Millennium von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Das Klingeln des Telefons hallte gespenstisch durch den Raum und wurde von den mit Ornamenten versehenen Wänden reflektiert. Ansonsten herrschte eisige Stille, mit Ausnahme des schrillen Klingeltons war nicht das leiseste Geräusch zu hören. Auf dem großen Schrank neben dem Fenster sammelte sich bereits eine fast zentimeterdicke Staubschicht an, ebenso auf der kleinen Kommode, die an der Tür stand. Der Glastisch und der Boden waren übersät mit zerknüllten Kleenex-Tüchern, nur an einigen wenigen Stellen konnte man noch etwas von dem bordeauxroten Teppich sehen. Überall standen leere Wodkaflaschen herum. Sugizo saß zusammengekauert auf seinem riesigen Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine angezogen und seine Arme darum geschlungen, den Kopf auf die Knie gelegt. Fest schloss er die Augen und bemühte sich, sein Telefon zu ignorieren. Er wollte nichts hören, mit niemandem sprechen... Am liebsten würde er gar nichts mehr... nichts sehen, nichts fühlen... Am wenigsten wollte er noch irgendetwas empfinden. Wozu waren Gefühle überhaupt gut, wenn sie ohnehin nur verletzt wurden? In dem Moment, als das Telefon aufhörte zu klingeln und der Anrufbeantworter ansprang, hielt er den Atem an. Während seine Abwesenheitsnachricht abgespielt wurde, hob er langsam den Kopf. Eigentlich hatte er schon längst aufgehört, auf einen Anruf von Ryuichi zu warten, aber wider besseren Wissens hoffte er tief in seinem Herzen dennoch darauf, dass der Sänger sich dazu durchringen konnte, sich bei ihm zu melden. Und doch wurde seine Hoffnung wieder enttäuscht - so wie die unzähligen Male zuvor in den letzten Tagen. Wirklich überrascht war er nicht... aber deswegen tat es nicht weniger weh... "Sugi!", konnte er J schreien hören. "Geh gefälligst an dein verdammtes Telefon!" Im Grunde hätte er damit rechnen müssen. Wer hätte es auch sonst sein sollen? Im Zweifelsfall Inoran. Er war nur froh, dass Shinya ihn bisher noch nicht angerufen hatte, auch wenn es ihn schon ein bisschen wunderte. "Ich weiß genau, dass du zu Hause bist! Also geh endlich mal ran! Mein Gott, wir machen uns doch nur Sorgen um dich! Und Ryu... -nein, jetzt nicht, Shinya- Ryuichi hat sich auch seit Tagen weder gemeldet noch irgendwo blicken lassen!" Ruckartig hob der Gitarrist den Kopf und stieß ihn sich fast an der Wand an, als er das hörte. Er hatte gedacht, dass nur er nichts mehr von dem Sänger gehört oder gesehen hätte. Aber dass er in der ganzen Zeit weder im Studio noch im Proberaum oder bei einem der anderen gewesen war... Hatte ihn sein Besuch letztens doch nicht so kalt gelassen, wie Sugizo dachte? "Was zum Teufel ist eigentlich mit euch beiden los? Ist irgendwas passiert, von dem wir wissen sollten?" J's Stimme klang, als wüsste er weder ein noch aus. "Wenn ihr beiden nicht bald mal ans Telefon geht oder sonstwie irgendein Lebenszeichen von euch gebt, komme ich persönlich bei euch vorbei! Und wenn es sein muss, werde ich euch polizeilich suchen lassen! So was könnt ihr doch mit uns nicht machen!" Sugizo setzte sich auf die Bettkante. Hatten seine Äußerungen Ryuichi wirklich so sehr getroffen, dass er sich deswegen - wie er selbst auch - komplett zurückgezogen hatte? Konnte das sein? "Also dann... Ich hoffe, wir hören bald mal was von euch! Hoffentlich ist euch nichts passiert!" Mit diesen Worten legte J schließlich auf. "Warte!", schrie Sugizo, ohne darüber nachzudenken, dass der Bassist ihn gar nicht hören konnte. Er stürzte auf das Telefon zu und riss den Hörer von der Gabel, nur um das Freizeichen zu hören. "Verdammter Mist!", schimpfte er. Was nun? Wenn Ryuichi nun etwas passiert war? Das wäre dann ganz allein seine Schuld! Schließlich hatte er dem Sänger zu verstehen gegeben, dass er aufgab und ihn nicht mehr sehen wollte! Und dabei hatte er es doch nur getan, damit Ryuichi ihm endlich mal etwas sagte! Die ganze Zeit über war Ryu ihm aus dem Weg gegangen. Manchmal hatte der Gitarrist sogar das Gefühl gehabt, dass er regelrecht vor ihm flüchtete. Er hatte dem Sänger doch nur irgendwie begreiflich machen wollen, dass er Sugizo damit viel mehr verletzte, als wenn er ihm einfach ins Gesicht sagen würde, dass er mit ihm nichts zu schaffen haben wollte. Oder dass der Gitarrist sich zum Teufel scheren sollte. Oder was auch immer... Er wollte einfach nicht wie Luft behandelt werden, ohne zu wissen, warum. Außer sich vor Sorge um Ryuichi, Selbstvorwürfen und Wut auf sich selbst riss er das Telefonkabel aus der Wand, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Dabei zog er das Telefon versehentlich von der Kommode runter, das laut scheppernd auf dem Boden landete. Er sah hinunter, die Augen zusammengekniffen, bückte sich, hob das Telefon auf und warf es so fest er konnte gegen die Tür. Das Plastik bekam einige Risse, etwas von dem Lack splitterte von dem Holz, der Hörer landete vor Sugizo's Füßen. Grimmig nahm der Gitarrist den Apparat und schleuderte ihn gegen das geschlossene Fenster. Die Scheibe hielt dem heftigen Aufprall natürlich nicht stand und zerbarst. Schwer atmend und mit fest zu Fäusten geballten Händen stand er da, die Augen auf die zerbrochene Fensterscheibe gerichtet, die er jedoch gar nicht wahrnahm. Es dauerte ein paar Minuten, bis Sugizo sich wieder beruhigte. Sein Blick klärte sich, und zum ersten Mal seit Tagen sah er sich etwas genauer in dem Raum um. Ihm war überhaupt nicht bewusst gewesen, dass er hier ein solches Chaos veranstaltet hatte. Allerdings interessierte es ihn momentan weniger, aufräumen konnte er später auch noch. Jetzt hatte Ryuichi Vorrang. Der Gitarrist ging zum Glastisch - der bei allem glücklicherweise noch heil geblieben war - und suchte zwischen den vielen Kleenex-Knäueln nach seinem Schlüssel. Da er ihn in den vergangenen Tagen nicht gebraucht hatte, wunderte es ihn selbst ein bisschen, dass er sich jetzt noch ungefähr daran erinnern konnte, wo er ihn hingelegt hatte. Als er ihn endlich gefunden hatte, wollte er so schnell wie möglich los und Ryuichi suchen, blieb aber an der Tür stehen, überlegte kurz, drehte sich wieder um und lief zurück ins Schlafzimmer. Panisch wühlte er auf dem Glastisch und dem Boden herum, er wusste genau, dass es hier irgendwo sein musste... schließlich fischte er auch sein Handy aus dem ganzen Gewühl heraus. Er würde es sicher brauchen, nachdem sein Telefon vorläufig erst mal funktionsuntüchtig war. Er dachte kurz darüber nach, ob er noch etwas Wichtiges vergessen hatte, entschied dann aber, dass nichts so wichtig sein könnte, wie jetzt Ryuichi zu finden. Und wenn es ihm entfallen war, konnte es ohnehin nicht weiter von Belang sein. Sobald er wusste, wo Ryuichi war und ob es ihm soweit gut ging, konnte er sich immer noch um andere Dinge kümmern. Sugizo stand auf und stolperte auf dem Weg nach draußen über eine der vielen leeren Flaschen. Lauthals fluchend trat er sie zur Seite, so dass sie an der Wand zersplitterte. Schnell huschte er durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Er seufzte genervt. Noch mehr Glasscherben, die er später wegräumen musste. "Baka...", murmelte er düster, fuhr sich nervös mit beiden Händen durch die Haare und ging dann schließlich raus zum Auto. Als er einstieg und sich ans Steuer setzte, überlegte er fieberhaft, wo er nach Ryuichi suchen sollte. Gab es irgendwelche Orte, an denen sich der Sänger gern aufhielt? Oder einen Platz, an dem Sugizo oder einer der anderen ihn öfter als ein- oder zweimal gesehen hatte? Doch so angestrengt er auch grübelte - ihm wollte einfach nichts einfallen. Er wusste einfach zu wenig über Ryuichi, um dessen bevorzugte Aufenthaltsorte zu kennen. Wenn er es sich genau überlegte, wusste er eigentlich so gut wie gar nichts über ihn. Nachdenklich steckte er seinen Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn um und ließ den Motor anspringen, fuhr jedoch noch nicht los. Wo würde er hingehen, wenn er allein sein wollte? Sugizo lehnte sich seufzend zurück, atmete ein paar Mal tief durch, nahm sein Handy und wählte Ryuichi's Nummer. Er war zwar nicht sicher, ob der Sänger ans Telefon gehen würde, aber vielleicht hatte er ja mehr Glück als J. Er ließ es zwölfmal klingeln, bis sich Ryuichi's Anrufbeantworter einschaltete. Das war der Moment, in dem der Gitarrist wieder auflegte. Er wollte sich nicht mit einer Maschine unterhalten. Außerdem bezweifelte er, dass Ryu rangehen würde, wenn er ihm aufs Band sprach. Es war gut möglich, dass der Sänger einfach nicht mit ihm reden wollte. Wieso sollte er auch, nach ihrem letzten Gespräch? Das im Grunde nicht mal wirklich eins gewesen war, da eigentlich Sugizo der einzige gewesen war, der überhaupt geredet hatte, und Ryu sich weitestgehend gar nicht zu dem Ganzen geäußert hatte. Wobei Sugi bis heute noch nicht wusste, warum. Hatte er Angst? Aber wovor? Oder wollte er nur nichts mit dem Gitarristen zu tun haben? Aber dass Ryuichi nicht ans Telefon ging, musste nicht zwangsläufig mit Sugizo's Besuch bei ihm zusammenhängen, schließlich war er auch für niemanden sonst erreichbar. Zumindest für niemanden, der engeren Kontakt zu den beiden hatte. Und nur, weil Ryuichi nicht ranging, hieß das noch lange nicht, dass er deswegen nicht zu Hause war. Wahrscheinlich hatte er sich - wie der Gitarrist auch - in seinem Haus 'versteckt'. Obwohl es natürlich auch genauso gut sein konnte, dass er sich ganz woanders aufhielt. Wenn Sugizo das herausfinden wollte, blieb ihm eigentlich nur eines übrig - er musste hinfahren und sich selbst davon überzeugen, ob Ryuichi bei sich zu Hause war oder nicht. Und irgendwo musste er ja schließlich anfangen zu suchen. Er legte den Gang ein und fuhr los. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)