Die verlorene Prophezeiung von hanni-chan (Kapitel 14 nach längerer Wartezeit fertig) ================================================================================ Kapitel 1: Der Brief -------------------- So BUTTER, endlich bin ich mit diesem Teil fertig. Hat ja auch lange genug gedauert oder? Aber ich war noch einmal für 'ne Woche im Urlaub, dass trägt seinen Teil dazu bei. Vielen vielen Dank für dein Kommi. Übrigens, ich weiß das der Teil ein bisschen kurz geraten ist, aber wenn ich in Kapiteln schreibe ist es immer so wenig. Nicht so wie bei dir... Ich habe nichts dagegen wenn du mir wieder ein Kommi schreiben würdest, oder Kritik oder Tipps. Viel Spaß noch beim Lesen! Natürlich freue ich mich auch über neue Leser dieser FF. Kapitel 1: Der geheimnisvolle Brief Ohne weiter nachgedacht zu haben, spazierte Henry die Madison Street entlang und schlug dann den Weg in den nahe gelegenen Wald ein. Inzwischen hatte es wieder angefangen zu regnen. Obwohl, regnen war eigentlich der falsche Ausdruck. Schließlich kamen nur sehr kleine Tropfen auf der Erde an. Nieseln würde es schon eher treffen. Trotzdem kehrte Henry nicht um, sein tägliches Jogging war ihm viel zu wichtig, als dass er sich von den kleinen Tröpfchen vom Laufen abhalten lassen würde. Der Junge begann mit seinem .Jogging. Während er rannte und langsam ein wenig aus der Puste kam, hatte es inzwischen aufgehört zu nieseln. Schnaufend lief Henry immer weiter und tiefer in den Wald hinein. An seinem Lieblingsplatz stoppte er und setzte sich in das leicht feuchte Moos; die hohen Bäume hielten die meisten Tropfen vom Erdboden fern und fingen sie vorher mit den Blättern ab. Er schaute hoch in die Baumkronen und drohte schon wieder, sich bei diesem Anblick völlig zu vergessen. Diese alten- und für Henry magischen- Bäume schafften es fortwährend, ihn zu besänftigen und gaben ihm auch wieder seine fast vollkommen vergessenen, aber trotzdem geliebten Erinnerungen an seine Eltern zurück. Früher konnte sich Serenas Neffe an jede Einzelheit seiner Erziehungsberechtigten erinnern. An ihre Angewohnheiten, ihre Stimmen, ihr Aussehen, ihren Geruch. All diese Erinnerungen verblassten in den letzten Monaten, bis ihr Sohn sich nur noch dunkel daran zu erinnern vermochte. Deswegen kam Henry auch immer wieder zu dieser im Verborgenen liegenden Lichtung. Bis vor acht Monaten ging er regelmäßig mit seinen Eltern dorthin, zu einem Picknick. Jetzt, wo sie nicht mehr am Leben waren, besuchte er diesen Ort nicht mehr so häufig. Die erste Zeit fand er nicht die Kraft dazu, diesen Platz voller Erinnerungen wieder aufzusuchen. Doch nachdem er den Verlust seiner Liebsten einigermaßen verkraftet hatte, beschloss er, wieder zu dieser Lichtung zu gehen. Sie gab ihm all das von seinen Eltern zurück, was er schon längst vergessen und verdrängt hatte. Und nur dort wagte er es, der Vergangenheit nachzuhängen. Aber heute dachte er nicht an Anna und Lucas Curson, seine Eltern. Heute beschäftigte ihn der Brief, den ihm seine Tante noch gegeben hatte, bevor er mit seinem täglichen Jogging begann. Henry hatte ihn mit zum Laufen genommen und nahm ihn nun hervor. Von wem dieser Brief wohl stammen könnte? Und dazu noch ohne Anschrift, ein Absender ist ebenfalls nicht zu finden. Das ist alles ziemlich merkwürdig, fragte sich Henry und wollte neugierig, wie er nun einmal war, den Brief öffnen. Doch vorher begutachtete er ihn noch einmal eingehend. Der Rand des Umschlages war mit silbernen Schnörkeln versehen worden, doch stellten sie seiner Meinung nach nichts Besonderes dar. Es war weder ein Absender zu finden noch seine Wohnanschrift, bloß sein Name befand sich dort in hellblauer Farbe nieder geschrieben, wenn auch nur schwer erkennbar, durch die kleine, reichhaltig verzierte Schrift. Der Junge zog eine Augenbraue hoch und war sich nicht ganz sicher, ob er das ernst nehmen sollte und es nicht doch besser wäre, ihn nicht zu öffnen. Doch im Endeffekt triumphierte seine Neugierde über das Misstrauen und er betrachtete den Umschlag von neuem. Auf der Rückseite des Briefes befand sich ein schwarzes Siegel, auf dem alte Runenzeichen abgebildet waren. Als der 14-Jährige vorsichtig versuchte das Siegel zu lösen, begann es auf einmal strahlend hell zu leuchten. Dadurch schmolz das Siegel weg und der Brief öffnete sich von ganz alleine. Um sich besser konzentrieren zu können, beschloss Henry, sich den Inhalt laut vorzulesen: Enlérect naihum ronçag, el mept set rité rupo denprer not stined. At négre set ne gerand. Els chamnestéd ed Jierde tenrivende tônirebta at négre saisel ne libouer. Rupo tecte sirona li et tufa igar saisel ivet queu blissope. Truvæ el phéotoris ruperd rupo vuresa at négre. Moçem derai ej ín neu enfille itule: Orétue els arseplo, orétue tom saituho, li em tufa ellar ed ruerto, romerd lensilment el ileus sieuv, íçià tom euril. En larep nospernen te en et termon nosperen eç saïblar varisar ne têcressement, em noriduçé ed saïblar, à alparça qui t ’endma.” Henry legte die Stirn in Falten und fragte sich, ob sich da jemand mit ihm einen Scherz erlaubt hatte, denn er verstand kein Wort des Textes, der sich im Gegensatz zu seinem Namen deutlich besser lesen ließ. Der Schreiber hatte bei dem Geschriebenen auf wertvolle Verziehrungen verzichtet. Verfasst wurde der Inhalt des Briefes in derselben Farbe, die schon sein Name auf dem Umschlag trug. Das Schreiben brachte ihn sehr zum Grübeln, er überlegte, woher es stammen könnte. Um besser nachdenken zu können, schloss der verwirrte Junge die Augen. Plötzlich lief eine Szene vor seinem inneren Auge ab: Eine Frau rannte mit einem schreienden Kind an der Hand aus einem brennenden Haus heraus und murmelte genau so fremdartige Worte wie die, die in dem Brief standen, den Henry gerade gelesen hatte. Auf einmal umhüllte ein gleißendes Licht den, wahrscheinlich achtjährigen Jungen, als er sich langsam in der Luft erhob. Hinter der Frau krachte es und ein hoch gewachsener dürrer Mann mit langen grauen Haaren rannte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, geradewegs auf die Frau zu. In der Realität begann es erneut zu regnen, diesmal von einem kräftigen Gewitter begleitet, welches Henry überhaupt nicht wahrnahm. Kurz, bevor er sie von hinten packen konnte, gab es einen Knall und der kleine Junge war spurlos verschwunden. Vor lauter Wut schrie der alte Mann und erstach die Frau schließlich. Er fluchte nur einige Worte, mit einer kalten und furcht einflößenden Stimme, bei denen Henry urplötzlich zusammenzuckte. “Warte nur, ich werde dich finden und dann werde ich dich töten, HENRY THUIL!“ Die letzten Worte schrie er mit hasserfüllter Stimme, bevor er sich auf einmal dematerialisierte. Mit einem fassungslosen Schrei öffnete Henry die Augen und verstummte abrupt. Denn der Junge hatte etwas sehr wichtiges über sich herausgefunden, er war nicht von dort. Alte Erinnerungen, dessen Herkunft sich der Junge nicht einmal erklären konnte, strömten durch ihn hindurch. Ein kleiner Junge mit haselnussbraunen, verwuschelten Haaren stand auf einer Brücke und sah auf das darunter liegende Gewässer hinab. In der Hand hielt er einige Steine, die er nach und nach in das Wasser warf. An der Stelle, wo der Kiesel mit der Oberfläche des Sees in Berührung kam, entstanden immer größer werdende Kreise, die sich schließlich bis zum Ufer ausbreiteten. Neugierig folgte der Blick des kleinen Jungen diesem Schauspiel. Er wiederholte diesen Vorgang mehrmals, bis er keine Steine mehr übrig hatte. Der kleine Henry verschränkte seine Arme auf dem Geländer und legte den Kopf darauf nieder. Betrübt schaute er auf das ruhige Wasser herab und dachte darüber nach, was seine Schwester ihm gesagt hatte. „Du kannst nicht immer im Mittelpunkt stehen, Henry, das geht nicht! Du musst auch mal auf andere Rücksicht nehmen, ich kann nicht jeden Tag mit dir spielen, ich habe auch meine Pflichten zu erfüllen, versteh das doch. Tu mir den Gefallen und lass mich endlich in Ruhe, du nervst! Jedes Mal muss einer den Kopf für dich herhalten, du denkst nicht nach, bevor du etwas unternimmst und andere dürfen dann die Konsequenzen für dich ausbaden. Wie kann man seine Stellung nur so missbrauchen? Ist dir eigentlich klar, dass du unsere gesamte Familie durch deine Unternehmungen bloßstellst?! Nein, denn du handelst erst und denkst dann darüber nach. So kann das nicht weiter gehen, ich habe es so satt. Werde endlich etwas vernünftiger und tu zur Abwechslung etwas Sinnvolles und bereite unseren Eltern nicht immer solchen Kummer!“ Ihre Worte hatten ihn schwer getroffen und er versuchte sich einzureden, dass sie falsch lag und nur neidisch auf die Aufmerksamkeit der anderen war. Doch tief in seinem Inneren erkannte er den Trotz, den er an den Tag legte. Ihm war bewusst, dass er sich im Unrecht befand, eingestehen wollte er sich das allerdings nicht. Er nahm hinter sich Schritte wahr, drehte sich jedoch nicht um. Eine Hand legte sich auf seinen Kopf und strich ihm zärtlich übers Haar. Er hob seinen Kopf und schaute über die Schulter hinter sich, um zu sehen, wer ihm da Gesellschaft leistete. „Es tut mir Leid!“ Henry drehte sich nicht um und erwiderte nichts auf die Entschuldigung. Stumm sah er wieder aufs Wasser und ignorierte sie völlig. „Ich hätte das alles nicht sagen sollen, Henry! Du nervst mich nicht; ich war gerade sehr beschäftigt und stand unter höchster Konzentration.“ Noch immer kehrte ihr der Jüngere den Rücken zu; man konnte jedoch an seiner Haltung deutlich ablesen, dass er ihren Worten lauschte. Die Schultern leicht hochgezogen, den Kopf gesenkt und verkrampft auf das Wasser starrend, darum bemüht, gefasst zu wirken, ließen zunächst darauf schließen, dass er seine Schwester noch immer ignorierte. Doch je mehr sie zu ihm sprach, desto mehr spannte der kleine Junge seinen Körper an und seine Haltung wurde von Mal zu Mal steifer. Lidera deutete dies als Zeichen dafür, dass er darauf wartete, dass sie weiter sprach. „Es fällt mir noch sehr schwer, meine Kräfte anzuwenden, ich lasse mich noch zu leicht ablenken. Du hattest dir den falschen Zeitpunkt ausgesucht, um mich anzusprechen und mit mir spielen zu wollen. Momentan bin ich wirklich sehr in diese Übungen eingebunden und das wird noch eine Weile so bleiben. Ein anderes Mal vielleicht, okay?“ „Das sagst du so oft. Du hast schon lange nichts mehr mit mir gemacht und vertröstest mich dauernd. Wenn du keine Lust hast mit mir zu spielen, dann sag es, aber lüg mich nicht an, das ist nicht fair.“ Der anfangs so giftige Tonfall schlug in einen sehr verletzten Klang um. Dem Kleinen liefen bittere Tränen über die Wangen, bestürzt darüber, wie seine Schwester mit ihm umging. „Du hast mich gar nicht mehr lieb. Ich hasse dich!“ Er drehte sich um, stieß sie zur Seite und rannte die Stufen der Brücke hinunter. Durch die Tränen war seine Sicht sehr verschwommen. Er sah den Weg vor sich nicht mehr und achtete auch nicht weiter darauf, wohin ihn seine Schritte führten, sodass er prompt eine falsche Abzweigung nahm und nun einen Pfad beschritt, den er bisher nie betreten hatte. Entsetzt über die heftige Reaktion des sonst so sanftmütigen Jungen hastete sie, nachdem sie verarbeitet hatte, was gerade geschehen war, ihrem Bruder hinterher. “Henry, das ist nicht wahr!“, rief sie, „so warte doch verdammt noch mal, nicht da durch!“ Ihr Ruf kam zu spät, er war bereits durch die Barriere hindurch gerannt und nun für sie weder erreichbar noch sichtbar. Zögernd stand sie vor der Abgrenzung, nur ein weiterer Schritt, und sie würde bei ihm sein. Sie hatte Angst vor dem, was dort lauerte, doch letztendlich siegte ihre Sorge um den Prinzen über ihre Furcht und sie trat hindurch. Der Pfad verlief ganz normal weiter, wer nicht wusste, dass dort etwas Verborgenes lag, würde nie einen Unterschied bemerken. Ihr kleiner Bruder war gerade dabei, einen kleinen Fluss, der aus dem See durch einen Wasserfall entstand, zu überqueren. Mit Hilfe von vier großen Steinen konnte man an das andere Ufer gelangen, Henry befand sich gerade mitten im Sprung vom Zweiten zum Dritten, ohne jedoch den Schatten hinter sich zu bemerken, der dabei, sich aus dem Wasser zu erheben. Angsterfüllt weiteten sich ihre Augen und ohne darüber nachzudenken rannte sie auf das Etwas hinter dem Jungen zu, sprang über es hinweg und stellte sich genau zwischen die beiden. Ihr Bruder sprang unbekümmert weiter und ignorierte sie völlig, dachte, sie wolle ihm nur folgen und ihm weitere Lügen auftischen. Ohne etwas von den Geschehnissen hinter sich zu erahnen, hatte er das Ufer erreicht. Das Wesen hatte sich inzwischen zu seiner vollen Größe aufgerichtet und aus dem Wasser erhoben. Dem Mädchen, das vor ihm stand, schenkte er keinerlei Beachtung. Es wollte sich auf den Jungen auf der anderen Flussseite stürzen. „NEIN, HENRY“, rief Lidera und wollte sich dazwischen werfen, um ihren geliebten Bruder zu schützen Doch wie aus dem Nichts kam ein blonder Junge hervorgeschossen, stieß Lidera zur Seite und fing den Angriff ab. Lidera landete mit einem spitzen Aufschrei unsanft auf einem der Steine, schlug hart mit dem Kopf auf und blieb regungslos halb im Wasser und halb auf dem Stein liegen. Von dem Aufschrei seiner Schwester verwirrt drehte dieser sich um und sah nur noch, wie die Kreatur den Blondschopf mit voller Wucht erwischte, an ihm abprallte und wieder im Wasser verschwand. Das blanke Entsetzen stand dem Jüngeren ins Gesicht geschrieben. Der andere Junge lag bewusstlos auf dem letzten Stein, eine klaffende Wunde, die quer über die Brust verlief und aus der noch immer Blut sickerte. Seine Schwester lag nur knapp einen Meter daneben, außer Gefecht gesetzt und mit blutverschmiertem Gesicht. Der Junge kniete sich neben sie und starrte sie fassungslos an. Mit seinen kleinen Händen umfasste er ihr blasses Gesicht und fing bitterlich an zu weinen, er hielt sie für tot. „Nein, das… das, WARUM?“ Der Kleine wurde kreidebleich. „Ich- das- ich… ich wollte das nicht. Es ist alles meine Schuld, Lidera, oh nein. Ich hasse dich doch nicht. Ich liebe dich Schwester, lass mich nicht alleine! Was habe ich nur angerichtet?“ Verzweifelt sah er sich um, er hatte zwei Menschen auf dem Gewissen! Den Rest der Szene bekam der gegenwärtige Henry nicht mehr mit, es hörte ohne Vorwarnung auf. Dafür liefen immer weitere Szenen vor seinem inneren Auge ab, bis sie ineinander übergingen, zu einem gleißenden Strudel verschiedener Farben verschmolzen und endgültig verschwanden. Geschockt von dem, was er da sah, wurde er leichenblass. Das alles kam ihm so real vor, als wäre es tatsächlich geschehen. Aber das konnte nicht sein. Dieses Mädchen hatte er noch nie in seinem Leben gesehen und dennoch, der gesamte Ablauf kam ihm so vertraut vor, der kleine Junge hatte dieselben Augen und Haare und sogar denselben Namen wie er. Konnte dies tatsächlich ein Zufall sein? Sein Kopf pochte schmerzhaft und fühlte sich an, als würde er sich enger und enger zusammenziehen, um dann irgendwann zu zerspringen. Das Bild, wie der Kleine seine Schwester im Arm hielt, schlich sich in seine Gedanken und bescherte ihm nur noch mehr Kopfzerbrechen. Was hatte es damit auf sich? Warum erschienen ihm plötzlich, nachdem er dieses seltsame Schreiben gelesen hatte, solche Szenen? Und weshalb sah das Kind genauso aus wie er, als er in dem ungefähren Alter war? Immer wieder kamen ihm die Wörter Henry, Lidera und Schwester ins Gedächtnis und ließen ihn nicht los. Kurz drängte sich ihm die Frage auf, ob er diese kleine Person war, doch sobald ihm dieser Gedanke kam, wischte er ihn auch schon wieder fort. Er hatte keine Geschwister, für dieses Phänomen musste es eine einfache logische Erklärung geben. Vielleicht hatte er sich durch den Regen was weggeholt und fantasierte nur etwas, ja das musste es sein. Aber auch dies erschien ihm unwirklich. Der Junge musste wissen, wie das ganze ausging, doch egal wie sehr er sich anstrengte, die Szene wollte einfach nicht weiter laufen und je konzentrierter er versuchte sie aufzurufen, desto mehr Kopfschmerzen kamen hinzu, so ließ er es resigniert bleiben. Er stand auf, mit der Absicht lieber nach Hause zu gehen, für den Fall, dass mit ihm doch nicht alles okay war. In dem Moment erschien ihm noch ein kurzer Bildabriss. Ein großer, breitschultriger Mann mit ebenso verwuscheltem, haselnussbraunen Haar stand neben einer Frau mit langem, silberfarbenem Haar, das ihr gewellt bis zur Taille ging. Die beiden hatten die Hände je auf den Schultern des Kindes vor ihnen zu liegen. Ein schwarzhaariges Mädchen und ein deutlich kleinerer Junge mit demselben braunen Haar, wie der Mann hinter ihm es besaß, standen vor den Erwachsenen. Allesamt trugen sie lange weiße Gewänder, die an den Rändern mit goldenen Fäden bestickt waren. Der Mann und die Frau hatten ihre Hände auf den Schultern der Kinder vor ihnen und lächelten zufrieden. Der Kleine drehte sich um und strahlte den Mann glücklich an. „Papa, das ist ja ein wunderschönes Wesen. Und das gehört ganz sicher zu mir?“ „Ja, Henry, sie gehört zu dir, ganz recht. Nun hast du auch eine, behandle sie respektvoll und betrachte sie als gleichwertig, mein Sohn, und du wirst sehen, dass sie sich genauso behandeln wird!“ Lachend strich er seinem Jungen durch das Haar und zerwuschelte es ihm noch mehr, als es ohnehin schon war. „Siehst du, Lidera, jetzt hab ich auch eine Freundin!“ Seine Schwester musste über ihren kleinen Bruder schmunzeln. Zu süß fand sie den Anblick, wie er so verträumt dastand und seine hellblauen Augen vor Freude zu funkeln schienen. Seine Mutter beugte sich zu ihm herab, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sprach mit einer ganz weichen und sanften Stimme: „Mein kleiner Junge wirst du trotzdem bleiben, auch wenn du nun eine Gefährtin haben solltest. Wir alle lieben dich und werden dich genauso beschützen, wie sie es tun wird, weil wir eine Familie sind. Im Herzen sind wir immer vereint, egal welche körperliche Entfernung wir haben; unsere Seelen sind alle miteinander verbunden, vergiss das nie, Henry!“ Wieder verschwamm der Rest und er hatte ein ganz flaues Gefühl in seiner Magengegend. Auch diese Szene hatte sich so verdammt echt angefühlt, noch immer verspürte der Junge diese wohlige Wärme tief in seinem Inneren, trotz des Regens, der ihn komplett durchnässt hatte. Noch einmal rief er sich dieses Bild der Familie vor Augen. Der Junge war dem Mann hinter ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Dasselbe Haar, dieselben hellblauen Augen, die nur so zu funkeln schienen vor Lebensglück. Nein, dies war kein Zufall. Aber wie konnte er dieses Kind sein? Er sah keinem aus seiner Familie ähnlich. Er hatte weder blondes Haar noch grün-graue Augen. Ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn, doch er schüttelte heftig den Kopf und weigerte sich, auch nur ein paar Sekunden länger daran zu denken. Und was wenn doch? Wenn ich eben in diesem Bilderfluss meine richtige Verwandtschaft gesehen habe? Zweifel befielen Henry und er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Hätte er tatsächlich eben seine Familie gesehen würde das bedeuten, dass er nie ein Mitglied der Cursons war. Es traf ihn wie einen harten Schlag, er wollte nicht weiter denken, doch je mehr er sich wehrte, umso mehr musste daran denken. So langsam ergab alles einen Sinn. Die Verstocktheit seiner beiden Großeltern zu ihm, die Fotoalben, die erst kurz nach seinem 6. Lebensjahr begannen, die mitleidigen Blicke der Nachbarn, die heftigen Diskussionen, die seine Eltern abends führten, wenn sie annahmen, dass er schon längst schlief, die fehlende Ähnlichkeit zu den anderen Familienmitgliedern, seine schmalen, mandelförmigen Augen, die niemand anderes besaß, den er kannte. Er schaute auf die Nachricht in seiner Hand, mit der alles angefangen hatte. Er fühlte sich, als ob man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Eine bleierne Leere breitete sich in seinem Inneren aus und verdrängte die Wärme, die er bei dem Anblick des Bildes verspürt hatte. Diese Szenen, sie schienen tief aus mir heraus zu kommen, als wären sie im hintersten Winkel meines Gedächtnisses vergraben worden und hätten nur darauf gewartet, wieder hervorgeholt zu werden. Als ob es Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit wären! Doch das würde bedeuten…Nein, das kann nicht sein. Aber wieso laufen dann plötzlich lauter solche Szenen vor meinem inneren Auge ab, seitdem ich dieses Ding hier bekommen habe? „ES KANN NICHT WAHR SEIN!“ Und warum hast du plötzlich solche Visionen, die nichts mit deiner angeblichen Familie zu tun haben?, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf und flüsterte ihm immer weitere Sachen zu. Henry wurde mit jedem Wort, dem er lauschte, blasser. Ein dumpfes Gefühl überkam ihn und ihm wurde richtig übel zu Mute, als er sich der Worte, die ihm zugewispert wurden, bewusst wurde. Alles, was er bisher erlebt hatte, war eine Lüge. Seine Familie war nicht echt, seine Herkunft ihm fast gänzlich unbekannt, da es zu lange her war. Es war alles eine Täuschung und er fühlte sich verraten. Der 14-Jährige starrte fassungslos den Brief an, der für ihn nun Sinn ergab. Irgendjemand hatte ihm einen Anstoß gegeben und diese Informationen, die die ganze Zeit in ihm schlummerten, geweckt. In Gedanken übersetzte sich Henry das Schreiben und ein winziges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Er hatte die Chance, all dies herauszufinden, er musste nur den Anweisungen folgen; er würde herausfinden, wer er war und warum er nicht bei seiner richtigen Verwandtschaft bleiben konnte. Auserwählter Egorth, Henry, die Zeit ist nun reif, deinem Schicksal entgegen zu treten. Dein Reich schwebt in großer Gefahr. Die Truppen von Jierde werden bald in dein Reich ein- dringen, um es für immer zu zerstören. Deswegen musst du so schnell wie möglich handeln. Kehre nach Hause, nach Egorthanà zurück und suche die verlorene Prophezeiung, um dein Land zu verteidigen. Als Hilfe wird dir dies hier nützlich dienen: Hör die Worte, hör mein Flehen, muss noch heute wieder gehen. Lass mich übertreten die trennende Schwelle, trag mich zurück an meine wahre Stelle. Ich spreche nicht und zeig mich keinem, denn das alles muss passieren im Geheimen. Bring mich noch heute von hier fort, zu dem auf mich wartenden rechtmäßigen Ort! Der Junge musste zunächst das Geschriebene verdauen und sich dessen Bedeutung klar werden. Er hatte so konzentriert nachgedacht, dass er das Gewitter nicht einmal bemerkt hatte. Aber Henry kümmerte sich nicht darum, hatte er doch nun die Chance auf seine Fragen und das Gefühlschaos, welches der Brief in ihm ausgelöst hatte, Antworten zu finden. Ohne auf das Unwetter und den sehr starken Regen zu achten, las er mit lauter, aber dennoch leicht zitternder Stimme den Spruch vor. Erst passierte gar nichts, doch dann spürte der Junge einen starken Sog unter seinen Füßen, der ihn mitriss. Nach einigen Minuten befand sich Henry an einem komplett anderen Ort, mit anderen Wetterbedingungen. Erwartungsvoll öffnete er die Augen, die er aus Reflex geschlossen hatte. Ihm bot sich ein Bild, das seine Erwartungen deutlich überstieg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)