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Café Speciale

von

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Tage, die nach Himbeeren schmecken

Ben...
 

Wenn ich an Ben zurückdenke, dann rieche ich selbst nach all der vergangenen Zeit wieder das frischgemähte Gras der nahen Felder, höre das träge Quaken der Frösche am Bachlauf, spüre den warmen Sommerregen auf meinen sonnenverbrannten Wangen und schmecke die süßesten Himbeeren der Welt, um derentwillen wir sogar durch Brennnesseln krochen.

Aber vor allem sehe ich einen sommersprossigen Blondschopf vor mir, der immer irgendwo ein Pflaster kleben hatte, da er es sich anscheinend fest vorgenommen hatte, von jedem Baum herunterzufallen, der in unserer Gegend wuchs.
 

Am schönsten waren die Sommer, wenn wir den ganzen Tag draußen spielen konnten.

Ben und ich wateten durch knietiefen Schlamm, verloren unsere Schuhe darin, fingen Kaulquappen oder bauten ein Floß, um wie Huckleberry Finn und Tom Sawyer den Mississippi hinab zu schippern. Nur war unser 'Mississippi' ein kleiner schmutziger Bach und unser Floß lediglich ein paar lose zusammengebundene Äste, die zu schwach waren, um uns beide gleichzeitig zu tragen. Das Floß kenterte natürlich kurz nach dem Zuwasserlassen und Ben und ich gingen baden.

Unsere Kinderträume aber waren unsinkbar und so wurden die Äste wieder festgezurrt und das Floß ging seinem zweiten Stapellauf entgegen.
 

Was ebenso untrennbar zu Ben gehörte, wie die Pflaster auf seinen Knien, war Balu, Bens kleiner grauer Mischlingshund, den er fast überall mit hinschleppte. Vergaß Ben ihn einmal, dann kam Balu die zwei Stockwerke, die sie über uns im Haus wohnten, hinunter gelaufen und bellte so lange vor unserer Tür, bis wir ihn herein ließen.
 

Balus Anhänglichkeit ging sogar so weit, dass er so manches Mal zur Schule gerannt kam, die Ben und ich damals besuchten. Balu saß dann am Rande des Schulhofes und wartete geduldig auf Ben, der ihn nach Hause bringen musste, weil der Hund nach der Pause unbedingt mit ins Klassenzimmer wollte und partout nicht von alleine verschwand, egal, mit welchen Drohungen ihn Ben zu vertreiben versuchte.

Die Kinder fanden den hartnäckigen Balu süß und niedlich, beneideten Ben darum, dass er während der Schulzeit nach Hause gehen durfte, aber sie kannten auch den Hintergrund nicht, weshalb Balu zur Schule gelaufen kam. Bens Mutter war zu betrunken und hatte die Haustür nicht richtig zuschließen können, als sie von ihrem fast tagtäglichen 'Frühschoppen' aus der Kneipe nach Hause kam.

Aber darüber sprach Ben nicht - wie über so viele Dinge nicht.
 

Bens Eltern bekam man ohnehin nur sehr selten zu Gesicht. Ihnen gehörte ein kleiner Zeitungsladen und sie hatten dementsprechend viel zu tun. In den ganzen Jahren, in denen Ben und ich befreundet waren, hatte ich höchstens dreimal mit einem der beiden mehr als nur das obligatorische "Ist Ben da?" gesprochen.

Gingen Bens Eltern aus, hatten sie die befremdliche Angewohnheit, Ben zu Hause einzusperren. Ob sie die Haustür abschlossen, damit niemand herein konnte oder damit Ben nicht heraus kam, fragte ich mich damals nicht. Es wurde irgendwann einfach zu normal, obwohl es das wahrscheinlich nicht hätte sein dürfen.

Das Angebot meines Vaters, Ben könne so lange zu uns kommen, bis sie wieder da waren, hatten seine Eltern kommentarlos abgelehnt und so musste Ben weiterhin alleine in ihrer verriegelten Wohnung ausharren.
 

Um den einsamen Ben wenigstens ein bisschen abzulenken, wenn er mal wieder eingeschlossen zu Hause hocken musste, setzte ich mich kurzerhand ins Treppenhaus vor ihre Tür. Dann unterhielten wir uns, spielten Henkermännchen oder Karten, die man prima unter dem Türschlitz hindurch schieben konnte.

An solchen langen Abenden begannen wir auch damit, uns Spiele auszudenken, die durch die Tür hindurch funktionierten. Welche das genau waren, weiß ich heute nicht mehr, es wurden mit der Zeit einfach viel zu viele.

Was ich noch sehr gut weiß, ist, dass Ben, wenn er eines der Spiele verlor, richtig giftig werden konnte.

"Affengesicht!", klang es dann beleidigt von Ben.

Und "Benny-Bunny!" kam die Retourkutsche von mir, was Ben wiederum maßlos ärgerte. Wer wollte auch schon wie ein kleiner weißer Hase aus einem Kinderbuch heißen? Ben jedenfalls nicht.
 

Ich kannte den Punkt genau, an dem es für mich eigentlich an der Zeit war, die Klappe zu halten oder mich zu verziehen. Ich hielt mich weder an das eine, noch an das andere und forderte es regelrecht heraus, dass Ben austickte. Er war einfach ein Erlebnis, wenn er wütend war, denn Ben konnte herrlich explodieren, wenn man das Richtige zu ihm sagte. Er ging dann wie eine Feuerwerksrakete in die Luft. Nur dass er nicht in glitzernde Farbpunkte zerplatzte, die zur Erde rieselten und verglühten, sondern - sofern er Gelegenheit dazu hatte - sich rasend vor Wut auf mich stürzte und mir öfter als einmal eine blutige Nase schlug.

Aber Bens Wut war zum Glück genau so schnell verraucht, wie sie entflammt war, anders hätte unsere Freundschaft sicher niemals so lange halten können. Am Ende solcher Streitereien mussten wir jedenfalls immer über uns selbst lachen und alles war vorerst wieder gut.
 

Meistens blieben unsere Raufereien allerdings harmlos und wir taten uns dabei nur selten ernsthaft weh. Bloß das ein oder andere Kleidungsstück nahm Schaden, wenn wir es allzu übertrieben.

Was für mich kein Thema war, war für Ben eine Katastrophe. Er hatte aus Angst, dass seine Eltern die zerrissenen Kleider sahen, lieber die Nacht im Wald geschlafen, statt hoch zu seiner Familie zu gehen und das Missgeschick zu beichten.

Da ich weder Lust hatte im Wald zu schlafen, noch Ben alleine dort gelassen hätte, endeten solche Aktionen dann damit, dass wir zu meiner Mutter gingen, die Bens kaputte Hosen oder Hemden nähte, während Ben und ich einen warmen Kakao bekamen und Fernsehen durften.
 

Das erste mal, dass mir bewusst wurde, wie wenig ich meinen besten Freund eigentlich kannte, war an einem Abend, als wir wieder einmal durch die verriegelte Wohnungstür hindurch miteinander spielten. Das heißt, wir hatten es vor, doch Ben schien ausnahmsweise keine Lust dazu zu haben und hockte stattdessen ungewohnt wortkarg auf der anderen Seite der Tür.

Als auch auf meine extra blumig ausgeschmückten Plaudereien keine Reaktion von Ben kam, legte ich mich flach auf den Boden und versuchte einen Blick unter der Tür hindurch in seine Wohnung zu erhaschen.

Bens Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, nur ein schmales Stück seiner mit Schrammen übersäten Beine, aber das Schluchzen, das aus dem düsteren Flur zu mir ins Treppenhaus drang, war nicht zu überhören.
 

"Weinst du?", wollte ich verblüfft von Ben wissen.

Die einzige Antwort, die ich bekam, war ein weiteres unterdrücktes Schluchzen, gerade noch so laut, um das Hindernis der Tür überwinden zu können.

Also doch.

Ich biss mir auf die Lippen. Ben hatte noch nie zuvor geweint; na ja, fast nie. Er tat es eigentlich nur dann, wenn er sich etwas angeschlagen hatte oder richtig wütend war und sich nicht mehr mit Worten alleine zu wehren wusste. Aber Ben weinte nie so verhalten wie in diesem Augenblick.

Mir fiel nur eines ein, wie er wohl wieder aufhören würde:
 

"Heulsuse!", rief ich Ben von draußen zu.
 

Es klappte tatsächlich. Ben verstummte augenblicklich.

Etwa zwanzig Sekunden lang geschah nichts. Ben war einfach still. Er war von der Wirkung meiner Worte anscheinend genau so überrascht, wie ich selbst.

Ich musste unwillkürlich lachen, als ich mir Bens Gesicht vorstellte, wie er mit offenem Mund hinter der Tür hockte und sich fragte, was mir einfiel.

Dann fing Ben plötzlich an zu schreien und mich zu beschimpfen. Er trat mit voller Wucht gegen die Tür, dass es durch das ganze Treppenhaus schallte und ich mir sicher war, dass sie nun aus den Angeln sprang. Ben brach sogar seinen eigenen Rekord im siebzehn Mal hintereinander 'Affengesicht' zu mir zu sagen, worüber ich nur noch lauter lachen musste.
 

So leid mir Ben in solchen Momenten, die sich mit der Zeit zu häufen begannen, auch tat, aber ich konnte es einfach nicht ausstehen, wenn er weinte. Es war keine böse Absicht von mir, ich wusste nur nie, was ich dann zu ihm sagen sollte.

War man wütend fluchte man und regte sich bald wieder ab. Doch was tat man, wenn jemand weinte, den man wirklich mochte und man wusste, dass man ihm nicht helfen konnte, weil die Gründe viel zu kompliziert für Kinder wie uns waren?

Ich hatte keine Ahnung was richtig war und ärgerte Ben deswegen wohl auch lieber, bis er ausrastete. Dann musste ich nicht einfach nur hilflos zusehen, wie er weinte.

Unsere Art den anderen zu trösten war sicher nicht die sensibelste, aber eine Nase hörte irgendwann zu bluten und zu schmerzen auf, Tränen jedoch taten viel tiefer drinnen weh, dort, wo man nicht hinkam, um einen Eisbeutel aufzulegen.
 

Doch das alles war noch steigerbar. Es sollte noch schlimmer kommen; schlimmer, als ich es mir in meinem damaligen kindlich unbeschwerten Universum vorstellen konnte. Jedenfalls empfand ich es damals so.
 


 

An einem Spätsommertag - es war das Jahr, in dem Ben und ich die Schule wechseln würden - kam ich aus den Ferien nach Hause, ohne auch nur die kleinste Ahnung davon zu haben, was sich eben dort in den Wochen meiner Abwesenheit alles verändert hatte.

Meine Eltern waren schweigsamer als sonst, als sie mich bei meinen Großeltern abholten, doch daran, dass dieses Schweigen an Ben und seiner Familie liegen konnte, dachte ich nicht. Warum auch?
 

Die ganze Fahrt über konnte ich kaum ruhig sitzen bleiben. Ich wollte unbedingt zu Ben und ihm die Sachen geben, die ich ihm vor meiner Abreise an die See versprochen hatte.

Behutsam hielt ich die beiden Marmeladengläser auf dem Schoß. Eines der gut verschlossenen Gefäße hatte ich bis zum Rand mit Sand und Muscheln gefüllt und in dem anderen schwappte klares Meerwasser leise gluckernd gegen die Glaswände.

Ben würde ausflippen, wenn er die Gläser sah. Er hatte schon vor unserer Abreise einen Platz auf seinem Regal dafür frei gemacht und mir mindestens fünfzig Mal das Versprechen abgenommen, den Sand und das Wasser ja nicht zu vergessen.

Ich hatte es nicht vergessen und das wollte ich Ben nun auch schnellstmöglich zeigen.
 

Kaum hielt unser Auto vor unserem Haus an, riss ich auch schon in Vorfreude auf das Wiedersehen mit Ben die Tür auf und sprang hinaus.

Mein Vater rief noch etwas hinter mir her, und was es auch war, ich hörte es nicht, denn ich war schon längst durch die Haustür gestürmt und rannte wie ein geölter Blitz die ausgetretenen Holzstufen bis in den fünften Stock hinauf, wo Ben wohnte. Dort stoppte ich erst einmal überrascht.

Die Tür zu Bens Wohnung stand sperrangelweit offen, was bei seinen übervorsichtigen Eltern sonst nie vorkam. Lauter fremde Menschen kamen mir aus der Haustür entgegen oder gingen gerade hinein. Hatten sie etwa so viel Besuch bekommen?

Ich drückte mich an den Fremden vorbei und schlüpfte in die Wohnung, um mich dort auf die Suche nach Ben zu machen.
 

Die Zimmer waren zum größten Teil ausgeräumt und mit braunen Kartons zugestellt, in anderen wurde währenddessen fleißig tapeziert oder gestrichen. Besucher waren die ganzen Leute also nicht.

Bens Eltern renovierten wohl, dachte ich mir und steuerte auf das Kinderzimmer zu.
 

Wie auch die anderen Räume in der Wohnung, war Bens Zimmer vollkommen leergeräumt.

Ein älterer Mann riss gerade den letzten Rest von Bens hellblauer Kindertapete von der Wand. Es konnte also noch gar nicht lange her sein, dass sie mit dem Renovieren angefangen hatten.

Ich stellte mich neben den Mann und schaute ihm eine Weile interessiert dabei zu, wie er eine lange Bahn der zurechtgeschnittenen neuen Tapete auf der Rückseite einkleisterte und sie dann zur Wand trug.

Ob Ben diese hässliche Blumentapete wirklich besser gefallen würde, als die kleinen Segelschiffe?

Ich kam zu dem Schluss, dass Ben sicher nicht froh über einen solchen Tausch war und beschloss, es dem Mann zu sagen, ehe er mit Tapezieren fertig war und wieder neu anfangen musste.

"Ben wird garantiert wütend, wenn er das sieht. Er mochte die Schiffe viel lieber."

Selbst heute noch habe ich das Lachen des alten Mannes im Ohr und sehe sein amüsiertes Gesicht vor mir, als er mir antwortete, ihm hätten sie ja auch gefallen, aber seine Frau wollte leider keine bunten Schiffe im Esszimmer haben.

Der Alte strich mir noch einmal wohlwollend über den Kopf und ließ mich dann unbeachtet stehen.
 

Völlig verwirrt ging ich nach unten zu meinen Eltern, die schon in unserer Wohnung auf mich warteten.

Unzählige Fragen überschwemmten in diesem Moment meine Gedanken. Der mitleidige Blick, mit dem mich meine Eltern empfingen, aber reichte aus, sie alle zu beantworten.

"Tut uns leid", begann meine Mutter leise. "Wir wollten es dir noch sagen, bevor du hoch gehst."

Mein Hals war wie zugeschnürt und auf meiner Brust lag ein zentnerschwerer Felsbrocken. Nur mein Kopf schien noch darunter hervorzuschauen, und so war alles was ich tun konnte, nur stumm zu nicken.

Der Rest von dem, was meine Eltern noch erzählten, ging in meinen eigenen Überlegungen unter. Ben war ausgezogen, ohne mir vorher etwas zu sagen oder die neue Adresse dazulassen. Jetzt konnte ich ihm noch nicht einmal die Gläser mit Meerwasser und Sand geben, die ich ihm aus den Ferien mitgebracht hatte.
 

Ich lernte in diesen Minuten etwas, das ich so vielleicht erst Jahre später erfahren hätte: alleine gelassen zu werden tat verdammt weh - wahrscheinlich weher, als wenn man selbst gehen müsste.
 

Ich habe Ben seit dem nie wieder gesehen. Wie er zu Ferienbeginn unserem Auto nachwinkte sollte lange Zeit die letzte Erinnerung bleiben, die ich an ihn hatte.

Das 'Ehlers' zwei Klingelschilder über unserem 'Ziegler' wurde einfach durch einen anderen Namen ersetzt, der langsam so normal wurde, wie der andere zuvor.

Zu Anfang dachte ich noch recht oft an Ben, wie es ihm wohl ging und was er tat, aber diese Gedanken wurden immer weniger, je mehr ich realisierte, dass Ben, dessen Anwesenheit immer so selbstverständlich für mich gewesen war, für immer von hier verschwunden war. Mein eigenes, immer aufregender werdendes Leben hielt mich auch zur Genüge auf Trab und irgendwann ging Ben in meinem Alltagstrott einfach unter.
 

Doch man trifft sich immer zwei Mal im Leben - was sich auch ausgerechnet dann als wahr herausstellen sollte, als ich es am wenigsten gebrauchen konnte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Chimi-mimi
2007-11-04T20:50:43+00:00 04.11.2007 21:50
wirklich gut geschrieben...
du hast einen schönen stil, bens charakter und die wutattacken kommen dabei gut rüber!


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