Antons Reisen von Yeo ================================================================================ Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- Kapitel 6 Der Mann im Anzug hatte Recht - Anton hat sich bei dem eigentlich höchst gefährlichen, ja sogar definitiv tödlichen, Sturz nicht den geringsten Kratzer zugezogen. Nur der Schreck sitzt ihm noch in den Knochen. Als er einen Blick zurück wirft, Richtung Schlucht, ist da nur noch Stadt, nicht auch nur der kleinste Abhang. Aber der junge Mann ist solche optischen Tricks mittlerweile gewohnt, weshalb er sich auch nicht erst damit beschäftigt, zu versuchen, dieses Phänomen zu deuten. Anton ist klar, dass er nicht wirklich 100 Menschen töten kann - seien es Illusionen oder nicht. Doch ein Ausweg fällt ihm auch nicht ein, schließlich gibt es keine Möglichkeit dem Mann im Anzug zu entkommen. Während Anton bestürzt und innerlich zerrüttet durch die belebten Einkaufspassagen der erdachten Großstadt mit all ihren unechten, aber dennoch äußerst echt wirkenden Bewohnern wandelt, versucht er sich einen Reim darauf zu machen, was der Zweck seiner Aufgabe ist und wie sie richtig zu interpretieren wäre. Es kann doch nicht sein, dass er wirklich jemanden umbringen soll... Oder doch? Aber worin läge dann der Sinn? Könnte es sein, dass es so etwas wie Respekt vor dem Leben hier im Jenseits gar nicht gibt? Das würde zumindest erklären, warum sich der Mann im Anzug über die Art von Antons Tod so amüsiert hat. Trotzdem... Alles hier scheint so echt, dass man kaum noch zwischen Illusion und dem realen Leben der irdischen Welt unterscheiden kann. Da kommt Anton der Gedanke, ob es sich nicht doch eine "echte" Stadt handeln könnte. Aber das würde ja heißen, er wäre wieder lebendig. Ein Test soll die Frage klären. Der junge Mann beschließt etwas zu tun, was normalerweise für großes Aufsehen, wenn nicht sogar für eine Anzeige sorgen würde. Er nimmt sich eine leere Wasserflasche aus einem Mülleimer, dessen Weg er kreuzt, und zerschlägt sie an einer Litfaßsäule, um anschließend mit einer der Glasscherben im Vorbeilaufen ein gutes Dutzend am Straßenrand geparkte Autos zu zerkratzen - und das unter der Aufsicht einer Strafzettel verteilenden Politesse. Keine Reaktion. "Das kann nicht real sein", denkt sich Anton und läuft weiter. An einer Ampel wartend wird er plötzlich unsanft angerempelt. Sachte über die Schulter den Rabauke betrachtend, erblickt er ein bekanntes Gesicht - es handelt sich um einen alten Schulkameraden, der ihn direkt in die Augen starrt, auf ihn herabschaut. Diese verachtende Haltung ihm gegenüber kennt Anton noch von früher. Der Junge direkt hinter dem Verstorbenen war einer von den taffen Typen, die bei allen beliebt waren, aber eigentlich zu den größten Schwachköpfen überhaupt gehörten - zumindest aus Antons Sicht gesehen. Wenn er es sich so überlegt, gab es wirklich Momente, in denen er sich gewünscht hätte einem dieser Wichtigtuer wäre irgendwann einmal etwas schlimmes passiert. Ein kleiner Unfall schadet ja niemanden. Beziehungsweise doch, doch Unfälle führen durchaus zu Schaden. Verkehrt sind sie aber nicht. Nichtsdestotrotz beschließt Anton die Sache wie so viele Male vorher auf sich beruhen zu lassen, obwohl er am liebsten endlich seine Meinung äußern würde. Bei einer eingebildeten Kreatur bringt es eh nichts, was zu sagen, denkt er sich. "Du elender Schlappschwanz! Wehr dich endlich!", schreit ihn der ehemalige Mitschüler an, während er ihn erneut anrempelt. "Wehr dich!" "Bist du verrückt? Ich will keinen Ärger. Und außerdem hab ich dir nie etwas getan." "Aber ich hab dir etwas getan, du beschissener Freak! Willst du das so einfach über dich ergehen lassen, Pussy?" Anton wendet sich ab mit den leisen Worten: "So was Vulgäres!" "Wie war das? Hältst dich wohl für was Besseres, du beschissener Streber? Abgefucktes Würstchen!" "Sag nicht immer >beschissen<, sonst kackst du dir womöglich wirklich noch ein." "Wow! Ein absolut cooler Spruch!", begegnet der ehemalige Schulkamerad dem plötzlichen Anfall von Mut, bevor er den zitternden Anton in den Magen schlägt, woraufhin dieser benommen zu Boden sinkt. Wow! Wie real. Doch da erkennt Anton, dass er immer noch die Glasscherbe in seiner Hand hält. Warum eigentlich nicht? Er hätte es verdient, denkt er sich. Der Schikanierte bäumt sich auf, wirft seinem Gegenüber einen letzten, boshaft grinsenden Blick zu und zerfetzt seine Kehle. Der Schulkamerad kippt um und eine Blutlache breitet sich auf dem Bürgersteig aus. Die Passanten scheint die soeben beendete Auseinandersetzung der zwei jungen Männer überhaupt nicht zu interessieren, was Anton das Gefühl verleiht, zumindest nicht das Falsche getan zu haben. "Eigentlich war das mal eine willkommene Abwechslung. Der Arsch war selber schuld!", rechtfertigt sich der frische Mörder einer Jenseits-Illusion mit zwei Tragetaschen voller Gemüse und Milchprodukte. Mit einem psychopathischen Lächeln stürzt Anton los, obwohl die Ampel immer noch auf Rot steht. Dabei hält er die Glasscherbe so fest, dass er sich selbst tief in die Hand schneidet. Schmerz spürt er jedoch nicht - nur die Lust auf Vergeltung. Adrenalin durchfährt ihn wie ein Auto einen langen Tunnel. Da erkennt er auch schon viele Gesichter der Vergangenheit, die ihm allesamt nicht besonders positiv in Erinnerung geblieben sind. Da ist zum Beispiel der große, dicke Schläger, der ihm damals im Ferienlager einen toten Frosch unter die Decke gelegt hat. Anton beschließt ihm mit einem Backstein der Kopf einzutrümmern. Unter der Laterne steht die freche Göre aus seiner alten Klasse, die sich immer über seine Art, sich zu kleiden und seine unförmige Lesebrille lustig gemacht hat. Die Strafe für sie lautet: vor ein fahrendes Auto geworfen werden. "Einspruch abgelehnt, dumme Schnalle!" Auch der Kapitän der Schwimmermannschaft taucht in einem Café auf. Er hatte Anton zwar nie direkt etwas angetan, doch seine Art passte dem Nachwuchs-Amokläufer nicht, der sich denkt, dass es nur gerecht wäre den Athleten in einem Springbrunnen zu ertränken. "Was denn? Was denn? Ich denke, du bist so ein guter Schwimmer?", lautet Antons Nachruf. "Komm schon, Tucke! Schwimm!" Das Töten setzt sich fort bis schließlich das hundertste Opfer zu verbuchen ist. Anton, voller Blut seiner "Feinde", steht lachend vor einem Schaufenster eines Süßwarengeschäfts, als er vom Mann im Anzug abgeholt wird. "Gut gemacht! Aufgabe bestanden, mein Freund!" Hosted by Animexx e.V. 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