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Café Speciale

von

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Unbezahlte Rechnungen

Kaum hatte Lukas das Café verlassen, da entledigte sich der Kellner an der Theke seiner Schürze und verließ ungeachtet der Proteststürme seines Chefs das Café Richtung Hinterausgang.

Er ging den dunklen Flur entlang bis zu einer geöffneten Tür und setzte sich dort auf die Treppe, die hinaus in einen eingezäunten Innenhof führte.
 

Der Regen war vorüber und die Sonne warf ein paar zaghafte Strahlen zwischen den sich langsam lichtenden Wolkenbergen zur Erde hin. Verdunstendes Wasser waberte in weißen Fetzen über den sich langsam wärmenden Boden. Die Regentropfen, die wie kleine glitzernde Glasperlenschnüre an den Blättern eines alten Kastanienbaumes hingen, tröpfelten leise plätschernd zu Boden.

Der junge Mann wandte sein Gesicht der warmen Sonne entgegen, schloss die Augen und atmete die frische Luft ein paar Mal tief ein und aus, bis das flaue Gefühl in seinem Magen nachließ und das Zittern seiner Hände aufhörte.

Es musste Zufall sein, dass dieser Gast ihn eben Benny-Bunny genannt hatte. Ja, einfach nur ein dummer, nichtssagender Zufall, das war alles!
 

War das alles...?
 

Der Kellner sah grübelnd zum Kastanienbaum.

Warum fiel ihm gleich nachdem dieser Typ ihn Benny-Bunny genannt hatte, ausgerechnet der Name ein, von dem er gedachte hatte, ihn so schnell nicht wieder zu hören?

Und warum saß er jetzt hier draußen, die klammen Finger fest ineinander verwoben, damit sie still waren, nicht mehr zitterten, wenn es doch so gar nichts zu bedeuten hatte?

"Lukas...", murmelte der junge Kellner unwillkürlich vor sich hin. Er bemerkte den Fehler, biss die Zähne fest aufeinander und schüttelte heftig seinen Kopf, um diese unter Nebelschwaden ruhende Gedanken gleich wieder loszuwerden, ehe sich der trübe Dunst verziehen und sich die darunter versteckten, unscharfen Bilder materialisieren konnten.

"Zufall, sonst nichts!", rief er laut als müsse er sich selbst davon überzeugen.
 

Die Tür zur Küche flog auf und ein Kopf erschien im Türrahmen. Hektisch sah sich der neuerschienene Kellner im Flur um, bis er den Gesuchten auf der Treppe zum Hof sitzend vorfand. "Ben, du sollst wieder rein kommen, wenn dir ein gewisser Herr nicht heute zum Feierabend die Kündigung überreichen soll!"
 


 

Bens Versuche, die Begebenheit mit dem Kaffeebegossenen Gast als Zufallstreffer abzutun, hielten nicht lange an. Die Ungewissheit nagte beharrlich an seiner unerschütterlich geglaubten Überzeugung und machte bald etwas anderem Platz. Der Ungeduld. Ungeduld darüber, die Sinnlosigkeit seiner Hoffnung, Lukas begegnet zu sein, bestätigt zu bekommen.
 

Von diesem Tag an stand Ben zwar wie sonst auch im Café und tat seine Arbeit wie zuvor. Mit einem Unterschied. Er ließ dabei nie die Tür der Eisdiele aus den Augen.

Irgendwann musste die Rechnung beglichen werden. Der Gast wollte wieder kommen, musste er ja auch, wenn er die Reinigung der Hose bezahlt haben wollte. Wann das sein sollte, hatte er aber leider nicht gesagt.
 

Doch Bens zwiegespaltene Gefühle waren umsonst. Der junge Mann kam nicht mehr.
 


 

Etwa fünf Wochen später kündigte kurz vor Feierabend das Windspiel über der Tür des Cafés noch einen späten Gast an.

Ben, der eben dabei war eine Espressomaschine mit Kaffeebohnen aufzufüllen, hielt in seiner Arbeit inne, als er erkannte, wer da gerade mit einer Tüte in der Hand die Eisdiele betreten hatte.

Und noch etwas ließ Ben stocken.

Es war nicht nötig, den Namen auf der Tüte des Gastes zu lesen, das blaue Seifenblasenlogo darauf war unverkennbar.

Geräuschvoll warf Ben den Deckel des Kaffeeautomaten zu und übersah den zur Theke kommenden Gast demonstrativ.
 

Lukas legte einen gefalteten Zettel auf den Tresen und wandte sich an den Kellner, der ihn nun wieder mit seinen Blicken aufzuspießen versuchte.

Wenigstens hatte der Kellner nicht vergessen, wer Lukas war, freute sich dieser insgeheim.

Lukas tippte auf den Zettel. "Ich weiß, dass das nach dem letzten mal wahrscheinlich dreist ist", begann er entschuldigend und wurde gleich von seinem mürrisch dreinschauenden Gegenüber unterbrochen.

"Dreist?", fuhr ihn der Kellner sauer an. "Mir fallen da noch ganz andere Worte ein, die das eher treffen!" Welche Worte das waren, verriet er Lukas aber nicht. Es war auch nicht wirklich nötig...

So viel unverhohlene Feindseligkeit ließ Lukas erst einmal perplex schlucken. Er wollte den Zettel wieder mitnehmen, überwand aber diesen kurzen Moment.

"Die Rechnung", versuchte es Lukas noch einmal vorsichtig und bekam prompt erneut das Wort abgeschnitten.

"Ja, vielen Dank dafür!" Mit finsterer Miene nahm der Kellner den Zettel von seinem Gast entgegen. Wie abgebrüht musste dieser Kerl wohl sein, wenn er wirklich den Nerv besaß, hier mit der Rechnung aufzutauchen, dachte Ben empört. Hatte er ihn denn das letzte Mal nicht schon genug gedemütigt?! Dieses Egoschwein würde er jetzt garantiert nicht fragen, ob er zufällig Lukas hieß!

Ohne den Zettel eines näheren Blickes zu würdigen, schob ihn Ben in die Kasse.

"Muss ich sonst noch behilflich sein?", schnauzte er Lukas an.

Eine Antwort wollte er darauf mit Sicherheit nicht haben und so zuckte Lukas nur mit den Schultern. "Das war eigentlich alles, was ich wollte", beendete er sein fruchtloses Anliegen und verließ das Café.
 

Draußen blieb Lukas stehen und schaute durch das Fenster des Cafés.

Was fand der Kellner nur so schlimm daran, dass Lukas ihm völlig unverbindlich seine Telefonnummer gegeben hatte? War das zu aufdringlich?

Nachdenklich sah Lukas dem Kellner noch etwas beim Abräumen der Tische zu, dann ging er.

Er hatte so lange überlegt, ob er das heute tun sollte, aber scheinbar hatten sich der Aufwand und sein Mut doch nicht gelohnt. Und das alles nur, weil er sich einbildete, Ben wiedergefunden zu haben.

Augenblick!

Lukas hielt abrupt inne. Die Passanten, die hinter ihm gingen, umrundeten das lebende Hindernis schimpfend, doch Lukas achtete nicht weiter darauf. Er war gedanklich wieder im zwei Straßenecken hinter ihm liegenden Café.

Der Kellner hatte ja gar nicht auf den Zettel gesehen, sondern ihn nur in die Kasse geschoben! Er hielt das Papier wohl tatsächlich für die Rechnung.

Lukas wollte zurück, um den Irrtum aufzuklären, aber dann dachte er sich, dass Ben, wenn er es denn wirklich war, schon früh genug den Inhalt des Zettels erfahren und vielleicht richtig kombinieren würde.
 


 

Das klingelnde Telefon riss Lukas unsanft aus dem Schlaf. Verärgert schälte er sich aus seiner Decke, rollte sich seitwärts aus dem Bett und schlurfte noch halb schlafend zu seinem penetrant klingelnden Telefon. Normalerweise steckte er das Telefon aus, wenn er von der Doppelschicht nach Hause kam und schlafen wollte, nur manchmal vergaß er es - heute zum Beispiel.
 

Lukas hob den Hörer ans Ohr. "Ziegler", meldete er sich hörbar genervt.

Schweigen war alles, was ihn von der anderen Seite der Leitung aus empfing.

Lukas hatte Mühe, den bösen Kommentar hinunterzuschlucken, der ihm auf der Zunge brannte. Für solche Scherze war er definitiv noch zu nüchtern. Er war schon im Begriff, den Hörer wieder aufzulegen, als sich doch noch jemand meldete.

"Hallo", erklang eine zögerliche Stimme, die Lukas keinem seiner Bekannten zuordnen konnte.

"Ich rufe aus dem Café an", sprach der Unbekannte stockend weiter.

"Schön", antwortete Lukas müde und gähnte ausgiebig. Einen Kaffee könnte er jetzt auch gebrauchen. "Und warum rufen Sie aus dem Café an?"

"Es gab wohl einen Fehler mit der Rechnung der Reinigung."

Rechnung? Von einer Reinigung? Aus einem Café? Eine noch dümmere Ausrede als diese lausige Rechtfertigung dafür zu benutzen, dass man fremde Leute am Telefon belästigen konnte, hatte Lukas noch nie gehört.

Dennoch strengte Lukas seine völlig übermüdeten grauen Zellen so gut es ging an, aber ihm fiel nichts ein, was mit einer Rechnung zu tun haben könnte. Es war wohl nicht so wichtig, wenn er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Und zum anderen interessierte es ihn gerade sowieso nicht. Sein einladend warmes Bett war viel verlockender.
 

Lukas zog an der Schnur des Telefons, bis sie zu seinem Bett reichte und ließ sich mitsamt des Apparates dort nieder.

"Ich habe nur diese Telefonnummer bekommen, aber nicht, wie viel bezahlt werden muss oder auf welches Konto das Geld überwiesen werden soll", informierte der Anrufer etwas irritiert den scheinbar genauso verwirrten Lukas.

Geld? Warum sollte er von jemandem, den er nicht kannte, Geld haben wollen?

"Nein, danke", nuschelte Lukas verschlafen. Seine Hand, die den Hörer hielt wurde immer schwerer, genau wie seine Augenlider und Lukas musste sich sehr zusammenreißen, um wach zu bleiben.

Kurz bevor Lukas der Hörer ganz entglitt und auf die Bettdecke sinken konnte, riss ihn sein Gesprächspartner, der noch immer auf eine befriedigendere Antwort wartete, in die Gegenwart zurück.

"Dann war es also nicht Ihre Hose, über die ich den Eiskaffee gekippt hatte? Tut mir leid für die Verwechslung. Auf Wiederhören."
 

Eiskaffee?
 

Hose?
 

Ben!
 

Mit einem Mal war Lukas hellwach. "Doch!", rief er in den Hörer. "Hallo? Sind Sie noch dran?" Lukas schüttelte den Telefonhörer als könne er damit den Anrufer am Einhängen hindern. Ben durfte einfach nicht aufgelegt haben. "Hallo?"

Bens Hand schloss sich so fest um den Telefonhörer, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Dieser Typ wollte ihn wohl für dumm verkaufen! "Was denn jetzt?", kam die ungehaltene Rückfrage. "War es Ihre Hose oder nicht?"

"Ja, es war meine Hose." Lukas überlief bei der Erinnerung an das eisige Getränk ein kalter Schauder.

Diese Rechnung... Lukas hatte sie fast vergessen. Aber er hatte das Geld ja nicht zurückverlangen wollen. Er wollte einfach nur mit dem Kellner reden, um herauszufinden, ob es sich bei ihm um Ben handelte.

Eine Weile schwiegen sich beide an.

Lukas dachte über die günstigste Formulierung seiner Frage nach dem Namen des Kellners nach und Ben war nicht mehr weit davon entfernt, doch noch aufzulegen.

"Wie viel Uhr haben wir eigentlich?", fragte Lukas plötzlich.

"Halb Eins mittags", antwortete Ben auf die zusammenhanglose Frage.

"Was? Schon so spät?!", brüllte Lukas.

Ben hielt den Hörer am ausgestreckten Arm in sicherer Entfernung zu seinem Ohr.

Spät?

Verdutzt lauschte Ben dem von mehrfachen Schimpfwortintervallen begleiteten Krach, der vom anderen Ende der Telefonleitung zu ihm hinüber tönte.

Es polterte noch ein paar mal dumpf, dann war Lukas wieder am Apparat. "Jetzt wäre ich fast zu spät zur Führerscheinprüfung gekommen", lachte er erleichtert. "Vielen Dank fürs Aufwecken." Dann war das Gespräch zu Ende.

Ben starrte sprachlos auf den Hörer in seiner Hand, aus dem es monoton tutete.

Was war das denn gerade? Wie schaffte es dieser Irre nur jedes Mal, wenn sie miteinander zu tun hatten, dass er sich von diesem verkohlt vorkam, ärgerte sich Ben, als ihm bewusst wurde, dass er jetzt genau so schlau wie zu Anfang des Telefonats war.
 


 

So sehr sich Ben auch anstrengte, das Telefonat vom Mittag ließ ihm den ganzen Tag keine Ruhe mehr. Selbst als er schon zu Hause war, verfolgte ihn das Telefonat und ganz besonders sein Gesprächspartner.

Ben wühlte den Zettel mit der Telefonnummer, den er im Café einfach eingesteckt hatte, aus seiner Arbeitshose hervor. Er faltete das Papier auseinander, legte es auf den Tisch und starrte einige Zeit lang regungslos auf den Namen, der unter der Zahlenreihe stand: Lukas.

Jetzt hatte er es Kugelschreiberblau auf Notizzettelweiß vor sich liegen. Der angeblich unbekannte Gast, den er mit Kaffee begossen hatte, war womöglich doch kein Fremder.

Der Name auf dem Zettel stimmte auch noch mit dem 'Ziegler' überein, mit dem sich der andere am Telefon gemeldet hatte. Im Café hatte er ihn ein paar Wochen zuvor Benny-Bunny genannt und außer seinem Lukas kannte niemand diesen Spitznamen.

Drei Zufälle waren schon zwei zu viel.

Aber was, wenn es wirklich Lukas war?

Ben knüllte das Papier mit der Telefonnummer zusammen, nur um es gleich wieder zu entfalten.
 

Lukas...

Ben glättete das Papier und besah es sich. Er war hin und her gerissen.

Zum einen war da die Freude über den wiedergefundenen Freund aus seiner Kinderzeit, mit dem er fast jede freie Minute verbracht hatte und so einige Abenteuer verband, die ihm bis heute noch in Erinnerung geblieben waren.

Als sie etwa einmal die Obstbäume eines benachbarten Bauern geplündert hatten und dabei sogar eine volle Stunden still in der Krone eines Kirschbaumes ausharren mussten, weil der Nachbar eben in diesem Moment nebenan das Obst vom Baum pflückte.

Auch bei den anderen Dummheiten, die nicht alle so glimpflich ausgegangen waren wie die Sache mit dem Kirschbaum, hatte Lukas Ben nie verraten und einiges auf seine Kappe genommen, wenn sie erwischt worden waren - sogar dann, wenn es für Lukas Stubenarrest bedeutet hatte.
 

Zum anderen gab es da aber auch noch die weniger schönen Kindheitserinnerungen, die Ben mit seinem Auszug von zu Hause zwar räumlich abgeschlossen hatte, aber trotzdem nicht vollkommen ungeschehen machen konnte.
 

Ben schob den Zettel mit der Telefonnummer vor sich auf dem Tisch umher. Er stützte den Kopf auf einer Hand ab und biss nervös auf seinen Fingernägeln herum.

Eigentlich hatte Lukas ziemlich viel Ben zuliebe getan und immerhin gehörte er zum positiven Teil dieser Erinnerungen. Aber anrufen und damit vielleicht die Dinge, von denen er sich eingeredet hatte, dass er sie gedanklich abgeschlossen hatte, wieder hervorkramen? Dazu reichte sein Mut nicht. Noch nicht.

Ben atmete entschlossen aus. Er griff sich den Zettel, faltete ihn und verstaute ihn sicher in einer Schublade ganz in der Nähe seines Telefons.

Für alle Fälle.
 


 

Lukas, der keinen Schimmer von den Konflikten hatte, in die er Ben mit seiner Telefonnummer manövriert hatte, hatte in der Zwischenzeit seine Führerscheinprüfungen bestanden; die theoretische und auch die praktische.

Selbst ein Auto hatte sich Lukas vom letzten Rest seines Ersparten kaufen können.

'Auto' war vielleicht etwas zu hochgegriffen, alte klapprige Rostlaube, die kurz vor dem Auseinanderfallen stand, traf es eher. Der Wagen bot einen erbärmlichen Anblick, was auch die gesammelten Visitenkärtchen irgendwelcher Werkstätten und Abschleppunternehmen bewiesen, die alle paar Tage unter dem Scheibenwischer klemmten. Aber die Hauptsache war, das Auto fuhr.

Nur die Wohnungen, die Lukas bis Heute besichtigt hatte, waren allesamt uninteressant für ihn. Dank seiner Eltern hatte er zwar noch zwei Monatsmieten auftreiben können und ihm blieben nun noch mindestens zehn Wochen Zeit, eine andere Wohnung zu finden, bis ihm sein Vermieter aufs Dach stieg, doch die Zeit rann ihm davon.

Aber nichts davon konnte Lukas' Freude über das Auto trüben. Nicht einmal Tinos endgültiger Auszug, der im Gegenteil eher noch mehr zu seiner Erleichterung beitrug. Wieder ein Problem weniger.

Die noch ausstehende Rechnung, die Lukas dem Cafébesitzer versprochen hatte, war zum zweiten Mal in völlige Vergessenheit geraten, bis eines Tages sein Telefon klingelte.
 

Lukas schnippte die pinkfarbene Karte einer nahegelegenen KFZ-Werkstatt in eine Blechdose, die er extra für seine Visitenkartensammlung abbestellt hatte, und hob den Telefonhörer ab. "Ziegler. Hallo?"

"Guten Tag, hier ist wieder das Eiscafé", schallte es aus dem Hörer. "Ich... mein Chef nervt, äh, fragt mich jeden Tag nach der Rechnung. Die Reinigung... wegen des Kaffees auf der Hose..."

Treffer! "Ja, ja, ich weiß noch", beteuerte Lukas eifrig.

"Gut, und was kostet es nun?"

Lukas rieb sich imaginär die Hände. Dieses Mal würde er den Kellner nicht mehr davonkommen lassen, ohne dessen Namen zu erfahren. "Die Nummer war nicht dazu gedacht, um die Rechnung zu begleichen - keine materielle Rechnung jedenfalls."

"Oh", klang es nach einer Weile leise aus dem Hörer.

"Ja", antwortete Lukas genauso einfallsreich. Wie sollte er jetzt anfangen? Ins kalte Wasser springen? Schwimmen konnte er ja.

"Du bist es, oder? Ben? Benjamin Ehlers?"

Lukas hörte wie der junge Mann auf der anderen Seite des Telefons die Luft scharf einsog. Er konnte es ihm nur zu gut nachfühlen.

"Natürlich bin ich es, du Schnellmerker", kam nach einigem Zögern die erhoffte Antwort. "Aber sag ja nie wieder Benjamin zu mir."

Lukas lachte erleichtert auf. Das Gebirge, das ihm gerade vom Herzen fiel, riss die ganzen vergangenen acht Jahre in einer einzigen riesigen Lawine mit sich und kam erst weit genug von Lukas entfernt zum Halten.

Endlich!
 

"Hast du mich denn nicht gleich erkannt?", fragte Lukas, nachdem er wieder einigermaßen sprechen konnte. Zu seiner Überraschung bejahte Ben die Frage allerdings.

"Zuerst nicht, aber außer dir wagt es sich niemand, Benny-Bunny zu mir zu sagen."

"Das war wohl ein Reflex auf das Affengesicht", amüsierte sich Lukas.

"Dann gibst du also jedem, der dich beschimpft, deine Telefonnummer?", hakte Ben nach.

"Klar", erwiderte Lukas. "Aber das kam bisher nur einmal vor." Bei Tino, um genau zu sein... Lukas verdrängte diese kurz aufblitzende Erinnerung rasch.

"Sicher?" Ben kannte den Ernst hinter Lukas' Antwort nicht und scherzte weiter. "Wenn du noch genauso nett wie früher bist, dann haben garantiert noch einige mehr deine Nummer."

"Glaub mir, seit dem ersten Mal ist mir das vergangen. Bis eben jetzt zumindest..." Lukas graute es vor der nächsten Frage, aber er musste sie einfach stellen. "Du hast doch nicht die ganze Zeit hier in der Stadt gewohnt, oder?" In Lukas' Magen begann in Erwartung der Antwort eine Ameisenhorde einen Stepptanz aufzuführen. Sollte er auf einmal mit Ben die letzten zwei Jahre praktisch in unmittelbarer Nachbarschaft gelebt haben? Ohne dass sie sich über den Weg gelaufen waren? Die Chancen standen 50 zu 50.

"Nein", zerstreute Ben zu Lukas' Erleichterung allerdings dessen Befürchtungen. "Ich bin erst vor ein paar Monaten hierher gezogen."

"Gott sei Dank", stieß Lukas ungewollt laut aus. "Ich... ich wollte sagen, es freut mich natürlich nicht, dass du nicht hier gewohnt hast..."

"Schon in Ordnung, ich weiß, was du meinst", beruhigte Ben den stotternden Lukas. "Und was ist jetzt mit der Rechnung?"

Lukas brauchte eine Weile und Bens anschließendes Lachen, bis er begriff, dass dessen letzter Satz nicht ernst gemeint war.
 

Die Unterhaltung dauerte noch etwas an. Als sie aber immer öfter ins Stocken geriet und weder Lukas noch Ben mehr etwas einfallen wollte, was sie am Telefon besprechen konnten, rang sich Lukas dazu durch, Ben zu einem Treffen einzuladen.

"Immerhin hast du wegen des Ärgers, den ich dir mit deinem Chef eingebrockt habe, noch etwas bei mir gut."

"Kann man wohl sagen, obwohl das gleiche für dich gilt", warf Ben ein. "Wann treffen wir uns? Und wo? Außer im Café ist mir alles recht..."

Lukas lachte über Bens plötzlichen Eifer. Er klang fast wieder wie früher, wenn es darum ging, irgendwelche Dummheiten auszuhecken. "Es gibt sicher noch andere Orte in der Stadt, wo wir einige Kindheitserinnerungen etwas auffrischen könnten."

"Okay", stimmte Ben zu. "Wie wäre es, wenn wir zwecks Erinnerungen in den Stadtpark gehen und dort Käfer auf Blättern über den See fahren lassen? Wie früher."

"Keine schlechte Idee, das habe ich schon lange nicht mehr gemacht", entgegnete Lukas gutgelaunt.

"Gut, dann treffen wir uns nächsten Samstag um Drei Uhr im Park", bestimmte Ben und wunderte sich in der gleichen Sekunde, wie locker ihm das über die Lippen kam. Wo waren die Zweifel von vor etlichen Tagen? Er brauchte etwas Stütze, sonst fiel er am Ende doch noch auf die Nase. "Hast du was dagegen, wenn ich noch jemanden mitbringe?"

"Nein, wieso sollte ich was dagegen haben? Bis Samstag Nachmittag dann", verabschiedete sich Lukas.
 


 

Zwanzig Minuten vor der verabredeten Zeit stand Lukas am besagten Samstag im gut besuchten Park vor einem Brunnen und wartete darauf, dass Ben erschien.

Auch wenn er von seinem Stehplatz aus einen ganz guten Rundumblick hatte, versperrte ihm der steinerne Neptun mit seinem marinen Gefolge mindestens zwei Meter Sicht.

Und je länger er warten musste, umso unruhiger wurde Lukas.

Die einzigen Anhaltspunkte, die er hatte, war die Erinnerung daran, wie der Kellner im Eiscafé ausgesehen hatte. Aber die schwarze Kleidung und die weiße Schürze trug Ben heute sicher nicht. Vielleicht erkannte Lukas ihn ja plötzlich nicht mehr unter all den anderen Leuten hier?!

Oder kam Ben etwa aus der anderen Richtung?

Lukas setzte sich in Bewegung und schlenderte auf die andere Seite des Brunnens. Nach einem vergeblichen Versuch, Ben dort zwischen den ganzen Besuchern ausfindig zu machen, kam Lukas wieder an seinem Ausgangspunkt an.

Ben könnte auch gar nicht kommen, fiel es Lukas siedendheiß ein. Er hatte bei ihrem Telefongespräch selbst in Lukas' Ohren so ungewohnt sorglos geklungen, dass er darüber vielleicht wieder ins Grübeln geraten war.

Lukas setzte sich auf den Brunnenrand und fuhr damit fort, jeden einzelnen Spaziergänger ausgiebig zu mustern. Über die andere Möglichkeit dachte er lieber gar nicht erst genauer nach.
 

Dann, zwischen einem älteren Ehepaar, ein paar umhertobenden Kindern und einem Mann, der ein buntes Kinderfahrrad am Lenker vor sich her schob, entdeckte Lukas einen blonden Haarschopf. Der Kellner aus dem Café - nein, Ben!
 

Zielstrebig steuerte Ben, nachdem er Lukas am Brunnen sitzen gesehen hatte, das Wasserspeiende Gebilde an. Alleine.

Wo war die Begleitung, von der Ben gesprochen hatte?

Lukas reckte den Kopf, besah sich die Leute, die vor und neben Ben hergingen. Von denen konnte ja praktisch jeder zu Ben gehören.

Jetzt blieb Ben stehen, er wandte Lukas den Rücken zu und sprach mit jemandem, der sich außerhalb von Lukas' Blickwinkel befand. Unablässig redete Ben auf den für Lukas noch nicht Sichtbaren ein und deutete anschließend in Lukas' Richtung, der die Diskussion nervös verfolgte.

Musste Bens Begleiter erst überredet werden, zum Treffpunkt zu gehen?

Lukas war kurz davor, aufzustehen und Ben entgegenzugehen, ließ es dann aber doch. Blamieren wollte er sich mit seiner Neugierde ja auch nicht unbedingt. Außerdem hatte Ben den Brunnen fast erreicht. Er winkte Lukas kurz zu und mühte sich gleichzeitig damit ab, etwas hinter sich herzuziehen, das sich noch zu sträuben schien.

Als sich das Gewusel der Ausflügler etwas lichtete, sah Lukas endlich, wer neben Ben einher ging und staunte nicht schlecht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Chimi-mimi
2007-11-07T20:51:50+00:00 07.11.2007 21:51
wieder sehr gut geschrieben, mir gefällt das ende!
ich mag deinen schreibstil und die moral ( ich mag das wort ^///^ ), die hinter der story steckt!
was mir aufgefallen ist, das einzige, kirschen und äpfel sind seltenst gleichzeitig reif ^^
aber ansonsten tadellos geschriebene story


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