Märchenstunde von Sawa (Eine Sammlung düsterer Geschichten) ================================================================================ Kapitel 1: Die Wächter des Waldes --------------------------------- Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte weder Vater, noch eine liebende Mutter, die sich um sie sorgen wollte. In jungen Jahren waren beide nämlich verstorben, als sie in jenen Wald gingen, der so bedrohlich in der Nähe ihres kleinen Häuschens seine Wurzeln verbreitet hatte und in dem die Bäume wie finstere Wächter aus dem Boden wuchsen. Manchmal erwachte das kleine Mädchen auch noch nach Jahren stiller Einsamkeit in ihrem Bettchen, weil sie ein Geräusch vermutete, das aus dem Dickicht an ihr Ohr drang und sie des Schlafes raubte. Dann nahm sie stets ihre Decke in beide Hände und verkroch sich unter dem vertrauten Duft ihrer Mutter, der selbst nach deren Tod in jeder Faser zu entdecken war. Nur wenn die Sonne ihre Strahlen auf die Erde schickte, glaubte sich das Kind in Sicherheit vor der Bedrohung des Waldes vor ihrem Häuschen zu finden. Denn Licht verdrängte die Schatten aus den Baumkronen und ließ die dunklen Wächter kleiner wirken. Das kleine Mädchen musste über die Jahre allein für sich sorgen und es gelang ihr auch, bis zu jenem Tag, an dem sie ihr Kämmerchen öffnete und feststellen musste, dass die frechen Mäuse sie ihres Vorrates beraubt hatten. Es war Winter und die Stadt, die weit hinter dem Walde lag, wurde von dicken Schneedecken versperrt. "Oh weh," dachte sich das kleine Mädchen und zögerte, als ihr bewusst wurde, dass sie durch den Wald gehen musste, wenn sie nicht verhungern wollte. So nahm sie ihre wärmsten Sachen und zog sie sich über, verließ das Haus und schloss die Tür. Ihre Füßchen versanken sofort im weichen Schnee und sie musste sich sehr anstrengen, um voran zu kommen. Mit vorsichtigen Schritten näherte sie sich jenem Ort, der unweit ihres Hauses in vertrauter Umgebung lag und ihr dennoch das Liebste genommen hatte, das sie je ihr eigen nennen konnte. Stets bemüht tapfer zu bleiben schritt sie in den dunklen Wald, der trotz der feinen Sonnenstrahlen, die der Winter noch hervorlocken konnte, alles Licht zu verschlingen schien. Die wenigen Goldmünzen, die sie hatte auffinden können, klimperten fröhlich in ihrer Tasche, während das kleine Mädchen den Tränen nahe war. Noch nie zuvor hatte sie das Gefühl empfunden derartig beobachtet zu werden. Unmerklich wurden ihre Schritte immer schneller und das Verlangen zurück zu kehren versuchte mit aller Macht die Oberhand über die Pflicht zu gewinnen. "Wenn ich nur nicht so alleine wäre" dachte sie mit einer Träne in den Augen, die sogleich verschwand, noch eher sie zu Eis gefrieren konnte. Minuten verstrichen und ihr Weg schien kein Ende zu nehmen. Ebenso nahm auch ihre Angst stetig zu, anstatt zu verblassen und Geräusche von merkwürdiger Abstammung versuchten das Kind in den Wahnsinn zu treiben. Einzig und allein der Gedanke an ein Stückchen Brot trieb sie voran. Um sie herum erstarrte der Wald. Kein Vogel traute sich eine herzliche Melodie zu trällern und keine Abdrücke von Pfoten oder Füßen zeichneten sich auf dem weißen Schneeteppich ab, der glatt und grau vor ihr ausgebreitet lag. Sie fror und war der Verzweiflung nah, doch trieb sie ein unheilvoller Laut zur Aufmerksamkeit, der durch die Stille hallte, wie ein Gewitter durch die Nacht. Und dann sah sie, dass die Bäume ihre Äste regten und nach ihr auszustrecken begannen. Scharfes Holz hinterließ feine Splitter in ihrem Arm, als sich die Birke zu ihr nieder beugte und sie mit ihren kalten Fingern berührte. Auch die anderen Wächter des Waldes traten zu ihrer Aufgabe an und das kleine Mädchen, welches verzweifelt zum Himmel sah, musste erfahren, dass die Sonne von dunklen Wolken verdeckt wurde, die bloß höhnisch zu ihr nieder sahen. "Lasst mich in ruhe" schrie sie, doch aus ihrem Munde wich nur ein kleiner Seufzer, während sich die Bäume auf sie stürzten und ihr mit ihren blätterlosen Klauen die Augen auskratzten. Sie weinte und schrie und versuchte sich los zu reißen, doch hatte man ihr das Augenlicht geraubt, so dass sie nicht voran kam, welche Richtung sie auch anstreben mochte. Verzweifelt und unter Schmerzen ließ sie sich auf die kalte Winterdecke fallen und vergrub ihr blutendes Gesicht unter ihren schützenden, kleinen Händen. Dann schlief sie ein. Und als am nächsten Morgen der Wind in Begleitung der Sonne zu ihr zurückkam, da nahmen sie den kleinen Körper des Mädchens und legten ihn in die kalten Arme ihrer Eltern, die all die Jahre unter dem reinen weiß des Winters auf ein Widersehen gehofft hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)