein Tonkrug und ein Becher zum Opfer gefallen, sowie ein Regal, dass aber auch grundsätzlich bis auf den Staub, der darauf lastete, immer leer war, aber auch noch ein paar andere Dinge hatte ihre Wut davon gefegt. Hier unten im Keller gab es keine Türe, die es zu schließen galt, außer vielleicht ... Jenny überlegt, ist das Tor nun eine Tür die man schließt oder nicht? Das Tor, ein Oval, mit Schriftzeichen auf seinem Rand. Mit dem Rahmen war es etwa 2,30 hoch, schloss mit der Decke des Raumes ab, und war an seiner breitesten Stelle etwa 1,50m mit Rahmen. Es war eine Extraanfertigung allein für sie gewesen, ein Geschenk. Damals hatte sie sich riesig gefreut, was für ein Wunder, dachte sie, ich war ja noch ein Kind. Ein eigenes ,Sternentor', wie die Menschen es genannt hatten, aber sie wusste es besser, bis auf Dileva war sie die einzige. Das war der springende Punkt. Dileva fürchtete sie deswegen. Jede Wächterin hatte ihr ,Aufgabenfeld' nur Selen nicht. Selen war in jedes Aufgabenfeld irgendwie integriert und irgendwann hatte sie gelernt die Magie der Zeit ein wenig zu kontrollieren. Das war es, was Dileva ein Dorn im Auge war. Die Wächterin der Zeit vom Pluto, die, die als einzige Herrin über die Zeit sein sollte, das, was sie ausmachte, müsste sie nun mit einem Kind teilen. Damit nicht genug, es war auch noch eine der Zwillingsseelen, die, die nur zu leicht dem Wahnsinn anheim fallen. Dileva hielt sie zweifellos für wahnsinnig, Unberechenbarkeit musste einfach dazu gehören. Keiner wusste so genau, was Selen sich bei dem, was sie tat dachte. Seren war zwar auch eine Zwillingsseele - wie konnte es auch anders sein, als Selens Schwester? - und bei ihr wusste man genauso wenig, was sie sich dachte, aber sie tat es eher unauffällig. Selen hatte schon alle Wächterinnen gegen sich aufgebracht, denn jede fürchtete sich davor überflüssig zu werden, wenn so ein Kind ihre Gabe besaß und somit ihre Aufgabe übernehmen konnte. Ob Selen das nun beabsichtigte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Warum sollte ich mir mehr Arbeit und mehr Verantwortung aufbürden, als ich tragen kann? Drei der fünf äußeren Wächterinnen hatten mit der Zeit fast schon so etwas wie Hass gegen sie entwickelt. Havea war noch nicht wieder erwacht, denn es würde sie viel Kraft kosten, nachdem sie sich eingesetzt hatte alle zu retten, leider umsonst. Sie, die Wächterin von Zerstörung und Wiedergeburt, war der Selbstüberschätzung zum Opfer gefallen. Oh ja, dachte Jenny, die mehr und mehr wieder Selen wurde, die Krankheit der Wächterinnen. Maßlose Selbstüberschätzung, Arroganz, Eitelkeit und falscher Stolz. Sie blickte auf das Sternentor, nicht ohne einen Stich im Herzen zu spüren. Ob Dileva jetzt allein am Zeitwehr sitzt und wieder böse zu mir rüber schaut? Sie hatte das Sternentor zu ihrem eigenen kleinen Zeitwehr gemacht. Das verzieh Dileva ihr nie. "Es kann nur ein Zeitwehr geben, erschaffen von der Zeit selbst." Hatte sie ihr damals gesagt. Aber es gab doch noch ein Zweites, und wenn sie - Selen - es wollte, auch noch mehr. Selen war nie darüber hinweggekommen, dass die Wächterin der Zeit sich gerade in diesem Punkt geirrt hatte. Kannte die Wächterin am Ende ihre eigenen Fähigkeiten nicht? Selen erinnerte sich dunkel an ein Gespräch mit ihrer Mutter, wie sie ihr und Seren eine Geschichte erzählt hatte. "Einst wird sie kommen, die Wächterin der Wächterinnen ..." Ihre Mutter hatte noch weiter geredet, aber daran konnte sie sich bei besten Wille nicht erinnern. Aber in dem verdammten Buch der Prophezeiungen stand auch was über die Wächterin der Wächterinnen. Selen drehte sich um. "Hier irgendwo muss es doch sein... dieses verdammte Buch!" Murmelte sie und stieß noch lästerlichere Flüche in Verbindung mit dem Buch aus. Sie hatte es seit Jahren nicht mehr angefasst. Irgendwann fand sie es schließlich, eingewickelt in das alte, schon brüchige Ledertuch, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Eigentlich wollte sie nicht mehr darin lesen, aber die Geschichte der Wächterinnen und vor allem der einen, ließ sie nicht los. Das Buch hatte seinen eigenen Wille und von Zeit zu Zeit schrieb sich auch neues auf die noch leeren Seiten, die nie auszugehen schienen. Suchte man etwas bestimmtes, so brauchte man nur aufzuschlagen, und das Buch zeigte die passende Stelle. In gewisser Weise praktisch, dachte Selen, so erspart das verfluchte Buch mir die Zeit mit dem Suchen. Sie schlug das Ledertuch auf und hielt ein wie frisch eingebundenes Buch in Händen. "Du ..." Ihr fiel ein, dass irgendein Philosoph mal gesagt hatte, dass man einem Gegenstand erst mit einem Namen eine Existenz zugesteht. Selbst, dass sie es als ein ,Du' bezeichnet hatte, diese Personifikation ihres ,Feindbildes' kam ihr im Moment lächerlich vor. Das Buch wurde von manchem auch ,das Buch der Antworten' genannt. Jenny, vielmehr Selen wollte genau das jetzt herausfinden. Muss ich erst in meinen eigenen Aufzeichnungen suchen, oder gibt das Buch mir die Antwort? Es war wahrhaftig ein Experiment, da bisher nur bekannt war, dass es über die Zukunft Auskunft gibt. Die Vergangenheit war nie für irgendjemanden von Interesse gewesen. Für niemanden jemals. Nur jetzt wollte Selen Gewissheit über die Vergangenheit haben, die Bestätigung für ihre Annahme. Der Gedanke, dass mit Alex etwas nicht stimmte, machte sie wahnsinnig, konnte sie es doch nicht ohne Hilfe herausfinden. Mit dieser Intention machte sie sich also daran wieder das verhasste Buch zu öffnen, dass sie so lange gehütet hatte, damit niemand, wirklich niemand es je wieder aufschlagen würde. Einen kurzen Moment hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie es wider ihres Versprechens doch wieder öffnen würde. Aber das war egal. Alles war egal, weil die Ungewissheit an ihr nagte, sie zerfraß. In letzter Zeit verfiel sie viel zu oft an einen Gedanken, einen, von dem sie besessen war und sich nicht davon befreien konnte. Ohne Einfluss von außen war es unmöglich. Bis zu dem Tag, an dem das Telefon klingelte und Darius sie bat sich um Alex zu kümmern. Mit einem Mal sah sie ihr Haus mit anderen Augen. Sie war faul gewesen, hatte nur das nötigste wieder unter der Abdeckung hervorgeholt und sauber gemacht. Auch die Luft roch noch abgestanden und staubig. Also hatte sie wie ein Besessene alles geputzt, gerückt, gelüftet aufgeräumt und was ihr sonst noch in den Sinn kam. Vier Tage hatte sie das durchgehalten, doch dann war einfach nicht mehr genug zutun um sich abzulenken, sie verfiel wieder in die alten Depressionen, die sie selber noch nicht verstand. Doch dann war Alex da gewesen und alles war wie weggeblasen. Bis sie wieder alleine war. Jetzt kämpfte sie mit ihrer Neugier und ihren Ahnungen. Diese Aura, die Wärme, der Geruch, alles was sie am Steinkreis wahrgenommen hatte, das weckte eine verschwommene Erinnerung in ihr. Und sie verband sie intuitiv mit Alex. Normalerweise setzte das Buch enorme mengen Energie frei. Es wurde warm, leuchtete und je nachdem, worum es demjenigen ging, der es aufschlug, entfachte es auch manches Mal kleine Stürme. Gefasst darauf, schlug Selen das Buch auf - und starrte es geschockt an. Sie hatte das Gefühl, als ob alles um sie verstummte, die an der Treppe herunter fallenden Tropfen, der pfeifenden Wind, einfach alles. Auch das Licht des Sternentores flackerte und schien sogar schwächer zu werden. Einerseits schien die Erdanziehungskraft um ein vielfaches zu steigen, so schwach fühlte sie sich, aber dennoch hob sie leicht vom Boden ab. Zu guter Letzt schien sich vor ihr ein Wirbel aufzutun, der sie unwiderstehlich anzog. Kurz fragte sie sich, ob das Ergebnis dieses Experiments das wert war, oder ob sie sich vielleicht zu teuer verkauft hatte. Der Wirbel umgab sie wie ein Strudel im Wasser und zog sie immer tiefer und tiefer, bis um sie nur noch ein nichts war - das Nichts? Es erinnerte sie an etwas. Irgendwo entsprang ein gedämpftes Licht, es wuchs und wurde immer heller, irgendwann erreichte es eine Helligkeit, bei der jeder normale Mensch normalerweise erblinden würde. Plötzlich war Selen sich im klaren darüber, wo sie war. Es war nicht die Traumwelt, sondern die Zwischenwelt. Dort, wo sie nach jedem Ritual hingelangt, wenn sie und Seren für kurze Zeit wieder eins wurden. Ihr fuhr bei dem Gedanken an Seren ein tiefer Stich durchs Herz. Vor ihr erschienen drei Personen, wie durch einen Nebel. Auch als sie näher kam, blieb das Bild recht verschwommen und verschleiert. Doch trotzdem fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, da sie erkannte, dass sie dort Seren und sich selbst sah - und Alex. Was zum Henker macht Alex hier? Wie konnte er in die Zwischenwelt gelangen? Und sie hörte angestrengt zu, den Antworten, die sie wohl vergessen hatte. "Wer bist du?" - " Man nennt mich Seven" - "Das bedeutet der Unbekannte" - "Oder der Verstoßene." All das hallte in ihrem Kopf wieder. Warum hat er einen Namen aus unserer Sprache? Im Grunde ahnte sie es, doch wollte sie es genau wissen, selbst, wenn sie dafür ihr eigenes Leben schwächte. Ist er der Sohn einer Wächterin? Die Wächterinnen ließen sich höchst selten mit Männern ein. Sie hatten den Mythos um die Amazonen begründet, die bekanntlich unter ihres Gleichen blieben und nur zur Fortpflanzung sich mit anderen einließen. In Wahrheit war es aber so, dass sie es theoretisch gar nicht nötig hatten, sich fortzupflanzen, da sie quasi ewig lebten. Aber nur quasi. Denn Nachkommen waren nur dafür da, um das Erbe anzutreten. So wäre es eigentlich Haveas Pflicht gewesen möglichst bald einen Nachkommen zu haben, da man ja nie wusste, wann ihre Fähigkeiten gebraucht wurden. Andererseits wäre das eine Schwächung der eigenen Macht gewesen. Denn wenn die Ausbildung des Kindes vorüber gewesen wäre und ihre Stunde noch nicht hereingebrochen war, so hätte das Kind sie ohne zögern absetzen und möglicherweise töten können. Ohne Abkömmling, wie es zuletzt war, war man darauf angewiesen, dass die Seele sich selbst einen neuen Körper sucht, was lange dauert. Zuerst geht die Seele in das Reich der Toten und kehrt dann erst in ewiger Unruhe wieder unter die Lebenden um sich im rechten Augenblick einen neuen Leib zu suchen, der neu beginnt, so wie sie. Aber es war egal. Selen störte sich nicht daran, da es sie nichts anging. Die Zweiteilung der Seele war notwendig, um die lange Dauer ausschließen zu können, die die Seele sonst heimatlos wäre. Ihr ging es auf, dass alle Wächterinnen die Zweiteilung ihrer Macht fürchteten. Es hieß, dass man dann dem Wahnsinn anheim fallen würde. Vielleicht wurde sie deswegen so verachtet und bekämpft. Man hielt sie für wahnsinnig, unberechenbar, für allgemein gefährdend. Aber ob sie damit auch recht haben? Es interessierte sie eigentlich nicht, aber trotzdem schoss ihr diese Gedankenkette durch das Bewusstsein. Der Strudel um sie herum breitete sich auch in ihrem Bewusstsein aus. Das, was das Buch ihr offenbart hatte, war nur ein weiteres Indiz, aber nicht die Antwort, auf die sie gehofft hatte. Ein Gedanke jagte den nächsten und doch drehten sie sich nur im Kreis. Welche Wächterin mochte bloß Alex Mutter sein? Sie wusste, dass En mit Darius gemeinsam eine Tochter hatte, aber sie war eben ein Mädchen und Alex ein Junge. Außerdem war En's Tochter, Elain, schon älter. Dachte Selen zumindest. Sie konnte es sich nicht erklären, aber sie empfand ein fürsorgliches Gefühl für ihn, als ob er noch ein Kind wäre. Aber war sie selbst denn mehr als ein Kind? Ihre Mutter war, ja, wie alt war Mutter eigentlich gewesen? Sie war noch so klein gewesen, und alles war schon so lange her. Ihre Mutter musste so um die 40.000 Jahre alt gewesen sein, vielleicht auch etwas jünger. Was spielten bei so einem Alter ein- oder zweitausend Jahre für eine Rolle? Sie war vier mal jünger als ihre Mutter bei ihrem Tod und sie galt schon als sehr jung. Jede der Wächterinnen hatte schon Selens Großmutter gedient und diese war nun auch schon eine Ewigkeit tot. Im Vergleich dazu waren Selen und ihre Schwester Seren noch Kleinkinder. Und Elain erst, sie musste für die übrigen Wächterinnen noch ein Säugling sein. En hatte ihr ihr Kind anvertraut, da sie um ihr eigenes Ende wusste. En, die ewig Gütige, war mit weit ausgebreiteten Armen und einem überglücklichen Lächeln in den Tod gegangen. Selen hatte sie damals gefragt, was sie mit dem Kind anfangen solle, wo sie nicht wusste, was sie mit ihrem eigenen, dass sie noch unter ihrem Herzen trug, tun sollte. En zuckte damals nur mit den Schultern und gab ihr zu bedenken, dass eine Mutter immer das Richtige für ihr Kind tun würde. Und da En nicht mehr für Elain sorgen konnte, gab sie ihr Kind jemandem, der es wie sein eigenes behandeln würde, da sie doch selbst im Begriff war Mutter zu werden. Selen dagegen zweifelte sehr an En's Entscheidung, fühlte sie sich doch - und daran hatten die übrigen Wächterinnen auch ihren Anteil - auch noch wie ein Kind. Zudem führte sie ein mehr als gefährliches Leben, wie um Himmelswillen soll ich mich denn da gleich um zwei Kinder kümmern?? Entsetzt schaute sie zu, wie En sich von ihrem Geliebten töten ließ. Sie konnte und kann es immer noch nicht verstehen. Obwohl sie es versucht hatte, konnte sie Darius dafür nicht hassen. Elain war kein Kind mehr, als dass sie sie noch irgendetwas über das Menschenleben lehren konnte. Äußerlich mochte man sie für etwa Gleichaltrige halten, aber Elain war Tochter einer Wächterin, einer, die auch noch tot war und wusste davon nicht einmal. Elain war ein Geheimnis, keine der übrigen Wächterinnen wusste von ihr. Auch von ihrem, Selens Kind wusste niemand. Niemand außer Darius, der damals Geburtshelfer war. Er hatte der überglücklichen Mutter ihr Kind in den Arm gelegt, die vor Erschöpfung mit dem Kleinen eingeschlafen war. Einerseits sollte keine der Wächterinnen wissen, dass es eine weitere Teilung gegeben hatte, und andererseits sollten sie erst recht nicht erfahren, dass sie einen Jungen geboren hatte. Ihr Körper hing schlaff in der Luft. Man hatte fast glauben können, eine Tote im schwerelosen Raum zu sehen. Das Buch schien leicht geschwärzt zu sein, als ob seine Seiten ohne Flamme verbrannten. Die Seiten kräuselten und rollten sich an den Enden, doch der Ledereinband blieb verschont. Selen war zu schwach ihre Exkursion in die Vergangenheit selbst zu leiten, so nahm das Buch mehr Energie auf, als es eigentlich konnte. Eigentlich war es das nicht gewohnt. Es gab sonst nur Energie in seinen mannigfaltigen Gestalten ab, aber welche aufnehmen? Wo sollte es die denn speichern? Alles, was Selen sah, zeigte die, wie Wasser erscheinende Oberfläche des Sternentores als Widerschein. Das Phänomen, das die Energie abgesaugt wurde, beschränkte sich nicht alleine auf den Keller, was Selen längst nicht mehr mitbekam. Alex, der längst auf war, ging dieser Merkwürdigkeit nach. Genauso präzise, wie in der Nacht zuvor, wurde er von seinem Gefühl in den Keller geleitet. Er war nicht einmal überrascht. Mit einer noch vertretbaren Portion Neugier betrachtete er, was sich in dem Schwachen vom Sternentor beleuchteten Raum zu sehen war. Mit besonderer Aufmerksamkeit musterte er was auf dem Sternentor zu sehen war. Langsam fing das Buch auch von ihm Besitz ergreifen zu wollen. Er sah auf das leicht vor sich hin glimmende Buch, und Jenny abwechselnd an. Ihm fiel auf, dass Jenny sich irgendwie verändert hatte, so weit er das nach einem Tag und dort oben, unter der Decke schwebend beurteilen konnte. Kurz entschlossen schlug er einfach das Buch zu, er hatte genug gesehen. Einen Moment später sah er Jenny von der Decke sacken, was er nur ganz knapp verhindern konnte, indem er sie ungeschickt auffing. Selen hob nur unter großer Mühe die Augenlider. Sie fühlte sich so schwach, wie schon lange nicht mehr. Selbst zum Blinzeln schien ihr die Kraft zu fehlen, so dass sich ihr Blick, der so verschwommen wie unter Wasser war, sich kaum klärte und die Gestalt, die sich über sie beugte ein verwaschener Fleck blieb. Insgeheim wünschte sie sich, dass es Darius sei. Im Moment schien er ihr der einzige Mensch auf Erden zu sein, dem sie noch trauen konnte, der ihr nicht ans Leder wollte. Die Anstrengung, irgendetwas erkennen zu wollen war schon zu groß, so dass sie gar nicht erst in die Versuchung geriet, es überhaupt wirklich zu versuchen. Müde ließ sie ihre Augenlider wieder zufallen. Alex hingegen fragte sich nicht einmal, was hier passiert war. In dem Augenblick, indem er sie dort unter der Decke hat schweben sehen, war für ihn auch der leiseste Zweifel ausgeräumt, dass zumindest eine der Frauen, die er in seinem Traum - war es denn ein Traum? - gesehen hatte Jenny sein musste. Indess kam er sich aber so hilflos wie ein kleiner Junge vor. So ungewöhnlich sein Leben auch bisher verlaufen sein mochte, das hier überforderte ihn bei weitem. Darius hatte ihm nichts konkretes über diese Frau gesagt, aber dafür um so mehr von ihr geschwärmt. Er war von dieser Person so fasziniert, obwohl - oder gerade weil? - sie so merkwürdig war. Merkwürdig ist sie ohne Zweifel. Allein schon dieser Keller, dieses ... blau - silber leuchtende Ding - er besah sich noch mal das Sternentor - und dass sie einfach so schweben konnte. Vorsichtig, aber nicht gerade sanft, legte er ihren schlaffen Körper auf den Boden. Dann trat er neugierig näher an das Sternentor. "Wie leuchtet es?" nuschelte er vor sich hin, berührte zaghaft den Rahmen - er war fast schmerzhaft kalt, so dass er mit einem erschrockenem Keuchen seine Hand zurückzog. Das versetzte seiner Neugier aber keinen Dämpfer, eher im Gegenteil. Er blies sanft auf die Oberfläche des Sternentores, die einer hochkant stehenden Wasserfläche glich - und auch so reagierte. Beherzt griff er mit der linken Hand auf gut Glück in die Fläche hinein, die daraufhin mit leichtem Widerstand nachgab. Die Flüssigkeit hatte im Vergleich zu dem Rahmen eine angenehme Temperatur. Als er ein leichtes Stöhnen hinter sich vernahm, zog er seine Hand hastig wieder heraus. Bei dem Stöhnen blieb es vorerst. Auch als er sich Jenny näherte, machte er keine Bewegung aus, noch hörte er irgendeinen weiteren Laut, außer seinem eigenen hart schlagendem Herzen. Langsam trat er näher, ließ sich schließlich neben ihr auf die Knie sinken und beugte sich über sie. Lauschend legte er den Kopf seitlich geneigt über ihren Mund. Sein Blick hing auf ihrer Brust, um auch nur das kleinste Heben oder Senken wahr zu nehmen. Nichts. Mehr als beunruhigt griff er nach ihrem Hals, tastete unbeholfen nach der Hauptschlagader, aber da, wo er zumindest ein leichtes Pochen vermutete, war nichts. Langsam geriet er in Panik, ein Hinterhalt, Magie, Hexerei, Teufelswerk, was auch immer sie heimgesucht haben mochte. Plötzlich fühlte er sich unglaublich unwohl - und hilflos. Was soll ich nur tun? Ist sie tot? Mein Gott, sie ist tot! Kein Atem, kein Puls... Unstet wanderte sein Blick durch den Kellerraum, um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden - scheiterte jedoch. Die Panik schnürte ihm die Luft ab, so dass es ihm sichtlich schwer fiel sich zu erheben. Sein Blick fiel auf das Sternentor. Die darauf umher tanzenden Bilder verwirrten ihn. Als sie dann aber an Schärfe gewannen und nicht mehr unkontrolliert tanzten, erfüllten sie ihn mit einem schier endlosen Schrecken. Die blanke Panik trieb ihm den Schweiß aus den Poren, dass ihm Kleider und Haare am Leib klebten. Verzweifelt raufte er sich sein kletschiges schwarzes Haar, das ihm daraufhin wirr ins Gesicht hing. Das Bild war geprägt von einigen Männern am Anfang ihrer besten Jahre. Allein die Tatsache, dass er sie kannte, bescherte ihm seinen tief in seine Glieder gefahrenen Schrecken. Jenny lag augenscheinlich tot am Boden. Auch der ganze Kellerraum sah aus, wie nach einer handfesten Rangelei. Mein Gott, diesmal werden sie mich kriegen. Diesmal werden sie meinen mich zurecht verfolgt zu haben. Aber das tun sie auch immer. Unschlüssig wanderte er durch den Raum. "Wenn sie nun herunter kommen?" Wieder raufte er sich sein Haar. Keinen Moment zweifelte er auch nur daran, dass die Spiegelfläche ihm die Wahrheit zeigte. Um so mehr zweifelte er an seinen Chancen an diesem Tage dem grausamen Schicksal abermals ein Schnippchen zu schlagen. Jetzt war er hier in diesem merkwürdigen Keller mit einer fremden Toten, die er trotz allem irgendwie schon ins Herz geschlossen hatte und mit aller Gewissheit diese Häscher, die ihm schon so lange auf den Fersen waren, ihn diesmal ein für alle Mal den Gar aus machen würden, und das alles überforderte ihn. Zu allem Überfluss war er alles andere als ausgeschlafen, da spielten ihm seine Nerven schon mal ganz gern den ein oder anderen Streich. Das gequälte Husten schräg hinter ihm riß ihn aus seinem Gedankenwirrwar. Er hatte längst die Orientierung verloren, so dass er es für ein verräterisches Geräusch eines vermeintlichen Angreifers hielt. Er stürzte mehr, als dass er sich umdrehte, um die erwartete Gefahr nicht im Rücken zu haben. Mit einem Ausfallschritt versuchte er sich vor einem Sturz zu bewahren, aber als der Geräuschquelle gewahr wurde, konnte er ein entsetztes Keuchen kaum zurückhalten, und fiel doch zu Boden. Das nach Luft japsende und trotzdem irgendwie erstickt klingende Husten kam von Jenny. Er sah sie finster an. "Das kann doch nicht..." Er endete diesen Satz nicht. Er hätte auch gar nicht gewusst, was er hätte sagen sollen. Seine Gedanken jagten in ungeordneten Bahnen, wobei der Vergleich mit irgendeiner Art Bahn schon geschmeichelt war. Jenny ihrer Seits starrte Alex nur fassungslos an. Wie war er hier runter gekommen? Schier endlos starrten sie sich gegenseitig an, bis in Alex die Panik vor den Männern die Oberhand gewann. Gehetzt schaute er immer wieder zum Sternentor erst jetzt fiel Jenny auf, dass dort Bilder, ganze Szenen zu sehen waren. Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mehrfach mit dem Handrücken über ihre Augen, als könne sie nicht glauben, was sie da sah. "Wer sind diese Leute?" Sie entrang sich nur ein Flüstern, noch immer nach Luft ringend. Ihr kam der Keller auf ein Mal so klein vor, war sie doch nie mit jemand anders hier unten gewesen. Es war ihr fast beengend klein vorgekommen und mindestens so wenig Luft musste hier gewesen sein. Alex, der sie trotz seiner geistigen Abwesenheit gehört hatte, schüttelte bloß verstört den Kopf. Augenscheinlich war er nicht in der Lage sie auch nur zu verstehen, oder auch nur eine Antwort hervorzubringen. Seine Reaktion erstaunte Jenny, zwar nur unterschwellig, da sie nun auch Angst anzuspringen schient. Sie hätte nie gedacht, ihn ein Mal der Art aufgelöst zu sehen. Schien er ihr doch gestern noch so unnahbar, so war er heute das genaue Gegenteil. Sie ließ sich zu leicht von seiner Unruhe und Angst anstecken. Ihr Blick fiel im Aufstehen auf das Buch der Antworten, es ist immer noch aufgeschlagen?! Alex folgte kurz ihrem Blick, und starrte mit ungläubig geweiteten Augen und offenem Mund das Buch an. "Aber ... Aber... Ich habe es doch zugeschlagen!" Jetzt war Jenny wirklich beunruhigt - und zwar diesmal von sich selbst aus. "Das Buch will uns ... dir etwas sagen." Flüsterte sie tonlos zwischen ihren kaum geöffneten Lippen. Sie wusste nur zu gut, dass sich dieses Teufelsbuch nicht durch bloßes zuklappen aufhalten ließ, wenn es erst mal etwas mitzuteilen hatte. Vollends aufgestanden, schaute sie das Buch finster an, unschlüssig, ob es allein Alex galt, was dort gezeigt wurde, oder ob sie selbst auch einen Anteil daran hatte. Als sie erkannte, wo die Szenen spielten, war ihr klar, dass sie mit einbezogen war. Also konnte sie ihren im Stillen gehegten Verdacht auch selbst mit einer Frage beweisen können. In einem beinahe unmenschlich tiefen Tonfall und mit Alex unverständlich vorkommenden, genuschelten Worten befragte sie schließlich das Buch, gab ihm Anweisung ihr das rechte Handgelenk eines jeden Mannes zu zeigen. Sie fuhr kurz zusammen als sie das ihr bekannte, sowohl erwartete, als auch weggewünschte Mal auf jedermanns Handgelenk erkannte. Der Kreis, der von einem Ring mit relativ regelmäßigen eher an Rauten erinnernden Punkten, angedeutet wurde. Sein Inneres war dem dem Sternzeichen Widder zugedachten Symbol sehr ähnlich und füllte den Kreis fast zur Gänze aus. Sie fuhr Alex unvermittelt an. "Was hast du mit den Beobachtern zu schaffen?" Alex zuckte unter ihren Worten wie unter einem Hieb zusammen. "Sie ... Sie jagen mich!" Presste er hervor. Er sah sie nur die ganze Zeit verstört an. Ihre nächsten Worte änderte das nicht im geringsten. "Mach dich nicht lächerlich! Die Beobachter jagen nicht, sonst hießen sie Jäger, nicht Beobachter! ... Es sei denn..." Sie machte eine kurze Pause um Alex mit zu Schlitzen zusammengezogenen Augen zu mustern, ehe sie weiter sprach. "Es sei denn, man hat sich als Unsterblicher bei ihnen eingeschlichen und ist aufgeflogen." Eigentlich wusste sie es besser. Es gab wohl einen radikalen Zweig der Beobachter, die ihr Wissen nutzten um Unsterbliche auszumerzen, da diese nur einer üblen Laune der Natur entsprungen seien. Aber das ist der Springende Punkt. Sie müssten glauben, dass er unsterblich ist. Einen Moment kam ihr dieser Gedanke vollkommen absurd vor, gleich wohl sie sich bewusst war, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach der Sohn einer Wächterin war. Das musste wohl zu viel für Alex sein. Er starrte die Bilder auf dem Sternentor unverwandt an. Seine Gedanken an Flucht standen ihm ins Gesicht geschrieben. Sie werden mich erwischen. Diesmal ist es aus. Aus diesem Keller komme ich ja nie wieder raus. Und plötzlich, wie von der Tarantel gebissen, fuhr er herum und rannte davon. Jenny konnte hören wie er die Treppe hinauf eilte. Es war zu spät um ihn aufzuhalten. In Gedanken schollt sie ihn einen Dummkopf. Nirgends wärst du so sicher gewesen, wie in diesem Keller. Aber die Erinnerung daran, wie sie ihn im ersten Augenblick hier unten vor sich stehen gesehen hatte, ließ sie an ihren eigenen Worten zweifeln. Immerhin war er hier ohne Führung hergekommen. Sie war verwirrt, und mit einem Blick auf das Sternentor, auch besorgt. Sie war tatsächlich besorgt um Alex. Darius hatte sie schließlich darum gebeten auf den Jungen acht zu geben. Was tu ich nur? Für ihren Geschmack fühlte sie sich in letzter Zeit zu oft zu hilflos. Mit einer daraus folgenden leichten Wut schlug sie das Buch wieder zu. Schnell rannte sie die Treppe rauf. Hoffentlich tut Alex nichts unüberlegtes. Und gerade da war sie sich nicht so sicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)