Die Monochroniken von Dels (01 :: Die Reise zum Südstern) ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- Dies ist ein Schrank. Ein Schrank voller Erinnerungen. Tja, der Schrank ist abgesperrt, ein großes Schloss hängt davor. Aber das ist nicht das Problem. Denn irgendwo gibt es zu diesem Schrank auch einen Schlüssel. Ja, er ist vorhanden, irgendwo. Das eigentliche Problem ist, dass niemand nach ihm suchen will. Schlimmer, sie haben vergessen, dass es diesen Schlüssel und diesen Schrank überhaupt gibt. Dass der Inhalt dieses Schrankes von Bedeutung sein könnte. So bleibt der Schlüssel weiter verschollen. Bis schliesslich irgendwann das Schloss zu alt und zu rostig ist, dass es selbst mit einem Schlüssel nicht mehr geöffnet werden kann. Aber solange niemand von dem Schrank weiß, kann es niemanden interessieren. Keiner schielt durch das Schlüsselloch, um einen Blick in den Schrank zu erhaschen. Und so sieht auch niemand, was sich in dem Schrank alles abspielt. Kapitel 2: Suchende ------------------- Suchende Loser Kies knirschte laut unter sieben Paar Stiefeln, der steinige Weg machte den Aufstieg schwer. Nicht lange und die Wanderer würden den Bergkamm erreicht haben. Von dort aus führte nur noch ein kurzes Stück auf dem Pfad, dann müssten sie ihn endgültig verlassen. In der Wildnis würden sie nur noch langsamer vorwärts kommen. Die Anstrengung liess allesamt sehr schweigsam werden. Bis auf einen. Aber keine Anstrengung konnte wohl groß genug sein, um diesen Kerl zum Schweigen zu bringen. "Weißt du, Barthel.. ich habe kurz überschlagen, wie lange wir schon zurückhängen. Es sind drei Tage! Ganze drei Tage! Ich glaube nicht, dass wir rechtzeitig kommen, wenn das so weitergeht. Immerhin haben wir nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft!" ereiferte sich der dünne Hellhaarige und zog eine wichtigtuerische Schnute. Die Sätze waren an den Anführer unserer Gruppe gerichtet, der die Bemerkung seines jüngeren Cousins ohne Reaktion hinnahm. Als der Dünne keine Antwort bekam, zeterte er weiter über die zahlreichen Pausen und Zwischenfälle, die unsere Reise verzögert hatten. Der Angesprochene liess sich zu einem willkürlichen Nicken herab, um seinen Cousin wenigstens das Gefühl zu geben, dass er ihm zuhörte. Ich bewunderte Barthel, dass er so viel Geduld mit diesem ewig motzenden Kerl an den Tag legte, denn selbst mein Bruder, der mit mir das Schlusslicht bildete, verdrehte alle paar Minuten die Augen und ich wusste sehr genau, was er am Liebsten mit dieser Nervensäge angestellt hätte. Die sieben Mitglieder auf unserer langen Reise hätten unterschiedlicher nicht sein können. Barthel führte die kleine Truppe an. Er war sehr groß und kräftig gebaut, wirkte von Nahem wie ein Bär und seine Stimme war tief und laut, was zu seinem Aussehen durchaus passte. Der Eindruck von einem groben Klotz aber täuschte gewaltig, denn Barthel war freundlich und ein ruhiger Zeitgenosse mit einem sanften Gemüt. Zudem war er einer der wenigen, die mich wirklich in der Gruppe akzeptiert hatten. Neben Barthel lief sein dürrer Cousin Filc, der an seinem Verwandten klebte wie ein Moskito an einer Milchkuh. Im Gegensatz zu seinem friedfertigen Cousin war Filc eine regelrechte Giftspritze. Er war nicht sehr groß und strohdürr, seine Arme waren kaum dicker als die Knochen und trotzdem hatte er die grösste Klappe, die ich je vernommen hatte. Das musste er uns täglich mehrmals unter Beweis stellen. Filc kommandierte gern herum, beleidigte uns schalkhaft oder sprach schlecht über die, die gerade nicht in Hörweite waren. Eigentlich tat er alles, um uns gegeneinander aufzuhetzen, aber er machte seine Sache schlecht und seine Lügen fielen auf keinen fruchtbaren Boden. Er bemerkte immer zu spät, wenn er eindeutig übertrieben hatte und flüchtete sich dann unter den Schutz seines respekteinflößenden Cousins, der jedes Mal die Sache schlichtete, bevor jemand wirklich handgreiflich werden konnte. Ein feiger Rotzlöffel dieser Filc, mochte man sagen. Doch aus dem Alter sollte er längt herausgewachsen sein. Mit seinen 22 Jahren war er der Jüngste nach mir in der Gruppe und führte sich regelmässig auf wie ein Kleinkind. Filc wurde in stillem Einverständnis weitgehend von uns ignoriert. Das schien der Junge nicht zu bemerken oder er wollte nicht, denn seine Stänkereien hörten nicht auf. Hinter Filc und seinem großen Mundwerk lief der wohl seltsamste Mann, den ich bisher gesehen hatte. Von ihm wussten wir alle nicht viel. Woher er kam, seinen Namen, Lebensweg, nichts. Selbst seine Statur liess sich schwer schätzen, denn er trug einen weiten dunklen Umhang, der alle Konturen unter sich verbarg, sogar das Gesicht lag versteckt unter der tiefen Kapuze, die er ständig übergezogen hatte. Ein einziges Mal bisher hatte ich sein Gesicht gesehen als er schlief. Es war blass und sah aus wie Porzellan und glänzte. Es war mir völlig unmöglich, sein Alter zu schätzen. Seine Haut war wie eine starre Maske. Ich hatte solch ein Wesen noch nie gesehen, die Gesichtszüge waren nur bedingt menschlich, eher unwirklich - fast wie aufgemalt. Ich hatte ihn lange angesehen und gemustert, bis ich bemerkte, dass er die Augen geöffnet hatte und mir entgegensah. Doch er sagte nichts, er sagte nie etwas, schlug nur die Kapuze wieder über sein Gesicht und schlief weiter. Der Mann war mir ein Rätsel, wie allen hier. Nun, Barthel hatte ihn mitgenommen, aber er schwieg sich über die Identität des seltsamen Mannes aus, sosehr ihn sein Cousin auch mit Fragen löcherte. Nach dem Geheimnissvollen trotteten Yens und Gabriel. Erst nach mehreren Tagen konnte ich die beiden unterscheiden. Eineiige Zwillinge, gleich im Aussehen, in der Sprechweise, im Verhalten. Es waren ernste ehemalige Schmiedegesellen, die selten lachten und sich niemals mit unnützen Beschäftigungen die Freizeit vertrieben. Lieber lasen sie in Fachbüchern, übten oder reparierten etwas. Sie waren schon 26 und wohl zu alt, um Ruhe zu genießen oder sich eine Auszeit zu gönnen, vermutete ich. Allgemein waren sie eher kühl und manchmal konnten sie sehr berechnend und egozentrisch sein. Gerade Gabriel, der scheinbar etwas weniger ehrgeiziger als sein Zwillingsbruder schien, war zumindest in Gedanken radikaler als der stets etwas missgelaunte Yens. Die Zwillinge des Trübsinns, so hatte sie Filc genannt. Aber diese zwei waren leicht reizbar und Filc überlegte es sich inzwischen zweimal, ob er frech zu ihnen sein wollte. Übrig blieben noch mein Bruder und ich, die den Schluss der kleinen Karawane bildeten. Kaleb war ein aussergewöhnlich gut aussehender junger Mann und ich konnte es nie verstehen, dass er ausgerechnet jetzt fort wollte von zuhause, wo eine wunderschöne Verlobte aus gutem Hause auf ihn wartete. Wäre er nur bei uns geblieben.. Mein Bruder ist 26, ganze acht Jahre älter als ich, aber wir verstehen uns trotzdem sehr gut. Es ist Zufall, dass ich auf dieser Reise dabei bin, unter normalen Umständen hätte mich Kaleb sicher nie mitgenommen. Aber am Tag seines Aufbruchs ist etwas sehr Seltsames passiert, an das ich nachträglich auch garnicht nachdenken will. Hauptsache, ich bin mit ihm zusammen auf einer langen Reise. Deren Ziel ich aber nicht kenne. Denn eigentlich hätte ich überhaupt nicht hier sein dürfen. Es gibt etwas, das die restliche Gruppe verbindet und das ich nicht besitze. Und das ist die Begabung für Magie. Mein Name ist Vates und zusammen mit meinem Bruder und seiner Reisegruppe waren wir nun schon ewig unterwegs, durch viele Länder und fremde Gebiete. Wochen schon dauerte die Reise, oder gar Monate? Ich wusste es nicht mehr. Mit dem Schiff über das Meer, weite Strecken durch die Wüste auf Dromedaren, dann zu Fuss durch die Berge. Ich hatte mich nie beklagt, nicht über die Übelkeit auf dem Schiff, nicht über die Hitze in der sengenden Wüstensonne, nicht über die Tortur der Bergwanderung oder die Kälte in den dünnen Zelten nachts. Trotzdem fühlte ich, wie täglich die Ablehnung gegen mich grösser wurde. [ # ] Mein Bruder nennt es eine Gabe, für mich ist es eher ein großer Fehler. Gefühle von jedem Wesen, nicht sichtbar, nicht zu spüren für normale Menschen, liegen in meinem Kopf ausgebreitet wie ein Bilderbuch. Unsicherheit, Angst, Freude, Liebe, Trauer, alles was einen Menschen bewegt, jedes Gefühl dringt in mich ein und ich kann nichts tun, um mich davor zu verschliessen. Zwar sind es nur Schemen, die ich grob erahnen kann, aber sobald mich jemand berührt, fliessen all seine Gedanken, Gefühlseindrücke in meinen Kopf, ungebremst und ungefiltert, so klar, als würde ich die Gedanken selbst denken, die dahinter stehen. Deshalb mag ich es nicht, berührt zu werden. Mein Bruder stellt sich diese Gabe ungeheuer interessant vor. Natürlich fühle ich, wenn jemand lügt, ob jemand hinter einer Maske aus Freundlichkeit nur Hass im Herzen trägt. Und dass jemand, der laut, boshaft und gemein ist, im Grunde nur einsam ist und nach Aufmerksamkeit und Liebe schreit. Wenn es einem Menschen schlecht geht oder trauert, Todesängste aussteht oder verliebt sei, nichts bleibt mir verborgen - aber ich will es garnicht wissen, mir ist das alles viel zu viel. Ich bin lieber alleine in meinem Geist und meinem Körper. Unsere Eltern merkten erst spät, dass ich anders war, als die Kinder, die sie kannten. Ich war oft scheinbar grundlos beleidigt, weinte oft, obwohl niemand mir etwas getan hatte. Oder ich tröstete meine Mutter, wenn sie Kummer hatte, den niemand, nicht ihr eigener Mann bemerkte. Ich konnte von klein auf in die Herzen der Menschen sehen und reagierte darauf, ohne darüber nachzudenken. Bis meine Mutter mir erklärte, dass ich das nicht machen durfte. Ich sollte nicht weinen, nur weil ich etwa glaubte, dass das Kind von nebenan schlechte Dinge über mich dachte. Ich sagte meiner Mutter, dass ich das nicht glaubte, sondern wusste. Natürlich gibt niemand etwas auf das Geschwätz von phantasievollen Kindern. Alle, bis auf meinen Bruder. Kaleb nahm mich oft bei der Hand und fragte mich, was ich spürte. Für ihn war es ein Spiel, das ich gerne mitspielte, denn er dachte oft an lustige Dinge, die uns beide zum Lachen brachten. Er war immer schon ein fröhlicher Kerl gewesen und in seiner Nähe fühlte ich nur Positives. Später nahm er mich mit zu seinen Mädchen. Nach dem Treffen sollte ich ihm sagen, was die Mädchen von ihm dachten und so blieben ihm einige peinliche Situationen erspart. Irgendwann erkannten dann auch Mutter und Vater, dass ich nicht gelogen hatte, aber gleichzeitig mit dem Glauben in mich, bekamen sie Angst vor mir. Auch das spürte ich und fragte sie danach. Sie stritten das natürlich ab. Irgendwann merkte ich dann, dass es nicht gut war, anderen zu erzählen, was ich konnte. Freunde wollten nicht mehr mit mir spielen, weil sie nicht wollten, dass ich in ihren Kopf reinguckte. Aber die Kinder waren wenigstens ehrlich. Erwachsene lügen oft und lächeln dabei. Ich konnte nicht fassen, wie manche Leute sich so verstellen konnten und keiner etwas davon merkte. Ich war gerade 6 Jahre alt. Mein Vater feierte Geburtstag. An diesem Tag war mir schon seit dem Morgen übel, doch trotzdem half ich dann, die Gäste zu bewirten. Mein Vater hatte viele Freunde und Bekannte eingeladen, darunter auch einen Nachbarn, der sonst eher selten bei uns gesehen wurde. Als er zum Fest stieß, gab er meinem Vater die Hand. Ich hatte kaum hingesehen, doch in diesem Moment drückte mir etwas auf die Brust. Ich erschrak, ich konnte das Gefühl nicht zuordnen. Ich sah zu meinem Vater, doch beide lachten, der Nachbar übergab meinem Vater ein Geschenk. Ich sollte es auf den Küchentisch stellen, also nahm ich das Geschenk und da war wieder dieses Gefühl, das mir die Luft aus der Lunge drückte. Der Nachbar wich meinen torkelnden Schritten aus und stupste mich dabei an. In diesem Moment machte ich die grausigste Erfahrung meines bisherigen Lebens. In diesem winzigen Bruchteil der Berührung fühlte ich Hass, tiefster, blanker Hass. Alles in mir schrie nach Verachtung, Feindseligkeit und der Drang nach Rache gegen meinen Vater. Es war das Grässlichste, was ich je in meinem Leben gefühlt hatte, mir wurde speiübel und schwindlig von der Wucht dieser Eindrücke, ich stolperte und hielt mich am Hosenbein desNachbarn fest. Dieser blickte auf mich hinunter, hob mich hoch und lachte mich an: Na? Hast du deine Nase in den Weinkrug gesteckt? Hehe! Nein, so ein hübscher Junge! Haut an Haut berührte ich ihn, doppelt so intensiv waren die Gefühle, der unendliche Hass dieses Mannes. In dem Augenblick war es auch mein Hass. Und plötzlich verschob sich dieser Hass. Nicht mehr mein Vater war es, den ich durch die zornesblinden Augen des Nachbarn sah. Ich blickte auf mich selbst. Ich hasste mich mehr als alles andere auf der Welt. Ich wurde kalkweiss, als ich die Mordlust zwischen meinen Gedanken entdeckte. Ein Bild, voller Gierde, einfach zuzudrücken und meinem Leben ein Ende zu setzen, lag so deutlich vor meinen Augen, dass ich die Wirklichkeit mit diesem irren Gedanken verwechselte. Das Geschenk fiel klirrend zu Boden, ich fing an zu strampeln, zu weinen und schrie in Todesangst nach meiner Mutter. Der Nachbar ließ mich verschreckt los, meine Mutter zerrte mich sofort ins Haus, schrie mich an und sperrte mich auf den Dachboden, bis das Fest vorbei war. Ich klebte solange am Fenster, mit klopfendem Herzen, voller Angst und beobachtete den Nachbarn. Er lachte und feierte mit den anderen Gästen, als ob nichts gewesen wäre. Ich konnte das nicht verstehen. Ich hatte Furcht, der Nachbar könnte meinem Vater oder meiner Mutter etwas antun, aber nichts geschah. Nach dem Fest kam mein Vater ins Haus und prügelte mich windelweich. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern geschah es noch öfter, dass ich es nicht verstand, wenn mich ein böser Gedanke erwischte. Es war nicht die Wirklichkeit. Es waren nur Gedanken. Nur ein Gedanke, weiter nichts. Es war nicht schlimm, wenn jemand einmal etwas Schlechtes dachte, ich sollte es ignorieren. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich alles für mich behalten, was ich danach gespürt hatte, egal wer es war und was es war. Ich versuchte mir mit der Zeit jegliche auffällige Reaktion abzugewöhnen, wenn ein erschreckender Gedanke mich erreichte und ging bald jeder Berührung aus dem Weg. Und langsam aber sicher hatte ich mich völlig aus dem lebhaften Alltag meiner Altersgenossen zurückgezogen. Nur mein Bruder hat immer zu mir gehalten. Er verstand es, wenn ich trotzdem Angst hatte vor Menschen, die erschreckende Gedanken hatten, obwohl sie nie etwas Böses im Leben tun würden. Er hatte keine Scheu vor mir und meiner seltsamen Begabung, er war neugierig und es machte ihm Spass, mein "Talent", wie er es nannte, für Spiele einzusetzen. Das machte mir nichts aus, da ich selbst meinen Spass damit hatte. Ich spürte manchmal, dass er sogar ein bisschen eifersüchtig war, weil ihm selbst diese Fähigkeit verwehrt war. Dafür hatte er doch ganz ähnliche Begabungen. Kaleb war selbst etwas Besonderes und wurde von vielen in unserem Dorf deshalb etwas schräg angesehen. Man traute ihm nicht. Kaleb war magiebegabt und einige Jahre auf einer Magierakademie gewesen. Obwohl niemand in unserer Familie je etwas mit Magie zu tun gehabt hatte, waren also gleich zwei sonderbare Kinder entstanden. Mein Bruder Kaleb, der gutaussehende, sehr erfolgreiche junge Mann, der gut bei Frauen ankam und vor allem auch einen Großteil des Geldes in die Familie brachte. Mit kleinen Magiedemonstrationen und Tricks erschlich er sich charmant die Herzen der feinen Damen im Schloss des Herzogs und in Edelhäusern und wurde reichlich beschenkt, genoss einen hervorragenden Ruf und verlobte sich schliesslich mit der bildhübschen Tochter eines schwerreichen Bauunternehmers. Der älteste Sohn meiner Eltern war in der Stadt zumindest überall bekannt und beliebt, was meine Eltern unendlich stolz machte, auch, wenn die Dorfleute den Magiebegabten nicht trauten und Kaleb am liebsten in der Ferne auf Reisen sahen. Und das sahen sie oft, denn mein Bruder war ein rechter Abenteurer. Er reiste lange und sehr weite Strecken, kam immer mit Bergen von Mitbringseln nach Hause, exotische, seltsame Dinge und Früchte, die noch nie jemand gesehen hatte. Mir brachte er Bücher mit. Er wusste, dass ich sie liebte und jedes einzelne von ihnen verschlang. Kam Kaleb nach Hause, war es jedesmal wie ein Fest. Kaleb kam und alles war wieder gut. Meine Eltern waren selten fröhlich und gut gelaunt, wenn Kaleb nicht zuhause war - es fehlte einfach der gute Geist im Hause. Kaleb war ein Gute-Laune-Garant, in seiner Nähe wurde es nie langweilig. Er hatte eigentlich alles, was man sich für einen Sohn wünscht. Gutes Aussehen, kräftige Arme, einen schlauen Kopf, Charme, Humor, gepflegte Umgangsformen, ein schmelzendes Lächeln und ein stattliches Selbstbewusstsein. Zudem war er weltoffen, abenteuerlustig, stets gutgelaunt und spendabel, der perfekte Sohn. Vielleicht hätte ich eifersüchtig sein müssen, aber das war ich wirklich nur sehr selten und selbst wenn, hat er meine kleinen Anflüge von Minderwertigkeitsgefühlen schnell im Sande verlaufen lassen. Kaleb war einfach wunderbar. Wie schnell brachte er es immer fertig, mich auf andere Gedanken zu bringen, wenn ich gerade anfing an mir zu zweifeln. Wie schnell hat er mir dann bewiesen, dass er mich mag und braucht und ich keinen Grund habe, soetwas zu denken. Nein, neidisch konnte man da einfach nicht sein. Eher voller Stolz, so einen Bruder zu haben. Ich bewunderte Kaleb wie meinen persönlichen Helden. Für mich war er bester Freund, Vater und Vorbild in einem. Er war einfach genau so, wie man sich nur wünschen kann. Ein Ideal. Und er gab mir nie das Gefühl, weniger wert zu sein als er. Keinen Menschen mochte ich lieber, nicht einmal meine Eltern. Aber das wussten sie. [ # ] Und seit einer langen Zeit nun sind wir beide auf Reisen. Ich erinnere mich, wie Kaleb die Familie besucht hatte, ein letztes Mal, wie er mir damals anvertraut hatte. Danach wollte er weit weg gehen - für immer. Für mich ein schwerer Schlag, denn mir war klar, dass ich ohne Kaleb zuhause nicht glücklich werden würde. Ich bettelte, er solle mich doch mitnehmen. Und letztendlich hat er es getan. Nur.. eine seltsame Geschichte, an die ich mich nicht gerne erinnere. Vielleicht hatte es etwas mit der Reise zu tun, von der er damals zurückkehrte. Er war irgendwie nicht mehr derselbe gewesen, obwohl für jemanden ausser mir diese Veränderung wohl kaum bemerkbar gewesen wäre. Er hat mich damals sehr erschreckt. [ # ] Die Wolken hingen tief und schwer zwischen den Berggipfeln. In nebeligem Dunst zerfaserten sie stellenweise und liessen die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne durchblitzen. Meine Füsse brannten höllisch, die Stiefel waren für solch steinige Klettereien ausserhalb der Wege nicht gemacht worden und irgendwann spürte ich jeden spitzen Kiesel unter den Fußsohlen. Doch ich hütete mich, ein Wort darüber zu verlieren, denn das würde vor allem Filc einen tollen Anlass geben, wieder auf mir herumzuhacken. Ich war ihm die ganze Zeit ein Dorn im Auge und er ließ keine Möglichkeit aus, mich zu ärgern oder vor den anderen runterzuputzen. Zum Glück hatte ich schon lange verlernt, mich über Derartiges aufzuregen und so Filc seinen Triumph zu gönnen. Ich verstand nicht ganz, warum er so wild darauf war mich loszuwerden, denn ich war bisher sicher der Unauffälligste in dieser Gruppe gewesen. Vielleicht lag es ja wirklich allein an dem ersten Tag unserer Reise, als mein Bruder mich den anderen vorgestellt hatte: "Ja.. das ist also Vates. Das ist Barthel, das Filc, da drüben stehen Yens und Gabriel." Ich fühlte mich von Barthel's Größe etwas eingeschüchtert und hob kaum den Blick, als ich ihn formlos begrüßte. Filc grinste breit und hob die Augenbrauen. "Na super, ein neues Lämmchen, was?" lachte er keck und ergriff meine Hand um sie zu schütteln, worauf sich sofort ein heftiges Pochen im Kopf bemerkbar machte. Wirre und derart intensive Gedanken verursachen mir immer schnell Kopfweh und ich ließ schnell die Hand wieder los, die mir solch ein Chaos an verschiedensten Gedanken und Gefühlen offenbart hatte. "Lämmchen?" "Es ist mein Bruder, Filc!" zischte Kaleb böse und zuckte wütend vor, als der Junge nur unschuldig mit den Schultern zuckte. "Ja, und?" "Filc!" Barthel's Stimme erscholl wie ein Donnergrollen über mir und der Blick meines Bruders spiesste den schlacksigen Jungen förmlich auf. Ich hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging und war nicht darauf erpicht, der Grund eines Streites zu werden. Ich sah weg und begegnete dem Blick der Zwillige, die jetzt zu uns herübersahen, wie auch ein anderer Mann, den ich zuvor übersehen hatte und der mir auch nicht vorgestellt worden war. Eben der Kapuzenmann. Die Diskussion brach danach aprupt ab und die Reise begann. Seit jenem Tag, das einzige Mal übrigens, an dem Barthel seine Stimme erhoben hatte, war ich auf Filcs Abschussliste nach ganz oben gerutscht. Ich blockte zwar immer wieder die Sticheleien ab, aber etwas genervt war ich nach einiger Zeit schon. Vor allem, da ich mir absolut nicht erklären konnte, wieso er so einen Zorn auf mich hatte, denn alleine ein scharfes Wort konnte das nicht bewirkt haben. Von meinem Bruder erfuhr ich, dass Filc schon auf der letzten Reise mit dabei gewesen war und sich etwas darauf einbildete. Es gab ja solche und solche Menschen. Solange er mich nicht tätlich angreifen wollte, konnte ich damit leben. Es war der dritte Tag, nachdem wir den Weg verlassen hatten. Das Gelände war immer unwegsamer geworden. Hohes Gras, steinige Hänge und meterlange Dornbüsche stellten sich uns in den Weg und wir kamen nur sehr langsam voran. Wir rasteten am Rand einer irrsinnig großen Schlucht, deren Umgehung uns noch ettliche Tage kosten würde. Die Stimmung am Feuer war gedrückt, alle wussten, dass weitere Verzögerungen den Zeitplan empfindlich stören würden. "Warum gehen wir denn nicht einfach durch die Schlucht? Wie letztes Mal?" fragte Filc seinen Cousin, während er auf einem Stück harten Brotes kaute. Ich hörte mit halbem Ohr zu. "Viel zu gefährlich. Es würde uns zwar eine Menge Zeit sparen aber du weißt, dass uns nichts passieren darf auf dem Weg. Vor allem dir! Du weißt ja, was letztes Mal.." Ich spürte, wie Filc seine Aufmerksamkeit in meine Richtung verlagerte. Ich starrte weiter in die Glut und spitzte die Ohren. Vielleicht würde ich ja jetzt endlich erfahren, warum Filc so verdammt wütend auf mich war. "Wir sind einer mehr diesmal, vergiß das nicht" sagte Filc nur, als ob dies die Lösung aller Probleme sei. Einer mehr? Meinte er mich damit? Sicherlich. Aber was hatte das damit zu tun, ob etwas gefährlich war oder nicht? "Ja, Filc, ich weiß.. nur.." sagte Barthel und ich spürte große Trauer in seinen Worten. Er war hin- und hergerissen. Er hatte Furcht. Und trotzdem war da etwas, das dagegen hielt. Ich stocherte weiter in der Glut und fühlte die Blicke beider Verwandten auf mir ruhen. Ich fühlte mich unwohl dabei und fragte mich wieder, warum Filc das gesagt hatte. War es denn wichtig für die Reise, wieviele Personen unterwegs waren? Oder ankamen? Der Gedanke machte mir Angst und ich zog mich vom Feuer zurück neben meinen Bruder, der sich schon in seine Decke gehüllt hatte. "Was ist los?" murmelte er, als ich mich lautlos neben ihm einwickeln wollte. Manchmal glaube ich, mein Bruder hatte ebenso ein feines Gespür wie ich. Zumindest merkte er immer, wenn mit mir etwas nicht stimmte. Aber diesmal wollte ich ihn nicht beunruhigen. Ich schüttelte den Kopf und kuschelte mich in die dünne Decke. Ich dachte an die Schlucht und das, was Filc gesagt hatte. Der Giftzwerg konnte mich ja noch nie leiden. Aber jetzt schien er doch froh zu sein, dass ich da war. Obwohl er mich nicht mochte. Absolut unverständlich. "Kaleb..?" "Hm?" "Wir sind doch schon so lange mit den anderen unterwegs und.." "Du weißt, ich darf dir nicht sagen, wohin wir gehen.." murmelte Kaleb bedauernd. "Ich weiß, ich will nur.. ich frage mich nur, warum sie mich so verabscheuen.." "Wer sagt das? Oder wer denkt das?" "Alle.. naja, ausser dir.. und Barthel.." "Ach, so ein Quatsch!" "Du weißt genau, dass ich das besser beurteilen kann als du", nuschelte ich. "Jaja, du hast schon Recht.. aber ich weiß doch auch nicht, wieso!" "Na sicher!" sagte ich streng. "Hör auf, in mich reinzugucken" meckerte er, rollte sich auf die Seite und setzte nach: "Ich kann dir auch nicht helfen." "Also weißt du doch Bescheid! Sag es mir! Es ist mir so unangenehm!" "Nein, das werde ich nicht!" "Warum nicht?! Dann könnte ich vielleicht etwas dagegen tun!" "Nein.. das könntest du nicht. Ignorier sie einfach und gib ihnen keinen Grund, dich anzugreifen. Dann werden sie dich irgendwann auch akzeptieren." "Wann denn? Wir sind doch schon wochenlang unterwegs. Dabei falle ich euch doch kaum zur Last. Oh Kaleb! Kannst du es mir nicht sagen, ich will es wenigstens probieren!" "Nein!" "Ich will es doch nur wissen! Das macht mich so unsicher!" "Besser das, als.. was anderes." "Als was?" "Ruhe jetzt! Lass mich schlafen!" Er legte demonstrativ die Decke halb über den Kopf und seufzte ein letztes Mal. "Du sagst es nicht, weil es mir wehtun würde, nicht wahr? Ist es nur, weil ich nicht so bin wie ihr? Oder weil du mich gegen ihren Willen mitgenommen hast?" "Schlaf endlich.. morgen wird ein langer Tag. Um die Schlucht zu gehen wird uns verdammt lange aufhalten und Barthel wird ein heftiges Tempo vorlegen." "Wir gehen durch sie hindurch." Kaleb fuhr wie von der Biene gestochen in die Senkrechte und starrte mir ins Gesicht. "Wer behauptet das?!" wollte er wissen und ich erzählte ihm, was ich am Feuer gehört hatte. Allerdings ließ ich den letzten Teil weg, der mich so erschreckt hatte. "So. Durch die Schlucht also. Dann will er tatsächlich die Abkürzung nehmen..." Seine Miene war wie versteinert, als er das sagte und seine Gedanken wurden kühl. Ich versuchte es zu ignorieren, aber Kaleb merkte es trotzdem. Ich erschrak, als er mich plötzlich bei den Armen packte und herzog. "Vates.. ich darf das eigentlich nicht sagen, was ich dir jetzt.. also.. aber wenn wir wirklich durch die Schlucht gehen.. Vates, hör zu! Niemals..! Niemals darfst du über den Rand sehen, wenn wir am Fluss da unten vorbeilaufen! Hörst du? Niemals! Egal wer sagt, du sollst reinschauen! Nicht einmal ich! Verstanden?!" Ich konnte nur noch nicken. Was war da unten so Schauerliches, dass niemand hineinschauen durfte? Aber wenn selbst Kaleb solche Angst davor hatte, dann musste es furchtbar sein! Er legte die Finger auf die Lippen und nötigte mir einen Schweigeschwur ab, dann wurde er wieder ruhiger. "So.. und jetzt leg dich schlafen. Hab keine Angst, ja? Denk immer dran, dass ich bei dir bin. Dir kann nichts passieren." Er lächelte aufmunternd und wartete, bis ich mich wieder zusammengerollt hatte. Dann legte er sich wieder hin, aber ich fühlte, wie er noch lange voller Sorge nachdachte. [ # ] Kapitel 3: Der weinende Fluß ---------------------------- Der weinende Fluß Am Morgen verkündete Barthel seine Entscheidung. Wie wir schon befürchtet hatten, wollte er mit uns durch die Schlucht gehen. Die Zwillinge, die davon noch nichts gewusst hatten, starrten Barthel entsetzt an, sagten aber nichts. Der Kapuzenmann zeigte nicht die leiseste Regung, wie üblich. Kaleb neben mir biss sich auf die Lippe und warf mir einen verschwörerischen Blick zu, den ich unterschwellig erwiderte. Es war schon immer aufregend, mit Kaleb gemeinsame Geheimnisse zu haben und nie hab ich irgendjemandem davon erzählt. Ein gemeinsames Geheimnis ist wie ein Schatz, den man hütet, den niemand sehen darf, denn sonst verwandelt er sich in Rauch. Um Kaleb zu verraten müsste man mir schon den Kopf aufschneiden und sich das Geheimnis selbst holen. Aber das ist keine schöne Vorstellung. In Gabriel sehe ich Furcht, aber nicht vor dem Abgrund. Das sitzt viel tiefer. Aber es ist nicht zu begreifen. Bei den anderen sieht es nicht besser aus. Obwohl Filc auch jetzt eine große Klappe hat, ist er ganz schön eingeschüchtert. Sein Vorschlag gestern, durch die Schlucht zu gehen, hat Barthel für voll genommen. Das hätte Filc wohl selbst nicht vermutet. Aber jetzt war es zu spät, es zu bereuen. Der Abstieg war leichter, als ich vermutet hatte. Die Schluchtwand war zwar eben senkrecht aber hatte viele Vorsprünge und es kletterte sich sehr leicht nach unten. Wir kamen wirklich schnell voran, alle waren konzentriert, kein unnötiges Wort fiel, selbst Filc war so mit Klettern beschäftigt, dass er sein Mundwerk bei sich behielt. Nach zwei Stunden waren wir unten angekommen und machten eine kurze Pause. Eine weite Strecke voller Geröll und kleinen Wäldchen lag vor uns. Der Riss der Schlucht war gigantisch. Wie eine Furche, die Gott mit seinem Arm in die Erde getrieben hatte. Der Spalt mochte etwa zehn Kilometer breit und musste laut Barthel über 300 Kilometer lang sein, ich fragte mich, wieso alle davon ausgegangen waren, dass wir um die Schlucht herum gegangen wären, hätte Barthel nicht seine Meinung geändert. War dieser Fluß denn wirklich so grauenhaft, dass man einen Umweg von fast zwei Wochen in Kauf nahm?! Nun, das würde sich sicher bald herausstellen. Schon nach einer Stunde Marsch durch die Schlucht konnte man ihn hören. Ein gigantischer Strom wälzte sich durch den Grat - ein wunderschöner, glasklarer Fluß, der in der Sonne spiegelte und glitzerte. War das etwa dieser grässliche Fluß? Sogar Fische sprangen aus dem Wasser, wie um uns zu begrüßen, das Gras am Ufer war dick und saftig, die Bäume kräftig und gesund. Es wimmelte von Insekten, kleinen Tieren und plötzlich hatte es keiner von uns mehr eilig. Wir genossen alle die Sonne, die geschützt von den Schluchtwänden hier heiß und angenehm war. Die Bäume trugen reifes Obst, das wir gierig einsammelten und teilweise gleich in den Mund stopften. Trotzdem beachtete ich den Rat meines Bruders und kam dem Wasser nicht zu nahe. Selbst als einer der Zwillinge sich dort seine Flasche füllte, blieb ich zurück, obwohl ich hätte wetten können, dass das Wasser einfach köstlich schmecken musste. Ich biss in eine Suanti und stillte so meinen Durst. Seltsamerweise war die Angst fast vollständig gewichen, die mir noch vor ein paar Minuten aus allen Richtungen begegnet war. Ich wollte meinen Bruder fragen, ob die Gefahr sich unerwartet zu einem Guten bekehrt hatte, aber er winkte ab und wollte nicht mit mir reden. Aber es war doch seltsam! Erst hatten alle Angst und jetzt war nichts mehr zu befürchten? Nachdenklich blickte ich hinüber zum Fluß, der so prächtig funkelte und vor Gesundheit strotzte. Gerade wusch sich Barthel das Gesicht in dem klaren Nass und selbst Filc hatte seine Beine ins Wasser baumeln lassen, die er jetzt schlotternd und lachend wieder herauszog. "Uaaah, verdammt kalt!" bibberte er und rubbelte sie am Gras trocken. "Na, auch mal?" Hatte er etwa mich gemeint? Ich sah mich um, aber neben mir war keiner. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Nirgends war Missgunst - überall Zufriedenheit und Erleichterung. Selbst Filc machte keinen bösen Scherz mit mir, er schien nur sehr entspannt zu sein. Als ob eine große Sorge von ihm gewichen wäre. Vielleicht konnte ich ja doch mein Misstrauen beiseite legen. Ich sah hinüber zu Kaleb, der sich blanker Haut auf einem großen Stein ausgestreckt hatte und sich überhaupt nicht dafür interessierte, was ich tat oder nicht. Das würde er ja nicht tun, wenn ich in Gefahr wäre. Oder wollte er nur mein Vertrauen testen..? Barthel rief meinem Bruder zu, er habe noch nie so gutes Wasser getrunken. Das glaubte ich gern, es sah wundervoll und kühl aus. Aber Kaleb winkte nur ab und seufzte wohlig in der Sonne, die auf seinen blanken Bauch schien. Allmählich wurde mir in meiner dichten Kleidung zu warm und ich verzog mich in den Schatten eines Baums. Leider war es dort nicht wirklich kühler und ich hatte fürchterlichen Durst. Also pflückte ich mir noch eine Suanti und hatte sie schnell gegessen, aber der Durst blieb. Ich aß noch eine, aber es war, als würde mein Durst nur noch mehr zunehmen. Und mir wurde heißer, so schrecklich heiß. Mein Bruder lag immer noch gemütlich in der Sonne, ihn schien es nicht zu stören, dass es immer unerträglicher wurde. Ich probierte es noch einmal mit einer Suanti, aber danach war mein Mund so ausgetrocknet wie noch nie. Ich brauchte Wasser, viel kühles Wasser! Ich lief zu Gabriel und fragte, ob ich einen Schluck aus seiner Flasche haben könne, aber der sah mich nur komisch an. "Da ist ein Fluß, sieht du das? Und was gibt es in einem Fluß? Richtig! Wasser! Also hol dir dein eigenes! Ausserdem ist meine Flasche schon fast leer." Keinem hier schien diese unsägliche Hitze etwas auszumachen. Kein einziger kleiner Lufthauch blies, die Sonne knallte gnadenlos. Ich musste etwas tun, sonst würde ich hier neben einem Fluß verdursten! Ich lief zu Kaleb und zog den Kopf ein, bevor mir die Sonne den Nacken verbrennen konnte. Er murrte, als ich ihn anstupste. "Kaleb? Was.. ist mit dem Fluß? Ist er wieder in Ordnung?" Aber er gähnte mich nur an. Es war zum Verzweifeln! Warum erklärte er denn nichts? "Kaleb! Sag mir doch, ob es in Ordnung ist, wenn ich an den Fluß zum Trinken gehe! Ich will nur wissen ob ja oder nein! Und wenn nein, wieso es alle anderen es können nur nicht ich!" Kaleb blinzelte träge und ich spürte nur Müdigkeit in seinen Gedanken. Keine Spur von Beunruhigung oder Nervosität. Konnte ich mich wirklich auf mein Gefühl verlassen? Es war wirklich zum Verrücktwerden! "Mach doch, was du willst.." maulte Kaleb und drehte sich wieder in die Sonne. Ich war völlig verwirrt. Und durstig. Aber wenn er sich nur nicht klar ausdrücken wollte? "Kaleb..? Kannst du mir, bitte, die Flasche mit Wasser füllen?" fragte ich vorsichtig, denn sein Verhalten war mir nicht ganz geheuer. Auch das folgende nicht. "Sag mal spinnst du? Bin ich jetzt dein Leibeigener oder was? Hol es dir doch gefälligst selbst. Solltest eher fragen, ob du deinem Bruder etwas mitbringen kannst!" Er schnaubte abfällig und drehte sich jetzt vollends weg von mir. Ich biß mir auf die Lippe und verkniff mir jeglichen Kommentar. War diese Panikmache gestern abend etwa nur ein Scherz gewesen? Aber warum hätte er das tun sollen? Ausserdem war seine Furcht und Sorge begründet gewesen und echt, das hatte ich gespürt. Nur - das passte nicht hierzu! Irgendetwas war doch passiert! Kaleb schien sich nicht einmal mehr zu erinnern, was er mir gestern gesagt hatte. Vielleicht war ja das die Gefährlichkeit, die hier unten lauerte? Dass man gleichgültig wurde. Dass alles um einen egal wurde. Die anderen lagen im Gras, sogar der Kapuzenmann sass regungslos unter einem Baum und schien zu dösen, Filc und Barthel lungerten am Ufer des Wassers herum und sahen den Fischen zu. Keinen interessierte mehr die Reise oder die Zeit. Aber warum nur die anderen und nicht ich? Mein Durst stieg ins Unermessliche. Meine Kehle war so trocken, dass selbst das Atmen zur Qual wurde. Ich verkroch mich in den Schatten ins Gras, schlüpfte aus den Klamotten und bedeckte den Kopf mit meinem Mantel. Ich würde einfach warten, bis wir weiterziehen könnten. Irgendwann mussten sie doch auch wieder aufbrechen wollen. Aber nichts passierte. Ich hörte ihre Stimmen dumpf unter meinem kleinen Zelt. Sie schienen nicht im Geringsten besorgt oder verstimmt. Mein Körper schwitzte und wurde müde von der Hitze und ich fiel für kurze Zeit in eine Art Halbschlaf. Mich weckte ein sehr seltsames und ganz feines Gefühl direkt in nächster Nähe. Ich konnte es nicht zuordnen, denn es war vollkommen anders als die Gefühle meiner Begleiter oder etwa meine eigenen. Ich lauschte, es machte mich neugierig. Ich hörte mit allem Gespür, aber das Gefühl blieb mir ein Rätsel. So fein.. zart, garnicht deutbar, auf keinen Fall konnte das menschlich sein. Ein Tier? Das Gefühl drehte sich um ein.. Sein, es war vage etwas wie Optimal und Anpassung, Tod und Leben. Aber es waren rationale Gefühle, ich spürte weder Bedauern, noch Angst oder Freude. Keinen Schmerz, keine Liebe, keine Hoffnung, keine.. Gefühle? Was dann? Was konnte das nur sein und vor allem, woher kam es nur? Das konnte doch nicht.. Ich fuhr mit der Hand durchs Gras und das Gefühl antwortete mir wispernd zwischen meine Gedanken. Es war unglaublich. Wieder strich ich über die Grashalme und das sanfte Flüstern kitzelte in meinem Kopf. Herrlich.. was für ein wundervolles Gefühl! Ich hatte zuvor noch nie etwas gespürt, wenn ich etwas Unbelebtes berührt hatte. Aber das Gras flüsterte zu mir wie ein denkendes Wesen, oder eben nicht denkend, unverständlich, aber deutlich. Oder täuschte ich mich? Ich tastete weiter, erfühlte eine Wurzel unter meinen Fingerkuppen und auch sie flüsterte sogleich auf mich ein, in einer ganz anderen Stimmlage, einer Sichtweise, die ich ebenfalls nicht nachvollziehen konnte. Und doch war es wunderschön. Es war nur ein Tuscheln, dass man erst hörte, wenn man danach lauschte. Verzaubert setzte ich mich auf, zog den Mantel vom Kopf und blickte mich um. Blumen, Bäume, Steine, Erde - erst zögernd, dann immer gieriger berührte ich alles in meiner Umgebung. Ich musste alles anfassen und ich verging in einem wahren Freudentaumel, als ich diese einfachen, unendlich fremden Empfindungen in mir spürte. Ich verstand nichts davon und doch war es so schön, dass ich immer mehr davon haben wollte. Ich gewöhnte mich schnell daran, diese Empfindungen zu verarbeiten, das fremde Tuscheln wurde zu einem zärtlichen Streicheln, das meinen Geist verwöhnte. Wieso hatte ich früher nie dieses Wunder wahrgenommen? War ich denn taub gewesen? Als hätte etwas in mir eine Tür aufgestoßen fluteten alle zarten Stimmchen in mich ein. Das Wispern war allgegenwärtig, diese feinen Klänge, die keine verwirrenden, komplizierten Gefühle wie Angst oder Freude kannten. Extenziell und rein, klar wie Wasser. Wasser. Wie fühlte sich Wasser an? Wie fühlte es? Dieser Gedanke musste der reinste von allen sein. Blumen und Bäume, selbst das Gras.. das waren komplexe Gebilde im Vergleich zu Wasser. Wie hörte sich wohl das Wasser an? Ich sah zum Flußufer, doch Barthel und Filc waren nicht mehr dort. Auch der Kapuzenmann und die Zwillinge waren nicht zu sehen. Einzig mein Bruder lag noch auf seinem Stein in der Sonne. Ich musste ihm erzählen, was passiert war! Schnell stand ich auf und hatte Mühe, mich im ersten Moment auf den Beinen zu halten, die Hitze hatte mich fast umgehauen. Ich schwankte etwas, als ich zu Kaleb lief und der Schreck ließ mich sofort meine neue Erkenntnis vergessen, als ich ihn erkannte. Schon von Weitem sah ich, dass etwas nicht stimmte und lief schneller. Ein Schreckensschrei brach durch meine Lippen, als ich meinen Bruder in all seiner Grauenhaftigkeit sah. Die Sonne hatte seine Haut tiefdunkel werden lassen, sie schälte sich und offenbarte offenes Fleisch darunter, das Gesicht war eine grauenhafte Fratze geworden, Haut wie altes Pergament! Vor Entsetzen wagte ich nicht, ihn zu berühren, doch ich rief solange, bis er die Augen aufschlug. Sie waren trüb und blickten blind umher. Mir wurde schlecht vor Angst und ich wollte am Liebsten weglaufen. Oh mein Gott, das kann nicht wahr sein! "Kaleb! Du.. dein.. was ist nur mit dir passiert! Du musst sofort in den Schatten!" Ich ekelte mich schrecklich davor ihn anzufassen, doch es war schliesslich mein Bruder und ich konnte ihn schlecht weiter in der Sonne liegenlassen. Ich packte ihn unter den Armen, er stöhnte vor Schmerz und ich spürte seine Qualen nur allzu deutlich. Wieder brach die Sonne durch einen feinen Wolkenschleier und brannte erbarmungslos auf uns nieder. Ich zerrte und zog, mein Bruder war schwer und konnte mir beim Ziehen nicht behilflich sein. Meine Finger wurde feucht, als die Haut unter ihnen riss und ich nacktes Fleisch ertastete. , schoß es mir durch den Kopf und dieses Gefühl war das grausigste, was mir bis dahin widerfahren war. Mir wurde so schlecht, dass ich mich fast übergeben musste, aber ich zwang mich zur Ruhe und zog weiter, bis meine Augen brannten vor Schweiß, mein Herz vor geteiltem Leid zu schmerzen begann. Vollkommen erschöpft ließ ich Kaleb in den Schatten des Baumes sinken und hatte nur einen großen Wunsch: Wasser! Ich musste etwas trinken, oder ich würde die nächsten Minuten nicht mehr überstehen. Und Kaleb brauchte Wasser, viel davon zur Kühlung seiner verbrannten Haut und natürlich zum Trinken. Ich wagte nicht mehr, ihn anzufassen. Seine Schmerzen waren unerträglich, seine Verzweiflung machte mich völlig fertig. Mir stiegen die Tränen in die Augen, wie ich meinen geliebten Bruder so grausig verstümmelt neben mir liegen sah. "Ich.. ich hole dir Wasser.." flüsterte ich, denn wusste nur zu gut, was sich mein Bruder jetzt am Meisten wünschte. Ich packte meinen Mantel und ging damit zum Ufer, um ihn mit Wasser zu tränken. Ich nahm mir vor, die Augen zu schliessen, während ich am Wasser war und kam mir dumm vor, darauf nicht schon viel früher gekommen zu sein. Ich ging auf die Knie und tastete mich langsam ans Ufer. Sehr vorsichtig fühlte ich mit der Hand weiter nach unten und musste jeden Moment Wasser zwischen den Fingern haben. Doch da war nichts. Ich tauchte die Hand noch tiefer, bis zum Ellbogen stieß ich hinunter, doch kein kühles Wasser. Heiße, trockene Luft war alles. Aber das konnte nicht sein, von Weitem hatte er den Fluß doch genau gesehen! Der Wasserspiegel konnte nur ein paar Zentimeter unter der Böschung liegen! Filc hatte seine Beine ins Wasser baumeln lassen! Ich probierte es noch weiter unten, indem ich den Mantel einfach nach unten gleiten ließ. Das Seltsame war, dass ich das Geräusch vernahm, als er ins Wasser tauchte. Doch als ich ihn wieder nach oben holte, war er staubtrocken. Was war das für ein verhexter Fluß?! "..Ah.." Schnell drehte ich den Kopf und sah nach hinten, wo mein Bruder lag. Er bewegte sich unter Winseln und Jammern und stammelte flehend nach Wasser. Verzweifelt drückte ich noch einmal den Mantel mit geschlossenen Augen nach unten, aber er blieb wieder trocken. Der Fluß plätscherte, rauschte und war doch nicht da. "Ich.. ich kann nicht! Hier ist kein Wasser!!" schrie ich hinüber aber das Stöhnen brach mir das Herz entzwei. Ich konnte ihn nicht verdursten lassen! Das war nicht fair! "Was soll ich denn machen, ich komm nicht ran!" heulte ich und konnte selbst kaum mehr schlucken vor Trockenheit in meinem Mund. "Was.. was du nicht... sehen willst,... kann auch nicht da.. sein..!" röchelte er kaum hörbar und überließ mir somit eine unfassbare Logik. "Was ich nicht sehen will, ist nicht da?" Was meinte er damit? Bloß, weil ich nicht in den Fluß sehen wollte, war er auch nicht da für mich? So ein Blödsinn! "Es... ist kein normaler Fluß..." hörte ich Kaleb, bevor er mit der Stimme abbrach. Dann klang er wie ein wimmerndes Kind. "Ich... Wasser!" "Aber du hast es mir doch verboten! Was soll ich denn jetzt machen?!" Ich war hin- und hergerissen. Mein Bruder lag im Sterben und ich klammerte mich an ein Versprechen, das ich ihm geschworen hatte. Was gab es da noch zu überlegen? In meinem Schädel pochte es, als ich den Entschluß fasste, doch die Augen zu öffnen. Ich drehte den Kopf und hob die Lider einen Spalt. Ganz vorsichtig lugte ich weiter über den Rand des Flußes, sah das plätschernde, klare Wasser und bekam stechende Kopfschmerzen. Ich zwang mich weiter zu schauen, dachte nur an meinen Bruder, fühlte alle leisen Stimmen um mich lauter werden, anschwellen, ein dröhnendes Intermezzo, dass mir fast der Schädel platzte und ich vor Schmerz die Augen schloss. Sofort wurde das Pochen weniger schmerzhaft, aber eindringlicher, alarmierender, wie eine Warnung, oder lockend, wie eine verführerische Geste. Ich öffnete die Augen wieder ein bisschen und lehnte mich weiter vor, ein entsetzter Schrei drang in mein Ohr, die Stimme meines Bruders überschlug sich in meinem Kopf und erschreckte mich zu Tode, denn sie war keine paar Zentimeter von mir entfernt. Aber es war zu spät, ich hatte die Augen offen und starrte in kaltes, durchsichtiges Wasser. Und um mich verschwand alles. Die Wiese, mein Bruder, die aufgeregten Stimmen um mich, die Sonne und die Zeit. Nur das Wasser. Und dann hörte ich eine singende Stimme, die ganz leise auf den kleinen Wellen tanzte. Zwischen dem Plätschern des Wassers schwang eine dünne Melodie, freudlos, wie ein Trauergesang, ein Wehklagen, das mich tief berührte. Ich spürte die unendliche Tiefe, die Hoffnungslosigkeit dieser Töne und fühlte sie in diesem Augenblick, als wären es meine eigenen. Die Stimme wanderte nun tief in meine Seele, sang ihr trauriges Lied, ihr Weinen und Wimmern, mein Geist war offen und ließ die Stimme ungehindert eintauchen. Sie verschmolz mit meinen Gedanken und ich wurde mit einem mal so unbeschreiblich traurig, dass keine Worte imstande wäre, dies zu beschreiben. Nicht Traurigkeit.. es war anders. Es war so schrecklich endgültig, die Machtlosigkeit und Ohnmacht überschwemmte mich und ich trieb auf einem See aus Kummer. Nicht greifbare, pure und doch natürlichste Trauer, ohne eine Spur von Mitleid oder Bedauern. Seltsam und doch völlig natürlich. Das natürlichste überhaupt. Das klarste Gefühl, das ich je in mir gespürt hatte. Und mit einem mal verstand ich es. Das Flüstern des Grases und der Bäume, selbst der Wind hatte eine eigene Sprache, aber ich verstand sie jetzt alle. Sie alle hatten denselben Inhalt, die gleiche Aussage. Ich hatte von allen das älteste und universellste Gefühl erlebt. Leben. Das Leben selbst hatte ich empfunden in seiner unverfälschten Form. Jetzt verstand ich das Singen und Weinen des Flußes, das mich fast in seiner Traurigkeit verschluckt hatte. Jetzt hatte ich das alles verstanden. "Es ist nur das Leben.." Plötzlich wurde es eiskalt, über mir brach eine Welt zusammen. Mit einem Mal wisperte es von allen Seiten, das "Leben" schwebte überall um mich herum, sang sein Klagelied, das ich jetzt noch viel besser verstehen konnte, mit jedem Augenblick mehr. Und doch fühlte ich, wie ich selbst immer leiser, die Flut von singenden Stimmen immer lauter wurde und mein eigenes, leises Stimmchen übertönte. Von Moment zu Moment schwand das Wispern in mir, bis nur noch ein leiser Hauch übrig war. Aber er blieb und tröstete mich in der Kälte, die meine Wahrnehmung jetzt lähmte. [ # ] "Vates!! Vates!! Lasst mich los, ihr verfluchten Bastarde!! Ihr miesen Schweine habt das doch schon vorher alles so geplant! Lasst ihn in Ruhe!! Er hat nichts getan! Er hat doch überhaupt nichts getan! Ich bring euch verdammt nochmal um!!" Die erregte Stimme meines Bruders scholl an meine Ohren, dazwischen das Rauschen des Wassers. "Hättest du ihn nicht mitgebracht! Du bist selbst schuld!" "Du hättest es besser wissen sollen! Ohne Magie bist du aufgeschmissen hier unten! Und wenn nicht er, dann wäre es vielleicht einem von uns passiert!" "Verdammt, er war mein Bruder!" "Flam war auch mein Bruder" sagte Barthel leise und eine Welle aus Trauer schwebte zu mir herüber. Jedoch nicht die Trauer, die ich gerade erst gespürt hatte. Diese Trauer war greifbar und hatte einen Grund. Ein kompliziertes Gefühl, soviele Ecken und Zwischentöne. Es war hässlich. Alles um mich herum fühlte sich hässlich an. Die Gedanken, deren Urheber in meiner Nähe standen. Alles hässlich und unsauber. Ja.. dreckige Gefühle. Auch die Trauer meines Bruders lag wie ein schmutziger Schleier über mir. "Nun. Es ist passiert. Aber wir sind immer noch zu sechst. Und der Eingang ist frei!" "Barthel.. Barthel! Er lebt!" [ # ] Ich spürte Boden unter meinen Füßen, Gras unter den Händen, aber alles war kalt wie Eis. Es rauschte immer noch in den Ohren, aber plötzlich wurde ich von einem Hustenreiz geschüttelt. Keuchend spuckte ich das Wasser aus der Lunge und rang nach Luft. Meine Kehle brannte wie Feuer und mein Magen krümmte sich vor Schmerz. Aber schnell fanden sich meine Sinne zusammen und ich konnte wieder fühlen, was um mich herum geschah. Außerordentliches Entsetzen, Bestürzung und Unglauben. Und grenzenlose Freude. Keine Sekunde später hielt ich meinen Bruder umklammert, der mich so heftig an sich presste, dass mir die Luft wegblieb. Es war nur ein Traum gewesen. Eine grässliche Sinnestäuschung. Er lebte und war gesund. Ich weinte vor Glück und brachte keinen Ton heraus. Ich sah Barthel, der mich mit unverhohlener Furcht anstarrte und auch die anderen schienen fassungslos und überfordert mit der Situation zu sein. "Vielleicht ist ein Trick.." sagte Filc jetzt und sein Misstrauen überlagerte für einen Moment alles andere. "Vielleicht will uns der Fluß eine Falle stellen." Er musterte mich und ich sah zurück, bemerkte, dass er klatschnass war. Seine Hand blutete ein wenig und das Hemd war eingerissen. Barthel's Hemd war ebenfalls nass und zerrupft. Aber der große Mann wich meinem Blick aus, er zitterte mehr als ich. Ich sah auf meine Hände, die verschrammt waren und aus zahllosen winzigen Rissen bluteten. Was war hier passiert? Waren wir angegriffen worden? Und warum sprach Filc von dem Fluß als ob es er eine Hexe sei? Und warum sagte mir sein Blick mehr als seine Worte? War am Ende doch nicht alles ein Traum gewesen..? Das Wasser um mich.. die Kälte.. Kaleb ließ mich endlich los und schenkte mir ein gequältes Lächeln. "Du hast dein Versprechen nicht gehalten, Vates.." Ich schluckte und die Bewegung schmerzte unangenehm in der Kehle. "Aber du.. ich dachte, du würdest verdursten, und dann..!" "Ich weiß.. du bist nicht der erste, der auf den Fluß reinfällt.." "Der Fluß?" fragte ich ungläubig. Eben dieser plätscherte wie zuvor. "Er gaukelt dir etwas vor, damit du in ihn hineinschaust. Als Magiebegabter kannst du deinen Geist abschotten, so dass er nicht in deine Seele greifen kann. Aber als normaler Mensch hast du keine Chance..." "Was.. was ist denn passiert?" fragte ich vorsichtig, denn allmählich begann ich zu begreifen, wie zumindest ein Teil der Geschichte verlaufen war. "Du hast reingeschaut. Obwohl ich es dir verboten hatte!" sagte Kaleb streng. "Aber, das war doch.." "Dann hast du angefangen zu weinen und warst nicht mehr ansprechbar.. weißt du.. Barthel's Bruder ist das vor einigen Jahren auch passiert.." fuhr er leise fort und begann zu stocken. "Immer, wenn sowas passiert... also der Fluß.. er schlüpft in die Seelen der Menschen. Jeder Mensch der in den Fluß sieht, wird verrückt, läuft total Amok! Also.. Barthel's Bruder hat damals fast einen unserer Gefährten getötet, weil er völlig von Sinnen war und.. der Fluß ist ein bösartiges Wesen! Er treibt dich in den Irrsinn und frisst deine Seele!" "Aber.. aber warum sollte der Fluß so etwas tun? Er ist doch nicht böse!" rief ich entsetzt. Der Fluß konnte doch nie etwas Böses tun, das war unmöglich! Er wusste doch garnicht, was böse überhaupt ist - Wasser hat kein Verständnis für Gefühle, die über "Leben" hinausgehen. Ich hatte ihn doch selbst gesehen, gespürt - er war weder gut noch böse, er war einfach da, wie jede Pflanze und jeder Kieselstein. Dieses reine Gefühl konnte doch nichts sein, wovor man Angst haben musste. "Oh doch Vates! Dieser Fluß ist nicht, wonach er aussieht. Er hat schon ettliche Menschen in seelenlose Irre verwandelt. Menschen ohne Seele, ohne Gewissen, ohne Erinnerung! Lebende Tote, die wirres Zeug brüllen, übereinander herfallen... ich meine.. wir dachten alle, du bist genauso verrückt geworden wie Flam damals.. du hast dich so komisch benommen und.." "Ich.. ich habe jemanden angegriffen? Aber ich.. Was habe ich gemacht? Habe ich denn jemanden verletzt? Ich weiß überhaupt nicht, was.." "Nein.. ja.. ich weiss es nicht.. wir wollten es nicht so weit kommen lassen, weil.." Die Angst packte mich wie eine eiserne Faust und zerdrückte mich fast. Ich fasste mir an die Kehle und sah zu Barthel, der unter meinem Blick zusammenzuckte. "Ihr.. habt mich ertränken wollen..?" brachte ich gerade noch heraus, bevor ein dicker Brocken im Hals mir die Luft abschnürte. "Hätte auch fast geklappt!" zischte Filc und starrte feindseelig auf uns herunter. "Verdammt, er trägt keine Magie in sich, er kann nicht einfach so davongekommen sein! Das ist sicher ein Trick, der Fluß steckt noch in ihm drinnen und irgendwann wird er über einen von uns herfallen und uns alle im Schlaf abmurksen.." "Sei ruhig Filc!" donnerte Barthel plötzlich und alles war totenstill. "Du hast genug Unheil angerichtet. Der Junge hat dich gar nicht angegriffen, oder nicht? Sag die Wahrheit, was ist passiert!" "Hat er doch! Wie ein Irrer!!" schrie Filc und deutete auf mich herunter. "Er hat dich am Arm angefasst! Das war alles, du bist total ausgerastet!" "Nein nein! Wirres Zeug hat er geredet! Er war total verrückt! Wie Flam damals und..!" "Was hat er denn gesagt?" "Irgendwas von einem Leben oder so, völlig bescheuert und..!" "Ist das etwa ein Grund, einen Menschen zu töten?!" schrie Kaleb und war drauf und dran, Filc an die Gurgel zu gehen. "Wenn ich das jedesmal getan hätte, wenn du bescheuerte Dinge sagst, wärst du bis heute schon mindestens 300 mal mausetot!!" "Davon wäre das Tor aber nicht aufgegangen!!" heulte Filc und ich merkte, wie er sofort bereute, was er da gesagt hatte. Und tatsächlich folgte die Strafe auf den Fuß. Barthel holte aus und gab Filc eine Ohrfeige, die ihn zu Boden warf. "Noch ein Wort und ich halte deinen Kopf auch solange unter Wasser, bis du dich nicht mehr rührst.." sagte Barthel leise und wandte sich um. So wurde mir zum ersten Mal bewusst, was Filc am Tag der Abreise zu mir gesagt hatte. >Na super, ein neues Lämmchen, was?< Ja, und was für ein Lämmchen. Das "Opferlämmchen" für den bösen Fluß. Eine gute Gelegenheit. Ich blickte das Wasser hinauf und musste die Augen zusammenkneifen vor Helligkeit, die sich sofort in meine Iris brannte. Über dem sprudelnden Nass hing eine grelle, durchsichtige Scheibe wie aus Glas, die in der Sonne spiegelte. Das Tor stand weit offen. [ # ] Kapitel 4: Donnerschläge ------------------------ Donnerschläge Seit dem Vorfall am Fluß sind nur ein paar Tage vergangen. Bisher hat niemand mehr ein Wort mit mir gewechselt. Einige haben Furcht, dass Filc Recht haben könnte und ich innerlich vom Fluß "vergiftet" wäre und mich irgendwann rächen würde. Der Rest hat den Vorfall bald verdrängt. Auch Kaleb, der schließlich geahnt hat, was passieren wird und mir nichts davon gesagt hat. Barthel hat aber noch schwer damit zu kämpfen, immerhin hat er Filc geholfen, den scheinbar "wahnsinnig Gewordenen" unschädlich zu machen. Jedes Mal, wenn Barthel in meine Richtung sieht, fühlt er sich schuldig. Seine Sanftheit ist für mich zum Witz geworden, denn ich habe zu spüren bekommen, dass er nicht zögert, für diese Reise Opfer zu bringen. Ein Opfer, mit dem er schon geplant hat, als er sagte, wir gingen durch die Schlucht und nicht drum herum. Vielleicht aber wollte er wirklich nur durch die Schlucht gehen und nicht auch noch durch das Tor. Ein Sprungtor. Es gibt nur wenige Tore, die Menschen bereisen können und der Wegzoll für das Beschreiten eines Tores ist sehr unterschiedlich. Einmal reicht ein "Tor auf!", doch meist ist der Preis für den Einlass höher. Ein Flußtor, das sein "Opfer" fordert. Natürlich hat sich Filc gefreut, dass ein Lämmchen dabei gewesen ist, so haben sie fast zwei Wochen gespart und alle verlorene Zeit wieder aufgehlt. Aber.. es erschüttert mich, dass sie so weit gehen, einen Menschen gegen ein Stück Weg einzutauschen. Das letzte Mal hatte Barthel einen Bruder verloren. Als Nichtmagischer hatte Flam wohl auch keine Chance gehabt, sich dem Fluß zu entziehen. Aber wieso ist er verrückt geworden, als er in das Wasser geschaut hat? Was wäre gewesen, wenn sie Flam nicht umgebracht hätten? Hätte er sich erholt? Hätte er vielleicht genau das gesehen, was ich erlebt habe? Barthel schmerzt der Verlust seines Bruders sehr. Ich kann seine Trauer sehr klar fühlen, wenn er sieht, wie ich mit Kaleb rede. Die anderen jedoch haben sich schnell von ihrem schlechten Gewissen erholt. Wohl gefühlt habe ich mich in dieser Runde noch nie. Aber jetzt habe ich Angst. Ihre Gedanken sprechen Bände, ich bin ihnen nicht geheuer, ihnen wäre es lieber gewesen, ich wäre wirklich verrückt geworden wie die anderen vor mir - und dann tot aufgrund ihrer berechtigten Sorge. Aber so müssen sie wieder mit mir reisen und ich mit ihnen. Ich habe Angst, dass sie mir wirklich etwas antun könnten. Durch das Tor haben wir viel Zeit gespart und der Marsch ist nicht mehr so streng wie vorher, man hat viel Zeit nachzudenken. Es ist beinahe angenehm. Ich lasse mich jedesmal ein gutes Stück zurückfallen, um ihre Gedanken nicht ertragen zu müssen. Kaleb ist der einzige, der sich öfter nach mir umdreht, um zu sehen, ob ich noch da bin. Fast tut er mir leid. Er hat schreckliche Schuldgefühle und versucht mir abends zu erklären, was diese Menschen dazu treibt, scheinbar so gefühllos zu agieren und selbst ein Todesopfer in Kauf nehmen, um rechtzeitig am Ziel zu sein. Und wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte der Fluß sicher das nächstschwächste Opfer gefunden, wahrscheinlich Filc. Deshalb war dieser auch so nervös gewesen und hätte überreagiert. Sie müssten aufpassen, dass niemandem in ihrer Gruppe etwas passiert, sonst wäre alle Mühe der Reise umsonst. Das Warum darf er nicht verraten und so fällt die Erklärung kurz und nichtssagend aus. Den Tod eines Freundes verkraften, um ein Ziel zu erreichen? Aber gut - ich bin ja nicht ihr Freund und werde es nie sein. Es ist mir auch egal. Es mögen Kalebs Freunde sein, die meinen sind sie nicht. Mir ist es jetzt endgültig gleich, ob sie mich hassen oder nicht. Eher ein gutes Zeichen, denn das hieße, ich bin nicht so wie sie. Von mir haben sie nichts mehr zu erwarten. Kürzlich, als wir durch Dörfer gezogen sind, dachte ich daran, einfach stehenzubleiben. Sollten sie nur weiterziehen, froh mich loszuhaben und würden glückseelig ihr heiliges Ziel erreichen. Und ich müsste keine Angst um mein Leben haben, nicht mehr diese negativen Gefühle um mich herum ertragen. Die allgegenwärtige Ablehnung macht mich müde und würde ich noch wie früher um ihre Akzeptanz kämpfen, wäre ich längst depressiv geworden. Aber so ist es nur unangenehm. Ich sollte mir das nicht antun und dieses unerwünschte Dasein aufgeben. Vielleicht würde ich zurück zum Fluß gehen. Ich wollte Kaleb vom Fluß erzählen, ihm begreiflich machen, was ich gespürt hatte und was das bedeutete, aber er hat mich nicht verstanden. Er hat mich nur seltsam angeschaut, versucht, etwas zu begreifen, was ich ihm da erzähle. Ich hatte es aber nicht in menschlichen Worten beschreiben können, was passiert war. Obwohl es das natürlichste Gefühl überhaupt ist, ist niemand fähig, es zu beschreiben. Ich dachte früher immer, dass Leben an sich wäre mit dem Gefühl "Freude" gleichzusetzen. Man spricht ja auch von der Lebensfreude und wenn Pflanzen wachsen, Blumen erblühen ist das ja ein wunderschöner Anblick, der einem Freude bereitet. In Wirklichkeit ist das genaue Gegenteil der Fall. Naja fast, wie gesagt, man kann es nicht beschreiben. Eine Trauer, die keinen Grund und keine Absicht hat - fern jegliches Bedauerns. Eigentlich ist das garkeine Trauer mehr. Das Gefühl kann man einfach nicht in Worte fassen, nur spüren. Und es ist überall, ich fühle es Tag und Nacht als wäre es mein ureigenes Gefühl. Und trotzdem macht es mich nicht traurig, als gäbe es etwas zu bereuen. Es ist einfach nur herrlich. Kaleb versteht mich nicht, für ihn ist das alles ein Widerspruch. Wenn ich sage Trauer, kommt es dem Lebensgefühl am nächsten, obwohl es etwas ganz anderes ist. Und es stimmt ihn seltsam, dass ich mich an einem Gefühl erfreue, mit dem er reelle Traurigkeit verbindet. Ach.. wie gerne würde ich ihm zeigen, was ich spüre. Nur dieses eine Mal. Er würde das alles sofort verstehen. Aber so versteht er nichts. Das größte Rätsel für Kaleb ist nach wie vor, dass ich noch ich selbst bin. Er rätselt noch immer, wie ich dem Fluß "entwischt" bin. Je länger ich mit ihm rede, desto sicherer werde ich auch, dass Kaleb Recht hatte. Vielleicht stürzt der Fluß wirklich alle Menschen in den Wahnsinn. Wenn wirklich jeder mit dieser ganz speziellen Darbietung des Lebens konfrontiert wird wie ich, kann es gutsein, dass die meisten menschlichen Denkweisen damit einfach nicht zurechtkommen. Nehmen wir an, ein Mensch gerät in den Bann des Flußes und wird diesem Gefühl ausgesetzt, das er nicht versteht, nicht einordnen kann, weil es so überhaupt nicht menschlich ist und seine ganze Weltsicht über den Haufen wirft. Je nachdem gerät er wirklich in eine extenzielle Verzweiflung und gebärdet sich wie "irre". Vielleicht bin ich nur nicht in dem Sinne verrückt geworden, weil ich es gewohnt bin, Gefühle anderer in mich einzulassen und versuche zu verstehen. Der Fluß ist wie ein kleines Mädchen, das in ihrer kindlichen Sprache einem Erwachsenen etwas erklären will und nicht verstanden wird, weil sie einfach nicht zuhören und verstehen wollen. Seit der Zeit am Flußufer, höre ich das Wispern der Pflanzen, der Erde und des Windes von Tag zu Tag deutlicher. Ich kann es alles verstehen! Sie sprechen nicht wie Menschen, sie sagen mir nichts über ihren Zustand oder geben irgendwelche Hinweise. Sie singen nur, jedes in einer anderen Tonlage, jedes eine andere Melodie, die doch immer gleich ist und einfach nur Leben bedeutet: "Mich gibt es, ich bin hier" Und es gibt nichts, das nicht lebt. Steine leben, selbst von Menschenhand geformter Stahl summt sein Dasein, jede Handvoll Erde, die Luft selbst spielt unablässig ihr Lied. Und es ist wunderschön ihnen zuzuhören. Aber sie sind immer nur so laut, wie ich es will, niemals stören sie meine eigenen Gedanken oder werden zu zahlreich. Sie sind einfach nur da und beruhigen mich durch ihre Anwesenheit. Bin ich verärgert oder zornig, suche ich die Natur, lehne mich an einen Baum und fühle, wie seine Ruhe, sein kräftiges, warmes Leben meinen Zorn einfach verstummen lässt. Dieses Lied trage ich immer in mir, denn es erinnert mich immer wieder daran, wer ich bin und dass ich lebe. Was hält mich noch in der Gruppe? Von den sechs Leuten würde mich keiner vermissen. Nicht einmal Kaleb würde sich sorgen, wenn ich ihm erklärte, dass ich hier auf sie warten wollte, bis sie wieder auf dem Rückweg hier vorbeikämen. Aber ich will in seiner Nähe bleiben. Vielleicht braucht er mich irgendwann. Vielleicht würde ich ihn nie wieder sehen, würde ich ihn jetzt alleine weitergehen lassen. Ich habe ihm noch nicht verziehen, dass er mich seinen Freunden praktisch zum Fraß vorgeworfen hat, indem er mich mitgenommen hat. Er hätte es doch wissen müssen, was sie vorhaben. Aber er leidet doch noch unter seinem Gewissen und ich denke er versteht erst jetzt, dass er mich fast verloren hätte. Ich könnte niemals zulassen, dass ihm etwas passiert. Er ist mein Bruder. Der immer für mich da war, der mich immer verstanden hat, mein bester Freund, der jedes meiner Geheimnisse kennt. Das könnte ich mir nie verzeihen. Ich werde ihn niemals im Stich lassen - und wenn er mich dreimal verraten hätte. Ich denke nicht oft an zuhause zurück. Was meine Eltern oder meine Geschwister wohl machen, was sie denken. Viel öfter schweifen meine Gedanken ab in den Himmel. Wenn ich meterweit hinter den anderen her gehe, alles Störende um mich weggewischt ist, dann fliegt mein Geist und kommt erst wieder zurück, wenn sich die Gruppe zu einer Rast sammelt. Am Liebsten wäre ich unsichtbar. Für niemanden zu sehen, nicht einmal für meinen Bruder. Ich wollte ihn nur aus der Ferne beobachten und für ihn da sein, wenn er mich braucht. Aber auf mich achtet zum Glück kaum noch jemand. Das mit dem Fluß liegt schon fast zwei Wochen zurück und ich habe bisher niemandem mehr einen Grund gegeben, ausfällig zu werden. Zumeist störe ich nicht einmal durch meine Anwesenheit. [ # ] Heute, wie auch den ganzen vorigen Tag hat es geregnet wie aus Kübeln. An Weiterlaufen war nicht zu denken und so sitzen wir in einer großen Höhle fest, die mitten in einem Wald von irgendjemandem in den Stein gehauen wurde. Es sind Spuren von Feuerstellen zu sehen und einige Felle und Strohsäcke hatten wir im hinteren Bereich der Höhle gefunden. Scheinbar eine Zuflucht für Jäger oder Wanderer. Langeweile macht sich breit, denn nach draussen zu gehen ist eine nasskalte Angelegenheit und hier drinnen ist es zwar warm, aber es gibt kaum Beschäftigung. Die Zwillinge schnitzen und basteln den ganzen Tag über an irgendwelchen hölzernen Konstruktionen, Barthel kocht, Kaleb hält das Feuer am Brennen und muss alle paar Stunden durch den Regen in eine Nebenhöhle laufen, wo ein ganzer Berg Feuerholz aufgeschichtet liegt. Ich sitze schon seit Stunden am Eingang und schaue dem Regen zu. Das Prasseln des Feuers und des Regens ist wirklich angenehm, wenn nur nicht die quiekende Stimme von Filc alles zunichte machen würde. Er ist auch noch der einzige, der mir mit vollem Mißtrauen begegnet. Dass ich mich bewußt absondere, um die anderen nicht zu reizen, schmiert er mir extra noch aufs Brot. Wenn ihm langweilig ist, kommt er zu mir rüber und stänkert. Nicht, dass ich mich darüber noch aufregen würde, aber es ist einfach nur lästig, wie er jedes Mal nachdenkt, was ihm jetzt wieder nicht an mir passen könnte. "Na du Held?" Was wird er diesmal zur Sprache bringen, um mich zu ärgern? "Immernoch der Unnahbare, was?" Auf so etwas reagiere ich garnicht. Langsam müsste er mich kennen und wissen, dass ich ihm auf sowas nicht antworte. "Du lässt deinen Bruder ja ganz schön zappeln. Pass lieber mal auf, dass er nicht die Schnauze voll kriegt von deinem Beleidigtsein, er hat ganz schön..." "Lass Kaleb in Ruhe." "Oh, der Herr Lass-Mich-Allein-Du-Unwürdiger kann ja doch sprechen! Scheinst deinen Bruder ja wirklich zu mögen, wenn du ihn selbst jetzt noch verteidigst.." "Ich sagte, du sollst.." "Wenn mein Bruder mich guten Gewissens dem Teufel verkaufte,.. also ich würde mir mal Gedanken machen, ob er mich genauso schätzt wie ich ihn!" "Was willst du damit sagen?" Dieser Ton gefällt mir ganz und gar nicht. Filc zieht die Nase hoch und schüttelt nur den Kopf. Er lugt kurz über die Schulter, aber die anderen sind zu weit weg, um unser Gespräch mitzubekommen. "Weißt du Vates, manchmal könntest du einem richtig leid tun. Aber dann denke ich wieder, du bist nur blind, naiv und schlicht und einfach blöd! Du hast keine Ahnung, wo wir hingehen! Du weißt überhaupt nichts über uns! Und du weißt genau, dass dich hier keiner leiden kann und uns scheissegal ist, ob du auf der Reise draufgehst. Aber dir ist doch alles gleich - hauptsache, dein blöder Bruder ist dabei. Ich kann das nicht mehr sehen, echt! Wie kann man nur so verblödet sein? Und wenn Kaleb in die Hölle geht, rennst du auch noch hinterher!" "Richtig" pflichte ich ihm bei und hoffe, dass dieser Mistkerl bald die Klappe hält. Filc verschlägt es wirklich kurzzeitig die Sprache. Eine ungeahnte Emotion streift mich, fast so etwas wie aufrichtiges Mitleid. Am Besten ich höre gar nicht mehr hin. Filc ist mir ebenso egal wie ich ihm, daher frage ich mich, wieso er jetzt mit sowas kommt. "Soetwas wie dich nennt man gemeinhin hörig! Kennst du den Ausdruck? Total abhängig! Seelisch verfallen, ha! Du degradierst dich selber noch zum Sklaven, ha! Das ist ja erbärmlich, mit Treue hat das ja nichts mehr zu tun! Wenn er sagt: ,Spring von der Klippe' machst du das dann auch?" "Er sagt es aber nicht" "Vielleicht wird er es einmal sagen. Und dann? Springst du, oder nicht?" "Verzieh dich endlich!" Mh. Das war ein Fehler. Er freut sich, weil ich mich aufrege. Langsam geht er mir aber wirklich, wirklich auf die Nerven! Es gefällt mir nicht, wenn er Kaleb in so eine Schublade steckt. Er hat doch keine Ahnung. Vertrauen und Unterstützung ist für ihn doch ein Fremdwort, was bildet er sich eigentlich ein, über unsere Beziehungen zueinander zu urteilen? "Geh jemand anderen nerven" sage ich nur kurz angebunden und sehe demonstrativ in den Regen hinaus. Ich ärgere mich, dass ich mich wirklich habe provozieren lassen von diesem Mistkäfer. "Soso! Da hab ich wohl einen wunden Punkt getroffen, was? Wenn's ums Eingemachte geht, zieht der feige Hund den Schwanz ein, hehe. Aber du hast natürlich Recht... dein Kaleb würde doch von seinem geliebten Brüderchen niiiiemals soetwas verlangen! Dafür habt ihr euch viel zu lieb! Hat man ja gesehen." "Hör endlich auf damit, er.." "..hatte wohl seine Gründe, was? Mann, bist du so bekloppt oder tust du nur so? Du bist blind wie ne liebeskranke Pudeldame! Bah, verknallt in den eigenen Bruder, was? Ganz schön pfui, würd ich sagen.." Jetzt reicht es! Dieser verdammte Mistkerl!! "Lass mich endlich damit ihn Ruhe!! Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, wenn ein Mensch deine Sorgen teilt, immer für dich da ist und dein Vertrauen erwidert! Alles an dir ist Neid und Mißtrauen, weil du keinen einzigen richtigen Freund hast!! Ich habe wenigstens meinen Bruder, aber vielleicht hast du mal darüber nachgedacht, warum dich hier wirklich niemand leiden kann!" höre ich mich schreien und es ist mir in dem Moment egal, ob die ganze Höhle unseren Streit mitanhört. Mit jedem Wort fühle ich mich besser, weil ich endlich das gesagt habe, was ich schon bei der ersten Begegnung in ihm gespürt hatte. Neid auf alle, die einen wichtigen Menschen haben, die glücklich sind mit ihren Freunden oder Verwandten. Selbst Barthel duldet ihn nur wegen der Verwandschaft, eine geistige Verbundenheit fehlt hier gänzlich. Er boxt täglich um Aufmerksamkeit und geht damit allen nur auf die Nerven. Die letzten Worte verhallen an den Steinwänden der Höhle. Filc hat die Fäuste geballt und starrt mich zitternd an. Jeden Moment warte ich darauf, dass er ausholen wird und auf mich einschlägt - aber nichts passiert. "Vermutlich hast du recht.." presst er mühsam heraus und verzieht den Mund zu einem grässlichen Grinsen. "Ich habe niemanden, der mir so wichtig wäre, dass ich mich für ihn aufgebe. Jaa, vielleicht habe ich nicht einmal normale Freunde! Aber alles hat seine Vorteile! Wer keine Freunde hat, der muss nicht um sie weinen, wenn ihnen etwas passiert! Klingt das hart für dich? Wir hier - alle die du hier siehst - können sich im Grunde nicht riechen! Die Zwillinge mögen sich nicht besonders, Barthel und ich leben auch nur in einer Zweckgemeinschaft nebeneinander und den Glatzkopf da hinten kennt sowieso keiner. Und deinen Bruder kann ich ebenso wenig leiden wie dich! Du siehst - keiner hier weint irgendjemandem eine Träne nach, wenn etwas passiert! Außer du und dein Bruder, das Herz und seine Seele! Ich habe kein Problem damit, als Einziger wieder den Heimweg anzutreten! Und was ist mit dir? Du klebst an deinem Bruder wie ein Kleinkind am Rockzipfel seiner Mama! Du tust mir leid! Nicht ich sollte dir leid tun! Bemitleide dich selbst und deinen Bruder noch dazu, dessen Klotz am Bein du bist, bis er irgendwann über dich stolpert!" dann fügte er sehr leise hinzu "Und ich bezweifle, dass er dir lange nachweinen wird. Der Zweck heiligt alle Mittel." [ # ] Es ist Nacht, ich sitze noch immer am Eingang. Der Regen prasselt und mischt sich mit dem Knistern des Feuers. Kein Baum und kein Stein kann mich jetzt beruhigen. Ich weiß genau, dass ich auf Filcs Geschwätz keinen Deut geben sollte. Aber es geht mir einfach nicht aus dem Kopf. In der Höhle ist es still, aber es schlafen lange nicht alle. Auch Filc liegt wach. Er denkt genauso nach wie ich und diese Tatsache allein reicht schon wieder, mich zu ärgern. Natürlich hat er Recht. Der Schmerz, wenn Kaleb etwas passierte, wäre unerträglich für mich. Unerträglich ist garkein Ausdruck. Ich wüsste wirklich nicht, was ich machen sollte.. Ich bin so versunken in Gedanken, dass ich garnicht merke, wie sich jemand hinter mir bewegt und mir einen Mantel um die Schultern legt. Ich erschrecke etwas, vermute Kaleb, aber es ist einer der Zwillinge, der sich neben mich setzt. "Du erkältest dich noch. Das Feuer ist fast aus.." sagt er leise. "Danke" Er hat etwas auf dem Herzen. Es ist mir völlig unbegreiflich, warum er damit ausgerechnet zu mir kommt, aber ich mache nichts, um ihn zu ermuntern zu reden. Ich will alleine nachdenken. Aber er rührt sich nicht. "Ich.. habe vorhin euer.. naja, Gespräch mitbekommen.." "Mh.Tut mir leid, es war wohl etwas laut.." "Ja, ich war ganz erstaunt.. wusste garnicht, dass du auch mal laut werden kannst! Endlich hat ihm mal jemand die Meinung gesagt.." Er schmunzelt und reibt sich die Wade. Was will er von mir? "Nun.. weißt du.. also Filc hat nicht ganz Unrecht. Ich meine, das mit der Reise und so. Wir sechs, wir wissen, worauf wir uns eingelassen haben, verstehst du? Wenn etwas passiert, meine ich. Natürlich wäre ein Todesfall äußerst bedauerlich, aber wir wissen, in welche Gefahr wir uns begeben und es war schliesslich unser aller freie Entscheidung mitzukommen. Wir dürfen hier nicht sentimental sein!" "Willst du mich überreden, heimzugehen?" "Nein nein, versteh mich nicht falsch! Aber es wäre schlimm, wenn dir etwas passierte! Du hast im Grunde nichts mit uns zu tun, du bist zufällig in diese Sache mit reingerutscht,.. wie auch immer.. Und du hast schliesslich gesehen, was passieren kann! Dem Schicksal ist es egal, ob du dir der Gefahr bewusst bist und dich ihr stellst, oder ob du nur unbeteiligtes Anhängsel bist. Du kannst dich nicht einmal wehren oder schützen, so wie wir! Und dein Bruder ist nicht immer da, um dich zu beschützen.." Natürlich habe ich daran schon oft gedacht. Für alle hier bin ich nur eine Last, ein kleiner Schmarotzer. Aber solange ich bei Kaleb bin, ist mir das auch egal. "Und Kaleb.. ist ganz besonders wichtig für uns.." fügte Gabriel kleinlaut hinzu. "Ich verstehe. Ihr habt Angst, Kaleb könnte sich wegen mir in Gefahr begeben, so dass ihr auf ihn verzichten müsstet." Sichtlich verlegen kratzt sich Gabriel im Nacken und murmelt undeutlich vor sich hin. Dann lächelt er entschuldigend und nickt etwas zaghaft. "Filc hat es ein bisschen harsch ausgedrückt, aber im Grunde hat er schon recht. Vielleicht bist du irgendwann sein Stolperstein. Ah, ich sehe du verstehst mich.. und deshalb.." "..werde ich bei Kaleb bleiben." "Hör mal Vates.." beginnt Gabriel streng, aber er hat schon verloren. "Ich will euch nichts vormachen, so wie ihr mir nichts vormachen könnt. Ihr mögt mich nicht und ich mag euch nicht. Und deshalb ist es mir egal, ob es von euerem Interesse ist, ob ich hier bin oder nicht. Ich bleibe bei Kaleb, solange ich das Gefühl habe, dass er mich in seiner Nähe duldet. Ich wäre schon lange nicht mehr hier, wenn es um euch ginge. Mich interessiert eure Reise nicht, ich will garnicht wissen, was ihr vorhabt und wohin ihr geht. Aber Kaleb ist mein Bruder und der einzige Mensch, der mir etwas bedeutet. Und deshalb werde ich gehen, wohin er geht. Und über das Risiko bin ich mir seit dem Fluß sehr wohl bewußt." Der letzte Satz war ehrlich gemeint, doch ich sehe Gabriel an, dass er ihn für ironisch hält. Auch er hatte sich kurzzeitig schlecht gefühlt, als sich der ganze Irrtum herausstellte und fühlt sich jetzt an ihre Fehlentscheidung erinnert. "Du bist ziemlich egoistisch" stellt er knapp fest und runzelt die Stirn. "Du denkst vielleicht, dein Bruder bewundert dich dafür, dass du trotz allem an seiner Seite bleibst. Aber denk daran, dass du ihm ebenso ein Hindernis bist. Wenn nicht sogar seine Archillesferse. Wenn deinem Bruder wegen dir etwas passiert, musst du auch das verantworten können! Auch vor uns!" Diese Drohungen sind ein Witz. Gabriel ist ja nicht der Erste, der versucht mir ein schlechtes Gewissen einzureden und Angst zu machen. Ich weiß, dass ich Kaleb vielleicht auch störe - aber noch überwiegt das positive Gefühl in ihm, wenn ich in seiner Nähe bin. Naja, nennt es egoistisch. Ich versuche nur mein Leben lebenswert zu erhalten, und das kann ich schliesslich nur hier. Und wenn er wegen mir doch einmal in Schwierigkeiten kommen sollte, werde ich schon dafür sorgen, dass ich nicht seine Archillesferse werde. [ # ] Der nächste Morgen beginnt wie der Abend zuvor aufgehört hat. Strömender Regen draußen, dicke Luft drinnen. Selbst ohne die Gefühle spüren zu können, hätte ich bemerkt, dass die Atmosphäre hier drin angespannt ist. Meine Knochen sind ganz steif und schmerzen von der unbequemen Schlafhaltung am Höhleneingang. Aber niemand kann mich hier verscheuchen und sie scheinen auch froh darüber zu sein, dass ich nicht zwischen ihnen sitzen will beim Frühstück. Mir fällt auf, dass die Portion ziemlich mickrig ist, als gerade Kaleb fragt, was das denn soll. "Tja, die Vorräte gehen zuende. Ich dachte nicht, dass wir so lange hier festsitzen. Wir müssen heute etwas zu Essen besorgen!" "In dem Regen? Dann können wir auch gleich weiterlaufen. So werden wenigstens alle gleichmässig nass.." "Unmöglich. Ohne Sonne und Sterne kann ich mich nicht orientieren. In dem Regen ist der Himmel nicht zu sehen. Nicht einmal Wege kann man in den Bindfäden erkennen!" widerspricht Barthel und klopft den kleinen Kessel leer. "Ich werde gehen! Ich habe schon oft gejagt.. ich hoffe nur, dass ich in dem Regen was sehe!" schlägt mein Bruder vor und erntet freudige Zustimmung. "Ich werde mitgehen! Zwei Augenpaare sehen schliesslich mehr als eins!" Zwischen all den Gedanken um die Jagd, blitzt für einen kurzen Moment etwas auf, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt. Aber was das war und vor allem von wem.. das bleibt auch mir verborgen. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl. Es ist sogar fast greifbar in der Luft, aber ich kann es nicht definieren. Kaleb und Barthel machen sich fertig zur Jagd. Viel haben sie nicht, um ein Tier zu erlegen, aber sie hoffen darauf, dass die Tiere sich wegen dem vielen Regen nicht schnell fortbewegen und sie nicht wittern können. Mein Bruder hat ausgesprochen gute Laune. Jagen macht ihm großen Spaß, auch wenn es nun unter erschwerten Bedingungen ist. Egal - mit den Ansprüchen steigt die Leistung - ist sein Motto. "Und du bleib schön hier und leg dich mit keinem von denen an! Diese Szene von gestern steht dir garnicht. Naja, die Zwillinge werden schon aufpassen, dass dir Filc keinen bösen Streich spielt." "Und wenn schon, ich merk es sowieso vorher.. Pass du lieber auf dich auf! Ich.. hab ein komisches Gefühl.." Aber Kaleb wischt mir nur durch die Haare. "Keine Angst, ich kann schon gut auf mich aufpassen. Halt die Stellung! Bis später!" Ich will nicht, dass er weg geht. Selten habe ich mich so unwohl bei dem Gedanken gefühlt, ohne ihn zu sein. Vielleicht passiert etwas? Und wenn ich nur überreagiere wegen gestern abend? Ich habe regelrecht Angst, von Kaleb getrennt zu werden. Ich würde am Liebsten mitgehen, aber dann wäre ich wirklich nur eine Fußangel, denn von Jagen habe ich keine Ahnung. Und er würde mich womöglich auslachen, weil ich vor Angst schon zur Klette werde. Hänge ich wirklich schon zu sehr an meinem Bruder, dass ich jetzt nicht einmal mehr einen halben Tag allein sein will? Filc hat mich ganz durcheinander gebracht. "Bis später. Viel Glück.." Und weg sind sie. Sofort hat sie der Vorhang aus herabstützendem Wasser verschluckt. Die Zwillinge schnitzen. Der Kapuzenmann lehnt an einer Wand und scheint zu dösen. Filc ist verschwunden, sicher ist er Holz holen gegangen. Vor was habe ich also Angst? Ich werde hier wirklich noch paranoid. Ich drehe mich wieder zum Ausgang und beobachte den Regen. Das Schnitzgeräusch der Zwillinge ist beruhigend und langsam werde ich wirklich etwas ruhiger. Fast eine Stunde lang passiert garnichts, es bleibt still, Filc war kurz hier und ist wieder verschwunden, ohne jemanden zu nerven, ein langweiliger Nachmittag. Nach einiger Zeit habe ich Durst und ich laufe weiter vor zu einer Stelle, wo der Regen sich in einer Mulde sammelt. Das Wasser schmeckt herrlich. Der Quell allen Lebens. Nicht weit her geholt, wirklich. Am Liebsten würde ich jetzt baden.. in einem See oder einfach nur im Regen stehen. Aber da ich weiß, dass ich danach dann furchtbar durchgefroren wäre und mir eine Erkältung holen kann, werde ich das lassen. Als ich zu meinem Platz zurückgehe, finde ich ihn besetzt vor. Gabriel sitzt dort, wo ich zuvor war und winkt mir zu. Er hat ein Fell ausgebreitet und erwartet wohl, dass ich mich neben ihm niederlasse. Da ich aber nicht die geringste Lust habe, die Unterhaltung von gestern fortzusetzen, weiche ich aus und gehe zu Kalebs Schlafplatz, um sein Messer zu suchen, das er nicht mitgenommen hat. Vielleicht werde ich auch etwas schnitzen um die Zeit zu vertreiben. Früher habe ich das oft gemacht. Zuhause. Wenn Kaleb über Wochen hinweg auf Reisen war, habe ich mir unzählige Dinge geschnitzt. Tiere, Häuser, Menschen oder einfach nur Formen. Das ist besonders entspannend. Man muss nicht darüber nachdenken, wie es später einmal aussehen soll. Man schnitzt einfach drauflos und das Ergebnis gewinnt erst mit dem letzten Schnitzer seine endgültige Form. Yens sitzt ebenfalls auf dem Boden und schnitzt irgendwas, das nach einer Flöte aussieht. Daran macht er schon die ganze Zeit herum, vielleicht funktioniert sie ja irgendwann. Das wäre schön, ich mag Musik. Aus meinem Stück Holz wächst wieder einmal nichts Bestimmtes. Die Form ist weich, länglich, wie eine Welle mit einem ovalen Loch an einem Ende. "Sieht schön aus. Was ist das?" will Gabriel wissen, der wie ein Geist neben mir aufgetaucht ist. Er muss blind sein, wenn er nicht bemerkt, dass ich ihm eigentlich aus dem Weg gehe. Aber er lässt nicht locker. "Ich weiß nicht. Irgendwas eben.." "Sieht aus wie eine Welle.. oder Rauch, ja, wie Rauch!" "Du kannst es haben" sage ich. Wenn er dann geht soll es mir recht sein. "Wirklich? Danke! Kann ich dir etwas dafür geben?" "Nein danke" "Warte..." Er kramt in seinen Taschen und fördert eine kleine Dose zutage. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Yens herüberschaut zu uns. "Mach mal die Hand auf. Na los?" "Ich will nichts, danke!" beteure ich noch einmal, aber Gabriel lässt sich nicht abschütteln, nimmt meine Hand und schüttet hellbraunes Pulver in meine Handfläche. Aber weniger das Pulver irritiert mich, als die Berührung. In Gabriel herrscht Chaos. Viel Angst. Hitze. Er hat Angst vor sich selbst. Und zugleich drängt er sich. Ein ekelhaftes Gefühl dringt in meinen Kopf, etwas so Abscheuliches, dass ich gerade noch einen Brechreiz unterdrücken kann. "Lass mich in Ruhe!" Sofort springe ich auf und schüttle das Zeug von der Hand, gehe ein paar Schritte zurück. Entsetzt sehe ich zu Gabriel, der nicht versteht, wieder Angst bekommt. Die Reaktion gerade eben ist wie ein natürlicher Reflex gewesen und jetzt stehe ich da und muss überlegen, was ich jetzt tun soll. Ich bin eindeutig in Gefahr. Gabrielkommt einen Schritt näher, noch unschlüssig, doch seine Entschlossenheit gewinnt an Macht. Die Vorstellung beginnt ihm zu gefallen, er lächelt. Mir wird so schlecht, dass ich mich am liebsten übergeben würde. Ich muss weg hier! Wo soll ich hin? Kaleb ist nicht da, Barthel auch nicht, sie hätten sowas nie zugelassen! Aber der Kapuzenmann schläft oder interessiert sich nicht dafür, Yens schnitzt verkrampft weiter, tut so, als wäre er blind und taub, damit will er nichts zu tun haben. Und Filc ist immer noch verschwunden. Gabriel kommt näher, fragt unschuldig lächelnd, was denn los sei mit mir, aber sehe hinter seine Maske. Es scheint ihn etwas zu verwirren, dass ich ihn durchschaut habe, dann ändert er seine Taktik. Viel zu schnell setzt er seine Gedanken in die Tat um und wirft sich auf mich, ich springe noch zur Seite, aber er erwischt meinen Fuß und reisst mich zu Boden. Ich fange an zu rufen er soll mich in Ruhe lassen, aber er setzt sich auf meinen Bauch und drückt mir einen Ellbogen in die Kehle. "Halt die Klappe! Wer nicht hören kann, muss fühlen! Ich habe hier ein nettes kleines Pülverchen, dass dich für eine ganze Weile ins Reich der Träume schickt. Die Frage ist - willst du es vorher oder hinterher?" "Gabriel, was soll das? Du hast gesagt du willst ihn nur loswerden, nicht.." "Lass mich doch! Weißt du, wielange wir schon unterwegs sind?! Ich halt das jedenfalls nicht mehr aus! Ausserdem.. ist er doch niedlich.. Wär doch ne Verschwendung, wenn das nicht genutzt wird!" Das Grinsen ist breit, die Begierde hat ihn gepackt. Nicht nur das. Seine Gedanken bereiten mir schon körperliche Schmerzen, er genießt es zu sehen, wie ich in Panik ausbreche, nach Luft ringe, mein Herz zum Zerreißen schlägt. Aber ich bringe keinen einzigen Ton heraus. "Nimm es nicht persönlich.. aber du gefährdest unsere ganze Reise. Ich hab es dir ja im Guten gesagt, aber willst ja nur bei deinem Bruder bleiben, den du ja so liebst. Und weißt du was? Ich denke auch du bist jemand, den man sehr lieb haben kann!.. Ich gebe dir jetzt ein bisschen davon, damit du mir nicht die Ohren abschreist und hübsch brav liegenbleibst. Danach werde ich dich von dieser misslichen Lage erlösen, okay?" Nichts kann ich machen. Garnichts! Mein Körper ist vor Entsetzen wie gelähmt, ich spüre eine zerstörerische Lust, die noch größer wird, als ich versuche mich dagegen zu wehren. Er streitet sich noch mit seinem Bruder, der verstört verschwindet. Warum hilft er mir denn nicht?! Gabriels Aufmerksamkeit ist wieder bei mir. Der nackte Angstschweiß bricht mir aus, als er seinen Blick über mir kreisen lässt. Ich schmecke Puder auf meinen Lippen, in seiner Erregung hat er es verschüttet. Er wird mich umbringen! Er will es so sehr, dass alles in ihm danach schreit.. ich.. ich kann diese grauenhaften Gedanken nicht mehr ertragen! Blut sehen.. warmes Fleisch berühren, dieser Geruch nach süss und Metall, das Schreien hören und die aufgerissenen Augen sehen, die vor Schmerz nicht einmal mehr weinen können! Zerhacken! Zerfetzen! Zerreissen! Er holt sich Überwindung, noch hat er vage Hemmungen, mich anzufassen, seine Gier gewinnt haushoch. Aber bevor er nur einen einzigen Finger an mich legen kann, höre ich einen dumpfen Knall, Gabriel verdreht die Augen und kippt auf mich herunter. "Verschwinde, bevor er aufwacht!" zischt Filc und wirft den Holzklotz ins Feuer, mit dem er Gabriel niedergeschlagen hat. Diese Situation ist völlig absurd, ich verstehe jetzt überhaupt nichts mehr. Fahrig versuche ich sofort, mich unter Gabriel hervor zu schieben, der keinen Mucks macht. Alle Gefühle sind weg. Mein Körper bebt, mein Kopf dröhnt. "Hau endlich ab, oder willst du warten, bis er wieder wach ist und nochmal über dich herfällt?" Aus seinen Augen blitzt es, ich verstehe seine Gefühle nicht, sie sind schrecklich durcheinander. Er hat Angst, er fürchtet sich, die Situation versetzt ihn in ein Grauen, das größer ist als der Zorn auf Gabriel oder mich. "Danke Filc" sage ich automatisch, aber Filc reagiert nicht, er starrt nur auf Gabriel, der leise stöhnt, sich aber noch nicht bewegt. "Du bist ja immer noch hier!!" keift er plötzlich und will schon auf mich losgehen, als ich mich bücke und mein Päckchen aufhebe. Filc bekommt große Augen, Wut wallt in ihm auf und er will es mir wegreissen, aber ich ergreife die Flucht. Raus aus der Höhle, in den Regen, noch von Weitem kann ich Filc toben hören, er läuft mir nach, jedoch nicht lange - im Gegensatz zu mir hat er keine angeborene gute Kondition. Ich laufe weiter und weiter, bis ich sicher sein kann, dass mir niemand mehr nachlaufen kann. Keuchend mache ich unter einem Baum Halt. Sofort verkrampfen sich meine Glieder, die Finger krallen sich in die nasse Rinde des Baumes. Was kann nicht wahr sein! Das ist nicht passiert! Schon der Gedanke an die letzten Minuten dreht mir den Magen herum und ich muss mich übergeben, bis nur noch scharfe Galle meinen Hals hinaufätzt. Ich laufe wieder weiter, aus Angst, Gabriel könnte mich doch noch einholen und seine Absichten diesmal in die Tat umsetzen. Nach einer Weile lässt die Angst nach und mein Herz schlägt wieder im normalen Takt. Vorsichtig lasse ich mir alles noch einmal sehr sachlich durch den Kopf gehen. Aber ich wusste es! Mein Bauchgefühl hat mich nicht angelogen! Aber jetzt ist es zu spät. Das Bündel, das zum Glück in wasserdichtes Leder gewickelt ist, halte ich noch immer fest an mich gepresst. Warum habe ich es mitgenommen? Es war reiner Reflex, jetzt weiß ich nicht, was ich damit machen soll. Aber Filc ist deshalb ungeheuer wütend geworden. Es ist ein Buch. Eigentlich mein Buch. Unser Buch. Mein Bruder hat es mir anvertraut, als wir auf die Reise gingen. Ich hoffe nicht, dass es das letzte Andenken an ihn darstellt... [ # ] Der Regen ist kalt und hat mich bis auf die Haut durchnässt. Zögernd gehe ich weiter, aber ich weiss nicht, wo ich hingehen soll. Kaleb finden. Oder Barthel. Aber ich habe keine Ahnung in welche Richtung sie sich gewandt haben zum Jagen. Und ob ich sie in diesem strömenden Regen wiederfinde, ist zu bezweifeln. Ich sehe ja kaum die Hand vor Augen. Also suche ich meinen Bruder, laufe rufend durch den lichten Wald, stelle mich ab und an unter einen dichten Baum, der den Regen abhält. Stunde um Stunde. Und jede Minute steigt meine Angst, dass ich ihn nie wiederfinden werde. Fein gemacht! Wenn der kleine Bruder nicht von alleine gehen will, jagen wir ihn einfach weg. Ich hätte nie geglaubt, dass sie mich so skrupellos aus dem Weg räumen würden. Selbst Yens. Er hat zwar nicht mitgemacht, aber seinen Bruder auch nicht aufgehalten. Und selbst wenn sie es nicht geschafft haben, mich zu beseitigen sind die neuen Bedingungen ideal: Zur Höhle zurück will ich nicht und kann ich auch nicht mehr selbst wenn ich wollte, denn den Weg zurück finde ich nicht mehr. Meinen Bruder kann ich auch nicht erreichen, da es so gut wie hoffnungslos ist in diesem Regen, der Gestalt und Laute verschluckt, jemanden zu suchen. Das heißt, ich werde nicht zurück finden, mich wird niemand finden - also werde ich hier draußen verhungern. Und vermissen wird mich in der Gruppe sowieso nur einer. Vielleicht. Die letzten Tage haben mich so verwirrt, ich weiß nicht mehr was ich glauben soll und was nicht. Ich gebe normalerweise nie etwas auf Gerüchte oder irgendwelche Andeutungen.. aber habe ich nicht schon länger ein ganz seltsames Gefühl, das ich verdränge? Müde lasse ich mich an einem Baumstamm nieder und lausche seinem leisen Lied, um wenigstens etwas Trost zu finden. Aber der Regen bringt mich fast zum Verzweifeln. Ich will weg von hier, mehr denn je. In der Gruppe gibt es jetzt keine Sicherheit mehr für mich, sie würden bei der nächsten Gelegenheit wieder versuchen, mich loszuwerden. Und Filc hat Recht - Kaleb wird nicht immer da sein, um mich in Schutz zu nehmen. So wie heute. Ich will auf garkeinen Fall mehr zurück! Aber ich kann Kaleb nicht allein lassen.. Wenn er.. wenn er nur sagen würde, ich solle hier auf ihn warten.. Der Weg ist doch nicht mehr lange! Und irgendwann käme er von seiner Reise zurück und würde mich wieder mitnehmen. Nur wir beide. Falls er mich finden sollte, wird er ganz sicher sagen, dass ich warten kann. Schliesslich braucht er mich nicht wirklich. Alle werden froh sein, dass ich nicht mehr mitreise. Und ich wäre sicher. Vor Gabriel, vor Filc, vor ihnen allen. Wie könnte ich denn jetzt noch eine einzige Nacht durchschlafen? Warum sollte ich mich denn noch weiter quälen? Ich werde mit Kaleb reden, er wird es nicht zulassen, dass soetwas nochmal passiert. Im nächsten Dorf werde ich bleiben. Und dann werde ich auf ihn warten. Wenn es sein muss, Jahre. Er wird mich verstehen. Das heißt.. wenn ich ihn wiederfinden sollte.. [ # ] Dumpfer Donnergroll weckt mich, es ist dunkel. Der Regen prasselt wie Nadeln auf meine Beine, die fast taub sind vor Kälte. Ich muss eingenickt sein, es ist nahezu stockfinster und ich ziehe mich am Stamm in die Höhe. Das Gras macht matschige Geäusche unter meinen Schuhen und ich muss sehr aufpassen, nicht darauf auszurutschen. Ja... nur, wohin soll ich jetzt gehen? Die Chance, dass ich Kaleb jetzt noch finde, ist verschwindend - sicher ist er schon längst wieder in der Höhle mit seiner Beute. Und Filc wird schon irgendwas zusammenlügen. Ich hätte die Schnauze voll und sei weggelaufen oder sowas. Nun eigentlich hat er ja recht, aber Kaleb würde ich nie verraten und einfach weglaufen ohne ihm etwas zu sagen. Das muss er doch wissen. Ohne Hast laufe ich weiter durch den Regen, der unverändert die Erde unter meinen Füßen aufweicht. Nun habe ich meinen Spaziergang im Regen und wer weiß, ob ich mir nicht schon etwas eingefangen habe. Was mache ich, wenn ich Kaleb nicht finde? Wo würde er mich suchen, wenn der Regen aufgehört hat? Würde er mich am Flußufer suchen? Ich träume oft davon, wieder im Schluchtgraben zu sein, am Fluß zu sitzen und in den Wiesen zu liegen, Suantis zu essen, die Sonne zu geniessen. Es war für mich der schönste Platz, den ich je gesehen habe und ich wünsche mich oft dorthin zurück. Ich könnte in den Fluß hineinsehen, so oft ich wollte und mir würde nichts passieren. Natürlich, wieso sollte auch? Ein kleines Kind hat mir sein Geheimnis zugeflüstert und wir beide können jetzt darüber kichern. Und zu dem kleinen Kind zieht es mich wieder hin. Stattdessen laufe ich im kalten Regen. Wenn ich wenigstens etwas sehen könnte. Oder hören! vates VATES Was war das? War das eine Stimme, oder spielt mir der Regen einen Streich? Es hörte sich an wie ein weit entferntes Rufen. Noch einmal! Ich erkenne die Stimme! Kaleb! Das ist Kaleb!! Er sucht mich! Er ist in meiner Nähe! Vor Freude vergesse ich beinahe, ihm zu antworten, bevor er ausser Hörweite ist. "Hier bin ich! Kaleb!! Hier!" brülle ich so laut ich kann und die Antwort darauf ist schon viel weniger weit weg. Ich laufe so schnell, dass ich pausenlos auf dem nassen Gras herumrutsche, aber die Stimme kommt immer näher. "Vates!" Rutschend falle ich meinem Bruder in die Arme, der mir ebenso entgegenschlittert und zusammen kippen wir ins matschige Gras. "Mein Gott, Vates! Geht's dir gut?" Kaleb kann kaum reden vor Atemlosigkeit, Barthel ist direkt hinter ihm und zieht uns beide wieder hoch. "Bist du verletzt?" Barthel sieht mich unsicher an, ich schüttle den Kopf. "Mir geht's gut.. wie habt ihr..?" Kaleb schaut düster, als ich dieses Thema anspreche. Keine Frage, er hat Gabriel und Filc zur Rede gestellt. Ich bin so unglaublich froh ihn zu sehen! Jetzt wird alles gut! "Hast du das Buch?" Irritiert zeige ich ihm das Bündel unter meinem Hemd, er reißt es mir fast aus der Hand. Er seufzt erleichtert und klatscht mir auf die nassen Haare. "Du machst mir Sachen.." Dumpf betrachte ich meine Füsse und schäme mich, das Buch einfach mitgenommen zu haben. Was nur, wenn er mich nicht gefunden hätte? Dann wäre es für ihn verloren gewesen und ich weiß, dass er es irgendwann bestimmt noch einmal brauchen wird. Gedankenlos. "Tut mir leid Kaleb.." "Schon gut.. und jetzt komm, schnell! Sonst holst du dir noch eine Krankheit!" Geduckt laufen wir los durch den Regen, man sieht keine paar Meter weit, trotzdem sind die beiden Männer zielstrebig. Das Tempo ist nicht zu schnell, ich könnte gut mit Kaleb reden, aber ich will nicht, dass Barthel mithört. Es soll nicht jeder wissen, warum ich lieber hierbleiben möchte, wenn sie weiterziehen. Und je näher wir der Höhle kommen, desto mulmiger wird mir. Ich will dort nicht mehr hin. Ich muss andauernd an Gabriel denken. Ich muss unmerklich zusammengezuckt sein, denn Kaleb dreht sich zu mir und runzelt die Stirn. "Du hast Angst, zurückzugehen, nicht wahr?" Ich schüttle den Kopf. Natürlich habe ich Angst. Ich weiß nicht, ob ich wieder überreagiert habe und mir Gabriels Gedanken als Wirklichkeit ausgemalt habe.. aber Angst habe ich so oder so. Er wollte mich loswerden! "Schon gut, ich verstehe das doch, mir würde es nicht anders gehen. Aber einen Streit muss man auch schlichten können, nicht einfach nur weglaufen.." Was für ein Streit? Streit? Von was redet er eigentlich? "Ich habe mich nicht gestritten" murmle ich. Barthel läuft voraus und scheint nichts zu hören von unserem Gespräch. Der Regen ist wohl zu stark. "Filc meinte, du wärst nach einem Streit weggelaufen" erklärt mein Bruder. "So. Hat er das.." Also hat er doch nicht die Wahrheit erzählt. "Was ist los gewesen, Vates? Das sähe dir garnicht ähnlich!" "Ich.. ach egal. Ich wollte dich fragen.." "Keine Sorge, ich pass schon auf, dass keiner handgreiflich dir gegenüber wird!" Ich beiße mir auf die Lippe und verkneife mir jeden Kommentar. "Er hat dich doch hoffentlich nicht wirklich angegriffen?!" schnaubt Kaleb, als er mein Schweigen interpretiert, aber ich schüttle wieder den Kopf. "Ich würde .. also ich will nicht mehr mit euch mitgehen.. kannst du mich nicht irgendwo absetzen und später auf dem Rückweg wieder abholen? Im nächsten Dorf vielleicht?" Jetzt wird er wirklich stutzig und ich fühle, wie sich eine dunkle Ahnung in ihm seinen Weg bahnt. Seine Wut steigt wie ein Thermometer in der Sonne. "Okay Vates! Wer hat dir etwas getan?! Ich schwöre dir, ich prügel ihn so windelweich, bis er dich auf Knien um Verzeihung bittet! Ich dachte gleich, dass du dich nicht so verhältst! Hat dich jemand verletzt? Zeig her, ich.." "Nein, ich.. mir wird das alles nur zu viel! Ich behindere euch doch sowieso nur! Wenn du versprichst, mich wieder abzuholen, werde ich warten.. ich will nicht, dass du wegen mir in Schwierigkeiten kommst, und.." "Ach so.. na schön, wenn du wirklich willst?" Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.. aber nicht das. Fast wäre ich vor Schreck stehengeblieben, aber ich laufe weiter. Gut, schön, kein Problem, das wollte ich doch hören. Aber im Grunde hatte ich wohl doch auf mindestens einen Widerspruch gehofft. "Vates, wir sind doch schon fast da", oder "Das schaffst du schon noch, ich bin ja auch noch da", oder sowas ähnliches. Aber er akzeptiert meinen Entschluß, meine Bitte, einfach so. Werde ich dir nicht fehlen? Bist du im Geheimen sogar froh, mich nicht mehr wie ein Blutegel an dir zu wissen? Keine Spur von Bedauern? "Weißt du, Vates.. ich wollte es dir eigentlich selbst vorschlagen.. seit dem Fluß habe ich gemerkt, wie furchtbar es ist, dich in Gefahr zu sehen. Ich will nicht, dass dir etwas passiert und ein nicht ungefährlicher Teil der Reise liegt noch vor uns. Ich würde mich wirklich wohler fühlen, wenn du hier in Sicherheit bleibst!" Meine Augen brennen, ich weiß nicht, ob es nur der Regen ist. Natürlich hat er Recht. Alle haben Recht. Selbst ich wäre glücklicher über diese Lösung. Aber was ist, wenn er nie wieder von dieser Reise zurückkommt? Nur, weil ich mir heute das angenehmere Leben ausgesucht habe? Mein Bruder läuft schweigend neben mir und seine Erleichterung kann ich fast schon riechen. Er will mich nicht mehr in seiner Nähe haben. Ich falle ihm nur noch zur Last. Kann ich ihm nichts mehr geben, dass ihm Freude bereitet, wenn ich da bin? Nur Sorge und Anstrengung? "Dann bleibe ich hier.. Sobald der Regen.." "Da, dort hinten ist die Höhle!" ruft Barthel von vorn. Gerade, als in der Ferne schon das Licht des Feuers in der Höhle zu erkennen ist, schiebt sich etwas Riesiges vor den Schein und brüllt ohrenbetäubend! Ein Bär! Ein gewaltiger Bär, hoch aufgerichtet versperrt er uns den Weg und reckt seine Pranken in die Höhe! Barthel keucht auf vor Schreck und hebt den improvisierten Speer, den sie sich zur Jagd gebastelt hatten. Sofort geht der Bär auf Barthel los, unter Brüllen und Fauchen, Schreien und dem Rauschen des Regens gehen die beiden zu Boden. Kaleb schubst mich zur Seite und schreit, ich solle einen Baum hochklettern. Ich mache, dass ich sofort wegkomme, denn ich weiß, wann ich störe. Hinter einem dichten Baum finde ich Deckung und spähe durch die Zweige. Weisse Funken tanzen um den Bär und er schreit in grausamer Pein auf, lässt ab von Barthel, der sich mühsam seiner Haut gewehrt hat und wieder auf die Beine zu kommen versucht. Aber der Bär ist stark, der Angriff nur kurz und mit einer klauenbepackten Tatze reißt er Barthel von den Füßen, geht dann sofort auf Kaleb los, der ihm eine weitere Salve Funken entgegenschleudert, worauf der Bär in ein grauenhaftes Gebrüll verfällt. Er schüttelt sich, versucht die Schmerzen aus seinem Kopf zu verbannen, doch je mehr er sich bewegt, desto rasender werden sie, bis er vor Schmerzen blind herumtrampelt, Barthel dabei fast unter seinen Füssen zermalmt, in meine Richtung stürmt. Vor Schreck bringe ich nicht einmal einen Schrei heraus, das Monstrum rennt genau auf den Baum zu, hinter dem ich stehe, in dem Moment hat er mich gesehen und zieht die Lefzen hoch. Ich stolpere nach hinten, rutsche auf der glitschigen Erde aus, der Bär sprintet los in purer Wut, brüllt vor Schmerzen auf, als ihn Kalebs Magie ein weiteres mal streift - er schlägt einen Haken nach rechts und rutscht auf dem aufgequollenen Boden aus. Heulend zieht er seinen massigen Körper hoch und wittert in meine Richtung, er steht keine drei Meter neben mir und übersieht mich, seine Augen sind wie blind. Wieder lässt er den Blick kreisen und dieser gleitet einfach an mir vorbei, als wäre ich ein Stück Holz. Auch seine Nase gehorcht ihm nicht mehr, er wittert weder mich noch meinen Bruder. Dieser kommt gerade heran gelaufen, der Bär zuckt herum von dem Geräusch, wird von einer letzten, magischen Attacke getroffen, heult auf und verschwindet wie ein schwarzer Blitz im Wald. "Vates!!" "Okay, mir ist nichts passiert, bist du..?!" "Barthel ist tot!" schreit er mich an und mir bleibt das Wort im Halse stecken. Ich sehe an ihm vorbei und durch den dichten Regenschleier kann ich Barthel sehen, regungslos am Boden liegen wie ein Mehlsack. Barthel.. der gutmütige und doch so kaltblütige Barthel. Barthel der Bär - getötet von einem Bären. Kaleb packt mich am Arm und zieht mich weg von dem grausigen Anblick, lässt den Leichnam liegen. Er sagt nichts, aber in ihm brodelt eine bodenlose Wut. Doppelt so schnell wie vorhin laufen wir jetzt auf das Feuer zu, schon von Weitem sehen wir drei Männer am Eingang stehen, die uns entgegenstarren. Noch bevor irgend jemand etwas fragen oder sagen kann, schreit Kaleb ihnen entgegen, dass Barthel tot sei. Grabesstille - dann geht ein Geschrei los, das größte Chaos an Gefühlen bricht in meinen Kopf ein, alle fragen nach dem wieso und warum und wie, Filc schreit wie am Spieß und will nach draußen laufen, Yens hält ihn fest, Gabriel starrt in meine Richtung, Kaleb platzt fast vor Wut und würde am Liebsten jemandem den Hals herumdrehen. Ich bekomme furchtbare Kopfschmerzen. Angst wandelt sich in Trauer, Fassungslosigkeit in Zorn, Wut bleibt Wut und gewinnt an Macht. Mir wird schwindelig und ich greife nach einem Halt, als ich plötzlich von den Füßen gerissen werde. "Das ist alles deine Schuld!!" brüllt mich Gabriel an, dass mir fast Hören und Sehen vergeht. Mein Bruder flippt fast aus und schreit zurück, dass er die Finger von mir lassen soll, worauf der nur noch fester zupackt. "Der ist doch an allem schuld! Wenn Barthel nicht gegangen wäre um dieses Mistbalg zu suchen, würde er noch leben, verdammt!!" "Wenn du nicht deine perversen Triebe an ihm auslassen wolltest, wäre er garnicht erst weggelaufen und niemand hätte ihn suchen müssen!!" keift Filc, rot vor Zorn. "ER HAT WAS?!" Die neuerlichen Gefühlsausbrüche krachen wie Donnerschläge in meinen Kopf, Gabriel lässt mich los, weil er sich gegen Kaleb wehren muss, der jetzt wie ein Irrer auf ihn einschlägt, Yens hält nun Kaleb fest, Filc heult wie ein Schlosshund und der Kapuzenmann sitzt unbeteiligt am Feuer. Mein Kopf fühlt sich an, als würde jemand mit einem Schürhaken darin herumstochern, der Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen. "Und was machen wir jetzt?!" "Wir gehen weiter! Gleich morgen!" "Aber Barthel..!" "Wir sind zu sechst!" schreit mein Bruder in die Runde und alle sind still. Sechs.. wieso sechs? Was soll das denn jetzt? "Wir gehen weiter. Wir sind immer noch sechs." "Ich.. ich bleibe hier.." erinnere ich Kaleb, um nichts in der Welt würde ich jetzt noch in dieser Gruppe sein wollen.. Sie sprühen vor Wut und Trauer. Filc umklammert sein Taschenmesser. Nein, niemals! Ich würde keinen halben Tag überleben! Dann lieber Bären und Regen. Ich habe furchtbare Angst, ich suche den Blick meines Bruders, doch er schenkt mir keinen Blick. "Wir brechen morgen früh auf! Ich kenne den Weg genauso gut wie Barthel und wir liegen immer noch gut in der Zeit! Packt heute noch eure Sachen, lasst nichts hier!" Hat er mich überhaupt gehört? Ich werde nicht mitgehen, ich will mit dieser verdammten Reise nichts mehr zu tun haben! Schon gar nicht mit diesen Leuten! "Kaleb, ich werde nicht mitgehen, du hast doch.." "Du wirst mitgehen! Die Dinge haben sich geändert. Keiner wird es mehr wagen eine Hand an dich zu legen, sonst breche ich ihm beide Arme, verstanden? Vates ist ab heute abend vollwertiges Mitglied! KAPIERT?!" Alle nicken unmerklich und ziehen sich zurück. Ungläubig starre ich Kaleb an. "Kaleb, ich will nicht mit! Du hast doch gehört, was.." "Ich hab es gehört, verdammt!" schnauzt er mich an "Das ist schlimm, aber es wird nicht mehr passieren! Reiß dich zusammen! Ich kann auch nicht ändern, dass Barthel tot ist! Ich kann dich jetzt nicht mehr hierlassen!" "Aber warum! Ich war doch die ganze Zeit entbehrlich, ich will nicht.." "Ich sagte bereits, die Dinge haben sich geändert!" "Dir ist es egal, ob mir etwas passiert?! Vorhin hattest du noch Angst um mich!" Er sieht mich einen Moment lang ausdruckslos an, dann seufzt er hörbar. "Es tut mir leid. Ich brauche dich jetzt. Und ich passe auch auf dich auf!" "So wie heute..?" Kaleb schaut gequält und ich senke den Kopf. Das war unfair, er konnte schliesslich nicht ahnen, dass seine Gefährten zu so etwas fähig sind. Trotzdem weiß er, dass meine Sorge berechtigt ist, es könnte wieder etwas passieren, wenn er mich nicht gerade auf seinen Rücken bindet. "Sieh mal.." Er setzt sich neben mich und fährt sich mit den Händen durch die nassen Haare. "Die anderen wissen, dass sie dir nichts mehr tun dürfen. Nicht nur wegen meiner Warnung. Verstehst du, wenn wir dort ankommen, müssen wir mindestens zu sechst dort ankommen. Jetzt sind wir nur noch zu sechst und deshalb wird niemand das Risiko eingehen, dich zu verletzen, weil wir dich brauchen." "Wozu?" "Das.. darf ich dir doch nicht.." "Ich dachte ich bin ein vollwertiges Mitglied?" Er seufzt wieder und schüttelt den Kopf. "Du bist nicht magiebegabt, Vates. Ich darf es dir nicht verraten. Du wirst es erfahren, wenn wir dort sind, es ist nichts Schlimmes, glaub mir!" "Aber.. ich will da nicht hin.. nicht mit ihnen! Vielleicht werden sie mich nicht verletzten, aber es gibt andere Wege mir zu.." Kaleb weiß, was ich meine. Die Sache mit Gabriel hat ihn schwer schockiert, aber verstehen kann er mich trotzdem nicht. Schlimmer noch. Er zuckt mit den Schultern und zwingt sich zu einem Lächeln. "Und wenn es gar nicht so schlimm wäre? Vielleicht darf man sich nur nicht davor verschliessen. Wie mit deinem Fluss, verstehst du?" Ich traue meinen Ohren nicht. Wie kann er das vergleichen?! Was ist das für eine Sache, für die sie über Leichen gehen, ihre besten Freunde verraten, ...lügen..? "Ihr findet doch sicher noch jemanden, der mit euch reisen will.. ich bin nur wegen dir bis hierhin mitgegangen! Hast du eine Ahnung, was ich die letzten Monate an negativen Gefühlen in mir tragen musste?" "Wenn du wegen mir bis hierher gekommen bist, dann komm auch wegen mir den restlichen Weg mit!" ereifert er sich. "Ich bin es schliesslich nicht gewesen, der gebettelt hat: ,Kaleb, bitte bitte nimm mich mit, ich werde auch niemals klagen!' Wegen mir hättest du zuhause bleiben können bei unseren Eltern! Aber ich habe dich mitgenommen und bis hierhin durchgeboxt und dich immer verteidigt! Du warst mir oft genug im Weg, die anderen haben mich auch spüren lassen, dass es keine gute Idee war, dich mitzunehmen! Aber habe ich dir jemals einen Vorwurf deshalb gemacht? Nein! Und warum? Weil ich dich gern habe und dir einen Gefallen tun wollte. So. Und jetzt kannst du deinem Bruder doch auch einen Gefallen tun, oder? Das bist du mir schuldig.. Ausserdem.. wärst du nicht dabei gewesen, wäre es zu Barthel's Tod nie gekommen. Es ist deine Pflicht mir zu helfen!" Kapitel 5: Die Ebene der tausend Mauern --------------------------------------- Die Ebene der tausend Mauern Schon beim ersten Licht brachen wir auf. Ich war müde und alle Glieder taten weh in meinem Leib. Die Nacht über hatte ich kaum ein Auge zugemacht. Auch jetzt war ich aufgewühlt und verwirrt. Noch nie war ich mir selbst in meinen Gefühlen so unsicher gewesen. Voller Enttäuschung, aber auch Furcht. Kaleb hatte mir bewußt die Schuld an Barthel's Tod gegeben. Um mir Angst zu machen? Wobei er eigentlich schon Recht hatte, .. im weitesten Sinne waren aber doch alle schuld! Jedenfalls kann ich nicht glauben, dass er es ernst gemeint hat. Barthel's Tod war ein Ergebnis von ungeschickten Zufällen. Noch nie hat Kaleb versucht mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Eher im Gegenteil. War es ihm wirklich ernst damit? Der Regen hat endlich ein bisschen nachgelassen, so dass man wenigstens den Weg erkennen kann, auf den wir unsere Füße setzen. Kaleb hat die Führung übernommen, ich laufe an seiner Seite. Er versucht seine Genugtuung vor mir zu verbergen, aber es macht mich trotzdem traurig, dass er zu solchen Mitteln greifen musste, um mich zum Mitkommen zu bewegen. Was hätte ich denn tun sollen? Kaleb hätte mich keines Blickes mehr gewürdigt, wäre ich in der Höhle geblieben. Vielleicht hätte er mich nicht einmal mehr abgeholt. Zumindest hat er sein Versprechen gehalten, und dafür gesorgt, dass die anderen mich in Ruhe lassen. Dafür beobachten sie mich jetzt. Ich kann nicht mehr hinter ihnen gehen, sie fürchten, ich könnte weglaufen. Ich komme mir vor wie ein Gefangener ohne Fesseln. Stumm laufe ich neben Kaleb her, der mir oft Geschichten erzählt, die ich garnicht mitanhöre. Wenigstens hat er ein schlechtes Gewissen, weil er mich zum mitkommen gezwungen hat. Aber es gefällt ihm, dass ich ihm gehorche. Diese Seite an Kaleb macht mir ein wenig Angst, sie ist neu. Es ist für ihn keine Selbstverständlichkeit mehr, dass ich tun würde, was er will. Die Vorstellung gefällt ihm jetzt. Obwohl es doch schon immer so war. Ihm gefällt auch die Rolle des Anführers seit Barthel weg ist - und er schöpft sie voll aus. Er delegiert gerne und fühlt sich stolz, wenn sie auf ihn hören. Wenn er nur wüsste, dass die anderen ihm nur nicht widersprechen, weil er der einzige ist, der den Weg kennt.. aber das behalte ich mal lieber für mich, denn Probleme haben wir schon genug. Der Vorsprung, den wir uns durch das Flußtor erkauft haben, schrumpft zusehens. Hindernisse wie zusammengestürzte Brücken oder heftige Stürme zwingen uns zum Umdenken und Warten, was oft viel Zeit kostet. Auch das Geld wird knapp, die Dörfer, in denen man etwas kaufen könnte werden immer seltener. Oft müssen wir einen halben Tag verwenden, um selbst etwas zu jagen und zu kochen. Und da Barthel der Einzige war, der halbwegs Erfahrungen im Kochen gesammelt hatte, blickten wir uns nur fragend an, als es das erste Mal darum ging, Fleisch zuzubereiten. Der erste Eintopf war ungeniessbar. Ich hatte Barthel manchmal zugesehen beim Kochen und konnte mir vorstellen, was Yens falsch machte, aber ich hütete mich, den Mund auf zu machen. Die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wird seit der Höhle, reicht mir völlig. Filc legt unverhohlen seinen Hass an den Tag und verflucht mich, versucht sogar eine Prügelei anzufangen, wenn Kaleb einmal nicht da ist. Die anderen indessen lassen ihre Wut dumpf im Stillen köcheln. Kaleb hatte recht, außer Filc wagt es niemand, mich auch nur lange anzusehen. Aber Filc kann ich trotzdem nicht böse sein. Immerhin bin ich ihm etwas schuldig. Auch wenn keiner darüber ein Wort darüber verliert, schon garnicht Filc, merken alle, dass sein Cousin ihm fehlt. Nicht nur wegen der vielen Schläge und Beschimpfungen, die es jetzt auf Filc hagelt, wenn er nervt. Früher hätten sie sich das nicht trauen dürfen. Aber sein Beschützer Barthel ist weg und so wird Filc bald immer stiller. Niemand hört ihm mehr zu, keiner schenkt seiner Meinung Beachtung, auf Fragen reagieren die anderen höchst gereizt. Scheint so, als würden sie ihre Wut auf mich an dem Jungen auslassen. Nachts weint Filc oft lautlos und wahrscheinlich wird ihm klar, dass er Barthel mehr gebraucht hatte, als ihm selbst lieb gewesen ist. Vor Gabriel mache ich jetzt noch einen großen Bogen, obwohl er nur noch selten Anflüge hat von dem, was ich schon einmal verspürte. Seine Blicke sind nach wie vor unangenehm und ich bin froh, dass Kaleb mich nicht mehr aus den Augen lässt. Ist Kaleb beim Jagen, nimmt er Gabriel mit. Ich fühle mich auch etwas sicherer, seit wir in dem letzten Dorf auf dem Markt waren. Der blonde Zwilling hatte dort lange Zeit mit einem hübschen Bauernmädchen geredet und gelacht und ich glaube, er denkt oft an sie, wenn er wie weggetreten ins Feuer starrt. Zumindest sind seine Gedanken jetzt weitaus friedlicher. Ich weiß nicht, wie lang diese Reise noch dauern mag, aber ich fühle, dass die meisten sich schon auf ein baldiges Ende freuen. Das Ziel kann also nicht mehr sehr weit weg sein. Monate sind wir schon unterwegs, an Jahreszeiten kann ich mich jedoch kaum mehr orientieren, denn je nachdem, welchen Teil der Erde wir durchwandern, ist es Sommer oder Winter. In den Bergen frieren wir, in den Ebenen schwitzen wir und fliehen vor der Sonne. Die Vielfalt der Natur ist geradezu erdrückend. Bäume, Blumen, Tiere, Gesteine - die ich noch nie gesehen habe; hässliche und wunderschöne, riesige und winzig kleine, in den groteskesten Formen. Karge Landschaften und Oasen, in denen es auf kleinstem Platz vor Leben nur so wimmelt, wechseln sich ab. Gänzlich fremde Gerüche und Geräusche, andere Sprachen und Bauweisen, unglaubliche Naturerscheinungen und vor allem - Magiequellen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich von Magiequellen höre, aber selbst gesehen habe ich noch niemals eine bis vor Kurzem. Die Gruppe ist immer ganz aufgeregt, wenn wir eine finden und der Anblick ist wunderschön. Meist ist es ein Stein, in dem sich die Magie sammelt. Kein großer, etwa hüfthoch und hell wie Marmor. Es kann aber auch ein Baum oder ein kleiner Teich sein. Dieses Phänomen jetzt kommt immer häufiger vor, doch jedes Mal bleiben wir alle stehen und bewundern dieses Schauspiel. Von dem Stein oder Baum springen kleine, helle Funken - wie Glühwürmchen. Im Wasser glimmen sie unter der Wasseroberfläche und stupsen sich nach oben, wenn jemand kommt. Die surren dann durch die Luft wie kleine neugierige Insekten und umschwirren einen, dass man fast Angst bekommen könnte. Aber die Funken tun nichts, wenn man sie berührt oder fängt, sie sind angenehm warm, kitzeln in den Handflächen und verpuffen nach einer Weile einfach. Besonders nachts sind sie wunderschön, wie sie leuchtend ihre Kreise ziehen, feengleich und frech vor der Nase herumhüpfen, als seien sie lebendig. Kaleb und die anderen fassen dann auf den Stein und eine ganze Wolke aus Lichtfunken bricht daraus hervor, wuselt um sie herum und verschwindet in ihrer Haut. Mein Bruder erklärte mir, es sei ein sehr angenehmes Gefühl, wenn sich Magie durch den Leib zieht und sich schliesslich irgendwo im Körper sammelt, um dort auf den Einsatz zu warten. Und nur Magiebegabte hätten solch einen "Magiespeicher", auf den sie zurückgreifen können und in dem sie sogar eigene Magie produzieren. Normale Menschen können mit der freigesetzten Magie der Magiequellen nichts anfangen, sie gleitet einfach nur durch sie hindurch wie Rauch und deshalb wäre es auch ungefährlich als normaler Mensch, den Stein anzufassen. Aber Magiebegabte speichern diesen Magiefluß und oft genug wird auch Magie gebraucht. Um Feuer zu entzünden, Tiere fern zu halten, Nahrung zu finden. Die Gruppe ist nach diesem Magiesammeln besser gelaunt als vorher und voller neuer Kraft. Zugegeben, Magie hat mich immer fasziniert. Es ist wie ein Traum, eine Phantasiewelt, in der alles möglich ist. Mein Bruder hat mir oft gezeigt, wie Magie funktioniert, ich habe es geliebt. Er konnte Blumen in Sekundenschnelle zum Blühen bringen, Wasser heißkochen oder sogar einen kleinen Ministurm erzeugen. Es war einfach phantastisch. Alle Bücher über Magie, die er gekauft hat, habe ich verschlungen und immer hat er mir welche mitgebracht, wenn er auf Reisen war. Ich glaube, theoretisch weiß ich wesentlich mehr über Magie, als mein Bruder. Er liest nur das, was ihn momentan interessiert. Ja, bei Magie kann mir denke ich keiner so leicht etwas beibringen. Ich kann sie nur nicht anwenden. Aber dafür habe ich alle Formeln und das Wissen parat, wenn Kaleb etwas vergessen hat. Nach einer weiteren Woche sind wir so gut wie am Ziel. Ich spüre Vorfreude und Erwartung, etwas Furcht und viel viel Aufregung unter den Reisenden. Von einem Hügel aus können wir das letzte Stück Weg sehen, dessen Anblick mir die Sprache verschlägt. Mauern. Überall Mauern! Kreuz und quer, überall meterlange, hohe Mauern über eine gigantische Ebene hinweg verstreut. Viele Mauern kreuzen sich, prallen aufeinander, stehen alleine in der Gegend herum, wahllos platziert - es ist als hätten die Götterkinder mit Bauklötzen gespielt und sie nicht wieder aufgeräumt. Wer sie wohl erbaut haben mag? Wieviele hundert Jahre es wohl gedauert hat, diese Unmengen an soliden Steinmauern zu errichten? Und wieso stehen sie so scheinbar planlos herum? Es ist wie ein gigantisches Labyrinth, das nie fertiggestellt worden ist, denn viele Teile fehlen einfach. "Die Ebene der tausend Mauern" erklärt mein Bruder und runzelt die Stirn. "Bis hierher habe ich es letztes Mal auch geschafft." "Und was ist dann passiert?" "Die Zeit war um." Warum frage ich überhaupt noch danach? Diese ganze Reise ist und bleibt ein einziges Fragezeichen für mich. Und obwohl ich jetzt offiziell zur Gruppe gehöre, sagt mir niemand etwas. Nicht, dass es mich interessiert hätte. Aber es wäre schon beruhigend zu wissen, welche Rolle ich in diesem verrückten Spiel einnehme. Nun, vielleicht wäre es auch alles andere als beruhigend... Die ersten Mauern kreuzen unseren Weg. Von oben hat es ganz und garnicht ausgesehen wie ein Labrinth, weil die Gänge zu breit und offen sind. Aber wenn man mittendrin steht, verliert man unheimlich schnell den Überblick. Die Mauern sehen alle gleich aus, überall ist grauer Stein. Vor uns, hinter uns, rechts und links. Manche näher, manche weiter entfernt, aber man sieht es nicht! Man verliert das Gefühl für Raum und Entfernung zwischen diesen Wänden, die die Sicht versperren. Man kann meterlang an einer Wand entlanglaufen, geht um die Ecke und bemerkt, dass eine neue Wand den Weg versperrt, die man vorher nicht gesehen hat. Es ist wirklich ein ein Labyrinth und schon nach einiger Zeit häufen sich die Flüche und Schimpfwörter, wenn wir wieder einmal in einer Sackgasse gelandet sind. Und das gerade mal nach ein paar Metern. Das kann heiter werden. "Wir hätten einen Schlaghammer mitnehmen sollen! Diese verdammten Wände!" "Und? Hättest du sie dann alle niedergehauen?" "Vielleicht ein Loch, geradeaus mittendurch. Nicht dieses Hin und Her! Dauernd ausweichen, wieder zurück, neue Sackgasse - so kommen wir ja nie an!" "Von da oben hat das viel einfacher ausgesehen" murmelt Yens neben mir und mir kommt eine Idee. Warum stellt sich nicht einer von uns auf die Mauer und merkt sich den Weg von oben, zumindest so weit er sehen kann? Dann könnten wir uns Stück für Stück vorarbeiten. "Wieviel Zeit haben wir noch?" "Und vor allem, wie lange brauchen wir hier durch?" Sie diskutieren wieder, ich schiebe mich zu Kaleb nach vorne. Er ist genauso sauer wie die anderen und flucht, als uns wieder eine Wand den Weg abschneidet. "Yens meinte, von oben hätte alles einfacher ausgesehen" "Das ist mir schon klar, aber mittendrin sieht es anders aus!" "Und wenn einer es sich nochmal von oben anschaut?" "Soll ich etwa nochmal zurücklaufen?" Er schüttelt missbilligend den Kopf, als könne er meine Dummheit nicht verstehen, dann geht ihm ein Licht auf. "Aber... das ist es! Ich könnte auf die Mauer steigen! Dann sehe ich ja, ob der Weg frei ist oder nicht!" Sofort ruft er nach den Zwillingen und lässt sich die Mauer hinaufhelfen. Sie ist hoch, aber mit einiger Anstrengung kann er sich hochziehen und überblickt das steinerne Chaos aus der Vogelperspektive. Freudig sehe ich ihm beim Abstieg zu. Und jetzt geht es auch etwas zügiger voran. Die Zwillinge und Kaleb wechseln sich ab beim Klettern, doch sie sind trotzdem nach Stunden so erschöpft, dass keiner mehr die Kraft hat, sich über den Rand zu ziehen. Wir machen eine Pause. "Ich denke, wir kommen jetzt gut voran. Wir haben schon ein ganz schönes Stück hinter uns gelassen. Aber irgendwie ist der Horizont immer noch mit Mauern übersät.. ich habe kein Ahnung, wie groß diese Ebene ist, ob wir es heute noch schaffen, oder ob wir Tage brauchen.." Kaleb seufzt und lässt sich an der Wand nieder. Plötzlich stutzt er und rückt wieder von der Mauer weg, an die er sich gelehnt hat. Wir folgen seinem Blick. Quer über die ganze Mauer ziehen sich tiefe Rillen, die aussehen wie Krallenspuren. Aber die Pranke müsste zu einem Tier gehören, das unsere Vorstellungen an Größe definitiv in allem übertrifft. Die ganze Wand ist verschrammt, als hätte sich ein Drache die Krallen daran gewetzt. Alle sind in Alarmbereitschaft und von ungewisser Angst erfüllt. Auch ich fühle mich sofort unwohl und beobachtet. Was kann das gewesen sein? Es sieht jedenfalls nicht menschlich aus. Und auch kein normales Tier. Kein Bär, kein Löwe oder Büffel hätte solche Schäden an einer massiven Steinwand anrichten können! Aber keine Gefahr weit und breit. Trotzdem wollen alle diesen Platz so schnell wie möglich verlassen und ich bin auch sehr froh darum, diesen Anblick hinter mir zu lassen. Jetzt allerdings, achten wir viel mehr auf die nähere Umgebung und entdecken noch viel mehr solcher Hinweise. Kratzspuren auf dem Boden, niedergetrampeltes Gras, abgewetztes Moos an den Mauern. Es wird immer ungemütlicher. Die Furcht nimmt mit jeder neuen Spur zu, die Gruppe wagt kein einziges Mal mehr, anzuhalten, schaut immer wieder nach hinten. Doch nichts, kein Geräusch, kein Tier. Die Zwillinge sind erschöpft wie auch mein Bruder, das Klettern ermüdet, die Helfer fühlen sich schutzlos während der Prozedur. Es wird dunkler. Immer schwerer, den weiteren Weg zu erkennen. Yens sieht kaum mehr als zwei Mauern weiter. Plötzlich erschreckt uns ein grauenhaftes Geräusch: ein Kratzen, ein leises Fauchen in einem scharfen Wind, der heulend durch die Gänge zieht. Woher kam es? Alle sind wie erfroren, Yens noch auf der Mauer, ruft panisch seinen Bruder, der seinen Posten verlassen hat und sich zu den anderen in den Schatten einer kreuzenden Wand stellt. Der Wind bläst heftiger, ein Laut wie Flügelschlag mischt sich darunter. Die Herzen pochen laut und voller Angst, Yens ruft im Flüsterton verzweifelt, jemand solle ihm doch von der Mauer herunter helfen, doch keiner reagiert, das Geräusch wird zu einem Röcheln, das allen das Blut in den Adern erstarren lässt. Eine Hand krallt sich schmerzhaft in meinen Unterarm und ich erschrecke zu Tode, aber es ist nur Filc, der vor Angst leichenblass geworden ist. Ich versuche, mich von seiner Angst nicht anstecken zu lassen, aber es ist fast unmöglich. Dann wird es still. Nur der Wind pfeift noch um die Mauern. Und Filc's Zähneklappern neben mir. Kaleb tritt aus dem Schatten, vorsichtig, und späht zu allen Seiten, bevor er zur gegenüberliegenden Wand läuft, um Yens herunterzuhelfen. Der Ärmste sieht nicht viel besser aus als Filc, der mich zum Glück wieder losgelassen hat. Doppelte Angst ist nicht sehr angenehm. Sofort als Yens von der Mauer ist, klappen seine Beine ein und er lässt sich auf dem Boden nieder. "Nein nein! Hoch mit dir! Wir müssen hier weg! Ich will diesem Vieh nicht begegnen!" "Wir sehen nichts mehr! Wir wissen garnicht, wo wir hinlaufen!" "Suchen wir uns eine Sackgasse.. vielleicht können wir uns bis morgen früh verstecken.." schlägt Kaleb vor und Gabriel keucht vor Grauen. "Wir sollen hierbleiben?! Und warten, dass das Ding uns frisst?" "Wohin willst du denn gehen? Etwa wieder zurück?" "Ich werde hier nicht schlafen können! Niemals!" "Dann bleibst du eben wach, Herrgott nochmal! Ich kann auch nichts machen, wenn uns das.. was immer es auch sein mag, erwischt! Hoffen wir, dass es uns nicht findet.. also kein Feuer, keine lauten Geräusche und eine Nachtwache.." So leise es geht, verziehen wir uns in eine Nische, in der zwei Wände aufeinandertreffen. Ohne Feuer ist es kalt, die Magiereserven sind mittlerweile restlos aufgebraucht, sie können sich nicht mehr selbst warmhalten und so rücken die Flüchtigen dicht zusammen, um es wärmer zu haben. Alle sind erschöpft und müde, aber auch gleichzeitig so verängstigt, dass sie alle paar Minuten wieder aufschrecken. Das ewige Erschrecken weckt mich jedes mal aus einem leichten Halbschlaf und ich beschliesse, ein wenig wach zu bleiben, bis die anderen sich beruhigt haben. Der seltsame Mann hält die erste Wache. Er scheint sich nicht zu ängstigen.. überhaupt streift mich höchst selten irgendeine Emotion aus der Richtung dieses Mannes. Zumeist ist es flüchtiger Ärger über eine Zeitverzögerung, manchmal auch Erschöpfung.. aber nie etwas Genaues. Ihn scheint das alles noch weniger zu interessieren als mich, obwohl er doch zum inneren Kreis gehört. Selbst Filc lässt ihn in Ruhe. Und auf der langen Reise, habe ich noch nie ein ähnliches Wesen gesehen, wie er eines ist. Ich drehe den Kopf und beobachte den unruhigen, leichten Schlaf meiner Mitreisenden. Bei der geringsten Gefahr sind sie hellwach. Sie werden nicht gut schlafen und der morgige Tag wird wohl eine Strapaze werden. Selbst Kaleb steht im Schlaf die Furcht ins Gesicht geschrieben. Ich kenne ihn so nicht. Seine Züge sind kühl und hart geworden auf dieser Reise. Er lacht kaum noch, schaut ernst und hat seltsame Gefühle. Hoffentlich wird alles wieder so wie früher, wenn wir zurück sind. Nach Hause will er nicht mehr, hat er gesagt. Vielleicht werden wir zu zweit immer auf Reisen sein.. das wäre toll. Vorausgesetzt wir überstehen das hier. Mein Blick schweift hinauf in den Himmel. Leider ist es bewölkt, man sieht keine Sterne, aber der Mond leuchtet matt durch die Wolkendecke. Die Steine der Wand in meinem Rücken summen tief und beruhigend und ich spüre, wie auch die anderen stiller werden. Ich schliesse die Augen und denke an die Wiese und den Fluß. Ich würde so unglaublich gerne wieder dorthin zurück. Ich glaube, es ist der erste Ort, an dem ich mich richtig wohl gefühlt habe. Diese Traurigkeit war so voller Schönheit und Reinheit, dass ich sie nur geniessen konnte. Ja, das Leben selbst.. Ich blinzle und sehe gerade noch aus den Augenwinkeln, wie der Kapuzenmann den Kopf zur Seite dreht. Hat er mich angesehen? Ich habe keine Angst vor ihm und keinen Grund ihm zu misstrauen, aber ich mag es nicht, wenn man mich beobachtet. Der seltsame Mann rührt sich nicht mehr, starrt weiter in den Gang in die Dunkelheit. Mir wird kalt, ich wickle mich in die Decke und versuche zu schlafen, was mir auch schnell gelingt. [ # ] Ein heilloses, lautes Chaos weckt mich mit bohrenden Kopfschmerzen und nur langsam nehme ich meine Umgebung wieder wahr. Wo bin ich? Ach ja, die Ebene der tausend Mauern. Aber was ist los? Wieso sind alle so aufgeregt? Jetzt höre ich auch den Grund ihrer Panik. Ein Grollen und Rauschen, dass gegen die Wände hallt. Viel näher als gestern! Kopflos rennen sie umher, greifen sich das erste, was sie in die Hände bekommen und stürzen aus dem Gang. Kaleb hat mich am Arm gepackt und zerrt mich hinter sich her, drückt mir das Buch in die Arme und zusammen rennen wir den anderen hinterher, die auf gut Glück abbiegen, ausweichen, immer weiter in den Dschungel aus Mauern dringen und schließlich nach minutenlanger Flucht entsetzt vor einer Wand stehenbleiben. Keuchend und mit wild umherhüpfenden Gedanken drängen sie sich verzweifelt in die Ecke, den Blick starr auf den Gang gerichtet, wo sie jeden Moment das Biest vermuten. Kaleb hat mich so fest an sich gepresst, dass ich keine Chance habe, etwas zu sehen, aber was ich höre, reicht völlig, um mir vor Angst schlecht werden zu lassen. Ein spitzer Schrei, ein Krachen, ein schrilles Quietschen, als würde man über Eisen kratzen und ein jaulender Wind, der an Kleidern und Haaren zerrt und den eigenen, hämmernden Puls übertönt. Aber es ist verrückt - ich sterbe fast vor Angst - und doch kann ich keine Gefahr spüren. Der Krach ist ohrenbetäubend, die Ängste um mich herum sind so deutlich und intensiv, dass sie meine Sinne völlig überlasten. Ein Donnern, als würden Götter husten, wallt über uns hinweg und die Steine in unserem Rücken vibrieren. Ein letzter Hammerschlag an Geräuschen und es ist vorbei. Der Wind ist noch immer heftig, weht uns pfeifend um die Ohren, aber kein Kreischen und Krachen mehr zu hören. Trotzdem bleiben alle angespannt, warten noch Minuten, bis der erste sich rührt. Zögernd folgt der Rest, ohne ein Wort, ohne ein Laut, doch in meinem Kopf tobt ein wahres Gewitter. Die sechsfache Todesangst lässt mich kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen, Kaleb schleift mich mehr mit sich, als dass ich alleine laufe. Es dauert lang, bis meine Sinne wieder richtig funktionieren. Wir laufen durch bis zum nächsten Abend. Keiner ist wieder auf eine Mauer gestiegen. Jeder hält sich dicht an den Wänden, ohne zu reden, ohne zu fluchen geht die Reise weiter, ständig in Angst, der Bestie in die Arme zu laufen. Auf dem Weg sehen wir nun deutlichere Spuren. Halb zerstörte Mauern, tiefe Furchen in der Erde und massenhaft vermodertes Vieh, je weiter wir in die Ebene vordringen. Der Gestank ist oft so bestialisch, dass wir nur mit angehaltenem Atem den Kadaver passieren können. Tausende von Fliegen und Würmern bedecken die Überreste zahlloser Tiere, Vögel und sogar Menschen. Filc ist beinah in Ohnmacht gefallen, als wir den ersten menschlichen Schädel gesehen haben - das Skelett davon lag zehn Meter weiter. Was immer das für ein Wesen ist, es dürfte es nicht geben. Es ist zu groß, um in unser Weltbild zu passen. Außerdem hätten wir es doch sehen müssen, wenn es wirklich so groß ist, wie die Krallenspuren vermuten lassen. Aber lieber will ich für immer im Ungewissen bleiben, als mit diesem Ding konfrontiert zu werden. Gegen Abend geht das Heulen wieder los. Aber diesmal bleiben wir nicht stehen um uns zu verstecken. Wir laufen weiter, rennen weg von diesem Geräusch, ganz leise, mit mühsam unterdrückter Angst in die dunkler werdende Ebene. "Ich kann nicht mehr!" heult Filc zum wiederholten Mal und steckt einen weiteren Stoß in die Rippen ein. Der dürre Junge ist total am Ende, sein Denken besteht nur noch aus Furcht, er kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Zudem ist er wie wir alle völlig ausgelaugt. Die letzten Stunden sind wir nur gelaufen, die Füße schmerzen wie noch nie und alle haben gewaltigen Hunger. Aber wir müssen weiter, die Geräusche werden immer häufiger, mal lauter, ganz in unserer Nähe, dann rennen wir los, mal leiser, dann beruhigen wir unsere stechenden Lungen wieder ein bisschen. Aber ich spüre, dass es den anderen genauso geht wie Filc. Der wenige, leichte Schlaf und die Erschöpfung machen unaufmerksam und es ist zum Verzweifeln, wie oft wir kehrt machen müssen, weil wir uns wieder einmal verrannt haben. Es ist später Abend, das Fauchen erreicht seinen Höhepunkt. Hals über Kopf fliehen wir in beinbrechendem Tempo durch die Gänge. Hinter der nächsten Biegung wartet eine unschöne Überraschung. Der Boden ist gepflastert mit tierischen Leichen. Es sieht aus wie ein riesiges Schlachtfeld, auf dem sich Tote stapeln. Oder wie das Esszimmer eines grausamen, riesigen Untiers. Der Gestank, die Faulgase der toten Körper lassen uns die Köpfe schwirren, die Wände sind schmierig und von schlafenden Fliegen bedeckt, die sich in dieser blutigen Umgebung sehr wohl fühlen. "Weg hier!" Ein schriller Schrei aus unseren eigenen Reihen lässt uns zusammenfahren, Filc liegt am Boden, Kaleb kann ihm gerade noch den Mund zuhalten, folgt der ausgestreckten Hand nach hinten und kann sich gerade noch ein Japsen verkneifen. Spinnen. Tausende von handtellergroßen Spinnen hängen an der Mauer, auf dem Boden, in der Luft in ihren filigranen Netzen, fast regungslos. Blind vor Furcht sind wir einfach hindurchgelaufen, Dutzende dieser krabbelnden Tiere zertreten, nicht nach rechts und links gesehen. Millionen winziger Facettenaugen sind auf uns gerichtet, beobachten auch jede kleinste Bewegung. Neugierig versuchen einige dieser Tiere, an den Hosenbeinen hinaufzukrabbeln, werden aber sofort wieder abgeschüttelt. "Das.. ist widerlich!" "Ich hab sie überhaupt nicht gesehen!" "Das müssen Tausende sein! Wo kommen die alle her?" Das Brüllen und Kreischen hat sich auf ein erträgliches Maß gesenkt, dafür sind wir jetzt von einem anderen Schrecken gelähmt. Die ungewöhnlich großen Spinnen beobachten uns noch immer, ohne sich zu bewegen, hängen in unzähligen, hauchdünnen Fädenzwischen den Wänden wie auf gläsernen Brücken. Der Lärm wird lauter. "Wir müssen weiter! Das Vieh kommt wieder näher!" "Da durch?! Da geh ich nicht mehr zurück!!" "Was ist, wenn sie auf uns drauffallen?" "Vielleicht sind das ihre Kinder!" haucht Filc, kalkweiss, an Kaleb geklammert. "Aber wir müssen weg! Entweder die Spinnen.. oder die Leichenkammer!" Mir wird schlecht bei dem Gedanken, mich für ein Übel entscheiden zu müssen. Das Schlachtfeld ist der blanke Horror! Und mit der Vorstellung, von tausenden von Spinnen bekrabbelt oder gar gebissen zu werden kann ich mich noch weniger anfreunden. Aber der Gestank ist hier schon so intensiv, dass ich selbst unter dem Tuch vor der Nase kaum atmen kann. Das Kreischen gewinnt an Stärke, die Gruppe wird immer nervöser, keiner will weder vor noch zurück, der eine Schrecken überlagert den anderen. "Das Biest wird hierher zurückkehren! Hier ist seine Vorratskammer und ich will nicht hier sein, wenn es darum geht, sie neu zu bestücken!" "Siehst du, wie sie uns beobachten? Ich setze hier keinen Schritt mehr rein!" "Wir müssen weiter verdammt!!" "Durch die Leichenberge schaffen wir es nie, ohne uns alle drei Schritte übergeben zu müssen und mit der Ohnmacht zu kämpfen, ich halt es ja jetzt schon kaum mehr aus!" "Da.. da schau, was sie machen!" Entsetzt sehen wir, wie die Spinnen sich in Bewegung setzen. Aber nicht auf dem Boden. Sie schwingen. Sie bringen ihre Netze zum Vibrieren und wackeln wie in einem Erdbeben auf und ab oder hin und her. Der Wind fegt durch den Gang und einige Spinnen fallen von ihrem kleinen Trampolin zu Boden, krabbeln sofort wieder an die Wand auf die Netze zurück, schwingen weiter, fallen wieder. Es regnet Spinnen. "Ich will weg hier.. bitte bitte!!" "Halt dir Mund und Nase zu und versuch nicht zu atmen!" "Ich schaff das nicht..." "Filc! Reiß dich Herrgottnochmal zusammen!!" Es ist schon zu dunkel, um genau zu sehen, wo wir hintreten. Das Gras ist glitschig und verdorben, der Boden getränkt von Blut. Doch die paar freien Stellen sind schwer zu finden. Immer öfter treten wir auf die grässlichsten Bodenbeläge, die man sich vorstellen kann: Knochen, ledrige Haut, Fell, Haare, Federn, Knorpel, nacktes, gammelndes Fleisch. Der Gestank ist noch schlimmer als erwartet, verschlägt jeglichen Atem, bringt uns zum Würgen, Erbrechen, Taumeln und Stolpern vor Benommenheit. Nirgends kann man sich abstützen, nichts darf man berühren, überall sind Blut und Fliegen, Krankheitserreger, Keime, Fäulnisbakterien, Pilze. Selbst die Luft ist voller schädlicher Gase und Giftstoffe, die wir nie einatmen dürften. Mir ist furchtbar übel, mein Magen ist leer und so kann ich nicht einmal mehr etwas loswerden, die Übelkeit bleibt und zwingt nicht nur mich zum gelegentlichen Stehenbleiben und Kräftesammeln. Meine Augen tränen von den scharfen Dämpfen und ich sehe kaum noch etwas. Hinter mir stolpert Yens, greift hilfesuchend nach meiner Schulter, reißt mich mit nach unten. Mein Magen überschlägt sich ein Dutzendmal bei der Berührung und ich verliere wirklich kurz die Besinnung, spüre klebriges Fell unter meinen Fingern, als ich hochgezerrt werde, weitergeschleift, über abgenagte Knochen zwischen tagealten Kadavern. Irgendjemand presst mir seine Hand auf Mund und Nase, nur schwer bekomme ich ein wenig Luft, um mich herum husten sie, wissen nicht, wie sie sich noch besser schützen könnten. Kurz bevor alle an einer akuten Gasvergiftung zu Boden gehen, wird die Luft wieder dünner. Eineinhalb Gänge später ist die Luft wieder so klar, dass alle richtig durchatmen können. Der Lärm ist langsam leiser geworden, treibt uns dennoch weiter, schleppend zwar, weil alle noch ziemlich benommen sind, doch immerzu der Gefahr bewusst. Eine Stunde später sind alle am Ende ihrer Kräfte. Hunger und Durst, Erschöpfung und noch immer Probleme beim Atmen zwingen uns zur Rast, die zu einer Übernachtung wird. Aber wenigstens bleibt es ruhig. Dafür wird es um so kälter. In der überstürzten Flucht heute morgen haben die Wenigsten an ihre Sachen gedacht. Decken, Rucksäcke und das wichtigste, die Lebensmittel, wurden alle zurückgelassen. Jedoch haben wir Glück im Unglück. Hier am Boden wachsen viele Blumen und Kräuter, darunter auch eine Pflanze, aus der man bei uns zu Hause gerne Salat macht. Aber roh schmeckt sie nicht sonderlich und stillt den Hunger auch nur im Nötigsten. Viel können wir ohnehin nicht essen, denn die Mägen sind noch immer geschockt und versuchen oft, das Erbrechen nachzuholen, das vorhin so vergeblich war. Aber es reicht dennoch, um heute nicht zu verhungern. Ich sehe zu Filc, der sich vor Kälte neben meinem Bruder eingerollt hat und schon längst eingeschlafen ist. Der Wind zieht scharf durch den Gang und ich lege mich auf die andere Seite neben Kaleb und Gabriel. Obwohl ich todmüde bin, kann ich nicht einschlafen. Das merkwürdige Gefühl bereitet mir Kopfzerbrechen. Wenn der Lärm über uns hereinbricht, habe ich Angst wie jeder andere, vielleicht sogar mehr, wer weiß. Aber irgendetwas in mir weigert sich, die Gefahr darin zu akzeptieren. Wir haben das Biest kein einziges Mal zu Gesicht bekommen und doch sterben alle fast vor Angst, wenn das Quietschen und Kreischen ertönt. Am Liebsten würde ich mich eingraben und dem Biest auflauern, damit ich es wenigstens einmal sehe. Vielleicht würde mein Unterbewusstsein dann zufrieden sein. [ # ] Langsam wird es sogar Kaleb zuviel, ich fühle, wie sein Nervenkostüm flattert und große Risse bekommt. Jedes Brüllen, jedes Donnern stürzt ihn in eine tiefe Hoffnungslosigkeit und auch die anderen sind der Verzweiflung nahe. Filc hinter mir heult schon seit Stunden und läuft apathisch mit, wenn wir einen Zahn zulegen, um mehr Abstand zwischen dem Krachen und uns zu bringen. Die Zwillingsbrüder erschrecken immer gleichzeitig und vor einer Stunde bin ich fast der Länge nach hingeschlagen, weil der Lärm gigantisch und die Angst um mich einfach zu viel war. Nur Kaleb scheint sich langsam gegen diese Angst abzuhärten, er ist derjenige, der uns anführt, der nicht kopflos davonrennt, sondern immer schaut, dass niemand zurück bleibt oder verlorengeht. Seit gestern abend halten wir auch vermehrt Ausschau nach Spinnen in den Gängen. Fast wären wir wieder in einen Gang gelaufen, der weiter hinten mit dieser seltsamen, schwingenden Spinnenspezies ausgefüllt war. Obwohl keiner von uns diese Art kennt und sie uns auch noch nicht direkt angegriffen hat, meiden wir sie wie die Pest. Kaleb hat im Scherz gemeint, dass sie vielleicht sogar ganz gut schmecken könnten, der Protest dagegen war unnötig laut und gereizt. Überhaupt sind alle sehr leicht reizbar geworden. Filc und ich stecken momentan eine Menge Stöße und Zerrereien ein, die Zwillinge und sogar Kaleb brauchen ein Ventil für ihre Angespanntheit und lassen es an den zwei Jüngsten aus. Filc könnte einem fast leid tun. Er klagt oft und bekommt sogleich die Rechnung dafür, fängt an zu weinen und jammert nach seinem Cousin. Aber keiner hat den Nerv ihn zu trösten, stattdessen hagelt es Schimpf und Knüffe, damit er seine Klappe hält. Und wenn Kaleb nicht hinschaut, werde ich auch mal gerne gegen eine Wand geschrammt, vielleicht nicht gerade mit Absicht, aber selbst eine kleine Entschuldigung ist zu stressbehaftet geworden. Ich bin auch viel zu müde und erschöpft, um mich zu beschweren. Es hätte auch zu nichts gebracht, ausser zu einem handfesten Streit, denn auf den warten alle nur noch. Etwas, das die Spannung löst, die aufgestaute Angst wie eine zu straff gespannte Saite zerreissen lässt. Wenn nicht bald etwas geschieht, fällt irgendeine dumme Bemerkung auf fruchtbaren Boden und wir reissen uns gegenseitig in Stücke. Ein krachender Donnerschlag zerreißt die Stille, aber es ist nicht das fremdartige Wesen, das uns in Angst und Schrecken versetzt. Der Himmel stürzt in Bächen auf uns herunter. Blitze jagen grelle Furchen in den Abendhimmel und lassen den Boden erzittern vor Lärm. Und doch bleiben wir alle ruhig, das Donnern und Zucken des Wetters ertragen wir beinahe mit Freude. Das Schicksal meint es einmal gut mit uns. Der ohrenbetäubende Krach ist wie eine Metapher auf unsere reißenden Nervenstränge, die angespannte Atmosphäre entlädt sich in einem grandiosen Gewitter. Naturgewalten kennen wir nur zu gut, da gibt es wenig zu befürchten und alle sind froh über diese Abwechslung. Erleichterung herrscht vor, gleich gefolgt von Kälteempfinden. Aber wenigstens können wir endlich unseren großen Durst stillen. Nach ein paar Minuten will keiner mehr trinken, nur noch schlafen. Leider gibt es keine Möglichkeit, sich irgendwo unterzustellen, die Mauern sind alle ausnahmslos oben offen und so bleibt uns nichts anderes übrig, als im strömenden Regen weiterzulaufen. Die dritte Nacht bricht herein. Es regnet nicht mehr, aber die Erde ist nass und schlammig. Kaum einer von uns kann sich noch auf den Beinen halten, der Hunger sticht wie ein Folterknecht in den Magen. Auf den Überresten einer umgefallenen Mauer legen wir uns zum Schlafen. Der Geist der Gruppe ist müde und schwach, kaum jemand denkt an das Ziel, nur an Flucht, Überleben - und Ruhe. "Komm her, sonst holst du dir den Tod.." Kaleb legt das eingeschlagene Buch unter meinen Kopf und breitet seinen Mantel über uns aus. Auch er hat beinahe schon aufgegeben. Die allgegenwärtige Angst macht mürbe, das ständige Fliehen und Erschrecken geht ihm ebenso an die Substanz wie allen anderen. Es ist etwas anderes, gegen eine aktuelle Bedrohung zu kämpfen, als tagelang in Angst und Schrecken vor einem unbekannten Feind fliehen zu müssen. Die Kräfte sind aufgebraucht, am nächsten Tag ist an eine längere schnelle Flucht nicht zu denken, die Männer haben den letzten Rest Kraft eingebüßt. Wenn das Ungeheuer morgen kommt, haben wir nicht einmal mehr Hoffnung, vor ihm weglaufen zu können. Dann werden wir es wohl endlich sehen. Jeder von uns hat sich seine Gedanken gemacht, wie es wohl aussehen mag. Auf alle Fälle ist es gigantisch. Ich glaube, Filc wäre froh, wenn seine Angst endlich ein Ende fände. Und ich wäre vielleicht auch zufriedener, wenn ich wüsste, vor wem wir da weglaufen. Bevor ich endgültig in tiefen Schlaf falle, sehe ich vor mir den Kapuzenmann. Er blickt in unsere Richtung, starr wie eine Statue. [ # ] Wie es vorherzusehen war, bewegt sich unsere Gruppe nunmehr im Schneckentempo. Yens hustet ununterbrochen und Filc's Augen glänzen vor Fieber. Die Luft ist kühl, meine Füße in den Schuhen nass vom feuchten Gras. Ich fühle mich auch nicht besonders gut, meine Glieder sind schwer und die Sinne träge aber es hat auch etwas Gutes. Egal, wie oft der Lärm losgeht, je näher er kommt, desto lauter er wird, unsere Gruppe wird nicht schneller. Stumpf stapfen sie weiter, ihre Angst weicht einer Resignation. Wenn das Monster uns erreichen sollte, werden sie kämpfen und sich ihrer Haut wehren. Darüber hinaus erwartet niemand, dass wir weiter davor fliehen. Die Angriffe aus Lärm und Donner erscheinen mir jetzt auch nicht mehr so schlimm wie am Anfang, die Schärfe ist weg, der Überraschungsmoment ist wirkungslos geworden. Beinahe so, als hätte das Wesen die Zeit über nur mit uns gespielt und ärgert sich jetzt, dass wir nicht mehr auf das Spielchen reagieren. Und nur fast hätte uns die Angst auch wirklich in ihre Faust aus Wahnsinn gepackt. Um Filc war es heute morgen fast geschehen. Als der erste Angriff kam, warf er sich schreiend auf den Boden und drohte endgültig den Verstand zu verlieren. Er konnte nicht mehr, wollte nicht mehr, ertrug diese Furcht nicht länger und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Erst nach heftigen Schlägen kam er wieder auf die Beine und wird seitdem abwechselnd von den Zwillingen mitgezogen. Niemand von uns hat auch nur die leiseste Ahnung, wo wir uns befinden. Was ist vor uns? Und hinter uns? Laufen wir im Kreis und stecken im Zentrum des Irrgartens fest? Oder sind wir gar schon am Ausgang vorbeigelaufen? Werden wir hier drinnen sterben? Wenn nicht durch das Monster, so werden wir verhungern, verdursten, an Krankheit zerbrechen oder uns gegenseitig die Köpfe vom Hals reißen, denn die Spannung baut sich schon wieder auf. Es gibt so viele Gefahren hier, die uns in kürzester Zeit zunichte machen können. Aber wenigstens bin ich bei ihm. Der Gedanke tröstet ein wenig und ich muss lächeln. Wäre ich in der Höhle geblieben oder im Dorf.. Mein Bruder müsste nun ohne mich hier umherirren, in Furcht und Gefahr. Ich bin froh, dass ich doch mitgegangen bin, vielleicht sind das die letzten Tage die wir leben. Und wenn er bei mir ist, ist alles nur noch halb so wild. Siehst du Filc, du hast gelacht. Aber ich werde meinem Bruder sogar in die Hölle folgen, wenn es sein muss! [ # ] Gegen Abend diesen Tages passiert etwas Merkwürdiges. Der Lärm bleibt aus, dafür flüstert der Wind. Der Wind flüstert natürlich immer, ich kann ihn rund um die Uhr hören. Aber diesmal flüstert er laut. Ich kann es mit den Ohren hören, nicht nur in meinem Kopf. Und meine Gefährten hören es genauso wie ich. Ein leises Singen, Streicheln, Fließen. Es ist schön und zugleich traurig. Eine dunkle Stimme, die ihr Leid in die Welt hinausträgt. "Was ist das?!" "Der Wind. Das ist doch der Wind, oder?" "Wind pfeift und singt nicht! Da singt jemand!" "Wer denn? Das hört sich nicht nach Gesang an!" "Vielleicht ist es dieses.. Vieh.. Balzritual oder sowas.." "Es ist der Wind, das höre ich doch!" "Was sagt er dir? Was sagt der Wind?" Diese Frage war an mich gerichtet. Überrascht sehe ich auf, alle sehen in meine Richtung. Kaleb wiederholt seine Frage ernsthaft, aber ich weiß nicht, was er von mir hören will. "Ich weiß es nicht, woher sollte ich.." "Komm schon, ich weiß, dass du das kannst! Was will er uns sagen? Vielleicht ist es wichtig! Streng dich an, keine Angst - das verstehen sie schon!" Was will er jetzt damit sagen? Warum stellt er mich denn jetzt öffentlich zur Schau? Er weiß genau, dass ich ich das nicht will. "Was soll das, Kaleb. Lass den Kleinen doch in Ruhe, du siehst doch, dass es ihn total verwirrt. Warum soll er dir sagen können, woher das Singen kommt?" Sag es nicht Kaleb! Das tust du nicht! Du hast es geschworen! "Er kann es eben. Nicht wahr? Sag, was hörst du?" Er bemerkt garnicht, wie sehr mich das verletzt. Kaleb ist wie von Sinnen. Er hat Hoffnung gewittert und seine Gedanken sind Chaos. Allen vorweg steht der Wunsch nach Erreichen des Ziels. Und jetzt wirft er alles über Bord, was ihm im Weg steht, zum Beispiel das Versprechen, niemals jemandem unser Geheimnis zu verraten. "Was singt der Wind? Zeigt er uns den Ausgang? Komm schon Vates!" "Ich weiß es doch nicht!" Neugierig sieht mich Filc von der Seite an, als sei ich ein merkwürdiges Insekt. Oh Kaleb, dafür könnte ich dich... "Wieso weiß er, was der Wind da singt?" will Gabriel wissen. "Ich weiß, du würdest dich gerne aus dem ganzen hier heraushalten, aber so funktioniert das nicht! Probier es wenigstens!" stichelt Kaleb. "Wie soll ich das machen?! Entweder da ist was oder nicht, das ist alles, was ich.." versuche ich ihm zu erklären, aber er hört garnicht zu. "Dann streng dich an, hör tiefer oder mach sonstwas!" "Kaleb.." sage ich bitter, "..das ist keine Magie, kein Zauberspruch, auf den man sich konzentrieren kann, damit er besser funktioniert! Entweder da ist Wind oder nicht! Das allein ist die Aussage! Ich kann mich nicht besser konzentrieren, das bringt garnichts, es ist wie.." "Versuch es doch, bitte!!" Er packt mich an der Schulter und schüttelt mich völlig grundlos durch, sein Wahn tut weh, er geht in eine Richtung, die gefährlich ist. Seine Verzweiflung steht auf einem schmalen Grat zum Wahnsinn. Die Hoffnung ist noch da, er will sie mit aller Gewalt durchboxen, klammert sich daran wie an einen Strohhalm, der in einen reißenden Strom hineinragt. "Hör auf, lass mich! Ich kann das nicht! Du bist ja.." >Klatsch< Ich kann mich nicht erinnern, dass Kaleb mich je geohrfeigt hat. Ich hätte nie gedacht, dass er imstande ist, mich absichtlich zu schlagen, aber nun weiß ich es besser. Meine Wange brennt und Tränen der Wut steigen hoch, aber diese Blöße gebe ich mir nicht. Es reicht schon, dass alle anderen uns anstarren. Nein, früher hätte sich Kaleb eher eine Hand abgehackt, als mich zu ohrfeigen. Er hat sich so sehr verändert.. Wegen diesem blöden Ort, den sie erreichen wollen! Nichts ist ihm mehr wichtig. Nur dieses seltsame Ziel, das er ansteuert wie ein Verdurstender die rettende Oase. Manchmal, wenn er fragt, ob es mir gut geht, wenn er mir seinen Mantel um die Schultern legt oder Verständnis zeigt, wenn ich nicht mehr weiterlaufen kann, dann bin ich froh, hier zu sein, denn ich bin bei Kaleb, meinem Bruder. Und dann die andere Seite.. wenn er wie besessen ist von seiner Idee, alles andere um ihn herum unwichtig wird, dann ist er mir so fremd. Kühl und hart wie Stein, mit dem Unterschied, dass selbst ein Stein keine negativen Gefühle in sich trägt. Dann erkenne ich ihn nicht wieder, habe sogar Angst vor ihm. Ich hasse es, ihn so zu sehen, so schrecklich rational denkend, egoistisch und rücksichtslos. Ist das ein und derselbe Mensch? Ist das hier mein Bruder? Der nach mir greift, als ich aufstehen will um von ihm Abstand zu nehmen, der mich anbrüllt, ich solle ihm helfen und nicht so tun als wüsste ich von nichts? Ja, es ist mein Bruder, auch wenn er sich sehr verändert hat und ich sein altes Ich sehr vermisse. "Verdammt, ich weiß, dass du das kannst! Du hast es mir selbst erzählt! Die Sache mit dem Fluß, weißt du noch? Du hast gesagt du verstehst das alles! Oder hast du gelogen? Nein - also! Dann mach endlich! Hilf mir jetzt und setz deine Fähigkeit einmal zu etwas Nützlichem ein!" "Lass mich los.." "He, was willst du, es ist viel zu dunkel!" Wortlos versuche ich die Steinwand hinaufzuklettern, bekomme stumme Hilfe von Yens, der mich so weit es geht hinaufschiebt, bis ich mich an den kleinen Vorsprüngen mühsam hochzerren kann. Der Wind pfeifft dort oben stärker und zupft an meiner Kleidung. Das Singen ist klar und glockenhell, die Luft tanzt zu der Musik. Ich könnte stundenlang zuhören so schön ist es, aber Kaleb wartet auf eine Antwort. Eine, die ich ihm nicht geben kann. Ich kann nicht mehr tun als stehen und dem Wind zuhören, wie er singt. Und was singt er? Keine Worte, nichts, das in irgendeiner Weise verständlich wäre. Er singt immerfort: "Mich gibt es. Ich bin da. Ich lebe." Soll ich ihn anlügen? Ich könnte in irgend eine Richtung deuten und er wäre zufrieden. Warum verlangst du soetwas von mir?! Die Gier hat dich blind gemacht.. wie kann ich dir nur helfen? Und ob ich das kann. Den Ausgang sehe ich nicht, dafür ist es zu dunkel. Aber ich sehe etwas anderes. Winzige leuchtende Funken, die im singenden Wind tanzen und verglimmen. Magie. Eine Quelle, ganz hier in der Nähe! Ich laufe auf der Mauer bis zum Ende, die nächste ist nicht weit entfernt und ich springe auf die zweite über. Weiter unten folgt mir Kaleb, fragt andauernd, was ich sehe oder höre, läuft den zweiten Gang entlang hinter mir her bis zur Biegung und sieht die Quelle jetzt auch. Ein winziges Bäumchen, von glühenden Funken umschwirrt, die neugierig auf Kaleb zufliegen, als sie einen Magieträger wittern. Kaleb ist sprachlos, läuft auf den Baum zu und ein Funkenregen überschüssiger Magie sprudelt aus den dünnen Ästchen hervor. Ich kann zusehen, wie Kaleb sich beruhigt, seinen Wahn beiseite legt und die Energie genießt. Ich habe viel gelesen darüber. Es gibt verschiedene Arten von Magie: die Grundmagie, die natürliche, die sich an den Quellen sammelt. Sie ist die reinste Form, durch und durch positiv. Sie ist mild und angenehm, wie warmes Wasser. Diese Energie ist bedenkenlos einsetzbar, man kann mit ihr keinen Schaden anrichten. Natürliche Magie spendet Leben, heilt Wunden und wärmt in der Kälte. Im Notfall ernährt sie deinen Körper, schützt vor Verletzungen und gibt dir deine Kraft zurück. Magiebegabte, die niemals eine Magierschule auch nur gesehen haben, können sich diese Magie trotzdem aneignen und benutzen. Auf den Schulen allerdings lernen diese besonderen Menschen, diese Magie umzuformen. Die geformte Magie ist natürliche Energie, die von einem Magier nach seinen Wünschen verändert und angepasst wird. Seine Gedanken gestalten die Magie um und benutzen sie mit Hilfe von Formeln. Je nach Kenntnissen lässt sich viel mit geformter Magie anstellen, auch viele gefährliche Unterfangen wie Feuer oder Stürme lassen sich lenken und deshalb ist es wichtig, dass die Schulen aufpassen, welche Kapitel sie lehren und welche eher nicht. Die dritte Stufe ist künstliche Magie. Unter bestimmten Vorraussetzungen sind Magiebegabte fähig, ihre eigene Magie zu produzieren. Nach jahrelanger Anwendung von Magie, lernt der Körper, eine eigene Art von Magie herzustellen, die allerdings nur noch wenig mit der natürlichen Magie gemein hat. Künstliche Magie ist mit großem Bedacht einzusetzen, denn die Energie ist alles andere als rein und wird dadurch brüchig. Der Zauber kann mißlingen, nicht stabil genug sein oder, fatalerweise, sich verselbständigen. Dann ist er nicht kontrollierbar und kann verheerende Schäden anrichten. Oder aber er kann zu stark sein und bringt seinen Benutzer in Gefahr, indem er ihm die Lebensenergie "wegfrisst". Natürliche Magie dagegen ist nur sein eigener Träger. Wie ein Geschenk, das man unausgepackt weiterreicht. Aber durch das Weiterreichen des Geschenks freut sich die Seele trotzdem und deshalb ist eine Magiequelle jetzt genau das richtige für den reizbar gewordenen Kaleb, dessen Gedanken gerade eine höchst entspannende, sanfte Massage abbekommen. Schnell sind die anderen dazugestoßen und scharren sich um das kleine Bäumchen, das fleißig seine aufgestaute Magie verschenkt. Eine Erleichterung macht sich breit unter den Verzweifelten. Die Energiedusche ist wie ein Lebenselexier, die Lebensmüdigkeit verschwindet und macht Platz für neue Hoffnung und Zuversicht. Filc's Fieber sinkt rasant, Yens' Husten verschwindet, der schlimmste Hunger verebbt und alles an negativen Gedanken wird durchgespült und gnadenlos ausgefiltert. Ich warte, bis sie auch den letzten Funken Magie in sich eingesogen haben und klettere vorsichtig nach unten, wobei ich den letzten Meter abstürze, was aber zum Glück niemandem aufgefallen ist. Die Gedanken der fünf laufen auf Hochtouren, Risiken werden neu abgeschätzt, Möglichkeiten erwogen. Kurze Zeit später sind sie sich einig. Sie werden einen Leuchtball herstellen, der genug Licht geben sollte, um die nächsten Meter auszuleuchten, damit wir wissen, wo wir sind und wo der Ausgang liegt. Selbst auf die Gefahr hin, dass uns das Untier sehen sollte; mit der neuen Energie fühlen sie sich dem Kampf mit dem Tier gewachsen. Mit Elan und Tatendrang gehen sie ans Werk, Müdigkeit und Erschöpfung sind komplett vergessen. Neugierig sehe ich ihnen zu, wie sie leise murmelnd die Hände bewegen, Funken fliegen, sich verdichten und mit anderen verschmelzen zu einem kleinen, leuchtenden Ball, der schnell wächst. Der Ball wird etwa so groß wie ein Kopf und scheint in warmem Licht über unseren Köpfen. Kaleb ist auf der Mauer und hält Ausschau nach Hinweisen über den Ausgang. Aufgeregt warten sie auf seine Antwort, doch er lässt sich Zeit und sucht alles genaustens ab. Die Nacht bleibt still, ausser dem Singen des Windes ist nichts zu hören. Trotzdem sind sie wachsam, und lauschen auf die Geräusche des Untiers. Im Gegensatz zu ihnen bin ich jedoch immer noch todmüde und erschöpft, der singende Wind tut sein Übriges und bevor ich mich versehe, bin ich an der Mauer eingeschlafen. Kapitel 6: Der Südstern ----------------------- Der Südstern Auf und ab, wie ein Boot auf den Wellen eines kleinen Sees, so schaukelt meine Welt. Beruhigend und warm, ein leises Geräusch dringt an mein Ohr. Die Welt hört auf zu schaukeln, nur kurz, dann geht es weiter, das leise Geräusch wird intensiver, angestrengter, dann ist es weg. Auch das Schaukeln ist weg. Etwas streicht mir übers Gesicht, es wird noch wärmer und weicher, ein leises Knarren. Dann wird es hell. Ich blinzle und sehe eine Decke aus Holz über mir. Verwirrt schaue ich mich um. Ich liege in einem Bett, es ist mein eigenes. Es steht in meinem Zimmer. Im Haus meiner Eltern. Was ist passiert? Die Sonne scheint durch's Fenster und erhellt den ganzen Raum. Neben mir knarrt etwas, es ist das zweite Bett im Zimmer, das meinem Bruder gehört. Kaleb dreht sich auf der Matraze und zieht die Decke bis zur Nasenspitze. Auf dem Boden stehen meine Stiefel, nass und dreckig, durchgelaufen. Die Hose und das Hemd liegen unordentlich daneben, stehen fast von selbst vor Schmutz. Warum bin ich zuhause? Wo ist die Ebene der tausend Mauern? Irritiert stehe ich auf und sehe aus dem Fenster. Meine zwei jüngeren Geschwister stehen bei den Hühnern und stecken ihnen Würmer in den Schnabel. "Komisch, was?" Ich drehe mich um und Kaleb grinst mich an. Er ist es wirklich. Er sieht mitgenommen aus. So wie er die ganze Zeit auf der Wanderschaft war.. so unwirklich kommt er mir jetzt vor in diesem sauberen Bett. "Was ist denn passiert? Warum sind wir wieder zuhause?" Kaleb gähnt herzhaft und streckt sich geräuschvoll. "Wir haben ein Tor gefunden. Stell dir vor, es ist tatsächlich eins hier ganz in der Nähe.. wenn ich das gewusst hätte du.." Ich höre seinen Magen bis hierher knurren. "Aber.. gestern abend.." "Ich hab dich getragen, du warst im Gegensatz zu uns so müde und ich wollte dich nicht noch weiter zum Gehen zwingen. War Mutter schon oben? Ich hab Hunger.." "Du meinst.. du hast .. du bist wieder heimgekommen? Und euer Ziel?" "Tja. Vielleicht klappt's das nächste Mal.." "Die Zeit..?" "Nein nein, wir lagen noch gut in der Zeit. Nur.. naja, der Glatzkopf, du erinnerst dich? Pff.. er hat einen Herzanfall bekommen, so kurz vor dem Ziel. Der Trottel. Naja, die ganze Reise wieder für die Katz.." "Du meinst er ist.." "Ja, tot. Traurig, aber wahr. Ich hab so nen Hunger!!" Vielleicht ist es nicht gerade schicklich, sich über den Tod eines anderen zu freuen, aber ich war in diesem Moment so glücklich, dass ich fast Kalebs Bett unter uns zum Einstürzen brachte. "Ich freu mich ja so! Oh Kaleb! Ich hätte nie gedacht.. dass wir das heil überstehen! Und jetzt sind wir wieder zuhause und beide gesund! Mit tut das natürlich leid.. ich meine.. ihr seid monatelang gereist, nur um.." "Hey hey, mach mal langsam!" lacht Kaleb und befreit sich aus meinem Geklammer. "Ist schon in Ordnung. Eigentlich ist es garnicht so schlimm. Ich habe auch irgendwie gemerkt, dass diese ganze Sache zu groß für mich ist, weißt du? Hey, ich hätte dich einmal fast verloren, Vates! Das ist nicht mehr lustig! Ich hab's lange nicht kapiert. Ganz ehrlich - manchmal hast du sicher gedacht, ich sei ein Dreckskerl!" "Nie! Ehrlich nicht!" "Hehe, na klar!... Los gib's zu!" droht er und fällt imselben Moment über mich her, um mich durchzukitzeln. Ich glaube, glücklicher kann ich garnicht mehr werden. "Was macht ihr denn da, wollt ihr das Bett kaputtmachen?!" Lachend wirft sich meine Mutter auch noch dazu und umarmt uns alle beide. "Wisst ihr eigentlich, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Monatelang kein Lebenszeichen!" Jetzt sieht sie richtig böse aus. "Einfach zu verschwinden.. Kaleb, vor allem von dir hätte ich das nicht gedacht! Und dann nimmst du auch noch Vates mit! Der ist doch sowas garnicht gewohnt!" "Ma, bitte jetzt keine Gardinenpredigt, für sowas bin ich schon viel zu alt. Mach Vates den Ruß runter, ich geh was essen.." "Du bleibst schön hier sitzen, bis ich mir dir fertig bin, junger Mann! Was glaubst du eigentlich, welche Ängste ich wegen euch ausgestanden habe? Und du Vates! Wie kommst du dazu, einfach mit Kaleb mitzugehen?! Es hätte schliesslich was passieren können! Wartet, bis euer Vater wiederkommt! Und wascht euch gefälligst vor dem Essen, ihr stinkt wie ein Rudel Wölfe!" "Ja, Ma! Aber bitte! Mach uns ein richtig großes Frühstück, ich hab noch nie solchen Hunger gehabt! Sonst fress ich dich, wie ein Wolf!" lacht er schelmisch und latscht rüber zum Waschzuber. "Uah! Warmes Wasser! Vates, das ist warmes Wasser! Ich träume! Komm sofort her und sieh dir dieses Wasser an!" Er lacht und ich kann garnicht mehr aufhören zu grinsen. Das ist alles so unglaublich! Ich kann es immer noch nicht fassen! Kaleb freut sich wie ein Kind und betet warmes Wasser an, spritzt mich patschnass, während ich versuche, mir den Dreck aus den Haaren zu waschen. Auf einmal poltert es und ein Kriegsgeschrei schallt durch die Tür, unsere zwei kleinen Geschwister stürmen herein und brüllen vor Freude, werfen sich an Kaleb, der immernoch im Zuber sitzt und die beiden einfach mit ins Wasser zerrt, die zwei quietschen vor Vergnügen, die Mutter brüllt von unten hoch, wir sollten uns beeilen. Das geht alles viel zu schnell, ich kann die einzelnen Augenblicke garnicht geniessen, garnicht begreifen. Ich verstehe die Hälfte immer noch nicht, aber Kaleb balgt sich weiter mit den Kindern, steigt aus der Wanne und sucht vergeblich irgendwelche Kleidung. Natürlich hat er alles auf der Flucht vor dem Unwesen verloren vorgestern. Waren wir wirklich in einem Labyrinth aus Steinwänden? Auf der Flucht vor einem Tier, das es garnicht gibt? Das erscheint mir jetzt so unwirklich, wenn ich zu Kaleb hinübersehe, der in meinen Schubladen wühlt, ob ihm etwas von mir passen könnte. Waren wir wirklich an einem verzauberten Fluß, der über das Leben singt und Menschen in den Wahnsinn treibt? Auch das erscheint mir weit hergeholt, während ich hinter Kaleb die Stufen hinunterpoltere, mir der göttliche Duft von gebratenen Eiern und frischem Brot in die Nase steigt. Waren wir wirklich Monate unterwegs? Oder waren es nur ein paar Tage? Oder waren wir garnicht weg? Ist denn wirklich wieder alles, so, wie es einmal war? Als wären wir nie weggewesen.. "Lasst es euch schmecken!" Wir sind doch schon lange am Essen, Ma. So gut hatte ich das Frühstück niemals in Erinnerung. Kaleb und ich halten uns auch nicht lange mit Kauen auf, bis zumindest der erste Hunger gestillt ist. Solange hält sich Mutter zurück, dann aber, als wir ein bisschen langsamer essen, platzt sie heraus, dass sie alles wissen will, jeden Tag einzeln wenn es geht. Kaleb erzählt grob von unserer Reise, über die Berge, über das Meer, durch die Wüste. Fremde Länder, fremde Sitten und Gebräuche, Menschen, Pflanzen und Tiere, unsere Mutter ist immer für so etwas zu haben. Wie gerne würde sie selbst einmal diese Länder bereisen. Die wirklich gefährlichen Stellen sowie den Tod von Barthel und dem Kapuzenmann lässt er in seiner Geschichte aber aus. "Meine Güte, so viel habt ihr gesehen.." seufzt Mutter und das große Fernweh plagt sie. "Da bin ich ja richtig stolz, dass ich solche Helden großgezogen habe!" "Ach Helden.. wir sind doch keine Helden. Und Vates schon garnicht. Der ist mir ja immer nur hinterher gelaufen und hat mich in Schwierigkeiten gebracht, nicht wahr, Brüderchen?" Äh. "Na los, äussere dich zu deiner Verteidigung!" sagt er und stößt mich gegen die Schulter. "Eh..also.." Kaleb knufft weiter und lacht. "Na was ist Vates? Bleibt dir jetzt die Spucke weg? Ist es nicht so, Vates? Vates!" "Was denn? Was soll das denn jetzt? Hör auf damit!" Langsam beginnt das kumpelhafte Boxen wehzutun und ich drehe mich weg. Aber er boxt weiter, rüttelt mich an der Schulter. "Na mach schon! Hey! Vates! Wir müssen weiter!" Es ist ein trübes Halbdunkel, in das ich starre. Es riecht nach Stroh und Holz, etwas muffig. Verwirrt sehe ich mich um. Es ist eine Hütte. Eine Holzhütte, in der Stroh gelagert wird und ich liege mittendrin. Kaleb hat sich wieder abgewandt, als er gesehen hat, dass ich wach geworden bin. Die Erkenntnis ist im ersten Moment wie betäubend. Wie ich es befürchtet und doch verdrängt hatte, war alles nur ein schöner Traum. Natürlich sind wir nicht Zuhause gelandet, sondern sind immer noch auf der Reise ins Unbekannt. Allerdings sind wir nicht mehr in diesem Steinlabyrinth sondern in einer Scheune. Ein neuer Traum? Hat uns das Monster gar verschluckt oder ich phantasiere einfach nur? "Hey, alles okay? Guck nicht so, wir sind in Sicherheit! Wir sind gestern Nacht weitergelaufen und dank der Leuchtkugel haben wir den Ausgang schnell gefunden. Du hast die ganze Zeit geschlafen, kein Wunder weißt du nicht, wo wir sind!" Ich folge ihm nach draußen, wo die Zwillinge gerade ein Feuer machen, um ein Frühstück zuzubereiten. Die Sonne scheint hell und strahlend, als wolle sie alles wiedergutmachen, was uns in den letzten Tagen widerfahren ist. Wir sind hier an einem Waldrand, die Ebene liegt ein ganzes Stück entfernt, ich kann seitlich an einem Hügel vorbei die letzten Mauern nur noch schemenhaft erkennen. Wir haben also den Ausgang gefunden. Und alle sind noch am Leben. Sogar bei bester Gesundheit sind sie, gejagt haben sie auch schon heute morgen. Und bester Laune sind sie ebenfalls. Ich sollte wohl heilfroh sein, dass wir unbeschadet aus diesem Horror herausgefunden haben. Sogar Filc sieht fast schon wieder normal aus, obwohl er schon ein wenig seiner Angespannheit bewahrt hat. Die wird er auch noch eine Weile behalten. Nun.. warum also kann ich mich nicht darüber freuen? Vielleicht liegt es einfach daran, dass mein Traum so schön war. Natürlich ist es toll, dass wir alle noch heil sind, aber noch sehr viel schöner wäre es, wenn wir zwei wieder daheim wären.. Was soll ich da noch groß träumen? Kaum haben wir gegessen, zum ersten Mal seit Langem übrigens, sind wir schon wieder auf dem Weg. Naja, zumindest liegt nichts Gefährliches mehr vor uns, das hat mir Kaleb versprochen, obgleich ich mich frage, woher er das wissen will. Aber die Reise ist morgen definitiv zuende. Ich frage mich, ob ich überhaupt noch ankommen will. Ein Chaos an Gefühlen umhüllt mich wie eine dicke Decke. Erwartung, Sehnsucht, Aufregung, unbestimmte Angst und Unsicherheit. Vor allem bei Filc merke ich, wie er von Stunde zu Stunde unruhiger wird. Mal hat er panische Angst, dann ist seine Erwartungsfreude rießig, hin- und hergerissen zwischen zwei Extremen. Auch Kaleb ist nervös. Und besorgt, er fragt mich alle Stunde, ob es mir gut geht. Ja. Und dann die große Frage. Was passiert danach? Was geschieht, wenn wir alle angekommen sind, die Aufgabe erfüllt wurde und alle sich in die Winde verstreuen? Gehen wir, Kaleb und ich, tatsächlich nach Hause? Oder wird er weiter wandern wollen? Ein neues Ziel? Mein Bruder hat für diese Frage nur ein vages "mal sehen" übrig. Wieder Ungewissheit. Er scheint sich darüber auch keine Gedanken zu machen. Für ihn zählt nur das Ankommen, das uns bald schon bevorsteht. Als wir eine Anhöhe hinaufgestiegen sind, habe ich einen Blick nach Hinten geworfen und habe in weiter Entfernung die Ebene der tausend Mauern gesehen, die sich bis in den Horizont erstreckt hat. Von dem Untier und seinem Gebrüll haben wir nichts mehr mitbekommen. Ich muss immer wieder an dieses seltsame Wesen denken, welches diesen unbeschreiblichen Lärm erzeugt hat und diese Greueltaten. Kaleb reisst mich aus diesen Gedanken. "Da hinten! Da hinten ist es!!" Ein Schwall Aufregung schwappt über die Gruppe wie eine Riesenwelle und alle folgen Kalebs Fingerzeig. Weit vor uns im Nordosten ist ein kleines Gebirge, zackig und nicht sehr hoch, eigentlich keinerlei Hinweis auf Besonderheiten. Aber meine Reisebegleiter steigern jetzt das Tempo deutlich, fiebern dem Gebirge entgegen, das langsam näher kommt. Als wir nah genug am Fuß der Berge sind, erkenne ich auch, was Kaleb gemeint hat. In den Felsen ist ein Tor eingeschlagen. Nicht sehr groß und auch nicht sonderlich kunstfertig gearbeitet, aber es ist auf jeden Fall ein unnatürlich entstandener Eingang in den Berg. "Das ist Pirullah. Der Berg der Väter! Endlich sind wir da!" flüstert Kaleb mir zu und kann sich kaum noch zurückhalten vor Aufregung. "Ich bin selbst zum ersten Mal hier.. wir müssen durch den Berg gehen, nur ein kurzes Stück und dann sind wir da!" "Durch den Berg? Wer hat den Gang hier durchgebrochen?" "Ich weiß nicht" sagt Kaleb und weiß es aber genau. Er ist viel zu nervös und würde am Liebsten gleich hineinrennen. Ich bin froh, dass es nicht mehr lange dauert, denn ich bin schon wieder müde, obwohl es erst früher Abend ist. Die Anstrengungen der letzten Tage hängen mir immer noch in den Knochen und ich würde viel dafür geben, einfach mal einen Tag und eine Nacht lang durchschlafen zu können. Vielleicht ist das ja auch bald der Fall, sie werden wohl kaum sofort wieder den Heimweg antreten wollen. "Wie sieht es mit der Zeit aus? Wann können wir rein?" fragt Yens und setzt sich in der Nähe des Eingangs nieder. Warum gehen sie nicht einfach hinein, wenn sie es die ganze Zeit so eilig gehabt haben? Aber bitte, eine Rast ist mir auch recht.. "Morgen abend. Das Timing ist nahezu perfekt, das ist gigantisch.. das hätte ich nie gedacht! Also, ich schlage vor, wir warten bis dahin dort bei den Bäumen. Schlafen erst mal aus und stärken uns richtig, bevor wir.." Er hält inne und streift meinem Blick. "Vates, warum geht du nicht schon vor und siehst nach, ob man hier gut übernachten kann?" Während ich zu den Bäumen gehe und mich anstandslos gegen einen Stamm lehne, bereden die fünf anderen etwas, das nicht für meine Ohren bestimmt ist. Mir ist es sowieso gleich, ich will ja nichts mit dieser Sache zu tun haben. Aber irgendwas beunruhigt mich dabei, und gleich darauf weiß ich auch, was. Ein Blick geht in meine Richtung, aber nicht heimlich und verstohlen, sondern ganz offen und erkenntlich. Es ist der Kapuzenmann, der sich nicht sonderlich an der Diskussion beteiligt, ihr nur zuhört, mich dabei aber ansieht. Reden sie über mich? Warum schaut er sonst zu mir herüber? Was haben sie vor? Kaleb empfindet den vorgeschlagenen Platz als rast-tauglich und so lassen sie sich zu mir nieder und nach ein paar Mal Hin und Her gehen die Zwillinge wieder etwas zu Essen besorgen. Die Unterhaltung, die bald folgt, ist rein erzwungen. Jeder hat Angst, über das Kommende genau nachzudenken und so flüchten sie sich in eine sinnlose wie völlig uninteressante Diskussion. Ich gehe mich im Wald erleichtern und als ich zurückkomme, höre ich plötzlich, wie das Gespräch in eine ganz andere Richtung verläuft. Die Zwillinge sind zurück, erhitzt, sie haben ein Kaninchen gefangen. Zudem haben sie etwas berichtet, das die anderen in Aufruhr versetzt hat. "Aber.. woher wisst ihr das? Ihr wart doch nicht etwa schon drinnen?!" Ich sehe Yens den Kopf schütteln und bleibe vorsorglich hinter meiner Deckung. Lauschen ist normalerweise nicht meine Sache, aber in diesem Fall halte ich es dennoch für angebracht, endlich zu erfahren, was hier eigentlich los ist. "Nein, es war einer draußen! Wir haben ihn im Wald getroffen! Er sagte, dass alle auf dem gleichen Stand sein müssen, sonst brauchen wir erst garnicht anfangen!" "Aber in dem Buch steht doch.." "Gib her, das gibt es doch nicht! Ich hab es genau gelesen, warte... ehm.. drohcas wilt... eh... hier! Sechs an der Zahl! Und wir sind doch sechs!" "Er meinte aber, wir müssen gleich sein.. ich weiß jetzt auch nicht, was das heißen soll! Er wollte nicht mehr sagen und ist abgehauen!" "Wo ist Vates?" fragt Gabriel und blättert im Buch, das ihm Kaleb hingestreckt hat. Mein Buch. Ist es etwa das, was sie hier wollen? Nein.. das würde Kaleb nicht machen. Kaleb gibt sich nicht wirklich mit verbotener Magie ab, ..oder? Nicht deshalb diese Reise! "Irgendwo im Wald, wahrscheinlich wieder herumträumen mit seinen Bäumen." "Halt die Klappe, das verstehst du nicht! Wenn einer ihn sehen kommt, ist Ruhe!" "Also! Was machen wir jetzt? Mit Filc ist das schon so eine Sache, er kann ja kaum gut genug damit umgehen, dass es klappen könnte - aber Vates ist komplett unmagisch! So funktioniert das doch nie im Leben!" "Na, immerhin hat er diese Gabe, nicht wahr? Und guckt euch seine Augen an! Also ganz hoffnungslos wäre das doch nicht! Man könnte es zumindest probieren!" "Du hast es doch gesehen, bei den magischen Quellen! Sie haben ihn einfach ignoriert, da ist nicht der kleinste Funken Magiebegabung, sonst hätten wir das doch gemerkt! Naja.. ausser wir versuchen es mit Übertragung..?" "Nein, vergiss es! Nicht mit mir!" "Aber wenn du sagst, dass er sowieso einen offenen Geist hat, dann müsste das doch gut funktionieren und.." "Verdammt, du weißt genau, was passieren kann, wenn man mit Gewalt versucht, Magie in einen Unbegabten zu pressen!" "Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Wir sind zu sechst. Zu sechst sollten wir sein und mit Barthel wäre alles gar kein Problem gewesen. Aber jetzt fehlt er und dein Bruder muss ihn ersetzen so gut es geht! Oder willst du jetzt schon wieder umkehren? War der Weg wieder umsonst, Kaleb? Dann bekomme ich aber einen mächtigen Zorn!" "Nein, natürlich nicht! Aber wir könnten es doch auch so probieren! Im Buch ist nur von sechsen die Rede, nichts von Magiebegabten, also.." "Du hast vergessen, dass dieses Buch von Hrya persönlich verfasst wurde. Und glaubst du, er würde dulden, dass dieses Buch mit Unbegabten in Berührung kommt? Wenn er schreibt "sechs" dann sind es sechs Magiebegabte und keine normalen Leute! Mann.. dass wir daran nicht schon vorher.." "Es hilft nichts, wir könnten es auch so nicht erst ohne Übertragung probieren, dafür würde die Zeit garnicht reichen! Also bringen wir Vates Magie bei, zumindest für ein paar Stunden. Es wird ihm schon nichts ausmachen." "Und wenn doch? Dann haben wir erst recht ein Problem!" "Solange sein Körper die Magie speichert, reicht das vollkommen. Und das tut sie bei der Übertragung in jedem Fall! Es spielt ja keine Rolle, ob.." "Ihr könnt doch nicht einfach..?!" "WIR können das. Nur du wieder nicht! Ich sagte ja, das wird noch einmal unser größtes Hindernis! Du musst dich entscheiden was dir wichtiger ist! So eine Chance bekommen wir so schnell nicht wieder!" [ # ] Während dieser Unterhaltung stand ich wie versteinert hinter den Bäumen und konnte mein Herz im Kopf donnern hören. Das also haben sie vor. Sie wollen doch das Buch benutzen. Natürlich. Hrya, einer der wenigen mächtigen Magier, der die Magiekünste so außerordentlich beherrschte und verformen konnte, dass er in den Rat der Sieben Hüte aufgenommen wurde - die Loge der mächtigsten Magier der Erde. Aber dieser Kerl hatte nichts besseres zu tun, als seine künstliche Magie so auszubauen und zu festigen, dass sie sich eines Tages auf ihn selbst entlud und so wandelte er jahrelang als seine eigene magische Schöpfung und wurde für verrückt erklärt. Dieser Mann schrieb nach weiteren zwanzig Jahren geistiger Umnachtung dieses Buch. Die verbotene Magie. Darin stehen alle dunkeln Geheimnisse, die die Magie noch zu verstecken sucht. Wie man aus natürlicher Magie in kürzester Zeit eine eigene Magie formt, die man wahllos einsetzen kann. Wie man geformte und künstliche Magie stabilisiert und am effektivsten einsetzt. Man könnte meinen ein Standartwerk an den Magieschulen, doch dieses Buch enthält auch sehr heikle Kapitel, in denen es um Wesensformung, Flüche und allerhand Dinge geht, die einen unbescholtenen Magiebegabten nichts angehen sollten. Hrya hat diese Zauber nie selbst angewandt, doch einige haben seine Anweisungen im Buch befolgt und infolge dessen einen immensen Schaden angerichtet, den der gesammte Rat der Sieben Hüte selbst wieder nur mit Mühe rückgängig machen konnte. Und diese naseweisen Jungen waren noch Schüler auf einer Magieakademie. Welchen Schaden könnte dieses Buch nur in der Hand eines ausgebildeten Magiers sein? Das Buch jedenfalls war lange verschwunden, tatsächlich gibt es auch nur noch wenige Exemplare davon, da der Rest nach Hryas Tod mitverbrannt wurde. Und eines dieser seltenen Unikate ist jetzt Gegenstand dieser Reise geworden. Und Kaleb ist auch noch Drahtzieher. Das kann ich nicht begreifen. Warum tut er sowas? Warum hat er mich so angelogen? Und noch schlimmer - warum habe ich es nicht bemerkt? "Vates, bist du da?" Kalebs Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und vor Schreck mache ich durch das Laub am Boden ein paar Geräusche. Mist. "Vates?" Es bleibt kurz still, ich weiß jetzt nicht, was ich machen soll. Soll ich stehenbleiben? Soll ich weglaufen? Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, was sie gerade beredet haben, aber das, was ich gehört habe, reicht mir vollkommen. Während Kaleb sich durch die Bäume schiebt, arbeitet mein Gehirn auf Hochtouren. ,Weglaufen' schreit es in mir. Aber meine Beine bleiben stehen und warten auf meinen Bruder. Dass er mich packt und mir das Weglaufen unmöglich macht. Mich wieder mit zu den anderen ans Feuer zerrt und mich ihren bohrenden Blicken schutzlos aussetzt. Sie sind unsicher. Wieviel habe ich mitgehört? Kann ich etwas damit anfangen? "Vates, hör mal.. also das von eben, das war wohl etwas übertrieben.." "Ganz genau. Da du jetzt ja mit uns bis hierher gekommen bist, können wir dich ja einweihen. Also: Wir wollen etwas aus diesem Buch ausprobieren. Etwas eigentlich Harmloses, aber sehr Interessantes! Und dazu brauchen wir eben sechs Personen.. äh.. das mit der Übertragung hast du auch mitbekommen? Ja, gut, es ist so, also eine Übertragung.." "Spar dir das. Vates weiß, was eine Übertragung ist, nicht wahr?" "Woher weiß er das? Hast du ihm schon..?" "Nein, er hat alle meine Bücher gelesen. Nur das hier noch nicht ganz, richtig?" Kaleb tippt auf das Buch und ich fühle mich nicken. Ich bin wie hypnotisiert davon. Kann das wahr sein? Ich sitze hier am Ende der Welt und erfahre, dass mein Bruder Verbotene Magie ausprobieren will und ich soll ihm auch noch dabei helfen. Mit Magieübertragung. Oh ja, natürlich habe ich schon davon gelesen. Normalerweise macht man das mit Gegenständen. Artefakte werden mit Magie vollgepumpt, damit sie eben magisch sind und bleiben, bis sie jemand berührt und dann lassen sie die Magie mit einem Schlag wieder raus. Zumeist ist das ein Fluch, der denjenigen trifft, der das Pech hat, den Gegenstand als erster zu berühren. Aber das ist eine schwierige und hohe Kunst, viel Energie ist notwendig, um Magie in etwas zu pressen, das nicht dafür vorgesehen ist, Magie zu behalten. Und Magie speichern und nicht sofort wieder bei Berührung abgeben - das funktioniert nur bei Menschen. Wie gesagt, bei Menschen ohne Begabung fließt Magie einfach durch sie hindurch, ohne Schaden anzurichten oder nützlich zu sein. Durch Magieübertragung wird ein künstliches "Netz" im Körper der Menschen konstruiert, die die Magie am Durchfließen hindert und somit speichert, bis sich das Netz allmählich löst und die Magie langsam freisetzt. An sich könnte so jeder einmal mit Magie spielen und benutzen, wie auch immer er möchte. Wären diese Übertragungen nicht so gefährlich, denn ein Körper, der nicht für Magie gemacht ist, wehrt sich gegen diese Prozedur, sträubt sich und im schlimmsten Fall kann ein wichtiger Teil des Organismus zusammenbrechen, wenn er der Belastung nicht standhält. Was soll das, Kaleb? "Verstehst du nicht, Vates!? Das ist eine Chance, die sich vielleicht nie wieder bietet! D wolltest doch auch immer scho einmal wissen, wie das ist, Magie zu benutzen. Die tiefsten Geheimnisse der Magie, du wolltest doch auch wissen, was sich eigentlich dahinter verbirgt! Wir alle wollen wissen, wie das vor sich geht, was das überhaupt ist in uns und.. Vates, bitte schau mich an!" "Dafür bist du hierher gekommen?" "Ja weißt du, das funktioniert nur zu einer bestimmten Zeit, wenn nämlich der Südstern hier durch den Berg in das.." "Ich frage dich nochmal: Dafür bist du hierher gekommen?" Kaleb verstummt und starrt mich an. Vielleicht begreift er meine Frage nicht. Wahrscheinlich, denn ich begreife sie selbst nicht. Dafür soll ich an Flußufer fast gestorben sein? Dafür haben wir die schlimmsten vier Tage unseres Lebens im Labyrinth hinter uns gebracht? Dafür waren all die Monate dieser Reise, alle Strapazen und Gefahren? Für die Antwort auf die Frage: Was ist Magie? Die anderen sehen uns unsicher an, für sie ist die Sache klar. Wenn ich nein sage, wird sie trotzdem keiner davon abhalten, ihren Willen durchzusetzen, das spüre ich. "Bitte hilf mir, Vates! Es geht nur mit deiner Hilfe! Lass mich jetzt nicht im Stich! Diese Sache ist für dich völlig ungefährlich, glaub mir - immerhin kenne ich dich doch! Gib dir einen Ruck, dieses eine Mal! Ich verspreche, dass ich das wiedergutmachen werde.. wir gehen danach sofort nach Hause, einverstanden? Aber ich brauche dich jetzt wirklich! Ich würde das nicht von dir verlangen, wenn es mir nicht so wichtig wäre, aber ich kann nur noch daran denken! Bitte!" "Kaleb.." Wenn ich je im Leben eine Bitte von ihm abschlagen wollte, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Aber so sehr sich alles in mir sträubt, so sehr sich auch mein Magen zusammenballt und sich mir die Kehle zuschnürt.. ich könnte doch nicht Nein sagen. Wie sehr habe ich mir gewünscht, er würde soetwas sagen. Vates, ich brauche dich. Du kannst einmal etwas für mich tun, so wie ich soviel für dich getan habe. Darauf habe ich immer gewartet - dass ich einmal unentbehrlich für ihn sein könnte. Vielleicht ist es ja verschroben, aber ich habe mir oft vorgestellt, wie ich Kaleb aus einer Not retten könnte, bei Gefahr würde ich mich ohne zu zögern opfern, wenn er dadurch gerettet würde. Dabei würde mir nichts leid tun, denn ich wüsste, das ich auch einmal etwas für ihn getan hätte. Das hätte mir nichts ausgemacht. Aber das hier... Es ist traurig Kaleb, dass du mein Opfer für solche Zwecke gebrauchst.. [ # ] "Sollen wir ihn.. irgendwo festmachen oder so?" "Er hat gesagt er hilft mir." "Aber vielleicht überlegt er es sich ja anders und läuft heute nacht weg.." "Hör mal Filc.. wenn er sagt, dass er mir helfen wird, dann wird er das auch tun, verstanden? Wehe, einer von euch fasst ihn an!" Der Abend bleibt ruhig und die Anspannung weicht langsam einer bleiernen Müdigkeit. Misstrauische Blicke, bevor sie sich zum Schlafen legen und uns alleine lassen. Der Kloß in meinem Hals ist kleiner geworden, seit ich mich auf seine Knie gelegt habe und er mir durch die Haare streicht. Er will sich erklären, aber das ist nicht nötig. Irgendwann wird er auch stiller und denkt nach. "Weißt du Vates.. manchmal verändern sich Menschen, ohne es zu bemerken. Selbst andere um einen herum bemerken das nicht, weil sie einen nur oberflächlich kennen. Aber jedes Mal, wenn ich dich neben mir sehe, dann weiß ich, dass du mich besser kennst als alle anderen. Und dir fällt sofort auf, wenn etwas nicht mit mir stimmt. Und genau das bemerke ich dann bei dir, an deiner Reaktion, an deinen Blicken. Du bist wie mein innerer Spiegel, weißt du das?" In Gedanken nicke ich. Körperlich bin ich zu müde. "Und mein Spiegel zeigt mir in letzter Zeit kein schönes Bild. Es ist hässlich. Hart und kalt mit zuckenden Augen. Was ist los mit mir, Vates? Warum erschrecke ich, wenn ich mich erkenne? Wie kann ich mich so verändert haben, dass du mich mit ganz anderen Augen siehst wie früher?" Er streicht weiter und lehnt sich mehr zurück gegen den Baumstamm. "Ich habe nachgedacht über diese.. diese Sache da am Fluß.. ich meine, das, was du dort erlebt hast. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, wie das gehen soll, wie sich soetwas anfühlt, verstehst du? Weil mir vielleicht einfach.. der Sinn dazu fehlt. Genau, soetwas wie ein zusätzlicher Sinn, den nur du hast. Für dich ist dieses Wissen ja auch sehr wichtig, nicht wahr? Und.. mit der Magie ist es dasselbe. Ich weiß wie sich das anfühlt, dafür habe ich einen Sinn und ich will jetzt einfach wissen, warum und wie fühlt sich die Antwort darauf an. Und das kann ich nur mit deiner Hilfe erfahren. Es tut mir leid, wenn ich in letzter Zeit etwas merkwürdig war. Ich verspreche dir, dass alles wieder wie früher wird." Das war das letzte, das noch zu mir durchdrang. Er hat wahrscheinlich noch lange geredet und meinen Kopf gestreichelt, aber das habe ich nicht mehr mitbekommen. [ # ] Er hat sein Versprechen gehalten und mich lange schlafen lassen. Erst gegen Mittag bin ich aufgewacht, als schon das Essen über dem Feuer röstete. Ein Festmahl, sie haben einen ganzen Hirsch erlegt. Die Zwillinge werden immer besser im Schnitzen von Waffen zum Jagen und Konstruktionen zum Braten der Beute. Es macht mir nichts aus, dass ich nicht davon essen darf, ich mag Fleisch sowieso nicht besonders gerne. Kein Essen, wenig Trinken. Die strenge Diät ist notwendig, das braucht mir Kaleb nicht zu sagen. Gepresste Magie kann sehr kleinlich sein, wenn es sich auf dem Weg durch den Körper an unnötigem Ballast stößt. Man kann nicht sagen, dass ich keine Angst hätte, denn je tiefer die Sonne klettert, desto wirrer und nervöser hüpfen meine Gedanken durcheinander. Auf die anderen wirke ich wahrscheinlich etwas seltsam, weil ich im Gegensatz zu ihnen nicht zeige, wie es in mir aussieht. Denn aufgeregt sind sie selber schon genug, ich will jetzt nicht noch Holz ins Feuer werfen, dass sie ihre Nervosität an mir auslassen. Kaleb dagegen tut mir leid. Es plagt ihn sehr, er sieht immer öfter zu mir rüber, als würde er jeden Moment vermuten, dass ich ihn im Stich lasse und heulend in den Wald davonrenne. Ach Kaleb.. für dich spiele ich sogar noch den furchtlosen Helden. "Es ist soweit. Wir sollten reingehen, es wird bald dunkel!" "Vates, alles okay? Du bist ein bisschen blaß, soll ich dir was zu Trinken holen?" "Nein, danke." "Hilf mir mal mit dem Hirsch, Yens!" Sie tragen den restlichen Hirsch, von dem noch über die Hälfte übrig ist, mit zum Eingang und warten dort, bis alle zusammen sind. Dann betreten wir gemeinsam die dunkle Öffnung und gehen langsam durch den finsteren Tunnel in den Berg hinein. Hallende Schritte, heftiges Herzklopfen, leises Flüstern der Steinwände, aufgeregte Erwartung, furchtsames Umschauen. Yens und Kaleb keuchen unter dem Hirsch, Filc zupft nervös an seinem Hemd und kaut auf der Unterlippe. Der Kapuzenmann schweigt und läuft hinter mir. Die Geräusche werden lauter. Das Wispern des Berges leiser. Vor Angst zittert mein ganzer Körper. Wenn ich mich irgendwo wohlfühlte - dies hier ist das Gegenteil. Der Berg erdrückt alles Singen zu einem schwächlichen Laut, die Luft wird muffig und feucht, riecht nach Moder und Schimmel. Vor uns ist eine Tür aus Holz, die Angeln quietschen leise, als Gabriel sie aufzieht. Dahinter ist ein kreisrunder Raum, ein paar Fackeln brennen an den Wänden, zwei große Schalen sind entflammt und verströmen heiße, sauerstoffarme Luft. Die Höhle ist nach oben offen, ein Kegel, der nach oben immer spitzer wird. Mit angestrengtem Blick kann man ganz oben noch schwach den Lichtschein der untergehenden Sonne erkennen. Das hier ist also dieser berühmte Ort. Er ist schlicht und doch verströmt er eine solche Ehrfürchtigkeit, dass er prächtiger garnicht sein sollte. Mit leisen Schritten sind bald alle in den Raum getreten und erst jetzt sehe ich eine Gestalt im Feuerschatten, die sich bewegt und auf uns zukommt. Im ersten Moment erschrecke ich so sehr, dass ich zusammenzucke. Vor mir steht der Kapuzenmann. In anderer Kleidung. Dann registriere ich, dass der Kapuzenmann hinter mir steht und die Kapuze ablegt. Die beiden Fremden gleichen sich bis auf den letzten Gesichtszug, diesselben Augen, Münder, Nasen - gleicher noch als die Zwillinge. Es ist, als wären die beiden ein und dieselbe Person nebeneinander. Diese fremdartigen Geschöpfe scheinen sich auch zu kennen, denn der Bewohner dieser Höhle erhebt eine Hand zum Gruß und der Kapuzenmann antwortet ebenso. Kein Wort fällt, als sich der Fremde jeden von uns ansieht, ihn mustert ohne eine Miene zu verziehen. Bei mir zögert er einen Moment, sein Blick ist wie erstarrt, er hat die ganze Zeit nicht einmal geblinzelt. Dann geht er wortlos nach draußen und macht die Tür hinter sich zu. Es ist mir, als würde sich diese Tür für immer schliessen. Und mit einem Mal kommt die Panik. Dieser Raum ist tot. Vollkommen tot! Ich strenge mich an, doch nicht der kleinste Laut, nicht das leiseste Singen herrscht hier, nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist. Aber es ist alles aus Stein! Und Holz! Und das Feuer müsste um so lauter sein mit seinem Gesang. Doch nichts, es ist totenstill. Das einzige Leben in diesem Raum sind wir. Toter Stein, tote Erde, tote Luft. Was ist hier nur passiert? Wer hat aus diesen natürlichen Dingen das Leben herausgesaugt? Es ist wie eine Gruft, der einzige Ort auf Erden, der nur noch aus totem Material ohne Seele besteht! Nein, das ist eine regelrechte Grabkammer! Ich will raus hier! Es ist dunkel und heiß, das Atmen fällt schwer, die Luft steht, ist ausgedünnt von dem Feuer. Die anderen laden den Hirsch ab, werfen dann Teile davon in die großen brennenden Schalen. Sofort wird die Luft getränkt mit dickem, ekelhaft fettigem Rauch, es stinkt nach verbranntem Fleisch, die Augen beginnen zu tränen. Nein.. nein, ich will sofort raus hier! "Vates? Bist du soweit?" Die Stimme scheint von ganz weit her zu kommen. Durch den Rauch und den Gestank fällt es mir schwer, mich zurecht zu finden, eine Hand legt sich auf meine Schulter. Sie bemerkt, dass ich zittere, ich kann es nicht mehr zurückhalten, mein ganzer Körper bebt vor Angst. Ich will das hier nicht, ich muss raus hier! Bitte Kaleb! Bitte sag, dass ich gehen kann! Der Duft des Verbrannten wird immer intensiver, das Ekelgefühl rührt sich in meinem Magen, findet jedoch nichts, das es angreifen könnte und wartet. Der Qualm wird dichter, die Sicht schlechter, die anderen haben sich am Rand aufgestellt, nur Kaleb ist noch neben mir und redet auf mich ein. Ich habe kein Wort davon gehört. Ich habe nur noch Angst. Pure Angst. Mehr Angst noch als in der Ebene der tausend Mauern, als wir vor der Bestie flohen. Damals war es eine sonderbare Angst, so als wäre sie nicht begründet. Aber diese hier ist anders, sie ist so deutlich, trifft mich bis in die Haarspitzen. Meine Furcht ist fast schon greifbar, so deutlich überlagert sie alle Sinne. Ich bin blind, taub und stumm, ich fühle nur solche Furcht, dass ich mich nicht mehr rühren kann. Dieser tote Ort macht mir mehr Angst als das, was noch auf mich zukommen mag, dieser Platz ist.. böse! Leblos, eine Hülle ohne Daseinsberechtigung! Ich ertrage es nicht, dass alles in meinem Kopf stumm bleibt. Alles lebt doch! In allem steckt doch Leben, jeder Kieselstein sprüht vor Lebendigkeit im Sinne! Dieser Ort hier.. er dürfte nicht existieren! Er kann nicht!! Kaleb bemüht sich sehr, mich zu beruhigen, doch nirgends ist etwas, an das ich mich klammern könnte. In mir herrscht eine völlige Leere. Nur chaotische Gedanken und Gefühle der Menschen um mich herum. Wo bin ich? Nichts hier in dieser Umgebung sagt mir: Mich gibt es. Ich lebe. Wir sollten nicht hier sein.. es ist, als würde man erschlagen von NICHTS. Ohne etwas dagegen tun zu können, spüre ich, wie Kaleb mit die Kleidung auszieht, mich zur Mitte des Raumes schiebt und einfach stehenlässt. Meine Beine zittern wie verrückt, ich habe solche Angst! Hauptsächlich Angst vor dieser unfaßbaren Umgebung, denn ich weiß schon, was auf mich zukommen wird. Noch immer bin ich von diesem lähmenden Entsetzen gefesselt, das mich jetzt in die Knie zwingt, noch bevor es überhaupt angefangen hat. Mir ist kalt trotz der Hitze, mein Magen krampft sich zusammen, ich höre ein Summen, aber das sind nur die Menschen. Sie haben angefangen. Es ist zu spät, es geht los, nichts kann das jetzt noch verhindern. Sei stark, Vates! Du schaffst das! Du wolltest deinem Bruder helfen, so tu es auch! Feigling! Vergiss diesen verfluchten Raum und heb die Arme hoch, du weißt schliesslich, was du zu tun hast, also los! So ist es gut.. und jetzt hör auf zu zittern wie ein kleines, ängstliches Kind! Verdammt ich bin ein ängstliches Kind! Nein, nein! Du bist der Bruder, auf den Kaleb später stolz sein wird! Egal was passiert, er wird stolz auf dich sein. Vergessen wir also das wo und was. Kaum habe ich die Arme erhoben, kann ich es kommen fühlen. Das Netz, das sie in mir weben. Es baut sich langsam auf, klettert über die Arme, durch die Brust und breitet sich aus, mein ganzer Geist wird von innen vernetzt, dichter verwoben, ich fühle mich in meinem eigenen Körper gefangen. Mein Herz klopft protestierend, als sich ein magisches, nicht physisches Maschennetz darum legt, es fühlt sich an wie ein Einbalsamieren, nur von innen. Das Gefühl ist unangenehm, überall zerrt und drückt es, nicht körperlich, aber mental genauso real, als würde jemand in mir wühlen. Das Netz ist fertig. Nadel und Faden ziehen sich zurück und verformen sich zurück in Energie. Mein Körper kribbelt, ich halte unbewusst die Luft an. Und dann, in einem ersten Stoß aus purer Magie, bricht sich die Welle durch meinen Körper, bleibt in den Maschen hängen, drängt nach draußen, mein Leib stößt die Magie ab, will sie durch das Netz drücken, ich schreie auf vor Schmerz, es ist, als würde ich bersten. Die nächste Ladung kommt sofort, eine Unmenge an Energie prallt auf die erste, schon tobende Kraft, die in alle Richtungen quillt und in meinem Kopf explodiert. Mein Magen stülpt sich nach aussen, meine Lunge schickt Notsignale, wird fortwährend zusammengepresst wie auch die anderen Organe. Magie durchbricht die Zellen der Adern, Knochen, jedes einzelne Tröpfchen Blut wird infiziert. Alles in mir tobt, die Schmerzen sind unbeschreiblich, das Netz hält zwar, doch bekommt Dellen und Beulen, die Organe werden eingedrückt. Dann ist ein Herzschlag lang Pause, das Toben wird zum Strudel und wabbert am Netz entlang, schaut sich alles genau an, sucht eine Lücke im Zaun. Irgendwoher kommt eine Stimme, sie sagt, ich solle mich wieder aufsetzen, aber ich spüre nicht, dass ich liege. Seltsamerweise gehorchen mir meine Glieder, ohne dass ich sie überhaupt fühlen kann. Mein Oberkörper richtet sich auf, ich sehe an die Decke, die es nicht gibt. Zaghaft hebe ich die Arme, sofort beginnen sie wieder, wie ein greller Blitz zuckt es jetzt von allen fünf Seiten direkt aus den Armen in mein Gehirn, ich war diesmal nicht vorbereitet, der Schlag trifft mich ungebremst, die Umgebung schreit grell auf. Eine perfekte Dunkelheit um mich schwankt, kippt, mein Rücken prallt auf den warmen Boden. Mein Kopf donnert, wie er vollgestopft ist mit Schmerzen, wirren Gedanken, überall begegnet mir Erwartung, Unsicherheit, Ungeduld, Verachtung. Ich weiss, dass es noch nicht vorbei ist, sie warten alle, die Stimmen im Kopf werden wütender, abschätzender, alles ist so durcheinander. Ich kann nicht mehr, mein Schädel scheint zu platzen. Schützend lege ich meine Hände aufs Gesicht, die Berührung brennt wie Feuer in den Fingern, ich spüre heisse klebrige Flüssigkeit auf der Haut. Jemand zieht mir die Hand vom Gesicht, ich reisse die Augen auf, sehe aber niemanden. Eine Stimme ertönt über mir, ich kenne sie gut, sie zu hören beruhigt mich, der tiefe Klang macht die Schmerzen erträglicher. Trotzdem habe ich Angst, ich habe einfach nur Angst, dass irgendetwas mit mir passiert, dass igendetwas in mir verlorengeht, es beginnt schon jetzt. Ich fühle, wie eine kühle Hand meine heissen Finger berührt und ich versuche das tobende Chaos in meinem Schädel zu beruhigen. "Das hast du gut gemacht bis jetzt. Alles okay?" flüstert es leise an mein Ohr und eine Hand streicht ein paar klatschnasse Strähnen zur Seite. Ich nicke vorsichtig, mein Kopf scheint zu glühen. Ich will nicht mehr. Ich will weg von hier. Ich habe Angst. Das Netz in mir vibriert vor Spannung, mein Kopf wird einfach aufreissen, wütend schlägt die Magie um sich, stößt gegen Gedanken und Gefühle. Wo bin ich? Und warum ist mir so heiß? Ein tiefes Dröhnen rollt durch meinen Kopf, es brummt so grässlich, dass meine Ohren zu pfeifen beginnen. Jemand berührt mich, ich fühle wie die Hände mich aufsetzen, dann ziehen sie mir die Arme über den Kopf. "Nur noch ein bisschen.." flüstert die Stimme und ich beisse mir auf die Lippen. Was passiert hier? Es ist der Raum. Dieser schreckliche Raum.. und die anderen.. Mein Kopf dreht sich, als sich die zerfetzten Erinnerungsteilchen wieder finden und mir wie ein Mosaik ein lückenhaftes Bild von den letzten Ereignissen darlegen. Aber diese erschreckenden Bilder währen nicht lange. Sofort beginnen die Gestalten wieder, sie murmeln erneut, ich kann sie jetzt ganz genau hören, meine Sinne sind unendlich scharf, die Hitze unerträglich. Diesmal folgt kein Blitzschlag, es knistert nur leise, die Magie schleicht. Heisses Blut läuft über meine Finger, als die Haut wieder aufreisst. Die Energie fließt jetzt fast ungehindert, füllt mich allmählich ganz aus, wie ein Glas, das mit Wasser gefüllt wird. Dann läuft das Glas über, die Energie sickert langsam wie Honig, fast zärtlich durch die Maschen. Ich sehe winzige Lichtpunkte vor den Augen tanzen, glimmende Funken aus meinen Fingerspitzen, Funken voller Magie. Meine Magie. Hier hast du sie, Kaleb, hier hast du meine Magie. Siehst du es? Und auch die anderen sehen es und machen sich bereit. Über mir ist Dunkelheit. Nur ein schwaches Glimmen, direkt über mir. Es ist der richtige Zeitpunkt. Der Südstern steht direkt über uns. Es ist Zeit. Zeit..für was? ... wo bin ich? [ # ] Kapitel 7: Epilog ----------------- Epilog Mein Name ist Vates. Dies ist leider alles, was ich zu meiner Person mit absoluter Gewissheit sagen kann. Ach ja und ich habe.. oder hatte.. einen Bruder. Es muss schon sehr lange her sein, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe; denn ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie er aussah. Aber vielleicht muss das nichts bedeuten, denn ich kann mich an viele Dinge nicht mehr erinnern. Zum Beispiel, wo ich herkomme. Und wo mein Ziel ist. Es ist nicht so, dass ich nichts über mein Leben wüsste, nur fehlen eben große Teile davon. Ich habe eine Familie, das weiß ich auch sicher. Eine Mutter, ein Vater, Geschwister. Aber ich glaube, ich würde sie nicht wiedererkennen, wenn ich ihnen begegnete. Namen, Gesichter, Gefühle.. die Stellen in meiner Erinnerung sind leer wie ein unbeschriebenes Blatt. Ich habe so vieles vergessen, dass ich manchmal Angst habe, es könnte etwas sehr Wichtiges sein. Was ich jetzt machen soll? Ich werde ihn suchen. Meinen Bruder. Wahrscheinlich werde ich ihn niemals finden und selbst wenn - werde ich ihn wohl nicht erkennen. Aber diese eine Stimme in meinem Kopf ist das einzige, was ich noch habe und ich spüre, dass es wichtig ist, ihr zu folgen. Was soll ich sonst schon tun. [ # ] Das Schloss an der Schranktür knirscht leise. Es scheint sich zu beschweren, dass jemand ungebeten so lange durchs Schlüsselloch gespäht hat. Lassen wir es lieber in Ruhe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)