Eden von winterspross ================================================================================ Kapitel 6: Six -------------- Six ~für Jan~ Er liegt da und sieht mich mit großen blauen Augen an, als ich ihm eine Geschichte erzähle. Sie handelt von zwei Jungen, die auf einer einsamen Insel gestrandet sind. Etwas anderes kann ich ihm doch nicht erzählen, wie sollte ich auch? Ich weiß keine Geschichten mehr. Keine Bilder in meinem Kopf, nur Bruchstücke. Früher, das weiß ich noch, da hat mir mein Vater Märchen erzählt. Doch jetzt? Ich weiß sie nicht mehr. Sie sind mit meiner Vergangenheit aus meinem Kopf gespült worden und leben nur noch als Erinnerungsbrocken weiter. Der Kleine scheint aufmerksam zuzuhören. Ob er mich versteht, weiß ich nicht. "Hey. Sag doch was." Er verzieht seinen Mund für einen kurzen Augenblick zu einem Lächeln, dann sieht er mich wieder groß an. Er versteht mich nicht. Zumindest versteht er kein Französisch. Verdammt... Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen? Hoffentlich ist er nicht taub. Ich versuche es mit den wenigen Brocken Deutsch, die ich mir aus dem Unterricht gemerkt habe. Er hört mir zwar aufmerksam zu, antwortet aber nicht. Und was jetzt? Ich kann es nur noch mit Englisch probieren. Da kann man nur hoffen, dass er meinen französischen Akzent versteht. "What's your name?", murmle ich probeweise und kann kaum glauben, was ich sehe. Seine Augen beginnen zu strahlen und er lächelt. Er lächelt! "Myself." Was soll ich mit diesem Wort anfangen? Ich weiß nicht, was ich sagen soll und lasse es bleiben. Er kriecht auf mich zu. Langsam hebt er seine rechte Hand und legt sie auf meine. "Thanks", flüstert er und schmiegt sich an mich. Hilflos umfasse ich seinen schmalen Körper und ziehe ihn zu mir. Niemals war ich so verwirrt wie jetzt. Ich traue mich fast nicht, ihn zu streicheln, doch als ich meine Finger vorsichtig durch seine Haare streichen lasse, lässt die Anspannung nach. Ich warte, bis er eingeschlafen ist, dann löse ich mich von ihm und gehe nach draußen. Es dämmert auf meiner Insel. Feuchter Sand, der mir so vertraut ist wie alles hier, klebt unter meinen Füßen und ich atme tief ein. Wie lange ich wohl schon hier bin? Ich muss vor Wochen aufgehört haben, Striche in die Höhlenwand zu ritzen, so wie ich es am Anfang getan habe. Irgendwie ist ja der Kleine schuld. Ich habe mich nur noch um ihn gekümmert. Ich habe ihn versorgt, ihn gehalten, ihn gefüttert. Aber ist es nicht ungerecht, ihm allein die Schuld zu geben, was meinst du? Bin ich schwach geworden, weil er jetzt da ist und mein Leben ausfüllt? Ich drehe mich um und werfe einen Blick auf die Höhle, die hinter mir im Halbdunkel liegt. Wahrscheinlich würde ich sterben, wenn ihm jetzt etwas zustoßen würde. Obwohl er der Hilflose ist, brauche ich ihn umso mehr. Und ich werde auf ihn aufpassen, koste es, was es wolle. Jetzt, wo er endlich mit mir spricht, kann ich ihn sogar nach seinem Namen fragen. Moment, was ist das? Was macht eine gottverdammte Dose hier? Langsam beuge ich mich hinunter und greife nach dem Ding. Ich habe mir ordentlich die Zehen daran gestoßen. Klar, schließlich brauche ich doch auf meiner Insel nicht mehr auf den Weg zu blicken, wenn ich gehe. Ich finde blind überall hin. Es ist schon so dunkel, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, um den weißen Schriftzug zu entziffern. Coca-Cola. Woher weiß ich, dass die Flüssigkeit, die sich irgendwann einmal im Inneren der Dose befunden hat, rotschwarz ist? Genau diese Farbe hat das Haar des Kleinen. Aber wo kommt die Dose her? Ich bin diesen Weg schon so oft gelaufen, dass ich jeden Stein hier kenne. Und eine Coladose hat es hier gestern definitiv noch nicht gegeben. "Strange." Ich zucke zusammen, als er plötzlich hinter mir steht. Langsam, schwankend tapst er auf mich zu und fällt stöhnend auf die Knie. Der Weg von der Höhle bis hierher muss ihn erschöpft haben. Ist er überhaupt schon einmal so weit gelaufen, seit er krank geworden ist? Sofort lasse ich die Dose fallen und hocke mich neben ihn. "Shall I help you?" Er schüttelt den Kopf. "Nein danke." "What?" Ich bin so perplex, dass ich nach Luft ringen muss. Der Junge atmet schwer. "Ich verstehe dich." Dann schließt er die Augen. Ich spreche ihn noch ein paar Mal an, doch er reagiert nicht, also nehme ich ihn auf die Arme und trage ihn nach Hause. Wie oft ich ihn schon durch die Gegend getragen habe? Ach, frag doch nicht so dumm. Die Coladose bleibt im Sand liegen. Dunkel hebt sie sich ab wie ein düsteres Omen. ___ Spekulationen at moi, per favore~ Betadank geht an Innocent. Danke, meine Retterin *.* spross Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)