Blindes Vertrauen von aprileagle (Sieger Frühlings FF Wettbewerb 2004) ================================================================================ Prolog: Schneeglöckchen ----------------------- "Du erschaffst eine Welt, in der du gefällst Du hast dich geschmückt und hast sie alle entzückt Dein Schauspiel beginnt und niemand entrinnt..." Prolog: Schneeglöckchen Es war ein wunderschöner Tag nach einem langen, harten Winter. Ganz allmählich gewann die Sonne an Kraft und das erste Grün spross durch die immer dünner werdende Schneedecke. Selbst die Luft fühlte sich wärmer an, nicht mehr so stechend kalt wie noch vor wenigen Wochen. Fröhlich zwitscherten die ersten Zugvögel von den Ästen der Bäume, die bereits hauchzarte Knospen trieben. Bald würden sie in voller Blüte stehen und die Natur in ein neues Jahr führen. Ja, es war wirklich ein wunderschöner Tag eines neugeborenen Frühlings. Welche Ironie! Eis knirschte unter seinen schweren Stiefeln und der junge Mann bemerkte nicht, dass er mehrere Blumen zertrat, die sich aus der kalten Erde hervor getraut hatten, als er zu der alten Weide schritt. Sanft rauschten ihre langen Äste, die sich würdevoll dem Boden entgegen neigten. Es klang beinahe wie ein Gebet. Ein Trost spendendes Gedicht des Glaubens. Dafür ist es jetzt wohl zu spät. Höhnisch grinste der junge Mann, als er die Gestalt erblickte, die im Schatten des Baumes vor einem kleinen Hügel stand. Regungslos. Schweigend. Entrückt. Als ob er jemals an irgend etwas geglaubt hätte! Das ist nun seine gerechte Strafe! Wer zu hoch spielt, kann eben viel verlieren! Die Gestalt schien ihn zu spüren, denn sie hob den Kopf und schaute kurz umher. Der junge Mann zuckte unbewusst zusammen, als er für einigen Momente in dunkelgrüne Augen schaute, die ihn so teilnahmslos anstarrten, so als würden sie durch ihn hindurch sehen, ihn gar nicht wahr nehmen. Nein, diese Augen weilten in keiner der Welten, durch die sie manchmal wandelten, wenn es ihnen in ihrem Schloss zu langweilig oder zu eng wurde. Was..? Der junge Mann hatte sich innerlich auf ein heftiges Wortduell vorbereitet, auf einen Kampf, wenn nötig sogar um Leben und Tod, aber nichts geschah. Die Gestalt, sein ärgster Widersacher, sagte kein Wort, wandte sich langsam wieder von ihm ab. Seine Bewegungen wirkten mechanisch, so als würde nicht nur der Geist, sondern auch der Körper ganz woanders weilen. Bei ihr... Natürlich hatte sich der junge Mann über ihr Schicksal lustig machen wollen, er hatte sich alle Sätze bereits sorgfältig zurecht gelegt, bevor er aufbrach, nun aber wollte ihm keine einzige Beleidigung mehr einfallen. Sein höhnisches Grinsen verzog sich zu einer entsetzten Grimasse, als er zwei Tränen sah, die über bleiche Wangen rannen. Er weint? Um sie? Im Leben hat er sie doch immer versteckt - und jetzt zeigt er Trauer? Was soll das werden? Ein Schauspiel? Das kann er stecken lassen, nicht mit mir! "Das kann doch nicht wahr sein..." Er krempelte die Ärmel seines grünen Hemdes bis zum Ellenbogen empor und stapfte entschlossen auf die dunkle Gestalt hinüber. Sein Erzfeind wagte es nicht nur, hier trauernd umher zu stehen, nein, er zog sogar schwarze Kleidung an, obwohl er mehr als einmal deutlich gemacht hatte, dass er diese Farbe verabscheute, da sie der Nacht und der Toten gehörte und er eher ein Lebemann war. "Der kann was erleben!" Gerade wollte er der Gestalt, die noch immer regungslos vor dem kleinen Hügel verharrte, ins Gesicht schlagen, da packten ihn zwei Hände und zerrten ihn einige Meter zurück. Seine schweren Stiefel zertraten dabei noch mehr Frühjahrsblüher und er ballte seine Fäuste, nur um gequält aufzuschreien, als er einen Stromschlag erhielt. "Verdammt, Thor, was soll das?" knurrte er mürrisch und blinzelte in das viel zu grelle Sonnenlicht. Er hielt seine rechte Hand vor sein Gesicht und konnte endlich das ewige Grinsen des Gott des Donners vor sich sehen. Nur war es heute eine Spur nachdenklicher, trauriger. "Du weißt genau, dass wir auf der Erde unsere Kräfte nicht anwenden sollen, sonst wird Odin wieder sauer." "Und du weißt, dass du ihn nicht angreifen sollst, wenn er in einer solchen Verfassung ist!" Thor sah ihn streng an, was nur er durfte. Niemand anders war in der Lage, Heimdal, dem Wächter der Götter, irgendetwas zu befehlen, bis auf Odin, dem höchsten Gott in Asgard, natürlich. Vielleicht lag das daran, dass Thor sich nie etwas aus den giftigen Blicken gemacht hatte, die der andere Gott ihm nun zu warf, oder aber seine Blitze hinterließen doch einen gewissen Eindruck bei Heimdal, ähnlich einer Schocktherapie, wie Thor immer lachend erzählte. Sehr zu Heimdals Leidwesen Aber sie kamen zurecht miteinander, manchmal mehr schlecht als recht, aber Heimdal versuchte nie, ihn hinterhältig anzufallen und zu töten, wie er das soeben bei der dunklen Gestalt getan hatte. Das Schicksal ließ sich eben nicht verneinen, auch wenn Thor der Meinung war, dass Heimdal all das zu ernst sah, nur um erwidert zu bekommen, dass er dagegen alles zu sehr auf die leichte Schulter nahm. "Er hat nun auch sie verloren, Heim. Sie war die Letzte seiner Familie..." seufzte Thor leise und blickte hinüber zu seinem besten Freund, der noch immer regungslos auf den kleinen Hügel starrte - und diesen vermutlich nicht einmal sah. Loki wirkte kaum einen Tag älter als zwanzig, so wie alle anderen Götter auch, jedoch hatte er schon viele Menschenalter und somit viele Schicksalsschläge erlebt. Dieser letzte, so erschien es Thor, war einer zu viel gewesen. Dabei hatte es sein Freund gar nicht böse gemeint, dessen war sich der Gott des Donners sicher. Seine Familie war immer das Wichtigste in Lokis Leben gewesen und für sie hatte er viele Regeln gebrochen, war viele Risiken eingegangen und hatte sich am Ende sogar gegen Odins Gesetz aufgelehnt. Das tat niemand ungestraft. Niemand, nicht einmal der großartige Loki, der jegliche Warnungen in den Wind schlug und sich für seine Lieben einsetzte - leider umsonst. Odin hat ihn angeschrieen und als überheblich bezeichnet. Dabei hat er es wirklich nur aus Liebe getan. Nur aus Liebe... "Sie hat aber nicht hier her gehört!" knurrte Heimdal zornig und Thor seufzte leise, als er sich zu dem anderen jungen Gott umdrehte und einige violette Strähnen aus einem ärgerlichen verzogenen Gesicht strich, um direkt in rote Augen sehen zu können. "Sie hat zu ihm gehört. Ich weiß, dass er mit ihr fortgegangen wäre, wenn Odin ihn nur gelassen hätte. Mit allen drein." "Was soll das denn bitte schön für eine Familie sein?" schoss Heimdal angewidert zurück und verschränkte seine Arme vor seinem Oberkörper. Er sah, wie Thor seinen Mund öffnete, um zu widersprechen, unterbrach ihn jedoch barsch. "Eine riesige Schlange, ein Höllenhund und dann dieses halbtote Wesen? Das ist doch keine Familie!" Thor betrachtete ihn eine Weile schweigend und Heimdal ballte zornig seine Fäuste. Nein, er würde sich nicht schuldig fühlen für seinen Ausbruch! Es stimmte, er selbst hatte keine Familie, wurde vor so langer Zeit in einem Korb vor den Toren Walhallas gefunden. Odin erzählte ihm davon, als er alt genug war und seine Rolle als Wächter übernahm. Dennoch hatte Heimdal vor der Prophezeiung und erst recht danach nie das Bedürfnis verspürt, sich Freunde oder gar eine Familie zu suchen. Er brauchte sie nicht, sie lenkten ihn nur von seiner Arbeit ab. Heimdal hob seine Augenbrauen, als er spöttisch über Thors Schulter zu der stummen Gestalt hinüber schielte. Außerdem sah man ja an diesem Narr, dass eine Familie nur Probleme bereitete! "Sie waren seine Kinder und er hat sie geliebt." Flüsterte Thor und seufzte erneut. Heimdal verdrehte genervt seine Augen und folgte dem Gott des Donners schließlich hinüber zu dem kleinen Grab, in dem sie bestattet worden war. Da sie nie nach Asgard gehört hatte, gestattete Odin keine Beerdigung in seiner Welt und verbot allen anderen Göttern zu kommen. Thor hielt sich nie an solche Anweisungen, besonders nicht, wenn sie seinen besten Freund betrafen und Heimdal... nun, er hatte sich den Triumph nicht nehmen lassen wollen, den er bei dem Anblick eines gebrochenen Loki zu verspüren gehofft hatte. Nun aber, da er die dunkle Gestalt vor sich sah, die Tränen, die auf eingefallenen Wangen glitzerten, die zitternden Hände, die kraftlos einige weiße Blumen hielten, blieb dieses Gefühl aus. Nein, triumphieren konnte er wirklich nicht, vielmehr füllte ihn eine seltsame Leere, die er rasch mit Wut und unendlichem Zorn zu überdecken wusste. Nein, er hatte kein Mitleid mit Loki! Nein, er hatte kein Mitleid mit seinem ärgsten Feind! Und ganz sicherlich war er nicht traurig darüber, dass dieses Weibsstück, das immer so fröhlich gewesen war, dessen Gelächter immer die Hallen von Walhalla zum Klingen gebracht hatte, endlich gegangen war. Sie hat nicht zu uns gehört! Sie war nur eine Halbgöttin! Sie war zur Hälfte eine Untote gewesen! Odin hat richtig gehandelt und sie endgültig aus Asgard verbannt! Heimdal nickte entschlossen - und fühlte sich mit einem Mal unglaublich elend, als er Lokis leise Stimme vernahm. Eine sonst so kraftvolle, unbeschwerte, so selbstsichere Stimme, die er gern als arrogant bezeichnete, die nun erschöpft und unendlich müde klang. "Das... sie..." Loki schien mit sich selbst zu kämpfen und die Trauer siegte eindeutig über Stolz und Scham. Weitere Tränen glitzerten in seinen dunkelgrünen Augen und sein ganzer Körper zitterte sichtlich unter dem schwarzen Mantel. Kraftlos fiel er vor dem frischen Grab auf die Knie und legte einen kleinen Strauß Schneeglöckchen auf die dunkle Erde. Ehrfurchtsvoll, behutsam. So unendlich zärtlich. "Sie... war mit Abstand das schönste... schönste Geschenk..." flüsterte der Gott des Unheils, der so viel Schaden unter den Menschen anrichten konnte, wenn Odin es von ihm verlangte, der jedoch nicht in der Lage gewesen war, eben dieses Unglück von sich und seiner Familie abzuwenden, gebrochen. "... das ich je bekommen habe... Thor... Heimdal..." Der Gotteswächter blinzelte überrascht, denn es war nicht nur ungemein selten, dass Loki ihn bei seinem Namen nannte, nein, er hatte den Unheilsgott noch nie so gesehen. Oh, Loki konnte überheblich, konnte zornig, konnte zerstörerisch sein, aber selbst leidend? Liebend! Nein, so hatte er sich seinen ärgsten Feind nicht vorstellen können, nicht einmal in seinen schwärzesten Alpträumen, die ihn heimsuchten, seitdem er von Ragnarök gehört hatte, seitdem er um sein persönliches Schicksal wusste. Ragnarök, das Ende der Welt. Dann werden Loki und ich uns gegenüber stehen. "... das schönste Geschenk..." Heimdal schluckte und ein Kloß bildete sich in seiner Kehle, den er trotz intensiven Schluckens nicht los wurde. Er hatte Loki für verrückt gehalten, als dieser sich entschloss, die Weltenschlange und den Höllenhund bei sich aufzunehmen. Schon zu Beginn dachte Heimdal, dass Loki all das nur getan hatte, um sich über Odin hinweg zu setzen, und er fühlte sich in seiner Ahnung bestätigt, als Loki nichts unternahm, als ihm seine >Söhne<, wie er diese Kreaturen sogar genannt hatte, von Odin wieder weggenommen und in tiefe Kerker gesperrt und an feste Ketten gezwungen wurden. Daher sah Heimdal in dem immer fröhlichen Mädchen lediglich einen Fehltritt des arroganten Gottes, schließlich war Loki bekannt für seine wilden Affären und seine Schwächen für das hübsche Geschlecht. Über die Mutter wusste niemand etwas Genaues zu berichten, die Schicksalsgöttinnen munkelten hinter vorgehaltener Hand, dass sie wohl bei der Geburt der Halbgöttin gestorben war, und Heimdal konnte sich nie so recht erklären, warum Loki sie dann nicht abschob und bei irgendwelchen Menschen verbarg, Einfluss hatte er schließlich genug gehabt. Nein, Loki zog endgültig Odins Zorn auf sich, als er das kleine Bündel nach Walhalla brachte und hinter Odins Rücken aufzog. All dies ging gut, sechszehn lange Jahre. Bis der höchste Gott den Braten roch und noch in derselben Stunde seine furchtbare Rache walten ließ. "... es tut mir so leid, Loki..." Heimdal wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, als er Thors Stimme hörte, die mit einem Mal ebenfalls extrem wackelig klang. Der Donnergott ging neben dem des Unheils auf die Knie und legte ihm eine Hand tröstend auf die Schulter. Tränen standen auch in Thors dunklen Augen. Nein! Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt heult der auch noch! Sind wir Götter oder sind wir Memmen? Heimdal holte tief Luft und wollte die beiden anschreien, aber plötzlich brachte er keinen Ton mehr heraus, der Kloß in seinem Hals war zu groß, verweigerte ihm seine Stimme. Ich trauere NICHT! Ganz bestimmt nicht! Nicht um dieses blöde Gör! Wir sind doch viel besser dran ohne sie! Dennoch konnte er das fröhliche Lachen nicht aus seinem Kopf verbannen. Loki und Heimdal waren vom Schicksal auserkoren worden, auf ewig Feinde zu sein. Lokis Tochter hatte dies jedoch anders gesehen und ihn jedes Mal so freudestrahlend empfangen, dass er sie in seiner Nähe toleriert hatte bei den Besuchen, wenn er zu ihrem Vater kam, um ihn erneut zu beleidigen, höhnisch auszulachen oder einfach zu einem Zweikampf herauszufordern, damit sie in Form blieben, denn niemand konnte vorhersagen, wann Ragnarök über sie herein brach. Heimdal wollte vorbereitet sein. Genau, vorbereitet! Ich bin NICHT dort hin gegangen, um diesen arroganten Schnösel oder diesen bescheuerten Blitzableiter zu sehen! Und ganz gewiss nicht, um dieses ständig schnatternde Weibsbild zu besuchen! Ich muss vorbereitet sein, um ihn zu besiegen! Selbstverständlich hatte Heimdal Odin nichts von dem kleinen Mädchen in Lokis Gemächern erzählt. Schließlich war er ein stolzer Gott, keine Petze! Oft war er bei dem Unheilsgott gewesen, besonders nach der Verbannung der Söhne, hatte sich oft mit ihm duelliert. Öfter als er es früher, vor ihrer Ankunft in Walhalla getan hätte. Zu so einem Wettkampf hatten sie sich auch befunden, als Odin das Geheimnis lüftete und das Mädchen sofort vernichtete. Heimdal erinnerte sich noch ganz genau an Lokis verstörten Gesichtsausdruck, als er das Unglück spürte. Ohne einen weiteren Blick auf seinen Gegner zu werfen, war der junge Gott losgerannt - um zu spät zu kommen... Er hätte sowieso nichts ausrichten können! Heimdal kramte in seiner braunen Hose. Ihre eigentliche Kleidung bestand ja normalerweise aus langen Gewändern, aber niemand der jüngeren Götter hielt sich daran. Loki besaß sogar zwei Flügel, die er sich wie einen Kranz auf den Kopf setzen konnte. Aber schon vor langer Zeit entschied er sich dagegen, nachdem Heimdal und, was ihn wohl noch mehr gewurmt hatte, Thor in Lachen ausgebrochen waren, als sie ihn das erste Mal in seiner traditionellen Kleidung zu Gesicht bekamen. Sie orientierten sich viel lieber an der aktuellen Mode der Menschenwelt und da im Moment die europäische Mode sehr bequem zu tragen war und außerdem extrem schick aussah - wie sich Heimdal jeden Früh in seinem Spiegel vergewisserte - verwandelten sie ihre eingestaubten Roben in modische Jeans, luftige T-Shirts und sportliche Turnschuhe. Nun hat Loki seine Kleidung schwarz gefärbt... Nichts war mehr von dem einst so beschämten Gesicht zu sehen, das er bei dem Lachanfall der anderen Götter gezogen hatte. Jetzt wirkte es verzweifelt, so unendlich traurig. Er ist der Gott des Unheils, er hätte doch am besten wissen müssen, dass es so enden würde! Dennoch wäre ihnen allen wohl ein anderes Ende lieber gewesen... Heimdal grollte, als er die zwei Trauerklöße vor sich betrachtete und zog zwei große Taschentücher aus seinen Hosentaschen. Er war ein mächtiger Gott, er war der Wächter und hatte außerdem übermenschliche Kräfte. Selbstverständlich. Das hielt jedoch Mutter Natur nicht davon ab, ihn mit einem gemeinen Heuschnupfen zu segnen, der sich in der warmen Frühjahrsonne mit Pauken und Pollen anzukündigen drohte. "Hier, das ist ja nicht zum Aushalten!" brachte er schließlich hervor und wunderte sich, warum seine Stimme nun auch zitterte. Wirsch warf er den beiden jungen Männern je ein Taschentuch in den Schoß. "Ich will's aber gewaschen wieder zurück..." er betrachtete Thor, wie er sich ausgiebig die Nase putzte und ergab sich schließlich in das Schicksal, das wohl einer der Schwestern für ihn gewebt hatte. "Vergesst's. Ihr könnt's behalten." "Danke." Thor schnäuzte sich erneut und Heimdal fragte sich, was der Donnergott noch alles in seiner Jackentasche hatte, als dieser mehrere Anläufe brauchte, um es sicher zu verstauen. Nach einigen Momenten des Schweigens entschied der Wächter jedoch, dass er lieber keine Antwort haben wollte. Loki starrte von dem kleinen Blumenstrauß auf dem Grab auf das Taschentuch in seinem Schoß und hob den Stoff wie in Trance auf. Dann sah er hinüber zu Heimdal, seinem ärgsten... nein, seinem einst ärgsten Feind. Ihn hasste er nicht. Der Gott des Unheils war sich nicht mehr so sicher, ob er den anderen jungen Gott jemals gehasst hatte oder ob es nicht einfach nur eine Angewohnheit gewesen war, denn nun wusste er, was wirklicher Hass bedeutete. Hass, der in seinem Herzen raste. Hass, der nur Platz für eine Person ließ! Ihm! "Danke, dass du gekommen bist, Heimdal. Dass ihr beide gekommen seid." Sagte er und seine Stimme klang nicht mehr so bebend, sondern vielmehr tonlos. Jegliche Emotion wich aus seinem Gesicht, als er über Heimdals Schulter starrte. "Hel hätte sich darüber gefreut." Thor runzelte, was Heimdal veranlasste, sich umzudrehen - und zu erstarren. Hinter ihm schwebte eine Gestalt in gleißendes Licht gehüllt, deren wahres Gesicht noch nie jemand gesehen hatte, kein Gott und erst recht kein Mensch. Odin. Heimdal stolperte einige Schritte zur Seite und rutschte auf dem Schnee, der im Schatten der großen Weide noch nicht vollständig geschmolzen war, aus. Er ruderte ein wenig mit seinen Armen, obwohl er genau wusste, dass er keinen Halt finden würde, verschloss dabei aber fest seinen Mund. Hier auf der Erde war er nicht so unverwundbar wie in Asgard, er würde sich sicherlich weh tun, aber er würde keinen Ton sagen. Nur nicht Odins Zorn auf sich ziehen, nur nicht seine Aufmerksamkeit erregen - das wäre fatal. Heimdal spürte, wie verärgert der älteste Gott auf Thor und ihn war. Dass sie es gewagt hatten, sich ihm zu widersetzen und zu der Beerdigung dieser halben Göttin zu erscheinen. Diesem Verräter, Loki, beizustehen! Heimdal fiel - und wurde von zwei kräftigen Armen aufgefangen. Dieses Mal erhielt er jedoch keinen Stromschlag, als Thor ihm wieder auf die Beine half. Schweigend sahen sie sich an und dann zu Loki und dem hellen Licht hinüber. Der junge Gott stand langsam auf und musterte den ältesten und mächtigsten aller Götter stumm. Heimdal wusste nicht, ob Loki nichts einfiel, das er sagen könnte, oder ob ihm einfach jedes Wort wie eine Verschwendung schien, konnte nichts, was er als Verteidigung hervorbrachte, das Geschehene rückgängig machen. Nichts konnte ihm seine Tochter, seine über alles geliebte Tochter zurück bringen. "Erkennst du nun deine Sünde?" Wie immer, wenn Odin sprach, schien seine gewaltige Stimme die Luft um sie herum, die komplette Welt zu füllen. Sie war allgegenwärtig. Selbst wenn man sich die Ohren zu hielt, vermochte man sie nicht, sie aussperren. Die drei jüngeren Götter wussten das nur zu gut. Sünde? Heimdal zog seine Augenbrauen zusammen, aber so recht verstand er die Worte Odins nicht, was nicht das erste Mal in seinem Leben wäre, nur dieses Mal erschien es ihm äußerst wichtig. Denn nur wenn er die Sünden seines Feindes verstand, verstand er den Feind selbst. Und nur wenn er den Feind verstand, konnte er ihn besiegen! Sünde? Dass Loki eine Sterbliche verführt hat, das ist doch nichts Neues. Das hat Odin ihm immer durchgehen lassen. Dass er sich Odins Befehl widersetzte, ist doch auch ein alter Hut. Odin hatte immer viel übrig für Loki, dass er ihm immer alles durchgehen ließ. Ja, hatte... "Es ist doch keine Sünde, seine Tochter zu lieben..." flüsterte Thor und erstarrte, als ihm bewusst wurde, dass er seine Gedanken wirklich laut ausgesprochen hatte. Ein Blitz, viel heller als all die Kunstwerke, die Thor mit seinem Hammer erschaffen konnte, schoss aus dem Licht und im nächsten Moment lag der Donnergott im Schlamm, sein bebender Körper gegen den Stamm der Weide gepresst. Heimdals erster Gedanke war, zu ihm zu laufen und ihm zu helfen, denn auch wenn ihn der junge Gott nervte und er ihn absolut nicht leiden konnte, so würde es verdammt einsam werden, sollte er nicht mehr ständig in seine Gemächer geschneit kommen, um ihn zu einem Schachspiel oder ähnlichem Unfug zu überreden. Schmerz fuhr jedoch im nächsten Moment durch seine Beine und unfähig, sich weiter zu bewegen, sank er auf die Knie. Violette Strähnen hingen in sein Gesicht und er blinzelte sie fort. Nein, er würde nicht stöhnen! Er war ein Gott, er zeigte keine Schwäche. Niemals! "Siehst du nun deine Schuld?" Erneut diese laute und zugleich so sanfte Stimme. Monoton klang sie. Maßlos enttäuscht von ihrem Lieblingsgott. Sünde? Schuld? Heimdal verstand Odin nicht wirklich und er ahnte, dass es Loki ähnlich ging. Der junge Gott musterte das Licht vor sich schweigend, dann drehte er sich um und ging davon. Ganz einfach so. Nein, er lief nicht weg, seine Schritte waren dafür viel zu entschlossen und bei weitem nicht schnell genug. Ein warmer Frühjahrswind hüllte die Gestalt ein und Heimdal konnte zwischen dem schwarzen Stoff, der leicht bewegt wurde, geballte Fäuste sehen, die heftig bebten. Vielleicht verstand Loki die Worte Odins. Aber es war offensichtlich, dass er sie nicht akzeptierte. Im nächsten Moment war er von der Erde verschwunden, war nach Asgard zurück gekehrt. Und hatte es gewagt, ihren höchsten Gott ganz einfach zu ignorieren. *** "Wach auf! Heim! Es ist wichtig!" Heimdal wurde brutal aus seinem wohlverdienten Schlaf gerissen, als die Tür zu seinem Schlafgemach förmlich aus den Angeln sprang und krachend zu Boden ging. "Was...?" murmelte der Wächter müde. Normalerweise benötigte er keinen Schlaf als Gott, aber da diese Betten so gemütlich waren und Träume eine angenehme Abwechslung darstellten, hatte er sich über die Zeit daran gewöhnt und kam kaum mehr ohne Schlaf aus - oder einfach ohne die Momente, in denen er faul umherliegen und den Alltag für ein paar Stunden vergessen konnte. Eigentlich wäre ihm als Wächter Schlaf ja sogar untersagt, aber seit Äonen von Zeitaltern war niemand in Walhalla eingebrochen, da würden sich niemand ausgerechnet diese Nacht dazu heraussuchen. Nein, Feinde der Götter taten dies wahrlich nicht. Dafür aber ein ganz bestimmter Donnergott. "Es geht um Loki!" Thor sprang mit solcher Wucht auf Heimdals Bett, dass dieses nachgab und die beiden Götter plötzlich einen Meter tiefer saßen. Heimdals rote Augen leuchteten unheilverkündend in der Dunkelheit, als er sein weißes Nachthemd raffte und sich stapfend einen Weg durch seine plüschigen Kissen bahnte. "Dafür wirst du büßen!" schrie er aufgebracht und schlug zu - nur, um wieder einen Stromschlag zu erhalten. "Das ist unfair! Erst..." "Hör auf zu winseln, Heim! Es geht um Loki! Du musst sofort mitkommen, denn allein schaff ich's nicht! Bitte, Heim!" Es war nicht nur der ungewohnt häufige Gebrauch seines Spitznamens, sondern vor allen Dingen die Tatsache, dass ihn Thor, der ach so stolze Gott des Donners, um etwas bat und ihm nicht wie sonst etwas befahl, was Heimdal inne halten ließ. Skeptisch musterte er den jungen Gott vor sich, der einen flauschigen Pyjama in Blau trug - die neuste Mode der Erdenbürger - und holte schließlich tief Luft. Das Bett konnte er auch später noch reparieren, genauso, wie er Thor später noch für dessen Zerstörung verprügeln würde. "Was ist los? Was ist mit Loki?" Er redete sich ein, dass er nur nachfragte, um Thor los zu werden und endlich wieder seine Ruhe zu haben, aber etwas in dunklen Augen ließ ihn unbewusst schaudern. Thor hatte Angst. Echte Angst. Das hatte er nie. Nie! "Er vollführt den Ritus." Thor packte nun Heimdal bei den Schultern und wollte ihn mit sich ziehen. "Ja, und? Er ist ein Gott, natürlich vollführt er einen Ritus. Ich glaube kaum, dass er dazu unsere Hilfe braucht!" Der Wächter befreite sich aus Thors Umklammerung und sprang von der nun lädierten Matratze. Genervt ging er in sein Wohngemach, dicht gefolgt von Thor. "Nicht irgendeinen Ritus, Heim. DEN Ritus!" Thor schluckte hörbar und Heimdal, der nach seinem dunkelgrünen Hemd griff, um es über sein Schlafgewand zu streifen, drehte sich langsam um. Thors Angst verwandelte sich allmählich in Todesangst. Heimdal hatte diese erst einmal in seinem Leben bei einem Gott gesehen. Vor nicht all zu langer Zeit. Als Loki bewusst wurde, dass Odin seine Tochter vernichtete. "Welchen..." "Den Ritus von Niflheim." Flüsterte Thor und sah für einen Moment so aus, als müsste er sich übergeben. Aber er riss sich zusammen und hob seinen Hammer, den er, ohne dass Heimdal es bemerkte, gezogen hatte. Das Objekt glühte golden. "Ist der bescheuert?!" Heimdal schüttelte seinen Kopf und lief dann dem Donnergott hinterher, ohne sich weiter darum zu kümmern, dass er sich noch immer in seinem Nachthemd befand. Ein Schnipp hätte genügt, um den Stoff in eine angemessenere Kleidung für einen Wächter zu ändern, aber er dachte nicht daran. Seine Gedanken waren einzig auf seinen Feind konzentriert, und er konnte nicht glauben, dass Loki so dumm sein würde, ausgerechnet diesen Ritus anzuwenden. So dumm... ... oder so verzweifelt. "Das kann ihn den Hals kosten!" rief Heimdal und seine nackten Füße klatschten auf dem kalten Marmor, als er Thor folgte, dessen Hammer das einzige war, das die Nacht zu erhellen schien. Lokis Gemächer lagen am anderen Ende von Walhalla und da Odin nicht wollte, dass in seinem Schloss plötzlich irgendwelche Gestalten hinter ihm erschienen, konnte man nicht so einfach auftauchen und wieder verschwinden, wobei er sich selbst von dieser Regelung ausschloss. Es war seine Welt, er konnte in ihr walten, wie es ihm beliebte. Daher mussten sie nun den ganzen Weg rennen, was nicht unbedingt sehr göttlich aussah. Der gehetzte Ausdruck auf ihren Gesichtern noch weniger. Endlich, es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, erreichten sie Lokis Gemächer. Heimdal war schon oft hier gewesen, aber die großen, weitausladenden Räume, über die er noch vor wenigen Tagen gespottet hatte, kamen ihm mit einem Mal still und verlassen vor - und er wusste, dass dies nicht nur an der Nachtzeit lag. Ihr Lachen fehlt. Hels Lachen... Heimdals Schritte wurden immer langsamer und verhalten schließlich, als er in dem breiten Flur stehen blieb und in die Zimmer spähte. Die Türen standen offen, waren zu keiner Zeit verschlossen gewesen, als sie noch hier lebten. Alle drei, Lokis Familie. Ein Schauer jagte über Heimdals Rücken, da er die Plasteknochen, die Plüschtiere und die kleinen Bälle, von denen der junge Gott wusste, dass sie nervtötend und tagelang klingeln konnten, in einem viel zu großen Hundekörbchen sah. Eine Decke lag darin, die liebevoll zusammen gefaltet war, bereit, den Hund zuzudecken und ihm einen geborgenen, sicheren Schlaf zu garantieren. Nur, dass der Hund nie mehr zurückkehren würde. Frenrir. Im nächsten Zimmer stand ein großes Aquarium aus Glas, das beinahe den kompletten Boden ausfüllte. Es war mit Sand gefüllt und Heimdal erkannte eine weiche Plüschmaus, die in der äußersten Ecke hinter einem Kaktus vergraben war. Wasser glitzerte im Licht der Sterne in einem kleinen Bassin, das in der Mitte des Aquariums eine einladende Erfrischung bot. Es wurde regelmäßig gesäubert, auch wenn hier wohl nie jemand mehr Baden und dabei einen lachenden Gott mit Wasserbällen bewerfen würde. Midgar. Heimdal schluckte, als der wohlbekannte Kloß in seinen Hals zurückkehrte und seine Beine wurden ganz steif, so als wollten sie ihn nicht weiter tragen, ihm nicht das letzte Kinderzimmer offenbaren. Ihr Kinderzimmer. Es war voller Puppen, ein wahres Paradies für jedes kleine Mädchen. Traurige Knopfaugen diverser Teddys schauten nun auf ein Teeservice, aber die Party würde wohl nie beendet werden, auch wenn der Kuchen auf den Tellern frisch wirkte. Hel. Heimdal fuhr sich mit eiskalten Händen über das plötzlich heiße Gesicht. Loki war sein ärgster Feind. Sie würden sich gegenüberstehen am letzten Tag der Welt, an Ragnarök. Und dennoch... dennoch konnte Heimdal dem arroganten Gott des Unheils nicht abstreiten, dass er seine Kinder wirklich geliebt hatte, egal, wie missgeformt oder unwillkommen sie auch gewesen waren. Sie waren seine Familie gewesen. Eine Familie... "Heim! Komm! Schnell!" schrie da Thor plötzlich auf und riss den Wächter aus seinen trüben Gedanken. Es kostete ihn all seine Überwindung, sich von den Kinderzimmern und den Erinnerungen an fröhliches Gebell, Zischen und Gelächter abzuwenden und Thors verzweifelter Stimme zu folgen. "Bin schon..." Der Rest des Satzes blieb ihm in der Kehle stecken, als er endlich Lokis Schlafgemach erreichte. Das Bett war zur Seite gerückt worden und der junge Gott saß in der Mitte des Raumes. Noch immer trug er seine Trauerkleidung, die er wohl nie mehr gegen die sonst so grellen Hemden und Hosen eintauschen würde. Sein Gesicht war im Licht einiger Kerzen ungewöhnlich aschfahl, die Augen gläsern und leer. Seine Hände hatte er in seinem Schoß gefaltet, so als würde er beten, einen Akt, der nur Menschen zustand, da Götter ihn nicht für nötig erachteten. Blauer Nebel stieg um ihn herum empor und Heimdal musste zwei Mal hinschauen, bis er das Pentagramm sah, auf dem Loki saß, mit dem er den Ritus beschwor, der ihn das Leben kosten konnte, Göttlichkeit hin oder her. Der Ritus von Niflheim wird ihn direkt ins Totenreich führen - ohne Hoffnung auf Rückkehr. Jemals wieder. "Ich komm allein nicht durch seine Schutzwall!" brachte Thor hervor und wie zum Beweis hielt er seinen Hammer in Lokis Richtung, nur, um im nächsten Moment vor dem Bett zu liegen. Er will wirklich sterben... Heimdal betrachtete Lokis entspanntes Gesicht und mit einem Mal war ihm unglaublich übel. Nein, er will nicht sterben, er will nur zu seiner Tochter. Aber das ist der falsche Weg! "Da mach ich nicht mit!" Plötzlich war Heimdal unsagbar wütend. "Was soll das, Loki? Ich bin derjenige, der dich laut Vorsehung töten soll, nicht du selbst, du Volltrottel!" schrie er aufgebracht und wartete nicht auf ein Zeichen der Zustimmung von Thor, als er ebenfalls den Stiel des Hammers umgriff und gemeinsam mit dem Donnergott die unsichtbaren Schranken durchbrach. "Loki..." Thor rüttelte den Gott des Unheils heftig, so dass der Kopf mit dem braunen Schopf, der trotz übernatürlicher Kräfte und Magie nie zu bändigen war, hin und her flog. "Tu uns das nicht an! Das ist doch keine Lösung! Das..." "Idiot!" War alles, was Heimdal zu sagen hatte, während er sich daran machte, das Pentagramm zu neutralisieren. Es fiel ihm nicht leicht, denn Loki war stark, aber er selbst war auch kein Schwächling. Während Thor den noch immer apathisch wirkenden Gott aus der Mitte des Raumes zerrte und schließlich in seinen Armen wiegte, gelang es Heimdal endlich und die Verbindung zur Unterwelt wurde getrennt. In dem Moment, als sich Heimdal siegessicher grinsend zu den anderen beiden umdrehte und sagen wollte, dass alles wieder in Ordnung wäre, hob Loki seinen Kopf und dunkelgrüne Augen fokusierten sich auf Heimdal, er schien aus seiner Trance zu erwachen. Der Gott des Unheils riss sich plötzlich aus Thors Umarmung und stürmte auf den Wächter zu, mit weit geöffneten Armen, durch den schwarzen Mantel unheimlich wirkend. So bedrohlich. "NEIN!!!" Heimdal konnte den Schrei nicht zuordnen. Weder wusste er, ob er aus Lokis oder Thors Kehle stammte noch ob er ihn sogar selbst ausgestoßen hatte. Im nächsten Moment explodierte seine Welt und unsagbare Pein hüllte ihn ein. *** Mein rechtes Auge. Schmerzen. Mein rechtes Auge. Unerträgliche Schmerzen. Mein rechtes Auge. Schmerzen. *** Heimdal saß wie betäubt vor dem großen Steinthron in dem Festsaal Walhallas und starrte auf seine schweren Stiefel. Die Ordnung sowie die Höflichkeit hätten es ihm zwar geboten, zu dem höchsten Gott aufzuschauen, aber er konnte es nicht. Das gleißende Licht bereitete seinem linken Augen Höllenqualen, während das rechte Auge leicht pochte. Zumindest so lange er sich nicht all zu rasch bewegte. Sein rechtes Auge... oder besser gesagt, das, was davon noch übrig geblieben war: Eine tiefe, schwarze Höhle, die er nun notdürftig mit einigen Strähnen seines violetten Haares zu verbergen suchte. So recht mochte es ihm nicht gelingen. Genauso wenig, wie er glauben konnte, dass Loki ihn so hinterhältig verraten hatte. Ja, sie waren Erzfeinde, vom Schicksal dazu auserkoren, gegeneinander die Waffen zu erheben, wenn das Ende der Welt nahte, dennoch hätte Heimdal dem Gott des Unheils niemals zugetraut, ihn so schändlich zu hintergehen. Vorsichtig hob er seine rechte Hand und befühlte den noch immer angeschwollenen Wangenknochen, wusste, dass er das Lid nicht zu öffnen brauchte, er würde auf dieser Seite sowieso nichts sehen. "... und wegen dieses Vorfalls und in Anbetracht seines Verhaltens mir gegenüber während der letzten..." Heimdal hörte nur halbherzig dem zu, was Odin ihnen zu sagen hatte. Zu tief saß die Enttäuschung, zu tief brodelte der Hass in seinem Inneren. Ich habe ihm helfen wollen, damit er nicht in die Unterwelt hinab fährt! Und er hat mir mein rechtes Auge gestohlen! Oder hatte Loki den Ritus von Niflheim einfach nur inszeniert? Wissend, dass Thor versuchen würde, ihn abzuhalten und beim Scheitern ihn, Heimdal, hinzuziehen würde? War das alles nur eine Falle gewesen und Heimdal war blindlings hinein getappt? Verdammt! "... deshalb habe ich ihn auf die Erde verbannt ohne Chance, je wieder nach Asgard zurück zu kehren. Sein Anrecht auf Göttlichkeit hat er verwirkt..." Odins Worte drangen durch seine trüben Gedanken und er hörte Thor neben sich nach Luft schnappen. Heimdal hob seinen Kopf und verzog geblendet sein gesundes Auge. Als es ihm endlich gelang, Odins Helligkeit ein wenig auszugrenzen, sah er den Grund für das Luftholen des Donnergottes. Odin hatte vor ihnen einen Spiegel erschaffen, aber sie sahen nicht ihr Ebenbild darin, sondern einen Jungen von acht, vielleicht neun Jahren, der durch ein altes Haus schlenderte, das offensichtlich verlassen war. Ein junger Mann Mitte der Zwanzig folgte ihm, strich sich einige Strähnen seines langen dunklen Haares hinter die Ohren, während er angeregt redete. Worte, die weder Heimdal noch Thor hören konnten, dafür aber der Junge, der geduldig zuhörte und ab und an nickte. Ein sanftes Lächeln lag auf seinem Gesicht, das seine dunkelgrünen Augen erreichte. Der Junge trug schwarze Kleidung. "Loki?" flüsterte Heimdal verwirrt und beugte sich vor, um besser in den Spiegel sehen zu können. Wie war das möglich? Wie konnte ein Gott in einen kindlichen Körper gesperrt werden? Denn dass Loki diese Gestalt nicht freiwillig angenommen hatte, lag auf der Hand. Als Kind hatte man kaum Rechte, konnte sich in der Welt der Menschen schlecht behaupten. Und man sammelte weitaus weniger Pluspunkte bei den Frauen, die dann eher die liebe Mutter als die heiße Geliebte spielten. "Ja, das ist die Strafe, die ich ihm auferlegt habe. Er wird nicht mehr nach Asgard zurückkehren und er wird auf der Erde als Kind wandeln." Odins Stimme dröhnte in Heimdals schmerzendem Kopf und er unterdrückte ein Stöhnen, als er den jungen Mann an Lokis Seite erkannte, seine menschliche Form, die nur Loki ihm geben konnte. Schaut so aus, als hätte der Gott des Unheils nicht alle seine Kräfte verloren... "Midgar?" fasste Thor Heimdals Gedanken in Worte und hielt seinen Hammer fester. "Wie ist das möglich? Wie ist er..." "Loki hat ihn beschworen. Er hat herausgefunden, in welchem Kerker er schlummert und hat ihn mit sich auf die Erde genommen." Odin erhob sich und der Spiegel verschwand. Das letzte, was Heimdal in ihm noch sehen konnte, war, wie sich der Junge Loki zu seinem erwachsenen Sohn umdrehte und diesen umarmte. Alles nur Show! Er hat mir mein rechtes Auge gestohlen! "Loki hält sich nicht an die Regeln! Dies ist meine Welt und ich werde ihn in dieser nicht länger dulden!" Odins Stimme wurde immer lauter und Heimdal konnte nicht länger ein gequältes Stöhnen unterdrücken. Er starrte erneut auf seine Stiefel und presste seine rechte Hand auf die schmerzende Höhle. "Geht ebenfalls zur Erde und tötet ihn. Löscht ihn aus. Ein für alle Mal!" Odins helles Leuchten nahm zu, füllte bald den ganzen Palast, ja ganz Asgard aus. Dann war er verschwunden. Gerade noch rechtzeitig, denn keine Sekunde später rutschte Heimdal von seinem Stuhl auf die Knie und hielt nun mit beiden Händen die quälende Stelle in seinem Gesicht fest. "Heim?" Thor eilte sofort zu ihm, stützte ihn, als er umzukippen drohte. "Dafür wird er büßen! Dafür wird dieser Verräter büßen!" zischte der Wächter und schüttelte heftig seinen dröhnenden Kopf. "Wenn mir Odin nicht gerade den Befehl erteilt hätte, ich wäre auch so zur Erde gegangen und hätte ihn dafür getötet. Er hat mein Auge gestohlen, dieser verfluchte Lügner!" Thor setzte sich zurück auf seine Fersen und betrachtete den jungen Gott ihm gegenüber schweigend. Schweigend und traurig. *** Laue Luft, die sich schon viel zu warm für einen Frühlingstag anfühlte, fuhr sanft durch die Knospen der Kirschbäume. Bald würden sie in voller Blüte stehen und vielen Menschen in Japan Freude bereiten, würden in weite Parks zu fröhlichen Picknicks und lustigen Volksfesten mit Losbuden und Riesenrädern einladen. Die Sonne versank gerade am Horizont, färbte den Himmel in schimmernde Orange- und Rottöne. Kein Wölkchen war zu sehen, es versprach, eine sternenklare Nacht zu werden. Genau das Richtige für verliebte Pärchen und Romantiker. Der Junge, der leicht schwankend die kleine Seitenstrasse hinab taumelte, war jedoch alles andere als romantisch gestimmt, noch war er verliebt, er wusste nicht einmal, was so toll an der Liebe sein sollte und hielt sie für etwas, das nur Schwächlingen zustieß, nicht ihm. Denn er war nicht schwach. Er trug zwei schwere Taschen, die bis zum Rand mit frischem Obst und Fertiggerichten gefüllt waren. Ihm schien der warme Frühlingsabend umso weniger zu gefallen, da er über dem Gewicht seines Einkaufs noch mehr ins Schwitzen geriet. Entnervt schleppte er sich um die Ecke und stellte seine Ladung erst einmal auf eine kleine Wiese, die grünte und bereits die ersten Frühjahrsblüher zeigte, Schneeglöckchen und Krokusse. Ich hätte auch zwei Mal gehen können, das schaff ich sowieso nie bis nächste Woche. Der Junge holte tief Luft und fuhr sich mit der rechten Hand über das Gesicht, um den Schweiß fort zu wischen. Dabei lüftete er ein paar Strähnen seines violetten Haares, das ihm fast bis auf die Schultern reichte, und kniff geblendet sein rechtes Augenlid zusammen, damit niemand sah, dass sich dahinter nur eine dunkle Höhle verbarg. Er wollte nicht, dass ihn die Menschen so seltsam anstarrten. So voller Mitleid auf einen kleinen Jungen, der in ihren Augen schwach und hilflos war. Dumme Menschen! Ich hasse sie! Heimdal griff in die Taschen seiner kurzen Hose und forschte nach seinen Handschuhen, die er sich schließlich überstreifte. Leichter würden die Taschen davon sicherlich nicht werden, aber dafür würden sich die Henkel vielleicht weniger in seine Handflächen bohren. Ich hätte es wissen müssen! Heimdal galt als Lokis Erzfeind. Daher war es nur natürlich gewesen, dass Heimdal in derselben Gestalt auf die Erde gelangte wie Loki auch - was in seinem Fall bedeutete, dass sich der Wächter der Götter ebenfalls in dem Körper eines Jungen wiederfand. Eines gerade neun Jahre alten Jungen. Nur, damit sie sich bei Ragnarök als gleichwertige Gegner gegenüber stehen konnten. Verdammt! Alle anderen Götter, die Thor und ihm folgten, durften in ihrer wahren Gestalt kommen: Die Schicksalsgöttinnen sowie die Geschwister Freyr und Freya. Gut, Freya wurde ebenfalls in einen Kinderkörper gesperrt, konnte diesem aber immer häufiger und immer länger entkommen, bis sie nun fast den ganzen Tag als junge, aber dennoch erwachsene Frau durch Japan stolzierte. Jeder kann hier seinen Spaß haben, nur ich hab mal wieder die Arschkarte gezogen! Heimdal ballte zornig seine Fäuste, dann bückte er sich, um seine Einkaufstaschen wieder aufzunehmen. Dabei notierte er sich in sein mentales Notizbuch, dass er sich abgewöhnen musste, für vier Personen einzukaufen. Jetzt, da Freyr nicht mehr in der WG wohnte, da er doch seine Schwester wieder gefunden hatte und mit ihr quer durch Japan, manchmal sogar quer durch die ganze Welt reiste. Auch Thor, der früher öfters hereingeschneit kam, um sich bei ihm den Bauch voll zu schlagen, blieb immer länger fern. Und die Schicksalsgöttinnen? Diese studierten doch tatsächlich im Ausland! Letzte Woche war es Heimdal das erste Mal in dem vollen Jahr, das er bereits auf der Erde verbringen musste, passiert, dass er schlecht gewordenen Fisch hatte wegwerfen müssen. Normalerweise hätte er den Kühlschrank leer vorgefunden, nicht unangetastet. Heimdal ignorierte den Gedanken an eine stille Wohnung, in der niemand auf ihn wartete, nicht einmal Gullinbrusti, Freyrs verrücktes Hausschwein, und schleppte sich und seine Lebensmittel drei Schritte weiter. Helles Lachen ließ ihn zusammen fahren. Er kannte diese Stimme. Oh ja! Er kannte sie nur zu gut! War sie doch der Grund für seinen erbärmlichen Körper, für seine lange Qual auf der Erde ohne Aussicht auf Rückkehr. Ich habe noch immer den Befehl, ihn zu töten. Und dennoch war es ihm nicht gelungen, in all den Monaten nicht. Weder mit der Hilfe von Thor, der sich nach nur wenigen Kämpfen auf die Seite des Verräters schlug, noch mit den Prophezeiungen der Schicksalsgöttinnen. Ja nicht einmal die Heraufbeschwörung von Hels Seele konnte Loki zu Fall bringen. Nach einem Jahr ging es dem Gott des Unheils besser als je zuvor. Heimdal schlich hinüber zu dem Zaun, an dem ein Schild mit der Aufschrift >Enzyaku Detektei< hing. Das war nun Lokis neues Zuhause geworden, eine Detektei für Verrückte, wo er Mysterien oder >Mysteries<, wie dieses nervtötende Weibsbild ständig zu sagen pflegte, aufklärte. Zu Beginn glaubte Heimdal noch, dass Loki die bösen Geister einfing, um mit ihrer Energie nach Walhalla zurückkehren zu können. Dann aber entschied sich Loki, der Thor und die Schicksalsgöttinnen auf seine Seite gezogen und den Geist seiner Tochter erlöst hatte, nicht gegen Odin in den Kampf zu ziehen, sondern auf der Erde zu bleiben. Die anderen Götter blieben mit ihm - und auch ein wutentbrannter Heimdal, der innig gehofft hatte, um ein weiteres Jahr in einer unglaublich langweiligen Grundschule herum zu kommen. Es ist alles seine Schuld! Heimdal spähte durch die Stäbe zu dem alten Haus hinüber. Das Wohnzimmer war hell erleuchtet und das Fenster geöffnet. Midgar, der sich in dieser Welt Yamino nannte, schritt an diesem vorbei und schenkte allen Personen, die sich um einen runden Tisch versammelt hatten und Karten spielten, vorsichtig Tee nach. Thor - dieser Verräter! - dankte ihm und nahm sich noch zwei weitere Kekse von der großen Platte in der Mitte des Tisches - meine Plätzchen waren wohl nicht mehr gut genug gewesen? "Ich glaube, ich habe schon wieder verloren." Sagte Loki und zuckte hilflos seine Schultern, als Thor in fragend ansah und dieses dumme Weibsbild - ihr Name war, so glaubte Heimdal, sich dunkel erinnern zu können, Mayura - sprang darauf hin von dem Sofa, auf dem sie mit Loki gesessen hatte, auf und rannte jauchzend durch den Raum. "Ich hab gewonnen! Ich hab gewonnen! Ich hab gewonnen!" "Du hast sie absichtlich gewinnen lassen, oder, Daddy?" Daddy. Es gab wohl nur einen Sohn auf dieser Welt, der seinem Vater, einem mächtigen Gott noch dazu, eine englische Anrede gab, und diese vollkommen falsch aussprach. Eine Eigenart, die er bereits in Walhalla gepflegt hatte und die Loki nur zu gern angenommen hatte, egal, wie oft Thor und Heimdal versucht hatten, ihm den Fehler zu erklären. Heimdal brauchte einige Augenblicke, um auf Lokis Schoß das Fellknäul zu entdecken. Der junge Gott trug noch immer dunkle Kleidung, wenn auch nun etliche Nummern kleiner, so dass Heimdal Fenrir beinahe übersehen hätte. Der Höllenhund, dessen wahre Gestalt die eines Wolfes war, lag nun in Form eines schwarzen Welpen auf den Beinen seines Vaters und genoss jede einzelne Streicheleinheit sichtlich. Er hat mein rechtes Auge gestohlen! Er hat Odins Gesetze gebrochen! Er hat gegen Odin aufbegehrt und wurde deshalb verbannt! Heimdal beobachtete, wie Thor eine weitere Runde Karten ausgab und sogar Midgar dazu überreden konnte, ein Spiel zu wagen. Sie alle lachten und Loki, der in ihrer Mitte saß, lächelte glücklich. Glücklich! Wieso ist der glücklich, wenn er doch der Böse ist! Heimdal umklammerte unbewusst die Stäbe und starrte hinauf zu dem Fenster, das in der rasch hereinbrechenden Dunkelheit das einzige Licht war. Der Schein erreichte den Wächter der Götter jedoch nicht mehr, er stand bereits im Schatten. Abseits. Wie damals. Wie immer. Er soll leiden! Er soll leiden! Er soll leiden! Und dennoch war es Loki, der inmitten seiner Freunde, seiner selbst erwählten Familie saß und so fröhlich war wie seit vielen Jahren nicht mehr. Er soll leiden! Er soll leiden! Er soll leiden! Und dennoch war es Heimdal, der außerhalb dieses Glückes stand, sich leer und ausgelaugt fühlte. Er wollte wieder nach Hause, wobei er nicht wahr nahm, dass er damit nicht Asgard oder Walhalla meinte. "... du bist heute einfach zu gut, Mayura..." "... noch etwas Tee, Loki-sama?" "... ein Plätzchen könnte ich schon noch vertragen. Oder zwei..." "... ich hab heute Glück. Oder ist das ein Mystery?" "Daddy." Heimdal seufzte tief, bevor er sich letztendlich abwandte und die Lebensmittel ergriff, die er niemals allein würde aufessen können. Mit gesenktem Kopf, damit violette Strähnen komplett das fehlende Auge verdeckten und damit niemand seinen Gesichtsausdruck sehen konnte - besonders jetzt nicht - schlich er langsam davon. Dabei bemerkte er nicht einmal, dass er ein Schneeglöckchen zertrat, das tapfer auf dem unebenen Weg direkt vor dem Tor gewachsen war. Ein Adler kreischte irgendwo in der Dämmerung, aber der Wächter drehte sich nicht nach ihm um. Natürlich gehörte dieses Wesen zu ihm, half es ihm doch in Asgard, auf die Welt der Götter aufzupassen, wo er es immer hatte fliegen lassen, sich kaum darum kümmerte. Das rächte sich, sobald sie auf der Erde ankamen. Ab und an ließ sich der Adler zwar noch immer dazu herab, sich auf seine Schulter zu setzen oder doch den einen oder anderen Befehl anzunehmen, aber auch er blieb immer häufiger weg und Heimdal fragte sich zynisch, ob er nun auch zu Loki flog, um sich an dem Kartenspiel zu beteiligen. Thor kann ihm ja einen halben Keks abgeben! Und Loki kann ihn streicheln, so wie er dieses verdammte Hundeviech knuddelt! Heimdal seufzte tief und verschwand in der Dunkelheit. Ja, vielleicht war dies ein wunderschöner Tag gewesen für Loki und die anderen Götter, vielleicht sogar für die Japaner, die sich auf einen prächtigen Frühling und einen warmen Sommer freuten. Heimdal jedoch konnte keine Schönheit in ihm entdecken. *** Kapitel 1: Omega - 1: Schatten über diese Welt ---------------------------------------------- Hauptteil 1: Omega "Du wirst Liebe heucheln und alle betrügen Vertrauen missbrauchen mit maßlosen Lügen Unter der Maske so unendlich hart Sollst Du zerfallen, ach was bist du zart" Kapitel 1: Schatten über diese Welt Es gab kein Entrinnen. Heimdal wusste es sofort, als er die junge Frau sah, die lächelnd auf ihn zu kam, ein Kopfkissen in der einen und ein unglaublich dämlich schielendes Kuscheltier in der anderen Hand haltend. "Komm, Kazumi-chan." sprach sie sanft und obwohl er sich lieber hinter seinem Stuhl verkrochen hätte, ahnte er doch, dass Widerstand zwecklos war. "Komm schlafen, Kleiner." Heimdal ließ seinen Löffel in den ausgeputzten Teller fallen und starrte sie unverwandt an, was sie nur mit einem weiten, typischen Grundschullehrerlächeln erwiderte. Sanft ergriff sie seinen rechten Arm und führte ihn aus dem Speisesaal in den Schlafsaal. Heimdal ließ ergeben seinen Kopf hängen, um sein rechtes Auge zu verbergen und seufzte innerlich tief. Warum war das Schicksal so grausam zu ihm? War es denn nicht schlimm genug, dass er im Körper eines neunjährigen Jungen gefangen auf der Erde wandeln musste? Nein, musste er zudem noch eine Grundschule besuchen, die es als ihre heilige Pflicht verstand, ihren Schützlingen eine Stunde Mittagsschlaf zu verordnen, die langweiligste Zeit, die Heimdal hin und wieder zu erdulden hatte. Sonst kam die Polizei und er wollte nicht wissen, was dann geschah, wenn sie bemerkten, dass der kleine Junge ganz allein in einer großen Wohnung lebte. Früher hatte er Freyr noch als großen Bruder vorschieben können, aber dieser reiste nun zusammen mit seiner Schwester um die Welt - und ließ Heimdal in dieser Hölle zurück. Das ist schlimmer als Niflheim! Heimdal ignorierte seine Schulkameraden, so wie er das seit seinem ersten Schultag vor über einem Jahr getan hatte, und legte sich auf den leeren Futon nahe der Tür. Genervt schob er das Kuscheltier so weit wie möglich von sich, bevor er sein Kopfkissen eingiebig boxte und sich mit dem Gesicht zur Wand drehte. Sein rotes Auge funkelte wütend und er ballte seine Hände vor seinem Oberkörper. Oh, wie sehr er dieses Leben hasste. Wie sehr er Loki hasste, der ihn erst in diese Situation gebracht hatte! "Schlaft schön, meine Süßen." erklang die sanfte Stimme der Lehrerin und das Licht wurde gelöscht. Viel dunkler wurde es nicht unbedingt, da die Sonne hell durch die Fenster schien und auch die anderen Kinder wenig zum Schlafen animierte. Einige tuschelten leise miteinander, andere lachten fröhlich. Wenn ich doch wenigstens ein Buch hätte! Die einzigen Bücher, die diese Schule jedoch besaß, waren Fibeln und andere stinklangweilige Texte, die eben für Grundschüler konzipiert waren. Ich bin aber kein Grundschüler! Ich bin ein Gott! Und dennoch hatte er nicht genügend Macht, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Nein, dank Loki war es ihm verwehrt, wenigstens als junger Mann und damit unbehelligt durch diese Welt zu wandeln, wenn ihm eine Rückkehr nach Asgard schon verwehrt blieb. "Kazumi-chan?" Schritte erklangen und seine Lehrerin rüttelte sanft seine Schulter. Was ist denn jetzt schon wieder? "Hai?'" fragte er statt dessen und blinzelte sie verschlafen an, obwohl er sich putzmunter fühlte. Nur Kinder schliefen um die Mittagszeit, er war schließlich kein Kind. Und es hatte sogar Zeiten gegeben, wo er ganze Jahrhunderte keinen Schlaf benötigte. "Dein Onkel ist da, um dich abzuholen." Sie lächelte ihn erneut freundlich an und begleitete ihn zur Tür. Nachmittagsunterricht gab es an dieser Schule nicht, dafür aber Hausaufgabenbetreuung. Es oblag den Eltern, ob ihre Kinder nach dem regulären Unterricht nach Hause kamen oder sich bei ihren Aufgaben von ihren Lehrern helfen ließen. Heimdal hatte bemerkt, dass Japaner sehr berufstätig waren und fast alle Kinder bis abends blieben. Onkel? Ist Freyr etwa von seiner Rundreise zurückgekehrt? Heimdal grübelte und nickte in Gedanken versunken, als die Lehrerin ihm seinen Ranzen, eine quietschgelbe Schultasche, so wie sie alle Schüler diese Schule hatte, um im Dunkeln besser gesehen zu werden, reichte und ihn ermahnte, schön artig zu sein und brav seine Hausaufgaben zu machen. "Hallo, Kazumi-chan." Heimdal blieb wie angewurzelt stehen, als er die helle Stimme erkannte. In ihr schwang ein Kichern mit und schon fuhren zwei große Hände durch seine violetten Strähnen. "Hast du heute auch schön gelernt?" Thor grinste über das ganze Gesicht und ihm schien es unheimlich viel Spaß zu machen, den Wächter wie ein kleines Kind zu behandeln. Heimdal beschloss, ihn später dafür anzuschreien, aber erst, wenn er aus dieser Hölle, die sich so unschuldig Grundschule schimpfte, entkommen war. "Ja, Narugami-chan. Wusstest du, dass der Fujijama der höchste Berg Japans ist? Da will ich unbedingt mal hin!" Heimdal breitete seine Arme aus, um zu anzudeuten, wie groß dieser verfluchte Steinhaufen war und grinste ebenfalls. Sein Auge blitzte jedoch zornig. "Das ist ja toll, Kazumi-chan." Erneut wuschelte Thor durch widerspenstige Strähnen, bevor er sich der Lehrerin zuwandte und sich tief vor ihr verbeugte. "Danke, dass Sie ihn so gut unterrichten." Sagte er, ganz der vollendete Gentleman, der er in Heimdals Augen nie sein würde. Aber ein guter Schauspieler, das war er, schon immer gewesen. Damals, in Asgard. In welches Heimdal so schnell nicht mehr zurückkehren würde. Nicht, solange Loki am Leben war. Loki, der Verräter! "Vergiss nicht, deine Hausaufgaben zu machen. Besonders die in Mathe, da bist du nicht so gut." Ermahnte ihn die Lehrerin, verbeugte sich ebenfalls und ging zurück zu dem Schlafsaal, aus dem laute Kinderstimmen zu hören waren. "Ich werde ihm dabei helfen." Thor konnte sein Kichern nicht länger unterdrücken, als er Heimdal bei der Hand nahm, so wie das wohl ein richtiger Onkel auch getan hätte, und ihn aus der Schule rettete, obwohl Heimdal das niemals, nicht einmal unter Androhung des eigenen Todes so genannt hätte. Warme Frühjahrssonne hieß ihn außerhalb des grausamen Gebäudes willkommen und er atmete tief die milde Luft ein, die süßlich roch. Die Blüten der Kirschbäume öffneten sich jeden Tag mehr und tauchten Japan in einen hellen Glanz. "Nun, was für schwere Aufgaben hast du denn dieses Mal auf?" spöttelte Thor und ließ Heimdal los, als sie um die nächste Ecke bogen und damit dem wachsamen Auge der Direktorin entkamen, die am Fenster ihres Büros gestanden und ihnen nachgesehen hatte. "Gar keine! Denn Morgen früh geh ich zum Arzt und lass mich krank schreiben!" murrte der Wächter missgelaunt und schulterte seinen schweren Ranzen erneut, um das Gewicht besser auf seinem Rücken zu verteilen. Warum muss ich jeden Tag diesen doofen Atlas mit mir rumschleppen? Der ist viel zu unhandlich! Das Wort >schwer< kam Heimdal nicht einmal in den Sinn. Auch wenn er unbewusst aufatmete, als Thor danach griff und ihn sich lässig über die rechte Schulter schwang. Über der linken hing bereits seine eigene Schultasche, die jedoch wesentlich kleiner und damit auch leichter war. Das war jedoch auch kein Wunder, denn Thor besucht eine Oberschule, wo er nur zwei oder drei Fächer am Tag besuchte, die dann jedoch für mehrere Stunden. "Habt ihr da drin Ziegelsteine? Was machen denn Grundschüler damit?" stöhnte der Donnergott, als er das Gewicht auf seinem Rücken spürte und beschleunigte seine Schritte. Heimdal folgte ihm, innerlich kochend. Wieso durfte der als Teenager auf die Erde gehen und ich als Kind! "Wenn du dich krank schreiben lassen kannst, warum bist du dann heute dort hin gegangen? Ich kann's dir an der Nasenspitze ansehen, dass es dir dort nicht gefällt." Thor öffnete einen Knopf seiner dunklen Schuluniform und schloss seine Augen, als sie an einer roten Fußgängerampel standen. Offensichtlich genoss er die Sonnenstrahlen. "Ich kann nicht jeden Tag fehlen, das fällt auf. Außerdem geht dich meine Nasenspitze absolut gar nichts an!" giftete Heimdal zurück und steckte seine Fäuste tief in die Taschen seiner kurzen Hose. Natürlich war er den Schulbehörden nicht vollkommen hilflos ausgeliefert, aber er durfte die Möglichkeiten, die sich ihm im Fälschen von Entschuldigen seiner angeblichen Eltern und dem Vortäuschen unglaublicher Bauchschmerzen gegenüber seinem Hausarzt boten, nicht zu unbedacht ausnutzen, sonst würde noch jemand misstrauisch und kam bei ihm zu Hause vorbei, nur, um festzustellen, dass es gar keine Eltern gab. Nein, er musste vorsichtig sein. Eine Vorsicht, die bei Thor nicht geboten war, war er schließlich alt genug, ganz allein zu leben, auch wenn Thors Appartement in Heimdals Augen viel zu winzig war. Selbst die Schicksalsgöttinnen sind alt genug, um im Ausland zu studieren. Und ich lerne hier Bruchrechnung! "So sehr fällt es auch nicht auf." Beschwichtigte ihn Thor und klopfte Heimdal freundschaftlich auf die Schulter, nur, um in ein zornig funkelndes Auge zu blicken. Wie immer ignorierte er einfach den Unmut des anderen Gottes, schritt flott über die Straße und bog in eine kleinere Gasse ein, die von hohen Zäunen und alten Bäumen gesäumt war. "Oder konntest du einfach dem Mittagessen nicht widerstehen? Ich hab von deiner netten Lehrerin gehört, dass es heute europäischen Kartoffelbrei gab und du sogar einen zweiten Teller Nachschlag gegessen hast." Thor grinste breit, als er sah, wie sich Heimdals Wangen wie ertappt erröteten. Es war dem Donnergott bekannt, dass der Wächter ein extrem miserabler Koch war und sich privat meist von Fertiggerichten ernährte, besonders Ramen, wobei er es selbst bei dieser Aktion schaffte, das Wasser anbrennen zu lassen. Daher war Thor nicht verwundert, dass Heimdal die Gelegenheit ergriff, sich ab und an in der Grundschule von einem anderen, einem ordentlich gekochten Mahl verwöhnen zu lassen, auch wenn das bedeutete, dass er davor sechs langweilige Schulstunden erdulden musste. Wenn er nicht so dickköpfig wäre, könnte er bei Loki essen. Midgar kocht sehr viel und sehr gut, für ihn würde da sicherlich auch noch der ein oder andere Teller abfallen, wie für mich auch. Aber Thor wusste, dass er diesen Vorschlag niemals stellen durfte, wollte er nicht einen wirklichen Wutausbruch Heimdals erleben. Eher würde der Wächter verhungern, als auch nur einen Krümel Essen von seinem Erzfeind anzunehmen. "Ach, halt doch deine Klappe!" zischte Heimdal und stapfte die nächsten zehn Minuten schweigend neben Thor, bis ihm etwas einfiel und er abrupt stehen blieb. "Wo gehen wir hin?" fragte er und schaute sich verstohlen um. In dieser Gegend war er noch nie gewesen, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. "Wo sind wir?" Nein, er wollte nicht ängstlich klingen, dafür konnte er seine Stimme viel zu gut verstellen. Dennoch machte sich ein Gefühl der Ungewissheit breit. Wieso hatte Thor ihn von der Schule abgeholt? Das tat er doch sonst nie, das hatte nicht einmal Freyr getan, egal, wie oft Heimdal es ihm auch befohlen hatte. Der göttliche Tollpatsch hatte es immer wieder vergessen. Ist das auch eine Falle? Immerhin hatte Thor ziemlich schnell die Seiten gewechselt, vielleicht wollte er ihn nun genauso hintergehen, wie Loki das getan hatte. Heimdal tastete unbewusst zu der schmerzenden Höhle und schielte mit dem gesunden Auge zu dem Donnergott. Eigentlich traute er Thor solch eine Gemeinheit nicht zu. Aber anderseits hatte er vor nicht all zu langer Zeit auch Loki nicht dazu fähig gehalten. "Wo sind wir, Thor?" fragte er erneut, gebrauchte absichtlich Thors wahren Namen und nicht seinen japanischen. Wer konnte sie schon hören? Sie waren allein in der kleinen Gasse. Genau, allein. Einige weiße Blüten wurden durch die Luft getragen, sie wirkten wie sanfter, warmer Schnee. Heimdal fror es jedoch. Das Grinsen des Donnergottes wuchs noch weiter und seine dunklen Augen glitzerten schelmisch, als er erneut Heimdals linke Hand ergriff und ihn mit sich mit zog. Der Wächter würde sich dieses Mal aber nicht überrumpeln lassen. Nein, er würde kein zweites Mal so leicht verletzt werden. Thor würde ihm nicht auch noch verraten! Der junge Gott konzentrierte sich, rief lautlos nach seinen Adler und bereitete sich auf einen plötzlichen Kampf vor, als Thor vor einem kleinen Café stehen blieb. Einige Tische standen vor dem Lokal zwischen blühenden Kirschbäumen und die Atmosphäre wirkte unglaublich friedlich. Was ist das denn für ein bekloppter Kampfplatz? Heimdal zuckte zurück, als Thor mit einer einladenden Geste auf das Café deutete und sich leicht verbeugte. "Wir befinden uns vor der besten Eisdiele in ganz Tokio, ach was, in ganz Japan." Sagte Thor ernst, aber seine Vorfreude auf einen großen Eisbecher gewann und er lächelte glücklich. "Komm mit, Heim, ich lade dich ein." Mit diesen Worten schritt er sicher zu einem Tisch unter einem besonders weißen Baum und setzte sich, nachdem er ihre beiden Schultaschen sicher unter seinem Stuhl verstaut hatte. Heimdal folgte ihm nicht, blieb wie angewurzelt stehen und bemühte sich, nicht all zu überrascht auszusehen. So recht gelingen mochte es ihm nicht. Er lädt mich zu einem Eis ein? Er will gar nicht meinen verdammten Körper ausnutzen und mich einfach so angreifen? Loki hat ihm nicht befohlen, mir auch noch das andere Auge zu stehlen? "Ich kann dir nur Vanilleeis mit warmen Himbeeren empfehlen." Murmelte Thor, während seine Augen gierig das Menü überflogen. "Oder Schokoeis mit viel Schlagsahne." Der Donnergott blätterte um und seine Augen leuchteten umso mehr, als er das Angebot an besonderen Eisbechern sah. Heimdal fragte sich verstört, wann der junge Gott zu sabbern beginnen würde. Und wann er aus diesem seltsamen Traum wieder erwachte. ">Himmlische Überraschung<, na, wie klingt das, Heim?" Thor blickte auf und bemerkte erst jetzt, dass der Gott in Kindergestalt noch immer auf der Straße stand und ihn unverwandt anstarrte, so als wären ihm über Nacht zwei Köpfe gewachsen. "Was ist los? Komm her. Oder isst du kein Eis?" Thor fuchtelte mit der Karte einladend zu sich hinüber. "Keine Bange, ich kann's mir leisten, du musst hinterher nicht in der Küche stehen und abwaschen." Heimdal hob die Braue seines gesunden Auges und erwiderte noch immer nichts. Unbemerkt hatte er seine Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn skeptisch an. Ein Schatten segelte über ihm durch die Luft und im nächsten Moment landete ein großer Adler im Geäst über Thor. Der Donnergott brauchte nicht nach oben zu schauen, er wusste auch so, dass es sich um Heimdals Vogel handelte. Mental zuckte er mit den Schultern. Auch gut, ihn störte das Tier nicht, solange es sich einen anderen Platz aussuchte als seinen Kopf oder gar seinen Eisbecher, um der Natur zu folgen. "Seit wann hast du denn Geld?" fragte Heimdal schließlich und bewegte sich endlich auf den kleinen Tisch zu. Er fühlte sich wesentlich wohler mit mächtiger Unterstützung an seiner Seite. Mit seinen Krallen war der Vogel eine gute Waffe im Kampf gegen unerwartete Angriffe, besonders, da Heimdal in diesem verfluchten Körper steckte. "Ich hab gestern meinen Job verloren." Grinste Thor und wandte sich wieder seinem Menü zu, schob Heimdal ebenfalls eine Karte hinüber, als sich dieser mit einem kaum hörbaren Seufzer hinsetzte. "Den in dem Blumenladen?" "Hai." "Du sahst eh doof aus in dieser Schürze und hattest außerdem keine Ahnung, wie man mit Pflanzen umgeht." "Mag sein." Thor fand den Eisbecher seines Glückes und legte die Karte flach auf den Tisch. Dann lehnte er sich zurück und genoss den lauen Frühlingswind, der durch seine braunen Haare fuhr. "Und da hast du Geld, wenn sie dich gerade erst gefeuert haben?" spottete Heimdal und überlegte, wie viel Münzen sich noch in seinem Portemonnaie befanden. Als Grundschüler durfte er nicht zu viel mit sich herum tragen. Zufrieden stellte er bei seinen Rechnungen fest, dass es zumindest für sein Eis reichen würde. Sollte Thor doch aufwaschen gehen, vielleicht fand er dadurch gleich eine neue Anstellung. Ja, sie waren Götter. Ja, sie verfügten auch auf der Erde noch über gewaltige Kräfte, auch wenn sie wie in Lokis und Heimdals Fall als Kinder auf dieser Welt wandelten. Und ja, Thor war chronisch pleite. Dabei war es gar nicht so schwer, an Geld heran zu kommen. Loki hatte über die Jahrtausende in Walhalla Kleinigkeiten der Menschen gesammelt, die ihm damals gefallen hatten, und verkaufte sie nun als unglaublich wertvolle Raritäten. Das Geschäft, das er unter dem Mantel der Detektei betrieb, schien zu florieren. Zumindest brachte es ihm genug Geld ein, dass er sich das große Anwesen leisten konnte und Midgar, großzügig mit einer Kreditkarte von seinem Vater ausgestattet, einkaufssüchtig wurde. Vor allen Dingen bei Shopping-Kanälen. Heimdal dagegen setzte sich mit dem Internet auseinander und den sogenannten Sicherheitssystem der Banken, die er leicht zu umgehen wusste. Sein Konto litt nie unter Geldnot. Thor schien weder irgendwelche Souvenire zu besitzen noch die Fähigkeiten, die Mafia zu bestehlen, also blieb ihm nur eine dritte Möglichkeit, seinen immerzu hungrigen Magen zu füllen: Er suchte sich Gelegenheitsjobs, die er auch leicht in seiner Verkleidung als Oberschüler fand. Der Donnergott hatte bereits in fast allen Bereichen gearbeitet: Als Okynomiyakibäcker, als Pizzabote, als Teeverkäufer, als Angestellter in einem Zeitungsladen, in einer Boutique, in einem Supermarkt und in einem kleinen Restaurant. Sein Talent, sehr gut kochen zu können, kam ihm dabei zu Nutzen. Und sein immerzu knurrender Magen oftmals in die Quere. Er war es auch gewesen, der den Donnergott in die Arme des Feindes trieb, denn Midgar konnte noch besser kochen - und anders als Thors Kühlschrank war der der der Weltenschlange immer prall gefüllt. "Klar. Ich hab eine Abfindung bekommen, weil ich fast zwei Monate bei ihnen gearbeitet habe und es ihnen leid tat, mich aus wirtschaftlichen Gründen rauswerfen zu müssen." Thor verschränkte seine Hände in seinem Nacken und lehnte sich leicht zurück, bis die Lehne seines Stuhles den Stamm des Kirschbaumes berührte. "Moment? Die haben dir Geld gegeben, damit du gehst?" "Genau." Thor grinste noch breiter, sofern das überhaupt möglich war. "Typisch." Knurrte Heimdal, richtete sich jedoch auf, als die Bedienung kam. Sie war kaum älter als Thor aussah, vermutlich auch eine Oberschülerin. Sie lächelte sie beide freundlich an und nahm dann ihren Stift zur Hand, um ihre Bestellungen aufzuschreiben. "Ich hätte gerne das Vanilleeis mit heißen Himbeeren." Bestellte der Donnergott, ohne seine faule Körperhaltung zu verändern. "Und ich die Nummer dreizehn." Orderte Heimdal und senkte leicht den Kopf, als sie ihn überrascht anstarrte. Hatte sie sein fehlendes Auge bemerkt? Würde sie ihn jetzt für den Rest ihres Essens seltsam anschauen? So mitleidig? Wie all die anderen auch? "Chocolate on the rocks? Bist du dir sicher, dass du nicht lieber die Nummer fünf möchtest?" fragte sie freundlich und lehnte sich zu ihm hinab, um das Menü eine Seite zurück zu blättern. Heimdal hielt jedoch die Karte entschlossen fest und musterte sie eisig mit seinem gesunden Auge. "Nein. Ich will keinen >Buratino<." Erklärte er mit schneidender Stimme und biss sich auf die Unterlippe, als sie ihm schließlich die Eiskarte aus den Händen riss. "Aber..." "Kleiner Scherz, Miss. Nehmen Sie's mir nicht übel." Thor kippelte zurück zum Tisch und strahlte die Bedienung entwaffnend an. "Er hat heute in der Schule gelernt, dass nur Erwachsene Alkohol trinken dürfen und hat es nicht geglaubt, weil er zu Silvester auch mit einem winzigen Schluck Sekt anstoßen darf. Da habe ich ihm gesagt, er soll es einfach versuchen und feststellen, dass seine Lehrerin Recht hatte." Thors Charme stieß Heimdal übel auf und er glaubte, sich erbrechen zu müssen, als die Bedienung errötete und ihn verliebt anhimmelte. "Die Himbeeren sind natürlich für ihn und das Eis on the rocks ist für mich." Thor kramte kurz in seiner Schuluniform und produzierte einen Ausweis, auf dem nun sicherlich ein Alter stand, das selbst für Narugami gelogen war. "Ach so..." die Bedienung schmachtete ihn immer noch so ekelig an und notierte sich schließlich die gewünschten Speisen. "Da hast du aber eine kluge Lehrerin, ..." "Kazumi-chan." Half ihr Thor aus, der sich königlich amüsierte. "Und ich bin sein großer Bruder." "Da hast du eine kluge Lehrerin und einen klugen Bruder, Kazumi-chan." Erklärte die junge Frau in einer viel zu hohen Stimme, so als würde sie mit einem Baby sprechen. Mit einem Zwinkern zu Thor verschwand sie endlich im Inneren des Cafés. "Onkel, Bruder. Was bist du eigentlich sonst noch, von dem ich nichts weiß?" knurrte Heimdal, den es noch immer schauderte bei dem Gedanken an einen Buratino-Eisbecher. Er wollte gar nicht wissen, was der Name bedeutete. "Was immer du willst, Heim." Antwortete der Donnergott leichthin und lehnte sich wieder zurück gegen den Stamm. "Ist das deine neue Angewohnheit? Alkohol am frühen Nachmittag?" "Du hast heute keinen Aufsatz geschrieben mit dem Motto >Was ich später einmal werden möchteGuten Tag< sagen? Ich wusste ja, dass du gerne schläfst, aber nicht, dass du eine solche Schlafmütze bist." Grinste ihn ein nur all zu bekannter Gott an. Was? Thor stand an dem Herd und schwenkte gerade eine Bratpfanne über einer kleinen Flamme. Um ihn herum standen diverse Büchsen und aufgeschnittenes Gemüse auf der Arbeitsfläche sowie einige benutzte Messer und Schüsseln. "Was machst du hier?" fragte Heimdal überrumpelt, schrie den Donnergott nicht einmal an, was ihm denn einfalle, sich einfach so in seine Wohnung zu stehlen. "Mittag." Thor deutete mit dem Kochlöffel auf den weißen Kühlschrank und grinste noch breiter. "Ich wusste gar nicht, dass du so viel gute Sachen da drin hast. Da wäre ich doch schon viel eher mal vorbei gekommen." Ach, zum Vollfressen bin ich wohl gut genug? Heimdal verzog sein Auge zu einem Schlitz und tappte ungeduldig mit seinem nackten Fuß auf kaltem Flies. Andererseits, Loki schien auch keinen anderen Zweck als den des Futterspenders zu erfüllen. Thor war wirklich verfressen - und dazu ständig pleite. Eine äußerst gefährliche Mischung. "Hatte Midgar keine Zeit, dir etwas zu kochen?" mürrisch blickte Heimdal zu der Pfanne hinüber und errötete verärgert, als sich sein Magen ob der guten Düfte lautstark zu Wort meldete. Immerhin hatte er Abendbrot ausgelassen und die restlichen Mahlzeiten des Tages wieder hergeben müssen. "Wir treffen uns mit Loki und Mayura in einer Stunde am Bad, bis dahin solltest du auch etwas essen und dich anziehen." Thor drehte das Gas ab und nahm Heimdal den Regenschirm ab, den er noch immer abwehrend vor seinem Oberkörper hielt. Dabei sah er die linke Hand des Wächters. Sie war rot und angeschwollen. Sicherlich tat sie sehr weh. "Was hast du da schon wieder angestellt?" fragte er entsetzt und hielt die Hand an den Gelenken fest, als Heimdal sie rasch zurückziehen und sicherlich in einem seiner Handschuhe verstecken wollte. Davon würde sie jedoch auch nicht heilen. "Nichts weiter." Grummelte Heimdal und wandte sich in dem Griff des anderen Gottes. Thor ließ ihn jedoch nicht los, sondern führte ihn hinüber zu einem Stuhl und drückte ihn auf diesen. "Na sicher." Meinte er und blickte Heimdal warnend an. "Du bewegst dich nicht vom Fleck, ich hol das Verbandszeug." Thor wartete erst gar nicht die Reaktion des Wächters ab, sondern marschierte geradewegs in das Badezimmer. Als er zurück in die Küche kam, saß Heimdal tatsächlich noch auf dem Stuhl, aber er hatte sich mittlerweile die Pfanne geholt und aß den gebratenen Reis geschickt mit Stäbchen. Rasch hatten sie sich alle an die japanische Lebensweise gewöhnt, besonders, da niemand von ihnen ewig nur Suppe essen wollte, weil man dafür den Löffel benutzen konnte, ohne für großes Aufsehen zu sorgen. "Schmeckt's wenigstens?" "Geht so." "Lass mir noch was übrig." "Warum sollte ich, es sind doch meine Zutaten." Thor zuckte gleichgültig mit seinen Schultern, rückte einen weiteren Stuhl näher an den Wächter heran und setzte sich. Er hatte eine große Pfanne gebraten, Heimdal würde sicherlich nicht alles auf einmal essen. Dafür hatte er das Essen ja auch nicht gekocht. Ohne große Umschweige ergriff er die verletzte Hand und verteilte großzügig Brandsalbe auf den roten Stellen. Thor hatte oft genug in Schnellimbissrestaurants gearbeitet, er wusste, wie Brandwunden aussahen. "Hey, was soll das?" knurrte Heimdal unwillig und wollte seine Hand fortziehen, aber Thor hielt ihn erneut zurück. "Halt einfach nur still, ja?" Der Wächter der Götter gab ein undefinierbares Geräusch, tat dann jedoch, wie ihm geheißen, ohne aber sein Mittagsmahl zu unterbrechen. "Was machst du wirklich hier? Sonst gibt es doch Essen in der Schule, oder?" fragte er nach einer Weile, in der sie schweigend dagesessen und Thor Heimdals Hand verbunden hatte. Der Schmerz verebbte langsam und würde ihn den restlichen Tag nicht mehr quälen. "Meine letzte Stunde fiel aus und da ich dich telefonisch nicht erreichen konnte, dachte ich, ich komm mal vorbei. Hat sich ja auch gelohnt." Thor legte nach getaner Arbeit den Verbandskasten zur Seite und schüttete sich einen Teil des Reises in eine Schüssel, um das Essen ebenfalls zu genießen. Heimdals zornigen Blick ignorierte er absichtlich. Der Wächter der Götter grollte, sagte nichts weiter. Schweigend beendeten sie ihre Mahlzeit und Thor stellte den restlichen Reis, den sie nicht geschafft hatten, mit leichtem Bedauern in den Kühlschrank. Er hätte ihn gerne selbst gegessen, aber er wusste, dass Heimdal ihn dringender brauchte als er. Der kindliche Gott konnte sich schließlich nicht für den Rest seiner Existenz von Fertiggerichten ernähren - und eine Aussöhnung mit Loki, wo Midgar immer die feinsten Speisen zubereitete, lag noch in weiter Ferne, war vermutlich für die Erzfeinde unerreichbar. "Zieh dich an und pack deine Badesachen, wir haben nur noch zwanzig Minuten." Sagte Thor mit einem Blick auf die Uhr. Heimdal schien mit sich zu ringen, verschwand dann aber stumm aus der Küche, vermutlich hatte er Thors Aufforderung verstanden. Der Donnergott lächelte, während er das Geschirr zur Spüle trug und kurz auswusch. Er war froh, dass Heimdal den Reis mit so viel Hunger gegessen hatte und dass er besser aussah als noch vor einer Stunde, als Thor mit sanfter Gewalt in die Wohnung eingebrochen war. Schlösser stellten für ihn kein Hindernis dar, verfügte er trotz seiner menschlichen Gestalt über gewisse nützliche Kräfte. Die Küche hatte verwüstet ausgesehen, glänzte jedoch förmlich im Vergleich zu dem Wohnzimmer. Thor hatte Heimdal wütend anfahren wollen, was er sich dabei dachte, Eis mit Alkohol zu essen, wenn es sein Kinderkörper nicht vertrug, hielt dann jedoch inne, als er das Schlafzimmer betrat und den Wächter zusammengerollt auf seinem Futon liegen sah. Heimdal hatte blass und klein ausgesehen, was nicht nur an seinen äußerlichen neun Jahren lag. "Los, komm!" Heimdal erschien keine Minute später wieder in der Küche. Er trug ein frisches T-Shirt, auf dem ein großer Adler abgebildet war, und seine verbundene Hand wurde von seinem Handschuh verborgen. Noch war Frühling, da würde es niemandem auffallen, denn am Abend konnte die Luft doch noch ganz schön kalt sein. "Wir kommen sonst zu spät!" Der Wächter hatte nun die Rolle des Herumkommandierers übernommen, ließ kein Wort über das Essen oder die aufgeräumte Küche fallen. Thor schaltete das Radio aus und folgte ihm. Er hatte auch keine andere Reaktion erwartet. *** Ein Lolli! Angewidert musterte Heimdal seine Überraschung. Jeder, der das Spaßbad am heutigen Eröffnungstag besuchte, erhielt ein sogenanntes Eröffnungsgeschenk. Jeder Erwachsene durfte sich ein kleines Handtuch aussuchen, während den Kindern ungefragt Süßigkeiten in die Hand gedrückt wurden. Ich bin aber kein Kind! "Arigatou." Loki dagegen, ganz der vollendete Schauspieler, hüpfte kurz auf und ab, als die nette Dame am Eingang ihm einen ähnlichen Lutscher in die Hand drückte. Hat er denn gar keine Würde mehr? Heimdal seufzte tief und steckte dann seine Überraschung in seinen Rucksack. Er konnte sie auch später noch wegwerfen. Nur keine Aufmerksamkeit erregen oder gar den Zorn der anderen auf sich ziehen. Sonst verzogen sie sich in ein anderes Becken und Heimdal war einer erneuten Chance beraubt, Loki endgültig zu vernichten und zurück nach Asgard zu gehen. Endlich! Obwohl Loki diese Aufgabe heute vielleicht sogar selbst erfüllen würde, sollte er für einen Moment nicht aufpassen oder sich in zu tiefe Gewässer begeben. Der Gott des Unheils konnte nicht schwimmen, würde es wohl auch niemals lernen. Wasser nahm ihm auch noch seine letzten göttlichen Kräfte und er würde den ganzen Nachmittag über auf Mayura angewiesen sein. Wie gut dieses immer aufgeregte Mädchen auf ihn aufpasste, war allseits bekannt. Sobald sie ein >Mystery< witterte, würde sie ihn ohne eines Wortes einfach stehen lassen und er wäre hilflos sich selbst überlassen. "... hier gibt es sogar eine große Rutsche und einen Zehnmeterturm..." plapperte besagtes Mädchen ohne Punkt und Komma. Sie nervte Heimdal ungemein, aber er wusste, dass er dankbar sein sollte. Schließlich waren weder Fenrir noch Midgar mitgekommen. Welpen waren in dem Spaßbad nicht erlaubt und Midgar blieb wohl aus Mitleid bei seinem großen Bruder zu Hause. Wenigstens muss ich ihre Visagen nicht ertragen! "... und dann sagte ich zu dem Lehrer, dass er..." Mayura redete und redete - und Loki hörte geduldig zu. Sein Gesicht war sehr bleich, was durch seine schwarze Kleidung noch betont wurde, und sichtlich nervös knetete er die Tasche in seinen Händen. Heimdal verstand ihn nicht. Für niemanden hätte er sich in eine solche Situation begeben. Niemanden! Dieses Weibsbild wird die nächsten Stunden Spaß haben, während er vor Angst fast vergeht. Phantastisch! Heimdal konnte ein hämisches Grinsen nicht unterdrücken und folgte ihnen durch die hellen Gänge, die noch ein wenig nach frischer Farbe rochen. Für ihn war es der erste Besuch in so einem Spaßbad, aber aus Mayuras mehr als ausführlichen Beschreibungen und den vielen Prospekten, die sie mit sich herum trug, wusste er ganz genau, was ihn erwartete. Die Umkleidekabinen waren nicht nach Geschlechtern getrennt, dafür aber winzig und standen in Reih und Glied. Während sie rasch in ihre Badesachen schlüpften, stieß sich Mayura mindestens drei Mal ihren Kopf und Thor schaffte es doch tatsächlich, sich in seiner Kabine selbst einzusperren. Offenbar war der einfache Öffnungsmechanismus - ein kleiner Hebel in der Mitte der Sitzbank - zu kompliziert für ihn. Also kletterte er durch den engen Spalt zwischen Kabinentür und Decke, was ein sehr interessantes Schauspiel bot, nicht nur für das erstaunte Personal. Mayura hielt sich den Bauch vor Lachen, auch Loki kicherte leise. Heimdal verdrehte nur sein Auge und murmelte einige nicht besonders nette Anreden für den Gott des Donners. "Woher hätte ich auch wissen sollen, dass der Hebel mich wieder befreit?" Thor lehnte sich etwa zehn Minuten später wohlig in dem warmen Wasser zurück. Das Spaßbad war an dem Eröffnungstag gut besucht, dennoch hatten sie ein paar freie Plätze in dem Whirlpool erhascht, der noch nicht blubberte, dafür aber über Badewannentemperatur verfügte. Sonnenlicht schien durch die riesigen Fenster direkt darauf und Heimdal verzog geblendet sein Auge, das erneut leicht zu schmerzen begann. "Wie wäre es mit Nachdenken?" fragte er bissig und ließ sich neben dem Donnergott nieder, immer darauf bedacht, seine einbandagierte Hand ein wenig höher als den Rest seines Körpers zu halten. "Geht nicht, weißt du doch." Thor grinste ganz unbekümmert, nichts und niemand würde ihm seine gute Laune verderben. Er hatte ein vorzügliches Mittagessen eingenommen und zu seiner Freude entschloss sich Loki kurzfristig, den Eintritt zu bezahlen. Wenn er sich nun noch von jemandem ein Abendbrot erbetteln könnte, wäre dieser Tag perfekt. "Wenn deine Leistungen in Mathe nur halb so gut wären wie dein sportliches Können, wärst du ein Genie." Kicherte Mayura. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und trug einen pinkfarbenen Badeanzug. Heimdal musste neidlos gestehen, dass sie zumindest in einem Badeanzug eine gute Figur machte. Vielleicht war es das, was Loki anzog. Auf sexuelle Reize hatte er ja schon immer reagiert. Ja, auf sexuelle Reize. Aber auf Badeentchen? Heimdal beobachtete mit Entsetzen, wie ein kleines, gelbes Quietscheentchen über das noch ruhige Wasser des Whirlpools schwamm. Thor war natürlich sofort Feuer und Flamme und wie kleine Kinder schubsten Mayura und der Donnergott das Spielzeug gegenseitig an, um zu schauen, bei wem es denn die längere Strecke zurücklegte. Die bringen hier Babyspielzeug mit? Der Wächter wollte gerade einen patzigen Kommentar abgeben, als er Loki an der Treppe stehen sah. Er wirkte noch nervöser und bleicher. Langsam, ganz langsam stieg er die einzelnen Sprossen hinab und holte bei jedem Schritt tief Luft, da ihn mehr und mehr Wasser umgab. Er macht das alles nur wegen diesem Weibsbild. Einem Weibsbild, das ein Badeentchen mit in ein Spaßbad nimmt! Loki drehte sich schließlich um und Heimdal zog seine Stirn in Falten, als er das unsichere Lächeln auf dem Gesicht des Unheilsgottes sah. Er ahnte, dass sein ärgster Feind am liebsten das Bad wieder verlassen hätte, das aber nicht konnte, ohne Mayura weh zu tun. Sie hatte sich so sehr auf diesen Nachmittag gefreut und er wollte ihn ihr nicht verderben. Auch wenn das bedeutete, dass er dafür die nächsten Stunden litt. "Gefällt's dir, Loki-kun?" Mayura überantwortete das Spielzeug Thor und zog den Gott des Unheils wie selbstverständlich auf ihren Schoß. Sein Lächeln wurde eine Spur erleichterter, ehrlicher. Vermutlich fühlte er sich in ihrer Umarmung sicher, redete sich ein, dass ihm in dem verhassten Wasser nichts geschehen konnte, wenn er nur in ihrer Nähe blieb. "Sehr." Log Loki und nickte bekräftigend, nur, um leicht zusammenzuzucken, als das Wasser um sie in Bewegung geriet. Automatisch schnappte er nach Luft und versuchte, sich auf andere Dinge als der drohenden Gefahr zu konzentrieren. "Am Wochenende ist dein Geburtstag, Mayura, oder?" Es war eindeutig ein Ablenkungsmanöver und Thor und Heimdal erkannten dies auch. Beide hielten inne und die Badeente rutschte von Thors Kopf, ohne, dass Heimdal danach geschlagen und den Donnergott als eine Volltrottel bezeichnet hatte. "Hai. Ich freu mich ja schon so sehr drauf!" Begeisterung schwang in Mayuras Stimme und ihre Augen leuchteten erwartungsfroh. "Warum feiern wir dann nicht eine Party? Ich bin mir sicher, das Yamino sich gerne um das Essen kümmern würde. Lade doch einfach ein paar von deinen Freunden ein, Mayura." "Wirklich, Loki-kun?" "Wirklich." "Das ist spitze!" Loki vergaß sein Unbehagen für einige Momente, als Mayura ihn noch fester drückte und seine Wangen röteten sich leicht. Hah, er weiß zwar noch immer, wie man eine Frau herumkriegt, aber das wird ihm in dem Körper gar nichts nützen! "Nagnagnag..." Heimdal verdrehte genervt sein Auge, als ein gelbes Spielzeug vor seinem Oberkörper hin und her schwamm, ergriff die Ente und warf sie Thor schließlich an den Kopf. Mayura schmiedete natürlich sofort Pläne für ihre persönliche Geburtstagsfeier und Lokis sanftes Lächeln machte Heimdal fast rasend. Wie schaffte es dieser Kerl nur immer wieder, sich auch aus den schlimmsten Situationen das Beste herauszuholen? Er befand sich umgeben von Wasser, dem Element, das ihn den Tod bringen konnte, und schien sich mit einem Mal pudelwohl zu fühlen. Loki war in der Lage, auch die grässlichste Bestrafung in die schönste Belohnung zu verwandeln! "Nagnagnag..." Und Thor weiß nicht, wann seine Scherze nicht mehr lustig sind! Heimdal wollte ihn gerade anschreien und die Ente ergreifen, um sie aus dem Whirlpool zu werfen, da durchschoss ihn ein erneuter Schmerz. Tief pochte er im Inneren seines Kopfes und nur mit Mühe konnte er ein gequältes Stöhnen unterdrücken. Warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt, wo ich der Vollendung meiner Mission näher bin als je zuvor? Heimdal senkte leicht seinen Kopf und nasse Strähnen klebten in seinem Gesicht. Tränen schwammen in seinem gesunden Auge und er tat, als würde er sich Wasser, das der Whirlpool hochgewirbelt hatte, aus dem Gesicht wischen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass seine Umgebung auf einmal in tiefe Schatten gehüllt war und er nicht einmal mehr Thors Gesicht erkennen konnte, der doch direkt neben ihm saß und die Ente wohl erneut auf seinen Kopf gesetzt hatte, denn Heimdal glaubte, einen gelben Fleck in der Dunkelheit zu sehen. Was ist hier los? Es war nicht nur, dass ihn dieser erneute Anfall unendlich nervte, weil er so seinen Auftrag wieder nicht würde ausführen können, nein, er beunruhigte ihn auch ein bisschen. Über die letzten Monate, nachdem Loki ihm sein rechtes Auge stahl, hatte er sich an die Phantomschmerzen gewöhnt, aber die Anfälle waren nie so häufig aufgetreten. Ein oder zwei schmerzhafte Attacken im Monat waren die Regel geworden, zwei Zusammenbrüche innerhalb von nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte er noch nie erlebt. Verdammt! Er wollte sich vor den anderen Göttern keine Blöße geben, dennoch wusste er nicht, wie er sonst heil aus dem Whirlpool und dem Spaßbad oder gar wieder in die Wohnung zurück finden sollte. Er brauchte ihre mitleidigen Blicke nicht. Besonders nicht den falschen von Loki, dessen Schuld es war, dass es ihm so dreckig ging! Verflucht! Die Schmerzen nahmen immer mehr zu und er ahnte, dass er sie bald nicht mehr kommentarlos ertragen konnte. Sicherlich würde Mayura ausflippen und den Krankenwagen rufen und das gesamte Bad würde mit ansehen, wie ein kleiner Junge in das nächste Krankenhaus gefahren wurde. Da will ich nicht hin! Ich bin kein kleiner Junge! Ich bin ein mächtiger Gott! Ja, mit einem Migräneanfall... Scheiße! Er presste seine verbundene Hand gegen sein linkes Auge und holte stockend Luft. Das Wasser erschien ihm plötzlich viel zu heiß und er hatte mit dem Atmen Probleme. Ihm wurde schwindelig und diese beißende Übelkeit verkrampfte seinen Magen. Die töten mich, wenn ich hier ins Wasser spucke. Erneut holte er stockend Luft und spürte auf einmal eine Hand auf seiner linken Schulter. "Alles in Ordnung, Heim?" fragte Thor so leise, dass nur er es hören konnte, obwohl Mayura die ganze Zeit über von ihrer Geburtstagsfeier schnatterte, sie hätte gar nicht mitbekommen, dass Thor ihn nicht Kazumi-chan nannte. Heimdal fragte sich, ob er den Donnergott wirklich in sein Martyrium einweihen sollte, da hörte der Schmerz plötzlich auf. Von einem Moment auf den nächsten war er verschwunden und als der Wächter seinen Kopf hob, erkannte er klar und deutlich Thors besorgtes Gesicht vor sich. Heimdal blinzelte und sah sich um. Die Schatten waren hellem Sonnenlicht gewichen und sein rebellierender Magen beruhigte sich rasch, knurrte sogar leise bei dem Essensgeruch, der durch die ausladende Halle zog. Bestimmt gab es in diesem Spaßbad auch ein kleines Restaurant, vielleicht sollte er es später aufsuchen. "Klar." Grummelte er und schnappte sich die gelbe Ente, die unbeaufsichtigt vor ihm auf den Wellen tanzte, bevor Thor auf noch verrücktere Gedanken kam und sonst was mit dem armen Viech anstellte. "Wie wäre es, wenn wir rutschen? Es handelt sich um die größte Indoor-Rutsche Tokios, das können wir uns doch nicht entgehen lassen!" schlug Mayura vor, unterbrach für einige Augenblicke ihr Pläneschmieden. Thor nickte begeistert, während Heimdal böse grinste, als er sah, dass sich Loki seufzend in sein unausweichliches Schicksal ergab. *** So spektakulär die Rutsche sich von außen sich um das ganze Gebäude schlängelte, so spektakulär sah auch ihr Einstieg aus. Lichter durchfluteten die Dunkelheit und führten hinab in einen tiefen Schlund, der Heimdal an den Eingang Niflheims erinnerte, zumindest so, wie er das auf vielen Bildern in Walhalla gesehen hatte. Lokis erneutes Erbleichen sagte dem Wächter, dass es dem Unheilsgott ähnlich erging. "Das ist ja genial!" Mayura hievte einen großen schwarzen Reifen herbei und stellte sich geduldig an das Ende der Schlange an. Obwohl sehr viele Leute das Bad heute besuchten, dauerte es nicht all zu lange, bis sie direkt vor dem Schlund standen und zumindest die kindlichen Götter mit gemischten Gefühlen hinabstarrten. Thor und Mayura waren begeistert, sie redeten die ganze Zeit über von der Rutsche und ließen sich von den Schreien, die aus der Dunkelheit zu ihnen hinauf drangen, nicht stören. "Komm, Loki-kun." Mayura hatte sich auf ihren Schwimmreifen gesetzt und wippte in dem Wasser leicht hin und her. Noch hatte sie zu warten, denn noch stand die Ampel über ihnen auf Rot. Das Bad setzte auf hohe Sicherheitsstandards, niemand sollte sich verletzten, weil er schneller oder langsamer rutschte und damit in andere Besucher hinein rutschte. "Wir rutschen zusammen." Der Gott des Unheils schluckte sichtbar, dann gab er sich einen Ruck und kletterte vor Mayura in den Reifen. Sie schlang sofort ihre Arme um ihn und während ihre Augen vor Vorfreude leuchteten, waren seine voller Unbehagen getrübt. Er muss wirklich etwas auf den Kopf bekommen haben, um so einen Irrsinn mitzumachen! Als Nichtschwimmer! "Ich seh euch dann unten." Murmelte Loki, als die Ampel auf Grün umsprang und ein kräftiger Wasserstrahl die beiden auf ihrem Reifen in Bewegung setzte. Mayuras Schreie waren durch die gesamte Röhre zu hören, die sich rasch in helles Lachen verwandelten. Loki schien keinen Ton von sich zu geben. "Seh dich ganz unten..." murmelte Heimdal und hob seine Augenbraue, als Thor seinen Reifen wegstellen wollte. "Was glaubst du, was du da machst?" "Na, zusammen rutschen macht doch viel mehr Spaß!" "Sicherlich nicht." Heimdal warf dem Donnergott einen giftigen Blick zu, bevor er würdevoll in das kleine Becken vor dem Schlund stieg. "Ich rutsche allein!" "Wenn du meinst..." Thor schmollte leicht und schulterte seinen Ring wieder, wobei er aus Versehen eine junge Frau hinter sich anrempelte und sich so ausführlich bei ihr entschuldigte, dass sie errötete und zu kichern begann. Bin ich hier nur von Irren umgeben? Der eine begibt sich für so ein Weibsbild in Todesgefahr und der andere flirtet bei sich jeder bietenden Gelegenheit! Wo ist denen ihr Stolz geblieben? Heimdal verdrehte sein Auge und stieß sich ab, als die Ampel auf Grün sprang. Entweder hatten Mayura und Loki gerade einen kritischen Punkt überschritten oder aber die Rutsche bereits verlassen. Oder aber sie sind beide ertrunken! Heimdal grinste hämisch und drehte sich auf seinem Reifen, bis er mit dem Kopf in Fahrtrichtung lag. Das war zwar verboten und Warnungen standen auf mehreren Schildern im Eingangsbereich der Rutsche, aber ihm war das Wasser viel zu langsam und er wollte sich nicht unnötig langweilen. Die Lichter wiesen ihm den Weg trotz der Dunkelheit, die in der Röhre herrschte, und er lehnte sich in die nächsten Kurven, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Es gelang ihm und bald fuhr ihm der Wind durch die nassen Haare. Na bitte, es geht doch! Schließlich bin ich kein kleines Kind! Er grinste beinahe fröhlich und hoffte, dass die Rutsche auch wirklich so lang war, wie sie von außen aussah - und ob er Loki noch einmal dort hinauf locken konnte. Denn nichts befriedigte ihn mehr, als das Unbehagen in den Augen seines Erzfeindes bei einer Tätigkeit zu sehen, die ihm das reinste Vergnügen bereitete. Er bog um die nächste Kurve und mit einem Mal gingen die bunten Lichter, die das Innere der Röhre in allen Farben das Regenbogens erhellten, aus. Völlige Finsternis umgab ihn und er ärgerte sich darüber. Toll, ein neueröffnetes Bad und schon geht was kaputt! Er würde sich beschweren gehen und lauthals sein Eintrittsgeld zurück verlangen, ungeachtet der Tatsache, dass Loki ihn eingeladen hatte. Die nächste Kurve kam vollkommen unerwartet und warf ihn gegen die harte Plaste der Röhre. Der Reifen rutschte davon und seine suchenden Händen fanden ihn nicht wieder. Schmerz fuhr durch seine bandagierte Hand, als sie gegen eine unsichtbare Barriere knallte und er schrie unvermittelt auf, als sein gesundes Auge in seinen Kopf zu kriechen begann, es schien mit Nägeln gespickt zu sein, die sich tief in sein Gehirn zu bohren drohten. Ein grelles Licht funkelte hinter seinem fest verschlossenen Lid und er presste seine eisigen Finger vor das Auge und die Höhle, die in Flammen zu stehen schien. Sein Körper war nun wehrlos dem kalt wirkendem Wasser und der harten Rutsche ausgesetzt. Er wurde in jeder Kurve umher geschleudert und verschluckte sich, hustete, vergeblich nach Luft schnappend. Verdammt! Ein Anfall! Heimdal rollte sich zu einem Ball zusammen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und fragte sich, warum ihn gerade hier eine Attacke heimsuchen musste - und wann diese verrückte Rutschpartie denn ein Ende hätte. So lang hatte die Rutsche von außen nun auch wieder nicht gewirkt. Er wimmerte leise, was von dem Rauschen des Wassers übertönt wurde und spürte, wie er einige Meter, so erschien es ihm, nach unten fiel. Wassermassen schlugen über ihm zusammen und er wurde nach unten gezogen. Seine Lungen verlangten nach frischer Luft, aber alles, was er ihnen geben konnte, war eiskaltes Wasser, das sie nicht wollten. Er hustete, konnte nicht atmen. Seine Brust brannte und nur unter größter Kraftanstrengung gelang es ihm, seine bandagierte Hand von seinem schmerzenden Auge zu ziehen. Unsagbare Pein fuhr durch seinen Kopf, trotzdem öffnete er das Lid, nur um festzustellen, dass er sich in undurchdringbarer Dunkelheit befand. Eine Dunkelheit, die ihn verschluckte, die ihn nie wieder loslassen würde. Er hatte keine Ahnung, wo sich das Ende der Rutsche befand, noch wusste er, ob er überhaupt noch in der Röhre war. Es existierte kein Oben und kein Unten. Es schien noch nicht einmal eine Mitte zu geben. Verdammt! Nicht so! Nein, er wollte nicht sterben. Nicht in diesem beschissenen kindlichen Körper und erst recht auf dieser bescheuerten Erde. Er hatte gewusst, dass das Ende der Welt auch sein Ende bedeutet hätte, aber das wäre in Asgard gewesen, womöglich sogar in Walhalla, seiner Heimat. Er wollte nicht so enden, und erst recht nicht in der Fremde. Scheiße! Sein linker Arm ruderte umher und er glaubte, in der Finsternis einen Schatten zu sehen. Für einen Augenblick fragte er sich, ob das nun der Gott des Todes war, um ihn nach Niflheim zu führen, oder ob es sich um einen Hai handelte und er sich plötzlich im Meer vor den Toren Tokios befand - dann schloss sich jedoch eine Hand um seine einbandagierte und alle anderen Gedanken waren verschwunden bis auf einer: Das könnte meine Rettung sein! Heimdal spürte, wie er in eine bestimmte Richtung gezogen wurde und sich die Bandagen langsam in dem Wasser auflösten. Seine Hand entglitt der Gestalt und er drohte, zurück in die unendliche Tiefe zu rutschen. Der Schatten drehte sich zurück zu ihm und Heimdal hatte ein Déja-vu. Er glaubte sogar, dunkelgrüne Augen in der Finsternis sehen zu können. So wie damals, als er von der Brücke stürzte und Loki versucht hatte, ihn zu retten. Damals hatte Heimdal die ihm dargebotenen Hand grob zurück gestoßen. Heute jedoch griff er zu und schlang seine zitternden Finger mit letzter Kraft um eine Hand, die kaum größer als seine eigene war. Dann verschlang ihn die Dunkelheit endgültig. *** "Und Sie sind sich sicher, dass wir Sie nicht nach Hause fahren sollen?" Tief verbeugte sich die Managerin des Spaßbades vor ihnen und entschuldigte sich erneut, wohl zum hunderttausendsten Mal, seit Mayura und Thor zwei bleierne Götter aus dem Auffangbecken der Rutsche gefischt hatten. Obwohl das Wasser dort keinen Meter tief war, hatten es die beiden geschafft, sich auf den Grund zu begeben und nicht wieder zurückzufinden. Das beherzte Eingreifen ihrer größeren Begleiter verhinderte ein Unglück. "Ja, es ist nicht weit." Loki verbeugte sich ebenfalls und lächelte der völlig am Boden zerstörten Frau aufmunternd zu. Es war nicht ihre Schuld, dass er nicht schwimmen konnte und im Wasser wie ein Stein unterging. Und was immer auch mit Heimdal geschehen war, es lag sicherlich mehr an seiner göttlichen Herkunft und weniger an den Sicherheitsvorschriften des Bades. Der Gott des Unheils trug wieder seine dunkle Kleidung und beschwichtigte die Managerin, als sich diese noch tiefer vor ihnen verbeugte und in Tränen ausbrach. "Es hätte so viel geschehen können! Ich bin untröstlich!" "Es ist aber nichts geschehen." Versuchte Loki, sie zu beruhigen und blickte hinüber zu Mayura, die ebenfalls in seine Trost spendenden Worte einsprang. Sie hielt noch immer den Gutschein in der Hand, der ihnen für das nächste Jahr freien Eintritt versprach, als kleine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten. So richtig glücklich war Loki über die Aussicht nicht, dass Mayura nun wohl jede Woche mit ihm hier her wollte, aber er sah auch keine andere Möglichkeit, die Managerin zu beruhigen, die ihnen wohl noch ihren erstgeborenen Sohn angeboten hätte, damit sie ihr und ihrer Firma verziehen. "Der Arzt hat doch gesagt, dass alles in Ordnung ist." Erklärte Mayura ebenfalls ruhig. Thor schüttelte nur seinen Kopf und wickelte einen noch immer bewusstlosen Heimdal in eine warme Decke, die ihnen vom Bad ohne ein Wort zur Verfügung gestellt worden war. Während Loki nach Luft geprustet hatte, als Mayura ihn aus dem Wasser gehoben hatte, rührte sich Heimdal überhaupt nicht mehr. Zum Glück hatte er noch geatmet und der sofort hinzugerufene Arzt bestätigte ihnen, dass mit ihm alles in Ordnung sei und er bald wieder aufwachen würde. Er wollte den Wächter in das nächste Krankenhaus einliefern lassen, aber Loki und Thor überredeten ihn, dass er zu Hause besser aufgehoben wäre. Sie beide ahnten, wie fuchsteufelswild Heimdal sein würde, wenn er in einem Krankenhausbett aufwachte. Seine Laune wollten sie weder den gestressten Ärzten noch den unschuldigen Krankenschwestern antun. Behutsam hob Thor den kleinen Gott in seine Arme. In der Kindergestalt wog Heimdal wirklich nicht viel und es war keine besondere Mühe für den Donnergott, ihn nach Hause zu tragen. Es wäre auch sonst keine Mühe gewesen. "Gomen nasai... ich weiß ja gar nicht, wie ich ausdrücken kann, wie sehr es mir leid tut..." stammelte noch immer die Managerin und Loki drückte ihr schließlich mit einem freudigen Kinderlächeln sein Überraschungsgeschenk, den Lutscher, in die zitternden Hände. "Für Sie, Tante. Sein Sie nicht traurig, es ist doch alles in Ordnung." Er nickte ihr vergebend zu, dann ergriff er seine Tasche und Heimdals Rucksack. Nach einem kurzen Verbeugen verließen sie dann das Sekretariat der Managerin und traten durch den Ausgang des Spaßbades. Noch immer schien die Sonne warm auf sie herab und Vögel sangen Liebeslieder. Loki bog in eine kleine Gasse ein, wo man von dem Verkehrslärm der Großstadt nichts hörte und eine friedliche Atmosphäre hüllte sie ein, die sie alle lächeln ließ. Lauer Wind fuhr durch ihre noch feuchten Haare und Mayura wuschelte durch Lokis braune Locken, um zwei verirrte Kirschblüten zu befreien. Kurz sahen sie sich an, bevor das Mädchen voraus lief, um hier und da über die Zäune zu schauen und die Frühjahrsblüher zu nennen, die in den Gärten dahinter wuchsen. "Hier gibt es sogar ein ganzes Beet nur mit Schneeglöckchen!" Thor und Loki gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, während Mayura von einigen Kirschbäumen kleine Äste abbrach und sie zu seinem Strauß in ihrer Hand zusammen steckte. Offensichtlich hatte sie vor, damit Lokis Haus zu schmücken. "Bringen wir ihn zu mir." schlug Loki vor und winkte, als Mayura ihm einen besonders großen Kirschbaum zeigte, der am Wegesrand wuchs. "Heim wird begeistert sein." erwiderte Thor mit derselben leisen Stimme und betrachtete das Bündel in seinen Armen. Heimdal hatte seinen Kopf gegen seine Schulter gelegt, seine Hände lagen kraftlos vor seiner Brust auf einem aufgedruckten Adler. Die violetten Strähnen, die sonst die rechte Hälfte seines Gesichtes bedeckten, waren zur Seite gerutscht und offenbarten ein leicht eingefallenes Lid, ansonsten war nichts von seiner Behinderung zu sehen. Der Gesichtsausdruck des ohnmächtigen Gottes wirkte friedlich, so als wäre er zufrieden mit sich und der Welt. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Thor wünschte sich, dass der kleine Gott in seinen Armen öfters lächeln und dafür weniger höhnen würde. "Das ist schon okay. Mein Haus ist näher und ich will ihn nicht ohne Aufsicht lassen. Er kann nicht mehr versuchen, als meine antiken Vasen bei dem Versuch zu zerbrechen, mich umzubringen." Loki zuckte mit seinen Schultern und korrigierte Heimdals Rucksack. "Ich hab die Vasen noch nie gemocht, sie sind hässlich." "Hm..." Thor blieb stehen, als sich Heimdal leicht bewegte, dann jedoch weiter schlief. Zumindest hoffte der Gott des Donners, dass der Wächter von seiner Bewusstlosigkeit in einen tiefen Schlaf gesunken war. "Was habt ihr zwei da eigentlich im Wasser getrieben?" Thor blickte Loki forschend an und der Unheilsgott verstand seine andere, die unausgesprochene Frage. Ob Heimdal ihn in dem Becken angegriffen hätte, um seine Hilflosigkeit in dem nassen Element auszunutzen. "Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, Thor." Loki blickte hinauf zum wolkenfreien Himmel und wunderte sich stumm, wo Heimdals Adler war, immerhin hatte sich sein Herr in Gefahr befunden, wurde geradewegs in das Haus seines Erzfeindes getragen. "Mayura hatte mir bereits aus dem Wasser geholfen und schaffte ihren Reifen fort, als Heimdal aus der Röhre geschossen kam. Seinen Reifen konnte ich gar nicht sehen. Erst dachte ich, er will eine Runde tauchen, um sich anschließend über mich lustig zu machen, dass ich das nicht könnte, aber er kam nicht wieder zurück an die Oberfläche." Loki wandte sich wieder Thor zu und schob seine Hände tief in die Taschen seines schwarzen Mantels. Es war eine hilflose, eine beschämte Geste. "Da bist du zu ihm ins Wasser gesprungen?" Thor zog seine Stirn in Falten. "Ausgerechnet du, der keinen Meter schwimmen kann, ohne unterzugehen?" "Was hätte ich denn sonst tun sollen?" Ihn ertrinken lassen, denn er ist dein Erzfeind. Beide dachten sie diesen Satz, aber keiner von ihnen sprach ihn aus. "Schließlich lasse ich mich gerne von hübschen Mädchen retten." Nun grinste Loki wieder verschmitzt, bückte sich und hob einen Kiesel auf, den er eingehend betrachtete, als habe er noch nie etwas Interessanteres gesehen. Thor musterte ihn schweigend und konnte eine zweite Frage, die ihm auf der Seele brannte, nicht aussprechen. Hast du wirklich Heims Auge gestohlen, Loki? Er erinnerte sich noch gut an jene Nacht, in der der Gott des Unheils den Ritus von Niflheim vollführte und sich nach dessen Misslingen auf Heimdal stürzte. Es war alles so schnell gegangen und im nächsten Moment war Loki verschwunden und Heimdal lag am Boden, sein blutendes Gesicht haltend. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass der Unglücksgott seinen Erzfeind angegriffen und ihn seines rechten Auges bestohlen hatte, aber in Augenblicken wie diesen zweifelte Thor an Lokis Schuld. Wenn er es nur auf Heimdals Vernichtung abgesehen hätte, so wie es ihm vom Schicksal vorgeschrieben stand, dann hätte er sich niemals freiwillig in das unheilbringende Wasser begeben, um den Wächter zu retten. Nein, dann hätte Loki ihn seelenruhig ertrinken lassen, hätte sich dabei nicht einmal die Finger schmutzig gemacht. "Sieht dieser Strauß nicht toll aus? Der kommt ins Wohnzimmer, Loki-kun." Mayura zeigte Loki die weißen Zweige, äugte kurz zu dem schlafenden Heimdal, um ihm eine Blüte ins Haar zu stecken und lief dann wieder voran. Sie kannte den Weg zu Lokis Haus, verbrachte sie dort mittlerweile mehr Zeit als bei ihrem Vater im Tempel. "Du willst so bald nicht mehr nach Asgard zurückkehren, oder?" Thor konnte Lokis Detektei schon von Weitem sehen, als sie um die Ecke bogen. Vor einigen Monaten hatten sie sich alle darauf vorbereitet, gegen Odin zu kämpfen. Ein Kampf auf Leben und Tod, der vielleicht in Ragnarök hätte enden können. Im letzten Moment entschied sich Loki jedoch dagegen und so blieben die Götter auf der Erde, was niemanden großartig störte. Niemanden, außer Heimdal. Der Wächter hatte nie mit dem Donnergott darüber gesprochen, aber Thor ahnte, wie sehr er in seinem Kinderkörper litt. Am Anfang hatte Thor Lokis Kneifen nicht verstanden, aber mehr Zeit er mit Mayura verbrachte, desto mehr begann er zu begreifen, warum der Gott auf seinen Platz in Walhalla verzichtete. "Der Alte kann dort oben versauern! Hier kann er mir nichts mehr befehlen, egal, welche Schrecken er mir noch auf den Hals hetzt!" Loki ballte seine Faust um den Kiesel und seufzte leise. "Bis jetzt hab ich noch jeden besiegt." "Du könntest Odin besiegen, Loki. Deine Chancen stehen gut. Dann könntest du nach Walhalla zurück - mit ihr, wenn du willst." Thor deutete auf Mayura, die weitere Äste zu ihrem Strauß fügte und fröhlich über den Weg tanzte. "Diese Kirschblüten sehen so schön aus, Loki-kun. Ich kann es gar nicht abwarten, endlich wieder Blumen zu sehen." "Und was ist das dort am Rand? Unkraut?" Loki warf den Kiesel achtlos beiseite und deutete auf einige Krokusse, die auf einem kleinen Fleckchen Wiese wuchsen. "Das sind doch Frühjahrsblüher, Loki-kun. Ich möchte wieder Rosen und Sonnenblumen wachsen sehen. Hach, ich kann es kaum erwarten, dass es wieder wärmer wird." Mayura strahlte über das ganze Gesicht, als sie Loki den Strauß in die kleinen Hände drückte und einen zweiten zu binden begann. Das Haus des Unheilgottes besaß mehr als nur ein Zimmer, sie würde sie alle schmücken. Loki lächelte zärtlich und schloss seine Augen. Tief sog er den süßen Blütenduft ein, als er sein Gesicht in den Kirschzweigen verbarg. "Ich weiß, wie gut meine Aussichten auf Erfolg im Moment wären, Thor, und ich weiß auch, dass du und besonders Heim wieder zurück nach Walhalla wollt..." Entschuldigend blickte er zu dem Donnergott auf. "Aber ich werde kein Risiko eingehen. Ich will sie nicht noch einmal verlieren." Loki wollte vermutlich noch hinzufügen, dass es ihm leid tat, dass er seinen besten Freund zum Bleiben zwang, wollte ihn um Verzeihung bitten, als ihn ein schwarzer Schatten überfiel. Loki wurde von der Wucht nach hinten gedrückt und landete unsanft auf seinem Hintern, die Äste purzelten aus seinen Händen, die plötzlich voll weichen Fells waren. "Daddy!" Thor hielt Heimdal fester, als er auf den kleinen Gott herabblickte, der lachend einen Welpen in die Luft hielt. Ich verstehe dich, Loki. Ich wünschte nur, Heim könnte das auch. "Schön, dass du wieder da bist, Daddy!" *** "Warum muss ausgerechnet ich auf diesen Idioten aufpassen? In der Küche steht ein leckerer Braten, auf den sollte ich aufpassen als ausgebildeter Wachhund!" Heimdal erkannte die Stimme sofort, die ihn unsanft aus seinem traumlosen Schlaf riss. Verschlafen öffnete er sein Auge und stellte verblüfft fest, dass er nicht nur dem Wasser entkommen war, sondern sich dazu noch in einem fremden Bett befand. Es handelte sich dabei um ein europäisches Bett mit vier Pfosten. Es sah beinahe wie das Himmelbett aus, das er in Walhalla besessen hatte. Walhalla. Mein Zuhause. Der Wächter seufzte tief und blinzelte, dankbar, dass es bereits dunkel war. Die Vorhänge waren aufgezogen und er konnte die Sterne an einem klaren Himmel glitzern sehen. Kein grelles Licht schmerzte mehr in seinem Kopf, der sich gar nicht so leer wie anfühlte wie noch vor ein paar Stunden, da er in seiner eigenen Wohnung aufgewacht war. Nach einem Anfall. Die Rutsche. Ich hatte eine weitere Attacke! Heimdal richtete sich ruckartig auf und fiel zurück auf das Kissen, als ein Schwindelgefühl ihm die Balance nahm. "Ach? Der Herr ist aufgewacht? Na endlich!" Heimdal drehte seinen Kopf und brauchte einige Augenblicke, um das schwarze Fell auf dunkler Decke erkennen zu können. "Fenrir...?" flüsterte er und war erschrocken, wie dünn seine Stimme klang. Wie schwach. "Der Kandidat erhält zehn Punkte. Bei zwanzig gibt's ne Klobürste." Erwiderte der Welpe frech und sprang von dem Bett. "Ich sage meinem Daddy bescheid. Wehe, du rührst dich auch nur einen Millimeter." Warnte der Höllenhund und scharrte mit seiner rechten Pfote die Tür offen. "Es sei denn, du hast Durst. Auf dem Nachttisch steht ein Glas Wasser. Der Rest ist jedoch tabu!" Mit diesen Worten warf der Welpe seinen Kopf in den Nacken und stolzierte würdevoll davon. Frenrir? Daddy bescheid sagen? Was geht hier ab? Heimdal versuchte erneut, sich aufzurichten. Dieses Mal aber viel langsamer. Das Schwindelgefühl verschwand nicht völlig, aber es wurde nicht wieder so überwältigend. Er stopfte sich ein Kopfkissen umständlich in den Rücken und blickte sich verwundert in dem recht großen Schlafzimmer um. Er saß in dem Himmelbett gleich neben einem großen Fenster, vor dem anderen Fenster gleich daneben stand ein alter Schreibtisch. Ein Spiegel funkelte in der Dunkelheit und Heimdal war froh, dass dieser in einem Schrank eingelassen war und Richtung Fenster zeigte, er wollte sein bleiches Gesicht nicht vor sich sehen. Wo bin ich hier? Heimdal zog seine Stirn in Falten, als er sich dem Nachtisch zuwandte und das Glas stehen sah. Sein Mund war mit einem Mal wie ausgetrocknet und zögernd streckte er seine linke Hand aus, nur, um innezuhalten. Sie war neu verbunden worden. Daran bestand kein Zweifel, hatten sich die alten Verbände unter Wasser in Wohlgefallen aufgelöst. Wie bin ich aus dem Wasser gekommen? Und wer hat mich hier her gebracht? Entschlossen ergriff er das Glas und trank das kühle Mineralwasser, nur, um es beinahe wieder auszuspucken, als er das Photo sah, das eingerahmt neben einem kleinen Wecker auf dem Nachtisch stand. Es wirkte wie ein Familienphoto. Im Hintergrund stand Midgar und seine Augen glitzerten hinter der Brille. Vor ihm saß Mayura auf einem Stuhl und hatte beide Arme um Loki geschlungen, der ebenfalls auf dem Stuhl Platz gefunden hatte. Fenrir hatte sich auf Lokis Schoß zusammen gerollt uns sein unschuldigstes Welpengrinsen aufgesetzt. Die Personen auf dem Bild schienen sehr glücklich zu sein. Das ist ein Familienphoto. Wenn auch in vertauschten Rollen. Heimdal stellte das Mineralwasser beiseite und nahm vorsichtig den Rahmen in die verbundene Hand. Nachdenklich schaute er auf die lächelnden Gestalten herab und fragte sich, ob Loki nicht einen Zwillingsbruder besaß, von dem sie nichts wussten. Denn dieser Loki, der so glücklich umgeben von seinen Lieben auf jenem Bild saß, hätte Heimdal nicht einen so hinterhältigen Verrat zugetraut. Aber sein fehlendes Auge bewies, dass es nur einen Loki gab und dieser mit tausend Zungen sprach. Immerhin nennt er die Weltenschlange seinen Sohn! Ob Mayura auch noch so lächeln würde, wenn sie wüsste, mit wem sie sich abgibt? Dass ihr niedlicher Loki ein frauengeiler Gott und die anderen seine missratenen Söhne sind? Heimdal fand keine Antwort auf diese Frage, sie hätte ihm vielleicht auch gar nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Ist es das wert, sich gegen Odin aufzulehnen und verbannt zu werden? Ist es das wert? Heimdal schob die Decke beiseite und rutschte vom Bett. Dabei überkam ihn ein weiterer Schwindelanfall und er landete unsanft auf seinen Knien. Der Rahmen rutschte aus seiner bandagierten Hand und Glas klirrte in der nächtlichen Dunkelheit. Der Wächter fluchte leise, dann richtete er sich auf, um das Bild wenigstens zurück auf den Nachttisch zu stellen. Wie immer er auch in das Haus seines Feindes gefunden hatte, er wollte nicht dabei ertappt werden, wie er in Lokis persönlichen Sachen herumstöberte. Das restliche Glas löste sich und im nächsten Augenblick hielt Heimdal nur noch die Photographie in den Händen. Der Rahmen selbst war aufgesprungen, offenbarte, dass dieses Familienbild mehr war als es darstellte. Ich bin hier in Lokis Haus! Ich sollte auf der Hut sein! Dennoch siegte die Neugier über die Vorsicht. Behutsam zog er an der Ecke, die unter der Photographie hervor lugte, und hielt kurz darauf ein anderes Bild in den Händen. Ein vollkommen anderes Bild, das der Photographie dennoch sehr ähnelte. Loki, nun nicht länger in Kindergestalt, sondern als stolzer, junger Mann saß auf einem ähnlichen Stuhl. Zu seiner Rechten stand ein Wolf und ließ sich von Loki hinter den Ohren kraulen, während sich zu seiner Linken eine riesige Schlange um die Stuhlbeine wand. Ihre Schwanzspitze war in den kleinen Fäusten eines Babys gefangen, das Loki in seinem linken Arm hielt. Midgar schien dies jedoch nicht zu stören. Genauso wenig wie es Fenrir jemals etwas ausgemacht hatte, dass das kleine Mädchen auf seinem Rücken reiten wollte, sobald es alt genug war, um sich in seinem Fell festzuhalten. Hel. Dieses Bild zeigte Loki in Walhalla mit seiner Familie, mit seinen Kinder. Mit all seinen Kindern. Heimdal konnte sich noch sehr gut an den Tag des Entstehens erinnern, er hatte das Bild selbst gezeichnet. Damals, bevor Odin Loki erst seine Söhne und dann auch noch seine Tochter nahm. Damals, als Loki Heimdal noch nicht verraten hatte. Pah! Ein Höllenhund, eine Schlange und eine Halbtote, was für eine kranke Familie! Ja, aber eine glückliche Familie... Heimdal zuckte zusammen und legte das Bild zurück auf den Nachttisch, so als habe er sich daran verbrannt. Ertappt schaute er auf, als er Schritte hörte, die durch das Haus hallten, dann jedoch verstummten. Fenrir hatte zwar angedroht, seinen Vater zu holen, aber entweder hatte er ihn nicht finden können oder war in der Küche hängen geblieben. Letzteres erschien Heimdal wahrscheinlicher, der Höllenhund war schon immer extrem gefräßig gewesen. Er besitzt das Bild noch immer, nach all der langen Zeit. Er kann sie nicht vergessen, nicht loslassen. Heimdal verspürte fast so etwas wie Mitgefühl für den Unheilsgott, beinahe so etwas wie Verständnis. Diese Gedanken verschwanden jedoch sofort aus seinem Unterbewusstsein, als das Pochen hinter seinem Augen wieder anschwoll und die Dunkelheit der Nacht zunahm. Wolken schoben sich vor die Sterne und Heimdal streckte unsicher seine einbandagierte Hand aus, während er sich durch das fremde Haus tastete. Nein, nicht noch einen Anfall. Bitte, nicht noch einen. Er wusste nicht, wen er um Hilfe bat, aber er wusste, dass er keinen dritten Anfall innerhalb nur einen Tages erdulden wollte, besonders nicht in dem Haus seines Erzfeindes. Loki soll mich nicht so schwach sehen! Er suchte die Wand neben sich ab, konnte aber keinen Lichtschalter finden. Also setzte er seinen Weg im Dunklen fort, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als er die Treppe erfühlte. Die Stufen waren nicht sehr hoch, aber ihm erschienen sie unüberwindbar, selbst beim Herabsteigen. Er wollte gar nicht darüber nachgrübeln, ob er noch in der Lage war, dieselben Stufen wieder hinaufzuklettern, sollte dies vonnöten sein. Ich stecke im Körper eines Kindes und benehme mich wie ein alter Mann. Sein ein Scheiß! Wütend ballte er seine linke Faust und schlug zornig gegen das Geländer. Seine rechte Hand hatte er die ganze Zeit über nicht von seiner dröhnenden Höhle genommen. Er ließ auch nicht los, als seine Beine plötzlich ihren Halt verloren, er drei Stufen hinabstolperte und schließlich vornüber kippte. Mit einem lauten Poltern fiel er die restlichen Stufen hinunter und blieb still auf dem Fußboden liegen, spürte den weichen Teppich unter seinem schmerzenden Gesicht. Loki muss wirklich reich sein, wenn er sogar sein Haus mit Teppich auslegen lässt. Kein Wunder, dass sich dieser bettelarme Blitzableiter auf seine Seite geschlagen hat. "Fenrir?" Eine Tür ging auf und Licht erhellte den Gang. Heimdal blinzelte geblendet und zog sich mit Aufbietung seiner letzten Kräfte auf seine Beine. Er hatte Lokis Stimme erkannt und wollte von ihm nicht auf dem Boden liegend gefunden werden. "Bist du das, Kleiner?" "Nein, ich bin nicht dein doofer Köter." Knurrte Heimdal zurück und schritt hinüber zu der Tür, wobei er versuchte, nicht all zu auffällig zu wanken. "Heimdal, du bist also wieder aufgewacht." Loki öffnete die Tür ein wenig mehr und der Wächter zögerte für einen Moment. War das wieder eine Falle? Würde Loki ihm nun auch noch das linke Auge stehlen? Wäre dann alles verloren? In seiner jetzigen Verfassung würde er gegen den Unheilsgott nichts ausrichten können. "Komm rein, wir essen gerade Abendbrot." Tatsächlich, es roch lecker nach gebratenem Fisch und Heimdals Magen knurrte sofort hungrig. Er konnte Stimmen aus dem Inneren des Raumes hören, fröhliches Lachen und leise Musik, vermutlich das Radio. Die offene Tür wirkte verheißungsvoll, dennoch zögerte Heimdal, denn Loki stand in ihrem Rahmen. Der Unheilsgott sah ihn nachdenklich an, dann lächelte er sanft. "Komm rein, Heim, ich tu dir nichts." "Pah! Du solltest aufpassen, dass ich dir nichts tu!" zischte Heimdal und rauschte scheinbar erbost an dem Jungen vorbei, dem einzigen Gott, dem er noch von Angesicht zu Angesicht in die Augen schauen konnte, ohne dass dabei eine Leiter nötig war. Loki nickte wissend, dann folgte er ihm hinüber zu dem runden Tisch, an dem bereits Mayura und Thor saßen, die es sich sichtlich schmecken ließen. Es gab tatsächlich Fisch, welcher von Midgar fachmännisch zerteilt wurde. Heimdal setzte sich auf den letzten freien Platz, vermutlich Lokis, und nahm sich einfach einen bereits gefüllten Teller. Schweigend begann er zu essen, wollte die andern einfach ignorieren. "Wie geht es dir?" Es hätte ihm klar sein müssen, dass die anderen ihn nicht so einfach in Ruhe lassen würden. Wütend blitzte er Thor an, ließ dann aber die Stäbchen sinken, als er den besorgten Gesichtsausdruck des Donnergottes sah. Er konnte ihn jetzt nicht anfauchen, wenn er sich ernsthafte Gedanken um ihn gemacht hatte, das wäre unfair. "Besser." Ein >Danke< brachte er dennoch nicht heraus. "Wo ist eigentlich Fenrir? Er sollte über dich wachen." Loki hatte sich einen Stuhl, der nicht zu den anderen passte, mit an den Tisch geschoben und setzte sich nun zwischen Heimdal und Mayura, um ebenfalls sein Abendbrot in Empfang zu nehmen. Thor verlangte bereits nach Nachschlag, natürlich. Vielfrass! "Ist abgehauen, als ich aufgewacht bin. Wollte eigentlich zu dir." Heimdal probierte den Reis und musste zugeben, dass Midgar wirklich ausgezeichnet kochen konnte. "Wahrscheinlich ist er in der Küche hängen geblieben und vor dem Herd eingeschlafen. Ich brate doch gerade das Hühnchen vor morgen Mittag." Erklärte besagter Koch und legte einen Teller Fisch beiseite, damit sein großer Bruder nicht in lautes Heulen ausbrach, wenn er erfuhr, dass er das Abendessen verschlafen hatte. Hühnchen zum Mittag? Thors Augen begannen zu leuchten und Heimdal hätte ihn dafür am liebsten erwürgt. Er entschied sich dann doch für sein Essen, er wusste nicht, wann er das nächste Mal so fürstlich bewirtet werden würde, denn solange die Anfälle anhielten, würde er die Grundschule nicht besuchen. Sonst hetzten ihm die angeblich so besorgten Lehrerinnen ein paar Ärzte und diese dann die Polizei auf den Hals. Anfall... im Bad hatte ich einen Anfall... "Wie bin ich hier hergekommen?" Fragte er und unterbrach die gefräßige Stille am Tisch, die ihm seltsam vorkam. Besonders in Mayuras Nähe, die normalerweise ohne Luft zu holen sprach. Ihr Hunger war wohl größer gewesen als ihr Bedürfnis, sich anderen Personen mitzuteilen. "Was ist in der Rutsche passiert, Kazumi-chan?" stellte Thor eine Gegenfrage und benutzte Heimdals japanischen Namen, unter dem ihn Mayura kannte. "Du bist im Auffangbecken untergegangen und nicht mehr aufgetaucht. Wir mussten dich rausfischen und die Managerin hat uns die Ohren vollgeheult, wie leid es ihr täte." "Wir haben jetzt Gutscheine für das nächste Jahr." grinste Mayura, dann aber verfinsterte sich auch ihre sonst immer strahlende Mine. "Ja, was war los, Kazumi-kun? Du hast uns allen einen mächtigen Schrecken eingejagt." Allen? Na, bestimmt nicht. "Ich bin von meinem Reifen gerutscht und hab mir wohl den Kopf an der Röhre angestoßen." Log er und steckte sich eine große Ladung in den Mund, um nicht auf weitere unangenehme Fragen antworten zu müssen. "Dann hättest du doch mit mir rutschen sollen." Überlegte Thor und Mayura blickte ihn entsetzt an. "Du meinst, er hat die Rutsche allein genutzt? Es steht aber in den Vorschriften, dass Kinder unter zehn Jahren nur in Begleitung Erwachsener rutschen dürfen!" Erwachsener? Sag bloß, du willst erwachsener als ich sein? Komm du erst einmal in mein Alter! Heimdal zerbiss beinahe seine Stäbchen und kaute zornig auf dem Fisch herum. Loki hob auch nicht seine Laune, indem er leise neben ihm kicherte. "Als ob Kazumi-chan sich jemals an die Vorschriften gehalten hätte." Dabei betonte er die Anrede -chan, was Heimdal sofort auf die Palme brachte. Gerade wollte er sich zu dem Unheilsgott umdrehen und ihm endgültig die Kehle zudrücken, als Mayura beide Jungen skeptisch betrachtete. "Vernünftiger bist du auch nicht, Loki-kun! Obwohl du ganz genau weißt, dass du nicht besonders gut schwimmen kannst, springst du einfach so ins Wasser. Ihr seid beide unvernünftig! Ihr hättet ertrinken können, wenn Narugami-kun und ich nicht so schnell zur Stelle gewesen wären!" Tränen glitzerten in ihren Augen und Loki zuckte schuldbewusst zusammen. Heimdal begann, hingebungsvoll zu husten. Er hatte sich an seinem Fisch verschluckt. Loki ist freiwillig ins Wasser gesprungen? "Sei nicht so streng, Daidouzi-kun. Er wollte doch nur helfen." Beschwichtigte sie Thor und klopfte Heimdal sanft auf den Rücken, da dieser noch stärker zu husten begann. Loki wollte mir helfen? Mir??? Hat der sie noch alle? Ich bin sein Erzfeind! Er hat mich nicht zu retten! "Die Managerin hat uns versprochen, eine Aufsichtskraft an die Rutsche zu stellen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt." Loki grinste seinen Sohn an, der ihn nicht minder erstaunt anschaute. Dann nickte Midgar und verhalf Thor zu seinem zweiten Nachschlag. Der Donnergott kümmerte sich zwar immer noch um den hustenden Heimdal, aber sein Teller war leer und er hatte sein Abendbrot sicherlich noch nicht beendet. Nach vielen Mahlzeiten mit Thor wusste Midgar, welche Mengen der Donnergott verdrücken konnte, wenn er nur genug Hunger hatte. Heute schien er sehr hungrig zu sein. "Das ist auch besser so!" Mayura aß schweigend ihren Reis, dann aber lächelte sie wieder, schien ihrem Loki und auch den anderen Freunden verziehen zu haben. "Was mir gerade einfällt, wir können doch diese netten Mädchen zu meiner Geburtstagsfeier einladen, mit denen wir einmal in den Bergen in Urlaub waren." Schlug sie vor und Heimdal, der sich gerade von seinem Hustenanfall erholt hatte, verschluckte sich an seinem Tee und konnte ein weiteres Husten gerade noch zurück drängen. Sie will die Schicksalsgöttinnen einladen? Die Norns sollen zu dem dämlichen Geburtstag eines blöden Teenagers kommen? Das ist doch weit unter ihrer Würde! "Gute Idee, sie werden sich sicher freuen." Loki legte seine Stäbchen auf seinen Teller und lehnte sich satt und zufrieden zurück. "Ich werde sie noch heute Abend anrufen, Loki-sama." "Hm... diesen lustigen Jungen mit dem Schwein werden wir nicht erreichen, oder? Er war doch verreist, nicht wahr?" Sie will sogar Freyr und Gullinbrusti einladen? Wie bescheuert kann ein Mensch denn noch sein? "Sind gerade in China." Midgar kramte in seinem immer akkurat sitzenden Anzug und zauberte eine Postkarte hervor. Sie zeigte die Große Mauer. Denen schickt er also Postkarten und mir nicht? Dabei habe ich immer seine bescheuerten Einkaufstüten geschleppt und das Bad geputzt, wenn er es mal wieder unter Wasser gesetzt hatte. Undankbares Pack! "Und ich würde dich auch gerne einladen, Kazumi-chan. Die Feier ist um acht Uhr nächsten Samstag." Mayura blickte ihn erwartungsvoll an und Heimdal wunderte sich, ob der Fisch vergiftet gewesen war, ihm wurde mit einem Mal unglaublich übel. "Es würde mich freuen, wenn du kommen könntest." Sie lädt mich ein? Die... was auch immer sie für Loki ist... meines Erzfeindes lädt mich zu ihrer Teenager-Geburtstagsfeier ein? Sie lädt nicht nur die Schicksalsgöttinnen ein und denkt an Freyr und sein Hausschwein, sondern will auch die Person dabei haben, die ihren Loki tot sehen möchte, am besten noch heute als morgen? War diese Person vollkommen durchgedreht? Oder war er wahnsinnig, dass er dieses Angebot auch nur für den Bruchteil einer Sekunde in Betrachtung zog? Sicherlich würde Midgar kochen, es würde leckeres Essen geben und er würde nicht allein in seiner Wohnung über einem vermutlich angebrannten Topf Ramen sitzen. Er würde mit anderen Götter an einer Tafel sitzen, so wie in Walhalla... Ich werde hier mit meinen ärgsten Feinden, die mich verraten haben, die übergelaufen sind, die mich davon abhalten, nach Asgard zurück zu kehren, an einem wackeligen Tisch sitzen und dabei Odins Mission kein Stückchen näher der Vollendung bringen. Nein, es wird aussehen, als hätte es Loki geschafft, auch noch mich um den kleinen Finger zu wickeln! Heimdal erblasste und das Pochen in seinem Kopf schwoll wieder an. Mayuras gespanntes Gesicht verschwamm vor seinem Auge und jemand schien die Lichter auszudrehen, denn seine Welt wurde erneut in tiefe Schatten getaucht. Ich bin kein Verräter! Ich will zurück nach Asgard! "Kommst du?" harkte Mayura nach und blinzelte verwirrt, als sich der Junge so plötzlich von seinem Stuhl erhob, dass dieser umkippte und scheppernd zu Boden fiel. "Nein!" fuhr Heimdal sie an und es war ihm egal, was für einen Eindruck er bei ihr hinterließ. Er wollte raus aus dem Haus seines Feindes, aus dieser Irrenanstalt, aus diesem bescheuerten Kinderkörper! "Warum nicht?" Mayuras Stimme klang ehrlich enttäuscht. Pah, als ob die mich wirklich hier haben wollen. Bestimmt ist das eine weitere Falle von Loki. Aber dieses Mal fall ich nicht darauf hinein. Nein, dieses Mal nicht! "Keine Zeit!" knurrte er verärgert und stürmte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus dem Wohnzimmer. Er knallte beinahe gegen die Kommode, die im Flur stand, fand dann jedoch die Tür und rannte hinaus in die sternenklare, kühle Nacht. Er achtete dabei nicht auf die Rufe, die hinter ihm erklangen noch auf seinen eigenen rasselnden Atem, als er seinen Körper an seine Grenzen trieb. "Manchmal wüsste ich gerne, was mit ihm los ist." Mayura schüttelte ihren Kopf und betrachtete den noch immer bis zur Hälfte gefüllten Teller des Jungen. "Falls er seine Meinung aber doch noch ändert, er ist willkommen." Mit diesen Worten, für die sie Loki so sehr mochte, war die Sache für sie erledigt und sie wandte sich wieder ihrem Abendessen zu. Thor schloss seufzend das Fenster und gesellte sich zu ihnen, entschlossen, ein ernstes Wort mit dem Wächter zu sprechen. Und vielleicht auch mit Loki, wenn er den Mut dazu aufbrachte. *** Heimdal hatte keine Ahnung, wie er nach Hause gekommen war, aber irgendwie musste er es geschafft haben, denn er lag auf seinem Sofa und presste ein Handtuch gegen seine heiße Stirn, das nach Kräutern roch. Thor hatte bei seinem Besuch einen Tee gebraut und der Wächter schüttete die gelbliche Flüssigkeit einfach über den hellen Stoff, hoffte auf Linderung der Schmerzen, die ihn nicht mehr in Ruhe ließen. Waren die Anfälle während der letzten Monate sporadisch und vergänglich gewesen, so schien sich jetzt ein konstanter Schmerz in seinem Kopf auszubreiten, gegen den er nicht ankam. Einen Arzt konnte er jedoch auch nicht aufsuchen. Was hätte er ihm sagen sollen? Dass sein Gehirn aus seinen Ohren zu kriechen versuchte, weil ein Gott ihm das rechte Auge gestohlen hatte? Diese Aussage würde ihm keinen wochenlangen Attest, sondern einen kostenlosen Aufenthalt in der Nervenklinik einbringen. Vielleicht bin ich ja auch verrückt? Immerhin habe ich mit meinem ärgsten Feind zu Abendbrot gegessen, nachdem ich in seinem Bett aufgewacht bin! Heimdal tastete blind nach der Fernbedienung und lauschte nur halbherzig den Stimmen, die nach einem Knopfdruck sein Wohnzimmer füllten. Es war ein miserabler Spielfilm, den Freyr ständig angeschaut hatte, aber alles erschien ihm besser, als die erdrückende Stille der Nacht. Gerne hätte er das Fenster geöffnet und ein wenig frische Luft geatmet, aber er traute seinen zitternden Beinen nicht, ihn sicher durch den Raum zu tragen. Also blieb er liegen, wimmerte leise, als die Pein zunahm. Sollte er es noch einmal mit den Schmerztabletten versuchen? Eine andere Sorte? Vielleicht halfen sie ja besser als letztes Mal. Heimdal legte seine Arme über sein brennendes Gesicht, hasste sich selbst für die Tränen, die erneut über seine Wangen rannen. Es war bereits viel zu spät, um nach einer Apotheke zu suchen, um sich neue Tabletten zu besorgen. Und selbst wenn die Läden noch nicht geschlossen hätten und er in der Lage wäre, diesen Raum oder gar dieses Haus zu verlassen, dann würde ihm der Apotheker bestimmt sagen, dass er seine Mutti schicken solle, denn er würde ihm, einem neunjährigen Jungen, keine Medikamente verkaufen. Übelkeit stieg in ihm empor, aber er bekämpfte sie hartnäckig. Nein, er wollte sein leckeres Essen nicht hergeben. Nicht schon wieder. Wieso passiert das mir? Warum nicht Loki? Verdammt! "Mein kleiner Heimdal." Der Wächter zuckte heftig zusammen, als er die Stimme plötzlich neben sich vernahm. Eine Stimme, die er überall wiedererkannt hätte, da sie allgegenwärtig zu sein schien. Odin? Er wollte sein Auge öffnen, um zu sehen, ob der höchste aller nordischen Götter wirklich neben seinem Sofa stand, aber eine kühle Hand legte sich über sein Gesicht. Heimdal wimmerte, aber der rasende Schmerz hinter seinen Lidern ließ ein wenig nach. "Lass sie geschlossen, Heimdal, mein Licht würde dir nur weh tun." Heimdal spürte ein Gewicht neben sich auf der weichen Unterlage und vermutete, dass sich Odin neben ihn setzte. Sein dröhnender Kopf wurde vorsichtig angehoben und bald darauf fuhren sanfte Finger durch seine verschwitzten Strähnen. Es war eine Geste, die der Wächter seit so langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Damals, als er noch als ein echtes Kind, als ein sehr junger Gott durch Walhalla lief, war Odin oft bei ihm gewesen und hatte ihn beinahe wie ein sorgender Vater behandelt. Leider ging diese Nähe irgendwie im Laufe der kommenden Jahrtausende verloren, da Heimdal seine Rolle als Wächter der Götter übernahm. Ja, diese Geste war ihm sehr vertraut. Ich habe die Mission nicht erfüllen können. Und trotzdem ist er da... "Bis jetzt... hatte ich leider keinen Erfolg..." flüsterte Heimdal erschöpft, dankbar darüber, dass der Anfall allmählich abklang. Er ahnte, dass er das dem mächtigen Gott zu verdanken hatte. "Ich weiß, mein kleiner Heimdal. Dennoch habe ich mein Vertrauen in dich nicht aufgegeben. Du wirst es schaffen, diesen Verräter zur Strecke zu bringen, dessen bin ich mir sicher." Ein Lächeln schwang in Odins Stimme. "Du bist stärker als Thor und die Schicksalsgöttinnen zusammen. Ich hoffe auf dein Gelingen." Heimdal nickte und hob seine einbandagierte Hand, um sie über die kühlen Finger Odins zu legen, die noch immer sein schmerzendes Auge bedeckten. "Ich wäre... erfolgreicher, wenn ich nicht diese Anfälle hätte..." murmelte er, wissend, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Er konnte es jedoch nicht über sich bringen, sich und Odin, der so fest an ihn glaubte, sein Versagen einzugestehen. "Warum tut es so weh? Könnt Ihr es mir sagen?" Heimdal wollte nach Hilfe bitten, aber erneut stand sein Stolz im Weg, und die unbewusste Angst, den höchsten der Götter zu enttäuschen. "Du brauchst dein Auge zurück, mein kleiner Heimdal. Loki hat es dir nicht nur gestohlen, um dich zu verletzen, sondern, um dich zu entmachten. Du bist der Wächter, du musst wachsam sein. Du bist nicht vollständig ohne deine Augen und verlierst daher deine Kräfte immer mehr." Unangenehme Stille entstand zwischen ihnen, die nur von den Geräuschen des Spielfilmes unterbrochen wurde. Odin streichelte weiter Heimdals Haare, während dieser angestrengt nachdachte. "Was bedeutet das?" fragte er schließlich zögernd, war sich nicht sicher, ob er die Ursache für seine Schmerzen kennen wollte. Oder gar die Folgen. "Ohne dein rechtes Auge wirst du erblinden und früher oder später sterben, wenn Loki nicht deine Hilflosigkeit ausnutzt und dich zuerst umbringt." Die kühle Hand verharrte in seinen violetten Strähnen und Odins Stimme klang so besorgt, wie Heimdal sie noch nie gehört hatte. "Hol dir dein Auge zurück, mein kleiner Heimdal. Hol dir dein Auge zurück und vernichte diesen Verräter. Ich will nicht meinen fähigsten Gott verlieren." Heimdals Hals schlug bis zum Hals. Zum Teil ob des unerwarteten Kompliments und teils aus Angst. Aus Angst davor, sein Augenlicht zu verlieren. "Hold dir dein Auge zurück." "Das werde ich. Ihr könnt auf mich zählen." "Das weiß ich, mein kleiner Heimdal." Die Hand schloss sich fester um den Kopf des kindlichen Gottes und Heimdal schnappte nach Luft, als der Schmerz anschwoll - und dann plötzlich verschwand, vollkommen. "Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun als das. Aber es ist wichtig, dass Loki vernichtet wird, denn er ist eine Gefahr für die gesamte Götterwelt. Genauso, wie es wichtig ist, dass du dein Auge zurück erhältst und wieder stark wirst." Heimdal nickte. Tränen glitzerten hinter seinem Lid, liefen schließlich über seine bleiche Wange. Odin beugte sich zu ihm herab und der Wächter spürte für einen kurzen Moment sanfte Lippen, die seine heiße Stirn berührten. "Sei erfolgreich, ich zähle auf dich." Dann war die göttliche Präsenz fort, Heimdal wieder allein in seinem Wohnzimmer. Zögernd öffnete er sein Auge und blinzelte in das schwache Licht, das der Fernseher in die nächtliche Dunkelheit warf. Kein Schwindelgefühl suchte ihn heim, als er sich langsam aufrichtete. Der Schmerz hatte sich in ein Pochen in seinem Kopf verwandelt, das er ignorieren konnte. Mit zitternden Händen wischte er die Tränen fort und holte tief Luft. Odin kümmert sich um mich. Er glaubt noch immer an meine Stärke. Heimdal starrte auf seine Stiefel und schluckte, als ihm die Bedeutung von Odins Worten klar wurde. Wenn ich nicht bald mein Auge zurückbekomme, werde ich erblinden und womöglich sogar sterben! Das werde ich nicht zulassen! Der Wächter erhob sich langsam, denn auch wenn die Schmerzen von ihm abließen, so war sein Körper doch sehr erschöpft. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, sein ganzes Wesen schrie nach Schlaf. Aber den würde er sich erst gönnen, wenn er sicher war, dass er eine neue Chance erhielt, Loki zu vernichten und sein Eigentum zurückzufordern. Eine letzte Chance, die er nutzen würde. Darauf konnte der Unheilsgott Gift nehmen. >Enzyaku Detektei, konnichi-wa?< Heimdal hielt den Telefonhörer gegen sein Ohr und musste böse grinsen, als er Mayuras geschäftige Stimme hörte. Glaubte dieses Weibsstück wirklich, dass es Klienten gab, die nicht nur verzweifelt genug waren, ausgerechnet ihre lächerliche Detektei anzurufen, sondern das auch noch nach Einbruch der Nacht taten? "Konnichi-wa, hier ist Kazumi." Sagte er mit kindlich verstellter, gespielt zögernder Stimme. "Ich war mir heute Nachmittag nicht sicher, ob meine Eltern mich zu deiner Geburtstagsfeier gehen lassen würden, aber sie haben mir soeben ihr OK gegeben." Log er, dass sich die Balken bogen. Natürlich glaubte Mayura ihm ohne Zögern. "Dann kannst du also kommen? Das ist klasse! Die Feier ist dann nächsten Samstag und ich lass dir noch eine Einladungskarte zukommen. Hach, das wird super!" Wie immer war das Mädchen sofort hellauf begeistert und Heimdal hätte am liebsten sofort alles revidiert, denn eine Party mit so einem Weibsbild würde ihm mit Sicherheit alles andere als gefallen. Aber nur durch sie kam er an Loki heran, das wusste er. So eine Gelegenheit, sich als Gast frei in Lokis Haus zu bewegen, würde es so schnell kein zweites Mal geben. Er musste sie nutzen! "Ich freu mich auch sehr. Dann bis Samstag." "Ja, bis Samstag. Falls noch etwas ist, ruf ich noch mal an. Sayonara, Kazumi-kun." "Sayonara." Erleichtert legte er auf und wunderte sich für einen kurzen Augenblick, woher Mayura seine Telefonnummer kannte. Vermutlich von Thor. Er hat mir ja auch Lokis gegeben. Heimdal malte ein rotes Kreuz in den Kalender gleich neben dem Telefon und gähnte herzhaft. Müde schleppte er sich zurück ins Wohnzimmer, drehte den Ton ein wenig lauter und ließ sich in den bequemen Fernsehsessel fallen, den Freyr einmal angeschleppt hatte, woher auch immer. Am Samstag werde ich Loki töten. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Heimdals Lippen, während er langsam in einen tiefen, erholsamen Schlaf glitt, der diese Nacht nicht von schrecklichen Schmerzen gestört werden würde. Und dann werde ich endlich mein Auge zurückbekommen. *** "Ein Kostümfest?" Thor betrachtete erst die Einladung in seinen Händen, dann Lokis verschmitztes Grinsen. Ihm schien Mayuras Idee zu gefallen und sicherlich konnte er es kaum erwarten, die anderen Götter in Verkleidung zu sehen. "Warum nicht? Ihre Mitschüler werden es mögen und sie macht es glücklich." Erwiderte der kindliche Gott, begleitete den Donnergott zum eisernen Tor. Es war mittlerweile weit nach Mitternacht, sie hatten die letzten Stunden um den runden Tisch gesessen und Einladungen gemalt. Und gelacht, da Midgar zwar ausgezeichnet kochen konnte, als Künstler jedoch versagte. "Was sie glücklich macht, macht dich auch glücklich, nicht wahr?" "Hai." Loki lächelte und zauberte einen zweiten Umschlag aus seinem dunklen Mantel. Diesen reichte er Thor, der bereits wusste, für wen diese Einladung bestimmt war. Loki hatte sie selbst gemalt. Mayura lobte ihn für den Einfall, einen Tempel und Personen mit Flügeln darauf abzubilden, was in ihren Augen den Kostümzwang unterstrich. Der Donnergott hatte Walhalla jedoch gleich erkannt. "Gib ihn Heimdal, ich glaube nicht, dass er von mir etwas annehmen würde." Loki blickte hinauf zum sternenklaren Himmel und seufzte leise. "Glaubst du, er wird die Feier nutzen, um dich anzugreifen?" "Wer weiß..." Thor steckte den zweiten Umschlag in Heimdals Rucksack, den dieser in seiner Eile in Lokis Schlafzimmer vergessen hatte. Trotz des schönen Tages und des leckeren Abendbrotes fühlte er sich traurig, leer. Noch zu gut erinnerte er sich an jene Zeiten, da Heimdal und Loki noch keine Erzfeinde gewesen waren, sie noch nichts von der Prophezeiung wussten. Bevor Loki über Heimdal herfiel und ihn verriet. Warum musste es so weit kommen? Warum konnten wir nicht unwissend in Walhalla bleiben? Warum durfte Loki kein Vater und wir keine Freunde sein? "Arigatou, dass du dich um ihn kümmerst, Thor." Der kindliche Gott klopfte Thor freundschaftlich auf den Rücken, da er zu klein war, um seine Schulter zu erreichen und ging langsam zum Haus zurück. Kühler Nachtwind wehte seinen schwarzen Mantel wie einen Schatten hinter ihm her. Er bedankt sich bei mir, dass ich ab und an nach Heimdal sehe? Nach seinem Erzfeind? Dem er heute das Leben gerettet hat? "Loki?" Thor schluckte schwer. Er wollte die wichtige Frage stellen. Jetzt. Um endlich eine Antwort darauf zu bekommen. Hast du wirklich Heimdals Auge gestohlen? "Hai?" Erwartungsvoll drehte sich die kleine Gestalt zu ihm um und Thors Herz sank. Nein, er würde wieder nicht den Mut aufbringen, um ihn zu fragen. Zu groß war die Angst vor der falschen Antwort, wie immer diese auch lauten würde. "Bis zur Feier." "Hai, bis Samstag." Loki lächelte und verschwand im Inneren des Hauses. Thor starrte das Holz noch eine Weile schweigend an, dann seufzte er und schulterte Heimdals Rucksack. Langsam ging er davon. Schweigend und tief in Gedanken versunken. *** Heimdal schlief tief und fest in dem gemütlichen Sessel. Er wachte nicht auf, als der Fernseher ausgeschaltet wurde und Stille in das Wohnzimmer einkehrte. Vorsichtig wurden ihm die schweren Stiefel ausgezogen und eine warme Decke über seinem kleinen Körper ausgebreitet. "Schlaf gut..." Schwaches Licht fiel auf den friedlich wirkenden Gott und einen Umschlag, der gegen ein Buch gelehnt auf dem Tisch stand, erlosch, als die Tür leise wieder geschlossen wurde. Vielleicht findest du ja in deinen Träumen, was wir in unserer Realität verloren haben. *** Kapitel 2: Omega - 2: Maskerade ------------------------------- Kapitel 2: Maskerade "Du schwänzt deinen Nachhilfeunterricht in Mathematik." "Es ist für einen guten Zweck." "Trotzdem solltest du nicht hier sein." "Das sagt derjenige, der sich einen Attest beim Arzt erschmuggelt hat." "Ach, halt doch deine Klappe!" Die junge Verkäuferin beobachtete die beiden Gestalten amüsiert, die langsam durch ihren Laden schlenderten, um immer dieselben Ständer umher. Zwei ungleiche Brüder, so vermutete sie, die sich nicht einigen konnten, was sie kaufen sollten. Die junge Frau lächelte und trat hinter ihrem Schalter hervor. Sie konnte sich noch gut genug an die Streitereien zwischen ihr und ihrem älteren Bruder erinnern, welche ähnlich abgelaufen waren. "Kann ich euch beiden helfen?" fragte sie freundlich und lächelte, als der kleine Junge sie eisig anblickte und heftig seinen Kopf schüttelte, während der ältere Bruder erleichtert nickte. Ein Trotzkopf und ein hilfloser Aufpasser also. "Das wäre wirklich nett. Wir sind zu einer Geburtstagsfeier eingeladen und da unsere Gastgeberin gerne in Kostümen feiern will, sind wir nun auf der Suche nach einer passenden Verkleidung." Der junge Mann war vielleicht mit seinem kleinen Bruder überfordert, der noch finsterer drein schaute, seinen Arm ergriff und ihn erfolglos zur nächsten Tür zerren wollte, aber er benahm sich sehr höflich. Die junge Verkäuferin mochte solche jungen Männer. "Klingt ja spannend. Weißt du eure Größen?" "Nein, keine Ahnung." "Kein Problem." Wie ein Cowboy in einem amerikanischen Western zog sie ein Maßband von ihrem Gürtel und schnappte sich einen strampelnden Jungen. Ein rotes Auge blitzte sie hasserfüllt an, aber sie war kleine Kinder gewöhnt. "Lass mich los, du Zicke!" zischte der Junge, aber sie ignorierte seine Proteste einfach und maß professionell seine Größe, seinen Arm- und Brustumfang. Bei dem älteren Bruder konnte sie die Maße gut schätzen, er war etwa genauso groß und genauso schwer wie ihr eigener Bruder. "Ich denke, für dich habe ich genau das Richtige." Fröhlich lächelte sie ihn fröhlich an. "Du wirst es mögen, jeder kleine Junge liebt dieses Kostüm." Heimdal hätte sie am liebsten erwürgt. *** "Das war peinlich!" Heimdal kochte innerlich vor Wut. Zornig schrie er Thor an, der vor ihm durch den weit ausladenden Park schlenderte. Der Einkauf hatte nicht mehr als eine Stunde gedauert, dem Wächter aber war diese Zeit wie eine Ewigkeit vorgekommen. Während der Donnergott umgarnt wurde, hatte man ihn wie ein kleines Kind behandelt - und ihm zum Schluss sogar einen Luftballon geschenkt, der nun hoch über ihnen thronte, da Thor sich den Luftballon schnappte, bevor Heimdal ihn hatte zertreten können. "Das war oberpeinlich!" "Dafür haben wir jetzt schöne Kostüme für morgen. Also grummel nicht so." "Ich soll grummeln? Was würdest du denn machen, wenn dir so eine junge Schnepfe einfach so in die Wangen kneifen und dich >Süßer< nennen würde?" Heimdal brüllte nun, sein Gesicht war rot angelaufen und aufgebracht trat er gegen einen Stein, kickte ihn ganze zehn Meter weit fort. "Reg dich nicht so auf..." "Ich soll mich nicht aufregen?!" Heimdal schulterte die viel zu große Tasche und zog so kräftig an Thors Ärmel, dass dieser beinahe umfiel. "Bring mich nie wieder in solch eine Situation, du verdammter Blitzableiter!" Heimdal blickte drohend in dunkle Augen und blinzelte überrascht, als der Donnergott leise zu kichern begann. "Du siehst richtig niedlich aus, wenn du wütend bist. Weißt du das?" "WAS???" Der kindliche Gott ließ seine Tasche fallen und wollte sich auf Thor stürzen, aber der größere Gott hob ihn einfach vom Boden hoch und bevor es sich ein verdutzter Heimdal versah, saß er auf Thors starken Schultern. Gerade so wie ein kleines Kind. "Sei doch wenigstens mal für eine Sekunde still, Heim." Der Donnergott legte seinen Kopf in den Nacken und schaute hinauf zu dem kleinen Gott, der noch immer unsagbar wütend, zugleich aber auch sehr unsicher aussah. Vermutlich erwartete er, jeden Augenblick heruntergeworfen zu werden und sich dabei schrecklich weh zu tun. "Schau statt dessen zum Himmel hinauf. Ist das nicht ein wunderschöner Sonnenuntergang?" Thor wandte seinen Blick dem zarten Orangeton zu, der das gesamte Firmament bedeckte. Die Kirschblüten leuchteten weiß im Kontrast, leicht bewegt von lauem Frühjahrswind. Ein wunderschöner Sonnenuntergang? Heimdal verzog skeptisch seinen Mund und umklammerte Thors Hals mit beiden Armen, als der Donnergott auf eine Parkbank stieg, um besser in den Himmel schauen zu können. "In Walhalla waren die Sonnenuntergänge viel schöner." Erklärte der Wächter leise, konnte nicht verhindern, dass seine Stimme brüchig klang. Seine Wut war verraucht, hatte einer unendlichen Sehnsucht Platz gemacht. Einer Sehnsucht nach seiner Heimat. "Anders vielleicht, aber nicht schöner." Eine Weile standen sie schweigend auf der Parkbank, sahen nicht die Passanten, die teilweise kopfschüttelnd, teilweise lächelnd an ihnen vorbei liefen. "Lass mich runter, Thor, ich muss nach Hause." Heimdal atmete erleichtert auf, als er wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte, nachdem der Donnergott ihn sicher wieder abgesetzt hatte. Der Wächter blickte nicht in dunkle Augen, als er seine Tasche mit dem Kostüm aufhob und ohne ein Abschiedswort gehen wollte. Eine kleine Plastikschachtel versperrte ihm jedoch den Weg und widerwillig sah er auf. "Sind ein paar Reisbällchen drin, Heim." Ohne zu erklären, wo der Donnergott das Essen her oder ob er es selbst gekocht hatte, drückte er die Schachtel dem kleineren Gott unzeremoniell in die Hand. "Du solltest regelmäßiger essen, du bist zu dünn." Ich brauch keine Almosen! Erst recht nicht von dir! Heimdals Temperament loderte wieder auf, aber bevor er sich von dem verhassten Essen hatte trennen können, hatte sich Thor bereits umgedreht und war zur nächsten S-Bahn-Station gelaufen. Der Wächter wusste, dass er ihm mit der schweren Tasche nicht folgen konnte und stopfte die Schachtel schließlich zu seinem Kostüm. Vielleicht löste sich ja der Deckel und dann brauchte er dieses scheußliche Kleidungsstück niemals tragen. Ich brauche deine falsche Freundschaft nicht, du Überläufer! Heimdal seufzte, ergriff die Tasche und schleppte sie in Richtung seiner Wohnung davon. Obwohl er es sich fest vorgenommen hatte, warf er die liebevoll zubereiteten Reisbällchen nicht weg. *** "Willkommen, Kazumi-kun. Ich hatte schon Angst, es wäre doch noch etwas dazwischen gekommen." Das Tor quietsche ein wenig, als Mayura es öffnete und Heimdal herein ließ. Das Mädchen strahlte über das ganze Gesicht und war in einen braunen Mantel gehüllt. Eine ebenfalls braun karierte Mütze thronte auf ihrem Kopf und sie kaute unbewusst auf einer unbenutzten Pfeife herum. Jedem, der etwas von Weltliteratur und von Mayuras Vorlieben verstand, erkannte sofort, dass sie sich als Sherlock Holmes verkleidet hatte. Ich hätte es wissen müssen. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag." Sagte Heimdal und reichte ihr ein kleines Päckchen, das er in dem Geschäft hatte fachmännisch einwickeln lassen. Es interessierte ihn nicht wirklich, ob Mayura die Schokolade nun schmecken würde oder nicht, aber sie hatte gut im Schaufenster ausgesehen und schließlich ging man ohne Geschenke auf keine Geburtstagsfeier, auch nicht, wenn man sowieso nur seinen Erzfeind töten wollte. "Arigatou, Kazumi-kun. Das ist wirklich lieb von dir." Wenn du die Wahrheit kennen würdest, würdest du mich sofort wieder rausschmeißen. "Gern geschehen." Antwortete er statt dessen und zuckte leicht zurück, als sie ihn unvermittelt umarmte. "Die anderen sind hinterm Haus im Garten. Yamino-kun hat bereits den Grill angeworfen. Nach dem Abendbrot spielen wir Spiele." Mayura klatschte begeistert in ihre Hände, wobei sie beinahe ihr Geschenk fallen ließ. "Alle anderen sind auch schon da, das wird wirklich eine klasse Party!" Ganz sicher... Heimdal zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er sich jetzt bereits extrem langweilte. Dabei war er extra eine Stunde zu spät gekommen, die Sonne war schon lange untergegangen und er hatte gehofft, dass sie im Haus feierten, da es noch immer Frühling und somit die Nächte noch recht kühl waren. Mayura schien jedoch andere Ideen zu haben und durchkreuzte somit Heimdals Plan, Loki im Haus aufzulauern, was wesentlich einfacher gewesen wäre als in Lokis ausladendem Garten mit den vielen Bäumen. "Übrigens, hübsches Kostüm, Kazumi-kun." "Wirklich?" Heimdal konnte nicht verhindern, dass seine Stimme sarkastisch klang, während er den schwarzen Umhang inspizierte. "Ja, nur die Maske sitzt nicht richtig." Das Mädchen drehte sich plötzlich um und beugte sich zu ihm herab. Vorsichtig richtete sie die Maske, lächelte ihn glücklich an. "So sieht's perfekt aus, Kazumi-kun." Sie hat nicht die Höhle gesehen, oder? Nein, sonst würde sie nicht so dämlich grinsen. Oder findet sie das gar normal? Wer weiß, was sich wirklich hinter ihrer harmlosen Fassade verbirgt? Vielleicht hat Loki sie in alles eingeweiht und ich bin derjenige, der in eine dämliche Falle tappt. Womöglich... Papperlapapp! Ich muss an meine Mission denken! Ich brauche mein Auge zurück! Ich will nicht erblinden! "Dein Kostüm ist auch schön." Brachte er hervor und hustete. Weit schob er seine nagenden Zweifel fort, folgte ihr, immer darauf bedacht, wie ein kleiner Junge zu wirken, der einfach nur bei ihr ein paar Spiele spielen wollte. Solange es nicht Go ist! Das werde ich auch in dreitausend Jahren nicht begreifen! "Nicht wahr? Papa hat's mir genäht! Endlich bin ein richtiger Detektiv und löse jeden Fall. Loki-kun kann bald seine Detektei schließen!" Nee, für Go ist die zu doof. Heimdal nickte scheinbar zustimmend und bog mit ihr um die Ecke, um im nächsten Moment von tausend Lichtern umgeben zu sein, die Glühwürmchen glichen. Schwerelos tanzten sie um ihn herum und er fragte sich, ob sich Odin so fühlte, wenn er in der Nacht auf die Erde herabblickte. Bezaubernd... Heimdal brauchte einige Augenblicke, um zu verstehen, dass es sich um Lampinons handelte, die rings um eine große Wiese an den Ästen der Bäume und an extra angebrachten Wäscheleinen hingen und im leichten Abendwind sanft hin und her schaukelten. Künstliches Licht gab es nicht, nur das Licht der Sterne, des beinahe vollen Mondes und all dieser Kerzen. Sie tauchten die große Tafel in ihrer Mitte in ein warmes Licht. Das Weibsstück mag doof sein, aber sie hat Geschmack. "Ich wusste es, jetzt kommt der Retter der Enterbten." Quietschte eine ihm wohl bekannte Frauenstimme und Heimdal stählte sich innerlich, als eine der drei Schicksalsgöttinnen aufsprang und auf ihn zueilte. "Der Rächer der Enterbten ist Robin Hood, Urd. Das ist eindeutig Zorro!" "Wie immer die Besserwisserin, Skuld." "Aber er ist ein niedlicher Zorro." Die dritte Stimme gehörte Belldandy und Heimdal funkelte Urd wütend an, als sie ihn grinsend musterte und ihm schließlich seinen schwarzen Hut klaute, um durch seine Haare zu wuscheln. Hab ich was in meiner Frisur? Wieso kann die nie jemand in Ruhe lassen? "Cool, dass du doch noch gekommen bist. Hast es wohl endlich eingesehen und schließt Frieden?" Na, bestimmt nicht! Dennoch machte er gute Miene zu bösem Spiel und nickte tapfer. Wenn die drei Schicksalsgöttinnen oder die anderen glaubten, er würde Loki etwas antun wollen, dann würden sie ihn nicht aus den Augen lassen. Besser, ihnen etwas vorzuspielen und damit seine Ruhe zu haben - und eventuell die Chance zu bekommen, die ihm sein Auge und seine Heimat zurückgeben könnte. "Das ist toll, Kazumi-chan." Urd, die sich in tausend Seidentücher gewickelt hatte und damit wohl wie die berühmte Märchenerzählerin Sherezade aussehen wollte, ergriff seine rechte Hand und zog ihn hinüber zu der großen Tafel, an der viele bekannte, aber auch viele unbekannte Gesichter saßen. Urds Schwestern, Belldandy und Skuld, hatten sich als Prinzessin Kaguya und Königin Elisabeth I. verkleidet, beides sehr passende Kostüme, wie er innerlich höhnisch bemerkte. Zu ihnen und Thor, der natürlich als Samurai dort saß, um nicht von seinem Hammer, der in der Menschenwelt in einem Katana, einem traditionell japanischen Schwert, steckte, getrennt zu sein, schob sich Heimdal einen Stuhl. Am Tisch der Tafel saß Mayura und zu ihrer Linken ihr Vater, der seinen Cowboyhut in den Nacken schob und sich betont lässig gab. Heimdal hatte ihn schon ein paar Mal gesehen und mochte ihn nicht sonderlich. Aber er schien ein guter Vater zu sein, sonst hätte das Mädchen ihn nicht eingeladen und bestimmt nicht in ihre Nähe gesetzt. Misgard stand als Pirat verkleidet hinter dem Grill, aber er enterte wohl keine Schiffe, sondern vielmehr saftige Steaks. Köstlicher Geruch verbreitete sich in der kühlen Abendluft und Heimdals Magen begann zu knurren. Immerhin hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen. Die anderen Personen, vermutlich Mitschüler Mayuras, die sich als Indianer, japanische Kaiser und einige Märchengestalten verkleidet hatten, saßen ebenfalls an der Tafel und unterhielten sich angeregt, machten Photos und lachten gemeinsam mit Mayura über diesen und jenen Lehrer. Wo ist eigentlich Loki? Heimdal blickte sich suchend um, aber er konnte den Gott des Unheils nirgendwo finden. Wollte dieser der Feier etwa fernbleiben, weil er den Wächter durchschaut hatte und um seine Sicherheit fürchtete? Nein, dann hätte er niemals zugelassen, dass sie mich einlädt. Denn dass Loki den Geburtstag von Mayura nicht verpassen würde, das war klar. Genauso, wie Mayura unendlich traurig wäre, wenn Loki zu ihrer ganz persönlichen Feier nicht erschiene. Und traurig sah das Mädchen wirklich nicht aus, wie es eher weniger sorgfältig die Geschenke auspackte. Das Geschenkpapier schien ihr ständig im Weg und so riss sie es mit einem entschiedenen Ruck auf. "Lecker! Weiße Schokolade!" rief sie erfreut und zeigte das kleine Päckchen hoch. Die durchsichtige Plaste reflektierte den Feuerschein und die anderen Personen nickten zustimmend, als sie die weiße Katze darin sahen. "Genau das Richtige für dich, du Naschkatze." Meinte ein Mitschüler in blauer Matrosenuniform und der halbe Tisch bog sich vor Lachen. Vermutlich erinnerten sie sich gerade an ein Erlebnis mit Mayura, in dem das Mädchen seine Vorliebe für Schokolade unter Beweis gestellt hatte. Ein Ereignis, an dem ich nicht teilgenommen habe. Na, und? Das will ich auch nicht! "Eine nette Geste, Heim." Flüsterte Thor so leise, dass nur Heimdal neben ihm es verstand. Der Donnergott wusste, wie sehr der Wächter seinen japanischen Namen verachtete, besonders mit dem kindlichen Zusatz, und hatte sich vorgenommen, diesen so wenig wie möglich zu gebrauchen. Es reichte, wenn die restlichen Gäste ihm mit >Kazumi-chan< anredeten und damit halb zur Weißglut trieb. "Das Essen ist gleich fertig." Meldete sich die Piratenschlage zu Wort und klapperte mit einer hölzernen Zange. "Könntet Ihr so lange auf die Steaks aufpassen, Daidouzi-sama? Ich werde Loki-sama holen." "Natürlich." Der Cowboy schlenderte lässig zu dem Grill hinüber. Er hatte die Sache voll im Griff. Auch wenn ein Steak ihm entkam und beinahe auf den Boden fiel. "Wo ist Loki-kun eigentlich?" erkundigte sich Skuld, der erst jetzt das Fehlen des inoffiziellen Gastgebers aufzufallen schien, und korrigierte ein wenig ihre Perücke. Ihr Gesicht war weiß geschminkt und sie sah bizarr aus. Heimdal hoffte, dass sie am heutigen Abend keine Prophezeiung machen würde. Und wenn doch, dass diese Prophezeiung nicht ihn betrag, denn Skulds Voraussagungen waren nie besonders angenehm. Hauptsache, es gibt etwas zu Essen, dann ist uns auch egal, wer es spendiert. "Er suchte noch etwas und meinte, er käme dann gleich runter." Verfressene Bande, alle samt! Bestimmt hat Thor Lokis Fehlen auch nicht bemerkt. "Dann sollte er sich beeilen, die Steaks sind fertig." Mayuras Vater legte das köstlich duftende Fleisch auf einige Teller und stellte diese auf den Tisch, wo sie die Gäste bis an das Ende der Tafel hindurch reichten und zwischen den anderen Tellern abstellten, die so viel Essen - besonderes, gutes, gekochtes Essen - beinhalteten, wie Heimdal noch nie in dem Jahr gesehen hatte, das er nun schon auf der Erde verbüßte. Es gab Reisbällchen, Fisch, frische Okynomiaki, die noch keine fünf Minuten den Ofen verlassen hatten, exotische Früchte, Glasnudeln, diverse Soßen und - Heimdall glaubte seinen Augen nicht zu trauen - sogar Kartoffelbrei und heiße Kartoffeln, seine heimlichen Leibspeisen. Auch für den Nachtisch war gesorgt, Torten, Kuchen und Schokolade standen bereits auf einem Tisch abseits der Festtafel bereit. Das hat alles Loki bezahlt. Das Mädel hat kaum Geld und der Vater bestimmt auch nicht. Er macht ihr eine Freude, genauso wie all die anderen auch. Ganz einfach so... Heimdal schluckte... und riss sein Auge auf, als er die Gestalt sah, die zusammen mit Midgard aus dem Haus trat. Loki hielt Fenrir auf seinem Arm, der Welpe hatte sich eine Krawatte um den Hals gebunden und einen lustigen Faschingshut aufgesetzt. Aber die lächerliche Aufmachung des Höllenhundes war es nicht, was Heimdal die Sprache verschlug. Es war vielmehr Lokis Anblick. Denn es handelte sich nicht länger um den kleinen Jungen, der eine Detektei betrieb und angeblich Privatunterricht erhielt. Nein, über den Rasen schritt der Gott des Unheils höchstpersönlich. Das... das... das... "Das Kostüm gefällt mir am allerbesten, Loki-kun." Mayura war aufgesprungen und zu ihm hinüber gelaufen, um einmal um ihn herum zu tanzen und ihn von allen Seiten eingehen zu begutachten. Loki lächelte sie leicht errötend an, fühlte sich ein wenig unsicher in den hellen Gewändern. Aber nur ein wenig. Seiner Mayura gefiel es und das war die Hauptsache. Er trägt seine traditionelle Kleidung! Heimdal starrte mit offenem Mund auf den mächtigen Gott, sah nicht mehr den Kinderkörper, der in dem weißen Gewand steckte, das ärmellos war und ihm bis über die Füße reichte, so dass er aufpassen musste, nicht über den Saum zu stolpern und hinzufallen. Er trägt sogar den Kranz! Der Lorbeerkranz thronte in braunem Haar, die daran befestigten Flügel wippten leicht auf und ab, während Loki seine Mayura zu der Tafel begleitete und an ihrer rechten Seite Platz nahm. Fenrir rollte sich in seinem Schoß zusammen, wohl wissend, dass ab und an ein Leckerbissen für ihn abfallen würde, und dass er nach dem Abendbrot einen großen Napf mit einem noch größeren Steak von seinem jüngeren Bruder erhalten würde. Ja, so eine Familie war toll! "Wirklich cooles Outfit." Bemerkte ein Mitschüler und zwei andere Mitschülerinnen, beide als Rotkäppchen und Schneewittchen verkleidet, stimmten lautstark in sein Urteil ein. Damit unterbrachen sie die merkwürdige Stille, die an der Tafel entstanden war. Die Schicksalsgöttinnen und Thor hatten ebenfalls den einst so starken Gott des Unheils gesehen, nicht länger den kindlichen Loki, und sich stumm gewundert, ob diese Macht noch immer in ihm steckte und sie es einfach nicht gesehen hätten. Ob er noch immer das Zeug besaß, sich gegen Odin aufzulehnen und ihn zu besiegen. Nein, ich werde ihn besiegen! Heimdal holte tief Luft, dann ergriff er mit seiner rechten Hand das Glas, das vor ihm stand, und hob es im Gruß. Mayura räusperte sich und sprach die wohl kürzeste Rede, die Heimdal je in seinem Leben gehört hatte. "Arigatou, dass ihr alle gekommen seid. Viel Spaß bei der Feier." Die Götter wie auch die Schüler prosteten ihr zu und auch Heimdal nahm ein Schluck von seinem Getränk, nur, um zu erkennen, dass es sich dabei um Sekt handelte. Nun, vielleicht würde diese Party doch nicht so langweilig werden. Bereits wollte er zu Messer und Gabel greifen, um sich das erste Steak zu nehmen, als Mayura sie alle um Einhalt gebot. "Einfach nur essen ist doch langweilig. Ich kenne da ein lustiges Spiel..." Sie hielt einen Schal, eine Mütze und ein paar Handschuhe, die aneinander genäht waren, in die Höhe und Heimdal stöhnte innerlich auf. Die Party würde noch schlimmer werden, als er sich das jemals erträumt hatte. Kinderspiele. Ich habe Hunger! "Jeder würfelt mit diesem Würfel." Sie gab die Kleidungsstücke an Loki weiter und hielt einen faustgroßen, roten Würfel in die Höhe, der wirklich nicht zu übersehen war, selbst nicht in der Dunkelheit des Abends. "Wenn er eine Sechs würfelt, muss er sich so schnell er kann, all diese Sachen anziehen und darf dann essen, aber nur so lange, bis jemand anderes eine Sechs würfelt. Dann muss er sofort aufhören mit essen und die Sachen dem anderen geben, damit sich dieser so schnell wie möglich umzieht und zu essen beginnt..." Oh nein, ich werde verhungern! Thor blickte ebenfalls nicht glücklich drein, sein Magen schien ebenso heftig zu knurren wie Heimdals, aber die beiden wurden rasch von begeisterten Göttinnen und Mitschülern überstimmt. "Gut, dann fangen wir an. Trinken ist natürlich immer erlaubt, nicht, dass einer an seinem Steak erstickt." Mayura grinste über das ganze Gesicht. "Und keine Panik an die Hungrigen unter euch, nach spätestens einer Stunde können wir dann normal essen, aber so lange will ich das Spiel schon spielen." "Keine Bange." Rief Urd begeistert von der Idee und fieberte bereits dem Würfel entgegen. "Essen können wir später noch, jetzt wollen wir Spaß haben!" "Hört, hört!" pflichtete Skuld ihr bei und es war einer der wenigen Momente, in denen sich die beiden Schicksalsgöttinnen einig waren. Weitere Photos wurden geschossen und Thor und Heimdal sahen, wie die köstlichen Steaks in weite Ferne rückten. Loki würfelte als Erster. Natürlich hatte er sofort eine Sechs. *** "Jetzt sind wir vollgefuttert und könnten etwas Bewegung gebrauchen. Wie wäre es mit Karaoke?" schlug Urd vor und Heimdal hätte die falsche Sherezade am liebsten erstochen. Erstens war er noch nicht satt, immerhin hatte er erst vor zwei Minuten richtig zu essen beginnen dürfen, ohne sich jedes Mal in Schal und Mütze einwickeln zu müssen, wenn ihm denn das Glück überhaupt hold war und er eine Sechs würfelte. Und zweitens hasste er Karaoke-Singen. Seine Grundschullehrerin hatte es einmal mit ihrer Klasse getan und einmal versuchten Thor und Freyr, ihn zu diesem dummen Spiel zu überreden. Nie kannte er die Lieder und wenn er doch mit der Melodie etwas anzufangen wusste, fiel ihm nie der Text ein. Nein, er würde keinen Spaß daran haben. Ganz und gar nicht. "Spitze Idee!" stimmte Thor der Schicksalsgöttin mit vollem Mund zu und Heimdal sah ein, dass es wohl kein Entrinnen gab. Zumindest nicht beim Zuhören, singen würde er nicht. Nein, nie und nimmer! "Ich hab eine Liste mit Liedern..." Mayura kramte einen Zettel hervor und Midgar machte sich sofort daran, den kleinen CD-Player sowie ein dunkles Mikrophon anzuschließen. Er war auf alles vorbereitet. "Perfekt. Jeder, der gesungen hat, bestimmt den nächsten Titel und den nächsten Sänger." Skulds Vorschlag traf auf breite Zustimmung, nur Heimdal versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Er zog seinen Teller nah an seinen Körper und aß, in der Hoffnung, dass man ihn übersah. Wie soll ich bei diesem Theater Loki vernichten? Der Abend ist erst jung, bestimmt haben sie noch andere Spiele geplant und dann ist der Weg frei für mich. Allein diese Hoffnung hielt ihn bei dieser Feier aufrecht, schlug ihn nicht sofort in die Flucht. Besonders in jenen Augenblicken, da er sich beinahe mit dem Schal strangulierte und Mayura eine Sechs würfelte und ihm die Handschuhe fortgerissen wurden, ohne dass er auch nur einmal in die leckere Kartoffel hatte beißen können, die die folgenden fünf Runden unangetastet auf seinem Teller lag, als wollte sie ihn verspotten. "Fangt ihr dann gleich an?" schlug ein Mitschüler Mayuras vor, dessen Kriegsbemalung nach dem Essen ein wenig verwischt war, und hob seinen Photoapparat, um die nächsten hundert Bilder zu schießen. Er hatte die Festplatte seiner Digitalkamera bereits zwei Mal gewechselt. Japaner sind verrückt nach Photos. Heimdal tastete unauffällig nach einer Handvoll Lychees und einem Pfirsich, beobachtete schweigend die Schicksalsgöttinnen, die sich ohne zu zögern der Herausforderung stellten. Japaner sind noch verrückter nach Karaoke! "Hm... was wollt ihr?" fragte Mayura, die erst überlegte, ob sie erklären sollte, dass die jungen Frauen einzeln zu singen hatten, da sie nur ein Mikro besaßen, entschied sich dann aber dagegen. Urd, Skuld und Belldandy würden sich schon etwas einfallen lassen, dessen war sie sich sicher. "Such du was aus." Urd lüftete leicht ihre Schleier, um sicher zu der kleinen Plattform zu gelangen, die Heimdal erst jetzt sah. Sie stand etwa zwei Meter von der Tafel entfernt und war mit Extralampions ausgestattet. Fünfzig Zentimeter erhöhten die Bretter die Sänger. Fünfzig Zentimeter zu viel für den Wächter. "Ok, dann Lied Nummer eins. Bitte schön, viel Spaß." Mayura reichte der ältesten der Schwestern das Mikro und nickte Midgar zu, der die entsprechende CD einlegte und auf Play drückte. Sofort ertönte Musik, die sogar Heimdal bekannt vorkam. Er konnte sich nicht an die Sänger erinnern, aber Freyr hatte diese Musik öfter gehört. "Help!" sangen alle drei Geschwister auf einmal und die Schüler begannen, laut zu klatschen und zu pfeifen, als sich die Schicksalsgöttinnen so richtig in Pose warfen. Heimdal war dies alles ungemein peinlich und er griff nach seinem Sektglas, das noch immer halb voll war, zum Abendbrot selbst hatte es Tee, Mineralwasser und Limo gegeben. Vielleicht ließ sich dieses Chaos im beschwipsten Zustand leichter ertragen. "I need somebody." Urd schmollte in die Runde und blinzelte geblendet, als sie prompt photographiert wurde. "Help!" "Not just anybody." Skuld schnappte ihrer großen Schwester das Mikro weg und tanzte damit quer über die Bühne zu Belldandy, Urd natürlich dicht auf den Fersen. "Help!" "You know I need someone." "Help!" "When I was younger, so much younger than today I never needed anybody's helping anyway." Urd hatte das Mikro zurückerobert und strich sich durch ihre langen Haare, tat so, als sei sie schon furchtbar alt. Eigentlich ist sie das ja auch. Heimdal grinste hämisch und schenkte einfach Urds Sekt in sein eigenes Glas um, um ihn dann zu trinken. Wenn die Schicksalsgöttin nicht an ihrem Platz war, so war das nicht seine Schuld. Sie hatte sich selbst dort hinein geritten! "But now these days are gone and I'm not so self sure And now I find that change of mind has opened looked doors." Skuld sang ebenfalls leidend in das Mikro, so als habe sie wirklich ihr Selbstvertrauen verloren. Dabei waren sie Göttinnen, die das Schicksal der Menschen webten, sie verloren nie ihr Vertrauen - denn sonst wäre die Zukunft und damit die gesamte Welt verloren. So ein bescheuertes Lied! "Help me if you can I'm feeling down." Nun war Belldandy an der Reihe. Sie hatte die klarste und schönste Stimme der drei Schwestern, vermasselte jedoch den Einsatz, als ihre zwei Schwestern plötzlich hinter ihr standen und ganz laut und vor allen Dingen ganz falsch >down, down, down< sangen. Die anderen Gäste tobten und weitere Photos wurden geschossen. "And I do apreciate you being round." >Round, round, round.< "Help me get my feet back on the ground." >Ground, ground, ground.< Skuld und Urd umarmten ihre Schwester und gemeinsam sangen sie in das Mikrophon, während sie langsam auf den Boden sanken: "Won't you please, please help me, help me, help meeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee." "Bravo!" klatschten Thor und Mayura hingerissen, der Matrosenschüler knipste zehn weitere Photos, besonders da Urd unbeabsichtigt ihre Seidenröcke zu hoch gerutscht waren. Alle waren begeistert, nur Heimdal blickte nicht besonders erbaut drein, stahl nun Belldandys Sektglas, bevor diese zurückkehrte und ihn auf frischer Tat ertappte. Wenn sie es später bemerkte, würde er einfach behaupten, von nichts zu wissen. Das klappte immer. Nun ja, fast immer. Ach, egal, Hauptsache, die ganze Sache ging ihm nicht mehr so auf die Nerven! "Ein starker Auftritt, Mädels." Mayuras Vater hob anerkennend seine Sakeflasche, um die Heimdal ihn unendlich beneidete, und prostete den Schwestern zu. "Wer ist der nächste?" Das Geburtstagskind hielt Urd den Zettel entgegen und an ihrem Grinsen konnte Heimdal deutlich erkennen, dass dies gerade eine schlechte Idee gewesen war. Eine ganz schlechte Idee. "Loki-kun." Aber das Schicksal verschonte den Wächter dieses Mal und er atmete erleichtert auf. Erleichtert und auch schadenfreudig, denn Loki erbleichte ein wenig und nahm sichtlich nervös das Mikrophon entgegen. Heimdal freute sich gerade diebisch, bis er das freche Grinsen auf dem Gesicht des Unheilsgottes sah, als ihm das Stück genannt wurde, zu dem er singen sollte. Falsche Töne und vergessene Zeilen spielten keine Rolle, Hauptsache, man konnte sich inszenieren. Und Loki konnte das. Das hat er schon immer gekonnt. Heimdal erinnerte sich noch gut daran, welch schauspielerisches Talent in dem jungen Gott steckte, wenn sie wieder etwas angestellt hatten und sich vor Odin dafür verantworten mussten. Loki hatte sie fast immer aus dem gröbsten Schlamassel herausgeredet. Damals, als sie noch Freunde gewesen waren. Vor der Prophezeiung. Vor dem Verrat... Ja, Heimdal wusste, was für ein Talent in dem Unheilsgott steckte, aber der Auftritt Lokis, besonders in einem Kinderkörper, verschlug ihm fast die Sprache und er hustete heftig, als er sich an Belldandys Sekt verschluckte. "kimi wa seijitsu na moralist kirei na yubi de boku o nazoru boku wa junsui na terrorist kimi no omou ga mama ni kakumei ga okiru" Loki hielt das Mikro fest in seinen Händen und tanzte lasziv zu Mayura hinüber. Diese kicherte, als er zuerst seine Hand durch ihr langes Haar gleiten ließ, dann seinen Arm lässig um ihre Schultern legte und ihr schließlich einen kurzen Kuss auf die Wange drückte. Die Schicksalsgöttinnen grölten und auch Mayuras Vater schien sich nicht daran zu stören, dass Loki in seinem Alter nicht nur den Text dieses Liedes kannte, sondern ihn auch noch dessen Tochter vorsang - mit einem mehr als eindeutigen Augenaufschlag. Gespielt hin oder her, er steckt im Körper eines neunjährigen Jungen und sie ist heute siebzehn Jahre alt geworden! Merkt das hier keiner? Heimdal, der sich fragte, wann Thor in Nasenbluten ausbrechen würde, so sehr starrte dieser die zwei Hauptakteure des Karaoke-Aktes an, blickte sich um, aber alle feierten bei Lokis Auftritt, ja, beinahe alle der Schüler sangen den Text stumm mit. "koi ni shibarareta specialist nagai tsume o taterareta boku ai o tashikametai egoist kimi no oku made tadoritsukitai" Nun spielte Mayura auch noch mit und strich sanft mit ihren Fingern über Lokis Wange. Waren denn hier alle so blind und sahen nicht, dass sich gerade ein Neunjähriger an eine fast volljährige Oberschülerin ranmachte? Egal, ob dieser nun ein Gott war oder nicht! "kimi no kao ga toozakaru ah boku wa boku de nakunaru mae ni" Mayura schubste Loki leicht von sich, nur, um ihn dann wieder an sich heran zu ziehen. Sein Lorbeerkranz verrutschte leicht und sein Grinsen wurde eine Spur ernster, als er die letzten Zeilen des bekannten Liedes einer japanischen Rockgruppe sang. Der Schalk verschwand aus seinen Augen und nur Heimdal schien es zu bemerken. Meint er es wirklich ernst mit ihr? Mit ihr? Einem Mystery-Fan? Sie wird ihn doch schreiend rauswerfend, wenn sie die Wahrheit über seine Herkunft erfährt. Ihn und seine missratenen Söhne. Und was ist, wenn nicht? "aishite mo ii kai? yureru yoru ni arugamama de ii yo motto fukaku kuruoshii kurai ni nareta kuchibiru ga tokeau hodo ni boku wa...kimi no...Vanilla" Beim letzten Vers ergriff Mayura ihren Loki und zog den kindlichen Gott auf ihren Schoß, wo sie ihn wie gefangen fest umarmte. Der Junge grinste in die Linsen diverser Kameras, als habe er wirklich eine große Eiskrem erhalten. Noch immer feierten die anderen Gäste, schienen das alles nur für eine riesige Schau zu halten, vielleicht sogar die Hauptakteurin schlecht hin: Mayura. Heimdal sah seinem Erzfeind jedoch an, dass es sich bei ihm nicht um eine Show gehandelt hatte, ganz und gar nicht. Seine Gefühle waren echt gewesen. Nein, ich habe kein Mitleid mit ihm! Ich muss ihn vernichten! Er hat mir mein Auge zurückzugeben - ansonsten werde ich erblinden! Das ist meine höchste Mission. Wie sein beschissenes Privatleben aussieht, geht mich verflucht noch mal einen feuchten Dreck an! "Ich Text, du Opfer." Ordnete der Gott des Unheils das Mädchen an und rutschte von ihrem Schoß, um die Liste der magischen Lieder eingehend zu studieren. Mayura und Midgar hatten sie zusammen erstellt und er mochte die Auswahl: lustige Lieder, traurige, romantische, aus den Charts, aus Filmen und aus Musicals. Er beobachtete, wie Mayura zu den anderen zwei Göttern hinüber ging, die bis jetzt noch verschont geblieben waren und musste grinsen, als Heimdal versuchte, unter das Tischtuch zu kriechen. Es war offensichtlich, dass er lieber sterben als Karaoke singen würde. Mayura schien dies auch zu spüren, oder sie ließ sich von Thors offenherzigem Gesicht beirren, jedenfalls wählte sie den Donnergott und Loki konnte beinahe den Steinberg sehen, der dem Wächter soeben vom Herzen gefallen war. Kurz überflog der Gott des Unheils noch einmal die Titelliste, bevor er sich für ein Lied entschied, von dem er wusste, dass es Thor nicht nur kannte, sondern dass es auch zu ihm passte. "Hier." Er hielt dem jungen Gott Mikro und Zettel entgegen, wo er mit dem Zeigefinger auf besagtes Lied deutete. Der Donnergott nickte und schob sich einen Stuhl auf die Bühne, um sich mit einem theatralischen Gesichtsausdruck darauf zu setzen. Loki mochte der Meister der Schauspieler sein, aber er war auch nicht schlecht. Leise Klaviermusik wurde eingespielt und neben den Lampions erhellten bald darauf die ersten Feuerzeuge und Wunderkerzen die Nacht. Heimdal wunderte sich für einen Augenblick, woher die Jugendlichen diese Utensilien hatten, erinnerte sich dann aber an die Karaokeverrücktheit der Japaner und entschloss, sich darüber nicht mehr zu wundern, es verschwendete nur seine Energie. "Where do we go from here This isn't where we intended to be We had it all, you believed in me I believed in you" Natürlich kannte Heimdal das Lied, es entstammte einem amerikanischen Film, den sich Freyr oft angeschaut hatte. Wenn er jetzt hier sein könnte, er wäre begeistert, würde vermutlich mit Thor zusammen singen. So aber saß der Donnergott allein auf der Bühne und bot ebenfalls eine gute Show. Man konnte ihm seine Traurigkeit beinahe abnehmen. Heimdal schluckte, als er sich der Worte bewusst wurde und verfluchte Loki einmal mehr dafür, dass er ausgerechnet dieses Lied ausgewählt hatte. Der Wächter hatte es in dem Film schon gehasst. Es wurde von einer todkranken Frau gesungen, die auf ihrem Sterbebett erkannte, wie sehr ihr Mann sie liebte, den sie immer nur als politisches Mittel, nie als Menschen mit Gefühlen gesehen hatte. "Sudden tears disappear What do we do for our dream to survive How do we keep all our passion alive As we used to do" Ein beschissenes Lied! Heimdal sah sich um und stahl Thors Sektglas, als er erkannte, dass dieser sich während des Abendbrotes auch mehr an die Limonade gehalten hatte. Mag hier denn keiner mehr Alkohol? Muss ich erst diesen bekloppten Cowboy umbringen, um mich betrinken zu können? "Deep in my heart I'm concealing Things that I'm longing to say Scared to confess what I'm feeling Frightened you'll slip away" Thor schaute in die Runde - und die ersten Mädchen suchten doch tatsächlich nach ihren Taschentüchern! So traurig war das Lied auch nun wieder nicht! Heimdal trank den Sekt mit einem großen Schluck und ärgerte sich, als Thors Blick von Mayuras Vater rasch auf die Schicksalsgöttinnen fiel, ihn ausließ. Na toll, erst geht er mit mir dieses bescheuerte Kostüm einkaufen und dann werde ich ignoriert. Na danke auch! Die Stimme des Donnergottes war sanft und er traf sogar alle Töne, was bei den Schwestern nicht unbedingt der Fall gewesen war. Die Mädchen hingen ihm förmlich an den Lippen und Heimdals Nervpegel erreichte neue Höhen. "Deep in my heart I'm concealing Things that I'm longing to say Scared to confess what I'm feeling Frightened you'll slip away." Die ersten Mädchen seufzten wohlig ob der Romantik des Liedes und Heimdal sah sich gequält nach einer Rettung um - und fand sie auf dem Süßigkeitentisch in Form einer großen Bowle. Wenn dort kein Alkohol drin war, wenigstens ein bisschen, schließlich war das Geburtstagskind keine fünf Jahre mehr, dann würde er sich umbringen oder, was noch schlimmer war, sich die Liedliste ansehen und freiwillig das dümmste davon vortragen. "You must love me. You must love me. You must... love me." Spätestens jetzt waren alle Mädchen dahingeflossen, selbst Mayura, die möglichst unauffällig in ein Taschentuch schnäuzte. Einen Moment herrschte Schweigen, dann applaudierten die anderen und die Feuerzeuge blitzten ein letztes Mal auf, als sich der Donnergott tief verbeugte und schließlich an seinen Platz zurückkehrte, nachdem er den Matrosenjungen mit einem modernen Lied, das Heimdal nicht kannte und auch nicht weiter kennen wollte, ausgesucht hatte. Es war sehr rhythmisch und schon schunkelten alle mit. Das war der Tropfen, er das Fass zum Überlaufen brachte. Ich harke mich nicht bei jemandem unter! Diesen Käse können die vergessen! Entschlossen ergriff er eine weitere Kartoffel und erhob sich. Mayura, die fragend aufsah, deutete er, dass er ein wenig Bewegung nach dem reichhaltigen Mahl bräuchte und ging hinüber zu den Bäumen, nachdem sie ihn verstehend zugenickt hatte. Sie hatte nicht von jedem erwartet, die Karaokeidee toll zu finden und akzeptierte, dass er sich lieber verzog, bevor er wirklich singen musste. Immerhin hatte er sich beim Essen wacker geschlagen und sie würde ihn bei dem nächsten Spiel wieder holen. Mühelos schwang er sich auf einen Ast und lehnte sich gegen den Stamm. Schweigend blickte er durch die Blüten hinauf zum Mond, der beinahe voll am klaren Himmel stand. Die Luft war kühl, aber angenehm, der wenige Sekt wärmte ihn von innen, auch wenn er lieber betrunkener wäre. Nun, vielleicht hatte er mit der Bowle Glück, er würde es später herausfinden. Ein Mädchen im Schneewittchenkostüm folgte dem Matrosen und sang mit heller Stimme ein eher klassisch angehauchtes Stück. Sie schaffte die Höhen mühelos und wurde zum Dank mit einigen Schneeglöckchen beworfen in Ermangelung der Rosen. "Eine schöne Nacht." Thor fragte erst gar nicht, ob er denn erwünscht wäre, sondern schwang sich neben ihn auf den Ast, der sich gefährlich bog, aber ihren beiden Gewichten dann doch Stand hielt. Der Donnergott hielt einen Apfel in seiner Hand, den er gedankenverloren an seiner dunklen Samuraikleidung polierte, bis er glänzte. Dabei blickte auch er zum Himmel empor, ließ seine Beine baumeln, so dass der Ast leicht hin und her wippte. Heimdal wollte ihn erst anfahren, sagte dann aber doch nichts. "Sie haben viel Spaß mit ihrer Feier." Thors Stimme war seltsam monoton und er wechselte den Apfel von der rechten in die linken Hand, nur, um ihn weiter zu polieren. "Das erinnert mich an unsere Saufgelage in Walhalla, Heim. Kannst du dich noch daran erinnern? Loki war manchmal so betrunken, dass er gar nicht mehr stehen konnte und wir beide ihn in seine Gemächer tragen mussten." Erneut antwortete Heimdal nicht und es schien, als störte es den Donnergott nicht, als bräuchte er einfach nur die Chance, darüber zu reden, was ihn am meisten bewegte. "Während seine Kinder in Asgard weilten, hat er keinen einzigen Tropfen angefasst, Heim. Für ihn war der Alkohol immer ein Spiel, eine Erheiterung gewesen in seinen Junggesellentagen. Und dann haben sie sie ihm genommen..." Thor seufzte leise. "Danach waren wir noch einmal aus, in der Menschenwelt, in einer Kneipe." Der Apfel verharrte über Thors Brust und der Gott seufzte tief. "Ich dachte, Loki will sich nicht betrinken, sondern ertrinken. Es war beängstigend." Noch immer starrte Heimdal stumm zum Mond hinauf. Die Musik und das Gelächter der anderen drangen kaum an ihre Ohren. "War es denn so eine Sünde, dass Loki die drei aufgenommen hat? Was war so schlimm daran, dass er alles zerstört hat?" Thor schüttelte seinen Kopf und blickte hinüber zu Heimdal, dessen Gesicht in den Schatten der Äste verborgen lag. "Ich wünschte, es wäre wieder so wie früher, Heim. Ohne die Angst vor Ragnarök und ohne den Hass." "Ich will einfach nur nach Hause." Gab der Wächter so leise zu, dass Thor ihn beinahe nicht gehört hätte. "Einfach zurück nach Walhalla und diesen ganzen Scheiß hier vergessen." Er deutete mit seiner linken Hand auf seinen Kinderkörper und presste die rechte gegen die Höhle, die allmählich wieder zu schmerzen begann. Die letzten Tage war er von größerer Pein verschont geblieben, aber er hatte geahnt, dass die Hilfe Odins nicht ewig andauern würde. "Loki kann von mir aus hier bleiben bei dieser dummen Tussi und seinen Gören. Ich will mein Auge zurück und in Walhalla meinen Platz wieder einnehmen." Tränen brannten in seinem Auge und Heimdal fragte sich, ob die vier Gläser Sekt diese Wirkung auf seinen kleinen Körper hatten. Früher hatte er ein halbes Duzend Bierkrüge austrinken können, ohne dass ihm auch nur schwindelig wurde - und nun schüttete er dem Donnergott sein Herz aus, als sei er bereits sturzbetrunken. Und das nach einer derartig geringen Menge Alkohol, die er früher nicht einmal für voll genommen hätte. Ja, früher... "Also willst du ihn gar nicht töten?" "Ich..." Thors Frage hatte ihn überrumpelt und Heimdal hielt für einen langen Moment inne. Der Donnergott drängte ihn nicht. "Ich hab keine Ahnung... vielleicht, vielleicht nicht... auf jeden Fall werde ich es sowieso irgendwann tun müssen. Ragnarök ist unausweichlich, wann immer es auch stattfinden wird." "Scheiß Prophezeiung." Fluchen sah dem Donnergott überhaupt nicht ähnlich, aber Heimdal nickte nur zustimmend. "Loki hat mein Auge gestohlen, dafür muss er auf jeden Fall büßen!" "Was ist, wenn er es nicht gestohlen hat?" "Wer hat's dann, Thor?" Heimdal lehnte sich zu Thor hinüber und schob den violetten Vorhang und die schwarze Maske zur Seite. Das Pochen verstärkte sich unangenehm, als er das rechte Lid öffnete und dem Donnergott die Leere dahinter zeigte. "Es ist ja nicht mehr da, oder ist mir da was entfallen? Und als es verschwand, stand Loki direkt vor mir. Ich denke, die Indizien sind zu belastend." Heimdal erwartete, dass Thor angeekelt zurück schreckte oder eines dieser verflucht mitleidigen Gesichter aufsetzte, aber der Donnergott hob lediglich seine freie Hand und strich damit zögernd über Heimdals unversehrte Wange. "Tut es eigentlich immer noch weh? Du hattest am Anfang diese Art Anfälle." Murmelte er und wunderte sich, warum er diese Frage nicht schon viel eher gestellt hatte - und warum er jetzt auf einmal den Mut aufbrachte, so offen mit Heimdal darüber zu sprechen. Soll ich es ihm sagen? Wird er mir glauben? Wird er mir helfen, von Loki mein Auge zu fordern und damit mein Augenlicht und mein Leben zu retten? Oder wird ihm sein ehemaliger bester Freund, mein jetziger Feind, wichtiger sein? Heimdal wusste es nicht. Er wusste jedoch genau, dass er diese Bowle dringender benötigte als je zuvor. Die Feier ging noch lange und er glaubte nicht, sie im nüchternen Zustand ertragen zu können. Nicht mit all den Menschen, die so fröhlich sein konnten, während er sich so unsagbar traurig fühlte. "Heim?" "Kommt ihr zwei? Wir wollen Blinde Kuh spielen und später vielleicht noch eine zweite Runde Karaoke singen. Ihr kennt doch Blinde Kuh, oder?" "Hai." Rief Thor zu Mayura herunter, die zu ihnen heraufspähte und dabei stolz ihre Pfeife in die Luft hielt. Sie spielte sehr gerne Sherlock Holmes und der Donnergott wünschte, ebenfalls über die scharfe Kombinationsgabe des berühmten Privatdetektiven zu verfügen. Früher schon war Heimdal immer ein Buch mit sieben Siegeln für ihn gewesen, nun aber verstand er ihn überhaupt nicht mehr. "Heim?" "Ich will einfach nur nach Hause, Thor. Einfach nur nach Hause." Mit diesen Worten sprang Heimdal vom Ast und ließ sich sogar als Erster die Binde über seine ohnehin fast unbrauchbaren Augen legen. *** "Midgard hat wirklich eine sehr schwierige Fährte gelegt." murmelte Thor und bückte sich, um weitere Äste beiseite zu schieben. Nachdem sie ausgiebig >Blinde Kuh< und >Stille Post< gespielt und viel gelacht hatten, schlug die Weltenschlage vor, auf Schnitzeljagd zu gehen. Er hatte sich bereits während der letzten Spiele von den anderen entfernt und alles vorbereitet. Nun schwirrten kichernde Schüler und Götter durch den großen Garten und suchten nach gut versteckten Hinweisen, die sie zu einem tollen Schatz führen sollten. "Der hat bestimmt gar keine Fährte gelegt und lacht sich jetzt ins Fäustchen." Heimdal verschränkte skeptisch seine Arme vor der Brust. Er verstand nicht, warum er überhaupt hier stand und an dieser blöden Schnitzeljagd teil nahm. Schließlich hatte er die letzte Stunde diverse dumme Kinderspiele über sich ergehen lassen, sein Bedarf an >Spaß< war mehr als gedeckt. "Nein, man muss nur gut suchen." Thor erhob sich wieder und zeigte triumphierend ein kleines Stück Papier in die Höhe. "Wir werden diesen ominösen Schatz schon heben!" Der Donnergott ergriff Heimdal bei seiner rechten Hand und zog den innerlich genervt stöhnenden Wächter durch dunkles Dickicht. Hier schien selbst das Licht des Mondes und das der Laternen zu versagen. Heimdal war dies nur recht, die Dunkelheit tat seinem Auge, das weiterhin unangenehm pochte, besser als jede Helligkeit, selbst die einer Kerze. Ich muss mein Auge wieder bekommen! "Was glaubst du wohl, was das für ein Schatz sein wird?" fragte er spöttisch, als Thor plötzlich bremste und er beinahe gegen ihn prallte. "Eine Truhe voller Gold." "Gierhals." Heimdal schüttelte seinen Kopf und lehnte sich schließlich ergeben gegen den Stamm, als Thor wieder auf die Knie sank und erneut den Boden abzusuchen begann wie ein wilder Spürhund. "Da ist sicherlich nur eine Tafel Schokolade drin." "Umso besser, dann werd ich sie essen." Grinste Thor und schob sich weiter durch den Busch vor sich, der seine Samuraikleidung beschmutzte. Es schien den jungen Gott jedoch nicht zu stören. Nichts konnte ihn an diesem Abend die gute Laune verderben. Nichts. "Fresssack!" "Ja, und?" Heimdal grummelte nur genervt einige nicht besonders schöne Worte und drehte sich um, um zu schauen, wo die anderen waren. Die Mädchen, ja sogar die Schicksalsgöttinnen, hatten sich mit tragbaren Lampions bewaffnet, weil sie angeblich in der Finsternis des Gartens die Fährte nicht hätten sehen können. Pah! Die haben doch alle nur Angst! Wobei es Heimdal amüsierte, dass sich sogar die Schwestern, Göttinnen, die das Schicksal webten, in der Dunkelheit unwohl fühlten. Dabei sollte doch eigentlich jeder vor ihnen Angst haben und nicht umgekehrt! Was kann ihnen hier schon geschehen? Sie verfügen noch über gewaltige Kräfte, könnten sich gegen alles verteidigen. "Igitt! Eine Spinne!" Urds Stimme, die durch den gesamten Garten hallte, und das folgende Gelächter belehrte ihn jedoch eines Besseren. Gegen seinen Willen musste er grinsen, während Thor vor ihm in Kichern ausbrach. Einige Lichter, Glühwürmchen gleich, tanzten durch die Nacht und die frische, aber dennoch angenehme Luft war erfüllt mit fröhlichen Stimmen. Wenn Heimdal sich nicht so elend gefühlt hätte, wenn sein Auge nicht so schmerzen würde, er hätte sich vielleicht wirklich amüsiert. Vielleicht. Ein Licht kam immer näher und Heimdal konnte Mayura erkennen, die, nachdenklich auf ihrer Pfeife kauend, den Boden einer kleinen Lichtung inmitten der vielen Bäume absuchte. Der Lampion wippte leicht über ihrem Kopf, während sie aufmerksam durch das Gras ging. Sie war allein, ihre Schulkameraden, die sie den ganzen Abend über umringt hatten, schienen sie verloren zu haben. Oder, was Heimdal logischer erschien, Mayura hatte ihre Freunde verloren, indem sie ohne auf den Weg zu achten, ganz einfach quer durch den Garten, den sie gut zu kennen schien, gestolpert war. Wenn sie ein >Mystery< wittert, ist alles zu spät. Heimdal grinste hämisch und stupste Thor mit seinem linken Stiefel an. Dieser hob seine rechte Augenbraue und wollte etwas zu dem kindlichen Zorro sagen, als dieser zu dem Mädchen hinüber deutete. Schweigend setzte sich Thor auf, den nächsten Schnipsel in seiner Hand vergessend, und blickte ebenfalls zu Mayura, die nun nicht länger allein war. Weder ihre Klassenkameraden noch die Schwestern hatten sie gefunden, nein, es war ein kleiner Gott, der aus der Dunkelheit der Nacht in das Licht ihres Lampions trat. Heimdal war sich sicher, dass dies Lokis Werk war. Er hatte mit dem Mädchen allein sein wollen, vermutlich war die ganze Schnitzeljagd nur eine Tarnung, damit niemandem auffiel, dass Mayura fehlte. Heimdal war sich nur nicht sicher, was der Unglücksgott damit bezweckte. "Hier ist noch eine Spinne! HILFE!!!" Mayura kicherte, als nun auch Skulds Stimme lautstark betonte, dass sie Lebewesen mit mehr als vier Beinen nicht zum Kuscheln fand, und suchte weiterhin den Boden ab. Sie ging auf ihre Knie und steckte den Stiel des Lampion ins Erdreich, um besser sehen zu können. Loki schien sie nicht zu bemerken, so vertieft war sie in ihre Tätigkeit. Ihr Berufswunsch ist Detektiv, sie nimmt das sehr ernst. Aber sie nimmt auch Ufos und Horoskope sehr ernst. Vermutlich würde sie sogar Götter ernst nehmen... Heimdal ärgerte sich selbst über seine Gedanken und verschränkte erneut seine Arme vor der Brust, um dem Schauspiel, das ihm geboten wurde, zuzusehen. Loki wird sich lächerlich machen! Wenn er ihr jetzt seine ach so unsterbliche Liebe gesteht, wie er das bei so vielen anderen Frauen in den Jahrtausenden vor ihr getan hat, wird sie ihn auslachen. Er steckt in dem Körper eines Kindes! Unbewusst ballte Heimdal seine Fäuste. In diesem beschissenen Körper wird man nicht für wahr genommen! Sie wird ihn nicht verstehen, sie kann gar nicht! Loki rückte seinen Flügelkranz zurecht, dann stahl er Mayura ihren Sherlock Holmes Hut. Das Mädchen fuhr erschrocken herum und lachte auf, als sie den Jungen neben sich stehen sah. Da sie kniete, waren sie gleich groß und Loki konnte sie anschauen, ohne sich den Hals verrenken zu müssen. Ein sanftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als Mayura ihren Hut zurückforderte und statt dessen eine kleine Schachtel in die Hand gedrückt bekam, die ungeschickt in Geschenkpapier eingewickelt war. Muss er diesen ganzen Schickschnack hier veranstalten, nur, um ihr sein Geburtstagsgeschenk zu überreichen? Heimdal verzog angewidert seinen Mund. Wie immer musste sich Loki wichtig machen, und das gefiel dem Wächter überhaupt nicht. Na warte! Wenn alle gegangen sind, werde ich mein Auge zurück holen und dann wirst du nicht mehr so dämlich grinsen! Der junge Gott wollte sich gerade umdrehen und zurück zu der Tafel, und, was er nun wirklich brauchte, zurück zu der Bowle gehen, er hatte wirklich genug gesehen, als Thor neben ihm überrascht nach Luft schnappte. Heimdal richtete seinen Blick wieder auf Mayura und riss sein Auge auf, was daraufhin noch mehr schmerzte, und schüttelte ungläubig seinen Kopf. Die offene Schachtel lag vergessen im Gras, das Mädchen hielt nun eine goldene Kette mit einem Amulett in der Hand. Ein Schmuckstück, das so alt zu sein schien wie die Welt selbst. "Er schenkt ihr DAS?" flüsterte Heimdal entsetzt und wusste selbst nicht, warum er nicht schrie. Es interessierte ihn nicht, ob Loki ihre Anwesenheit bemerkte oder nicht. Aber offensichtlich hatte ihn die Überraschung überwältigt. Genauso wie Thor, der drei Mal den Mund öffnete und tonlos wieder schloss. Er sah für einen Augenblick wie ein Fisch auf dem Trocknen aus, dann sammelte er sich wieder. "Ich hätte es wissen müssen..." murmelte er mehr zu sich selbst als zu dem kindlichen Gott neben sich und erhob sich langsam aus seiner noch immer hockenden Position. Der Schnipsel Papier fiel unbeachtet auf den dreckigen Boden. "Das ist Hels Kette! Ich dachte, sie wäre damit begraben worden." "Nein, das ist nicht Hels Kette." Thor schüttelte energisch seinen Kopf und Heimdal brauchte einige Momente, um die Worte zu verstehen. Fragend blickte er zu den beiden Gestalten hinüber, beobachtete, wie Loki beschämt grinste, als Mayura ihn stürmisch umarmte. Dann half der Unheilsgott, dem Mädchen die Kette anzulegen. "Wem gehörte sie dann?" Heimdal konnte sich noch gut, zu gut, daran erinnern, dass Hel diese Kette immer getragen und mehr als einmal verloren hatte. Jedes Mal hatten sie die Gemächer von Loki auf den Kopf gestellt, um das goldene Schmuckstück wieder zu finden, das Hel abhanden gekommen war. Sie war ein fröhliches, manchmal aber auch sehr ungeschicktes Mädchen gewesen. "Hels Mutter." Thors Stimme war so leise, dass Heimdal ihn beinahe nicht gehört hätte. "WAS?" brach es aus ihm heraus und er riss seinen Kopf zu dem Donnergott herum, der ausdruckslos zu den beiden Gestalten auf der Lichtung blickte. Seine dunklen Augen waren voller Trauer. "Woher willst du das wissen? Keiner weiß, wer Hels Mutter war, Loki hat nie über sie geredet!" Nein, nicht einmal die Schicksalsgöttinnen, die alles zu wissen glaubten, hatten je die Identität der mysteriösen Frau, die Loki mehr berührt zu haben schien als alle Affären vor ihr, enttarnen können. Der Unheilsgott selbst hüllte sich in tiefes Schweigen. "Ich habe sie ein einziges Mal auf der Erde gesehen." Flüsterte Thor, nahm aber den überraschten und teilweise auch vorwurfsvollen Blick des Wächters nicht wahr. Seine Augen waren starr auf das Paar vor ihm gerichtet. Was? Er hat gewusst, wer Hels Mutter war und hat es all die Jahre nicht für nötig gehalten, mir davon zu berichten? Gerade wollte er in wilde Schimpftiraden ausbrechen, als er die nächsten Worte des Donnergottes hörte, die ihn verstummen, seinen Ärger vergessen ließen. "Sie sah genauso aus wie Mayura. Ganz genauso..." Heimdall blinzelte verwirrt, sah dann wieder hinüber zu den beiden Gestalten. Mayura freute sich sichtlich über das kostbare Geschenk und Loki wirkte sehr glücklich, aber auch sehr nervös. Er schien sie etwas zu fragen und als sie nickte, trat er einen Schritt zurück und schloss seine Augen. Alle Geräusche erstarben um sie herum: Das Lachen der Mitschüler, die kichernden Schreie der Schicksalsgöttinnen, das Zwitschern der aufgescheuchten Vögel sowie die leise Musik, die aus dem CD-Player nahe der Tafel unaufhörlich spielte. Das Rascheln der Bäume verstummte und jeglicher Wind erstarb. Die Zeit schien still zu stehen. Nein! Heimdal kannte diese Vorboten, hatte sie bereits mehrfach während der Kämpfe gegen Loki erlebt. Der Unheilsgott wollte sich vor Mayuras Augen mit dem Bisschen, was ihm von seiner göttlichen Macht geblieben war, in seine wahre Gestalt verwandeln - mit Flügeln und allem drum und dran. Das richtige Outfit hat er ja schon an! Heimdal fühlte sich elend. Nicht nur, weil Mayura gleich den Schock ihres Lebens erhalten würde, sondern auch, weil er gleich Zeuge von Lokis Macht werden würde. Einer Macht, die er so nicht mehr besaß. Sicherlich, er konnte mit seinem Willen Vögel herbeiordern, ihnen Befehle erteilen und viele Kleinigkeiten im Haushielt gingen ihm leichter von der Hand, wenn er ein wenig seine übernatürlichen Kräfte einsetzte. Aber sie reichten nicht mehr aus, um sich vollständig zurück in seinen erwachsenen Körper zu verwandeln. Nein! Dank Loki! Ohne mein Auge kann ich gar nichts! Denn selbst seine noch übrig gebliebenen Kräfte schwanden mit jedem Tag, waren während seiner Anfälle unbrauchbar. Er war unbrauchbar... "Das geht zu weit!" zischte er und rührte sich aus seiner Erstarrung, um zu den beiden zu treten und Loki zu verprügeln. Es würde nicht besonders ehrenhaft aussehen, aber er pfiff auf seinen Stolz und seine so schön zurecht gelegten Pläne, den junge Gott hinterhältig in seinem Haus zu überfallen und sein Auge zurückzufordern. Im Moment verspürte er einfach nur den Drang, Loki ins Gesicht zu schlagen und er sah nicht mehr ein, warum er diesem innigsten Wunsch nicht nachgeben sollte. "Nicht!" Zwei Hände packten seine Schultern, hielten ihn zurück. "Er wird uns verraten! Uns alle!" Heimdal wollte sich aus dem stählernen Griff befreien, aber es gelang ihm nicht. Scheiß Körper! Heftig wehrte er sich, als er sah, wie sich zwei weiße Flügel hinter Lokis kindlichem Körper ausbreiteten, langsam sichtbar wurden. Mit ihnen wuchsen auch Mayuras Augen, wurden tellergroß. "Sie wird es nicht verstehen und dann können wir von hier fortziehen und uns woanders eine neue Existenz aufbauen! Und es wird wieder seine Schuld sein!" "Sie wird es verstehen." Thors Stimme klang tief und überzeugt. Heimdal hielt kurz inne in seinem Kampf und schaute nach oben, um in Thors unbewegliches Gesicht zu blicken. "Na logisch! Sie wird begeistert sein zu erfahren, dass ihr toller Loki ein Gott ist und Midgar und Fenrir seine Söhne. Sie wird sie sofort adoptieren, ganz klar!" Seine Stimme klang gepresst und er trat gegen Thors Schienbein, um sich endlich befreien zu können und Lokis Plan zu vereiteln, hatte aber offensichtlich nicht genügend Kraft. Thor ließ ihn nicht los, verzog nicht einmal sein Gesicht im Schmerz. "Und selbst wenn, er ist im Körper eines Kindes gefangen, wie soll das denn gehen? Loki sollte wissen, wann seine Wünsche zu unmöglich sind!" "Das haben die beiden zu entscheiden, nicht du." "Was?" "Das ist nicht deine Entscheidung." "Er ist ein Gott, sie eine Sterbliche, das ist eine unmögliche Liebe! Sieht das hier denn niemand? Oder bin ich der einzige, der das pervers findet?" "Halt einfach deine Klappe und misch dich einmal nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen!" "Nichts angehen? Nichts angehen?" Heimdal war außer sich. So hatte Thor noch nie mit ihm gesprochen, so herzlos, so überheblich. Genauso wie Loki! "Er zerstört alles und du siehst tatenlos zu?" Thor holte tief Luft und wirkte mit einem Mal sehr müde, so als würde er sich all der Zeitalter bewusst, die er schon durchlebt hatte. Als würde er sich so vieler Momente seiner Existenz erinnern, die er lieber für immer vergaß. "Ich will doch nur, dass er glücklich ist, egal, was Odin davon hält..." Es war mehr ein Seufzen, ein gesprochener Gedanke als eine wirkliche Antwort. Heimdal starrte ihn schweigend an, zu entsetzt, um etwas erwidern zu können. Der pochende Schmerz hinter seinem Auge nahm überproportional zu und er biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien. Aus Pein und auch aus Frustration. Loki! Es hat sich alles immer nur um Loki gedreht! Um ihn und seine verdammte Brut! "Daddy..." ein gedämpfte, beinahe unverständlicher Schrei unterbrach Heimdals düstere Gedanken und er blickte hinüber zu der Lichtung, auf der Loki in ein helles Licht gehüllt stand, die Flügel weit hinter sich ausgebreitet. Er wollte gerade seine letzten Reserven benutzen, um sich in einen jungen Mann zu verwandeln, als plötzlich ein Fellknäuel in seine Arme sprang und ihn nach hinten purzeln ließ. Das Licht erlosch, die Flügel verschwanden, nicht aber Mayuras verwirrter Gesichtsausdruck. "Daddy..." wimmerte wieder Fenrir gepresst und Heimdal blinzelte, bis er begriff, dass der violette Schatten eine Tafel Schokolade war, die Fenrir in seinem Maul hielt und die beinahe so groß wie der Welpe selbst war. "Du Schuft! Du Dieb!" Nun traten auch die Göttinnen aus dem Dunkel des Waldes, dicht gefolgt von Mayuras Mitschülern. "Das ist unser Schatz!" "Gib uns sofort unsere Schokolade wieder zurück!" "Dieb!" "Mistvieh!" "Töle!" "Daddy... befüpf miff..." Loki starrte die Eindringlinge entgeistert an, dann Mayura, die sich vorsichtig vorbeugte und dem Welpen über den wuscheligen Kopf streichelte. "Dieb!" "Gib das sofort her!" "Büdde... befüpf miff..." Dann brach das Geburtstagskind in schallendes Gelächter aus, in das die anderen schließlich einstimmten, ihren Groll auf den gefräßigen Hund vergaßen. Vom verfressendsten Göttersohn dieses Universums gerettet. Heimdal holte tief Luft, wusste aber, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Loki Mayura alles beichtete, falls sie es nicht jetzt schon begriff, hatte sie seine Flügel bereits gesehen. Vielleicht hält sie das alles nur für ein >Mystery<. Und was, wenn nicht? Ich will nicht verbannt werden wegen Loki. Nicht schon wieder... Thors Hände verschwanden von seinen Schultern, da nun keine Gefahr der Störung mehr bestand, und Heimdal spürte ein Stechen in seiner Brust, als er sich an die Worte des Donnergottes erinnerte. "Ich finde, Loki sieht sehr glücklich aus." Zischte er zynisch und schloss sein brennendes Auge. Die Schmerzen wurden immer intensiver und sein Verlangen nach Alkohol überwältigend. "Geh doch rüber, Thor, und feiere mit ihnen." Ich frag mich sowieso, warum ich hier her gekommen bin. Ich hätte ihn genauso gut in der Nacht angreifen können, ohne all diesen Blödsinn mitmachen zu müssen. "Heim..." Der Wächter schüttelte seinen Kopf, rückte seinen schwarzen Hut zurecht und verschwand in der Dunkelheit, bevor der Donnergott noch weitere sinnlose Worte stammeln konnte. Heimdal wusste schon lange, dass sich Thor auf Lokis Seite geschlagen hatte, nicht nur wegen Midgars gutem Essen, sondern, weil sie auch in Asgard die besten Freunde gewesen waren. Heimdal hatte sich manchmal wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt, hatte sich darum aber nie geschert. Nie wirklich. Bis heute. Verdammt! Es so offen von Thor zu hören, hatte weh getan, auch wenn er sich das niemals eingestehen würde. Er war derjenige, der litt, der betrogen und verraten worden war, und trotzdem war es Loki, der alle Aufmerksamkeit, jede Unterstützung erhielt. "Heim, so warte doch..." Nein, Heimdal brauchte Thors Worte nicht. Er brauchte sie alle nicht. Odin hatte schon immer Recht gehabt, als er ihm einbläute, dass er eine sehr wichtige Arbeit als Wächter übernahm und sich keine Fehler erlauben durfte. Keine Schwächen. Und Freunde waren eine Schwäche, selbst wenn er diese Personen nie als Freunde angesehen hatte. Nie bewusst. Ich brauche keine Freunde. Ich brauche keine Familie. Aber er brauchte sein Auge zurück - und einen tiefen Schluck Alkohol. *** "Wie soll ich denn meine ganzen Kleider da rein bekommen?" Urd hob ihre Schleier an und versuchte, diese in einen Sack zu pressen. Nur mit Hilfe ihrer Schwester Belldandy gelang es ihr mehr schlecht als recht. Mayuras Vater, der Mitschüler im Matrosenanzug und das Schneewittchen standen bereits neben ihr, hatten ihre eigenen Säcke bis zur Hüfte empor gezogen und warteten nur noch auf den Startschuss zum Sackhüpfen. Es war ein weiteres Spiel, das Mayura vorschlug, als sie die Schnitzeljagd für beendet erklärten und den Garten verließen, um zu der Tafel zurück zu kehren. Viele waren sofort Feuer und Flamme, andere, die sich von der anstrengenden Suche nach Papierstreifen erst einmal ausruhen wollten, baten Midgar um die Fernbedienung des CD-Players und die Titelliste und sangen noch ein wenig Karaoke, während wieder andere sich über das kalte Buffett des Nachtischs hermachten. Es gab leckeren Kuchen, Schokoladenriegel, Gummibärchen, süße Reisbällchen und eine Bowle mit exotischen Früchten. Viel Alkohol war von Midgard nicht hinein gemischt worden, aber Heimdal kannte seinen Kinderkörper, es würde schon reichen, um wenigstens ein wenig angeschwippst zu werden. Zumindest der Geschmack war da, das war die Hauptsache. Heimdal füllte sich die größte Tasse, die er finden konnte, und setzte sich zurück an die Tafel, blickte umher. Unter lautem Johlen begann das erste Rennen des Sackhüpftuniers und weitere Photos wurden geschossen. Mayura hatte sich einen Stuhl an die Ziellinie geschoben und sich demonstrativ darauf gesetzt. Sie wollte Spaß haben und die anderen anfeuern, aber wusste, dass sie mit ihrer Ungeschicklichkeit lieber in keinen Sack stieg. Fenrir jagte hinter einer quietschenden Urd her und das Mädchen klatschte laut in ihre Hände, lachte fröhlich, als die Göttin den Welpen zu vertreiben versuchte, umsonst. Loki brachte seinen Sohn in Sicherheit, bevor die Schicksalsgöttin stolperte und beinahe auf den meckernden Hund fiel. Fest hielt er den Welpen und redete auf ihn ein, bevor sich plötzlich zwei Arme um seinen Oberkörper schlangen und er im nächsten Moment von Mayura auf ihren Schoß gezogen wurde. Liebevoll lächelte sie ihn an, was er unsicher erwiderte, bevor ihr Vater als erster die Ziellinie überquerte und in einen Siegestanz ausbrach, der ihr die Lachtränen in die Augen trieb. Midgar übergab ihm die Prämie, in seinem Fall einen kleinen Beutel Tabak, schließlich war er ein Erwachsener, bevor er hinter den Stuhl trat und die nächsten Anweisungen für die folgende Runde gab. Nun waren Belldandy und ein paar andere Mitschüler Mayuras an der Reihe, die sich in ihren Kostümen ebenfalls kaum in die engen Säcke zwängen konnten. Fast wie auf dem Bild... Heimdal schluckte den Rest seiner Bowle und fragte sich insgeheim, ob er sich nicht gleich die ganze Schüssel nehmen sollte. So, wie Mayura Loki und Fenrir auf ihrem Schoß hielt und Midgar wachend hinter ihnen stand, es erinnerte Heimdal sehr an das Bild, das sich unter dem Rahmen in Lokis Schlafzimmer verbarg. Blitzlichter der Photoapparate erhellten die Nacht und Heimdal kniff geblendet sein Auge zusammen. Als er es wieder öffnete, stand Thor vor ihm. Der Wächter zuckte leicht zusammen und ließ den Donnergott wortlos stehen, begab sich statt dessen zur Bowle und schenkte sich großzügig nach. Ein wenig schwappte daneben und befriedigt stellte er fest, dass sich sein Körper schon leichter anfühlte, seine Gedanken immer mehr im Nebel lagen und ihm Thors Worte immer weniger verletzten. Sie haben mich nie verletzt! Nie! "Heim?" Thors Stimme klang unsicher und der Wächter musste auf einmal kichern, als er sich umdrehte und in Thors unglaublich dämlich dreinschauendes Gesicht blickte. "Heim, es tut mir leid wegen meines Ausbruchs. Ich..." "Vergiss es." Der Wächter winkte ab und setzte sein großes Glas mit so viel Schwung auf den Tisch, dass erneut überschwappte und die Flüssigkeit über seine Hand lief. Langsam leckte er die Finger ab, freute sich, dass niemand weiter die Bowle bisher entdeckt hatte. Er würde auch dafür sorgen, dass er dieses wundervolle Getränk nur für sich selbst in Anspruch nahm. "Ich bin an deine Dummheit mittlerweile gewöhnt." "Heim..." Der Wächter verdrehte genervt sein Auge und nahm einen weiteren tiefen Schluck der Bowle, verschluckte sich beinahe an einem Stück Annanas und kicherte, als zwei Schüler das Mikro ergriffen und doch tatsächlich das Opening einer bekannten Zeichentrickfilmserie, die er Dank seiner Klassenkameraden besser kannte als ihm lieb war, sangen. Aus vollster Kehle, mit vollster Überzeugung. Im Alter von 16 oder 17 Jahren. "Spielen wir eine Runde Go?" schlug Heimdal vor und war überrascht über sich selbst. Er hasste dieses Spiel, dessen Regeln er nie verstehen, bei dem er nie gewinnen und dessen Sinn er nie begreifen würde. Dennoch erschien ihm diese Idee auf einmal die brillanteste zu sein, die er seit Wochen hatte. Dann kann ich Thor mit Steinen bewerfen. Denn es war Heimdal nie gelungen, die Steine richtig zu halten. Wenn er es denn versuchte, schnippten sie ihm weg und verwandelten sich in gefährliche Geschosse, so dass selten jemand mit ihm das japanische Brettspiel wagen wollte. Niemand außer Thor, der erleichtert einwilligte und das Brett sowie die beiden Töpfe mit den Steinen aus der Ecke holte, wo Säcke und andere Gerätschaften lagen, und alles auf den Tisch stellte. Dann setzte er sich Heimdal gegenüber und ließ ihn eine Farbe auswählen. Der Wächter entschied sich für Schwarz. Nicht, weil er davon ausging, sowieso der Schwächere zu sein, sondern weil diese Farbe ganz einfach zu ihm passte. Schwarz wie die Nacht. Schwarz wie die Dunkelheit, die ihn zu verschlucken drohte. Sein Auge schmerzte weiterhin, aber er besänftigte die Pein bei jedem Aufflackern mit einem kräftigen Schluck Bowle. Es half nicht wirklich, aber er fühlte sich nicht mehr so elend. Heimdal setzte seinen ersten Stein und kicherte, während die Schüler das nächste Trickfilmlied sangen und nun auch Skuld unter Beweis stellte, wie gut sie in einem Leinensack eingepfercht springen konnte. *** "Ich glaube, diese Steine gehören mir..." zögernd nahm sich Thor mehrere schwarze Steine und legte sie in seine Gefangenenschale. Er erwartete ein ärgerliches Brummeln des kindlichen Gottes, vernahm aber nur unkontrollierbares Kichern als Antwort. Fragend hob er seine Augenbraue, als der Wächter einen weiteren Schluck seines nunmehr vierten Glases Bowle nahm, sagte jedoch nichts. Er wusste, dass er in seinen Worten zu weit gegangen war und wollte keinen weiteren Streit heraufbeschwören. Auch war Heimdal mit seinen vielen Jahrtausenden alt genug, um selbst entscheiden zu können, wann er zu betrunken war. "Scher schön..." Heimdal grinste ihn breit an, was Thor schaudern ließ, konzentrierte sich dann wieder auf das Brett unter sich. Im Hintergrund lachten Mayura und ihre Mitschüler. Sie hatten sich unter den Lampions in einem Kreis auf eine große Decke gesetzt und spielten nun Personenraten. Mayuras Vater gab eine wahrhaft köstliche Kopie von James Bond ab. Noch mehr Photos wurden geschossen, noch mehr Schokolade gegessen, noch mehr fröhlich gelacht. Die Schicksalsgöttinnen hatten das Mikro von den trickfilmverrückten Schülern übernommen und sangen nun querbeet alle Lieder von Mayuras Liste. Sie hatten ebenfalls viel Spaß. Thor konnte sich nicht erinnern, die Schwestern jemals so glücklich gesehen zu haben. Meist sponnen sie das Schicksal, das oftmals traurig war, und waren deshalb selbst nachdenklich und betrübt gestimmt. Heute Abend jedoch schien diese Pflicht von ihren Schultern genommen zu sein und sie benahmen sich wie ganz normale junge Frauen. Soeben legten sie die nächste CD ein und Urd setzte sich rittlings auf einen Stuhl auf die Bühne und machte ein sehr leidendes Gesicht, was ihr jedoch nicht recht gelingen mochte, konnte sie ein befreites Grinsen nicht unterdrücken. Leise Klaviermusik wurde eingespielt und Heimdal hob seinen Kopf, seine Stirn in Falten gezogen. "How can you see into my eyes Like open doors Leading you down into my core Where I become so numb" Stumm formte der kindliche Gott die Worte und es überraschte Thor, dass Heimdal das Lied kannte. Es war zwar sehr populär in dem Heimatland der Gruppe, aber in Japan weitestgehend unbekannt. Mayura hatte die CD nur gekauft, weil ihr das Cover "mysteriös" vorgekommen war. Einen Abzug erhielt jeder von ihnen, weil sie die Musik so schön fand, aber Thor hatte geglaubt, dass Heimdal seine Kopie sofort in den Papierkorb geworfen hatte. Das Glänzen in dem roten Auge und das leise Mitsingen verrieten Thor jedoch das Gegenteil. Vermutlich hatte Heimdal sich die CD nicht nur angehört, sondern mochte sie sogar. "Without a soul My spirit sleeping somewhere cold Until you find it there And lead it back home" Urd, die erkannte, dass Heimdal den Text auswendig kannte, grinste ihm ermutigend zu und winkte dann auffordernd mit dem Mikro, zu ihr zu kommen und mit ihr zu singen. Sehr zu Thors Überraschung nickte der kindliche Gott, setzte einen weitere Go-Stein auf das Brett, das er schon vor einer halben Stunde rettungslos verloren hatte, erhob sich und ging leicht schwankend zu der Bühne herüber, um sich auf den Rand zu setzen. Noch vor wenigen Stunden hätte sich Heimdal wohl unendlich geniert, mit der Schicksalsgöttin zu singen, aber nun waren nicht mehr so viele Leute vor der Bühne, die ihn anstarrten und auch schien der Alkohol seine Wirkung nicht zu verfehlen. Ohne weitere Umschweife übernahm Heimdal den Part des männlichen Sängers und im Duett sangen sie beide den Refrain. Der junge Gott begann ohne zu zögern und eine grinsende Urd fiel sofort mit ein. "Wake me up" "Wake me up inside" "Can't wake up" "Wake me up inside" "Save me" "Call my name and save me from the dark" "Wake me up" "Bid my blood to run" "Can't wake up" "Before I come undone" "Save me" "Save me from the nothing I've become" Heimdals Stimme war viel zu hoch, viel zu kindlich für das Lied, aber das störte niemanden. Belldandy und Skuld klatschten Beifall und Heimdal grinste betrunken, während Urd versuchte, halbwegs ernst und glaubwürdig zu wirken, während sie die nächste Strophe sang. "Now that I know what I'm without You can't just leave me Breathe into me And make me real Bring me to life." Erneut wiederholten sie den Refrain und Heimdal wippte leicht mit seinen Beinen im Rhythmus. Sein Gesicht war gerötet und er wirkte so frei wie Thor ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. So wie er ihn immer sehen wollte. So wie damals in ihren ersten Tagen, als die Welt noch jung und sie alle noch gute, nein, beste Freunde gewesen waren. Ich will nicht nur Loki glücklich sehen, Heim, sondern auch dich. Aber Thor wusste, dass der Wächter ihm nicht geglaubt hätte, auch wenn er es laut aussprach. Seit dem Vorfall mit seinem Auge vertraute der junge Gott niemandem mehr - außer Odin. Und nichts, was Thor machen konnte, änderte Heimdals Einstellung. Besonders nicht, wenn er ihn nicht ausreden ließ, ihm seine Worte im Mund verdrehte. "Frozen inside without your touch Without your love, darling Only you are the life among the dead" Urd sang es voller Inbrunst, musste aber kichern, als Skuld Grimassen zog und auch Belldandy leise lachen musste, obwohl der Text an sich überhaupt nicht lustig war. Wahrscheinlich war Heimdal nicht der einzige, der sich an der Bowle gütlich getan hatte - oder aber sie hatten sich von Mayruas Vater eine Flasche Sake erbettelt, alt genug sahen sie ja aus, auch wenn sie sich nach Thors Meinung nicht so benahmen. Heimdal wurde nun das Mikro gereicht, nicht länger nur kurz hingehalten und er nahm es ohne zu zögern an. Diese Stelle sang er nun allein, ohne Urd als Unterstützung. Der kindliche Gott schloss sein Auge und konzentrierte sich auf den Text. "All of this time I can't believe I couldn't see Left in the dark but you were there in front of me I've been sleeping a thousand of years it seems Got to open my eyes to everything" Heimdal runzelte seine Stirn und das betrunkene Grinsen wich langsam von seinem Gesicht. Es wirkte, als würde er sich etwas bewusst, an das er nie vorher gedacht hatte. Oder versuchte er nur krampfhaft, in dem Nebel, der seine Gedanken umgab, den Text nicht zu vergessen? Fragte er sich bereits wieder, ob er den Rest Bowle auch noch trinken sollte oder wie er Thor in einem Revanchespiel schlagen konnte? Thor wusste es nicht, aber er ahnte, dass er keine Antwort erhalten würde, selbst wenn er den Mut fand, den Wächter zu fragen. "Without a thought Without a voice Without a soul Don't let me die here There must be something more Bring me to life" Thor schnappte unbewusst nach Luft, als er die Tränen in Heimdals Auge sah, als dieser wieder aufblickte und das Mikro an Urd zurückreichte, damit sie den Refrain erneut gemeinsam singen konnten. "... to life..." Urds Stimme klang in Heimdals Ohren wider, verwandelte sich rasch in ein Kichern, als der kindliche Gott von der Kante der Bühne rutschte. Seine Gefühle fuhren Achterbahn und er würde sich jetzt einfach den Rest der Bowle genehmigen, egal, was die anderen davon auch halten würden, wenn sie es denn überhaupt mitbekamen. Er liebte dieses Lied, so wie er es zugleich auch hasste. Es beinhaltete einfach zu viel Wahrheit. "Das war super!" klatschte Urd in ihre Hände und suchte auf der Liste bereits den nächsten Titel heraus, den sie nun mit ihrer kleinen Schwester Skuld gemeinsam singen würde. "Du hast wirklich Talent, Kazumi-chan." Sie kicherte unkontrolliert über seinen Spitznamen und Heimdal grinste höhnisch, erwiderte jedoch nichts. "Beim nächsten Karaokesingen bist du beim Hauptakt schon dran." Skuld gesellte sich zu ihrer Schwester und nahm ihr das Mikro weg. "Dann kannst du dich nicht mehr rausmogeln." "Gemeinsam macht es doch viel mehr Spaß." Lächelte auch Belldandy und legte die nächste CD in den Player. Bald sangen alle drei aus vollem Hals, während sich Heimdal zusammen mit der Bowleschüssel zurück an seinen Platz begab. Nächstes Karaokesingen? Wird es so wohl nicht geben, wenn ich nicht mein Auge zurück bekomme. Er blinzelte und versuchte, seine trüben Gedanken auszuschließen. Schließlich hatte er sich doch betrunken, um sie zu vergessen, warum nervten sie ihn dann noch immer? Vielleicht ist was in der Bowle drin, dass mich am Vergessen hindert? Skeptisch beäugte er die Flüssigkeit, nur, um sie dann mit einem Schulterzucken in sein Glas umzufüllen und einen tiefen Schluck zu nehmen. Thor sah ihn misstrauisch an, aber Heimdal ignorierte es, wie er auch das Gelächter in seinem Rücken und die schiefen, kichernden Gesänge der Schwestern zu seiner Rechten ignorierte. "Fertig." Murmelte er und setzte den letzten Stein auf das Brett, das Thor vergessen hatte abzuräumen. "Fertig? Du hast verloren, Heim." Antwortete dieser leicht verwirrt und lehnte sich zurück, um sich ein wenig zu strecken. Da fiel ihm etwas auf und er beugte sich über das Brett, um es um 180 Grad zu drehen. "Go geht aber anders, das weißt du, oder?" "Ja." Gab Heimdal zu und grinste wieder betrunken, erfreut, dass der Alkohol seine Wirkung doch nicht verfehlte. "Aber so macht's viel mehr Spaß." Thor hob fragend seine Augenbraue, bevor er mit den Schultern zuckte, hinter sich griff und sich einen Schokoriegel vom Buffett angelte. Er brach ihn in der Mitte auseinander und bot eine Hälfte Heimdal an. Äußerlich war er ruhig, aber innerlich erfreut, als der kindliche Gott sie annahm. "Spielen wir noch eins?" fragte Heimdal und biss genüsslich in die süße Masse. "Gern, aber denk dran, dass du mit dem Sternbild des großen Bären nicht gewinnen kannst, egal, wie schön es auch aussieht." Heimdal grinste schweigend und versuchte krampfhaft, das Lied aus seinem Kopf zu verbannen, das sich dort eingenistet zu haben schien, ganz gleich, was die Schwestern jetzt auch sangen. >Don't let me die here.< *** Das letzte große Ereignis, das Paarlaufen, bei dem die Partner an einem Bein zusammen gebunden waren und auf drei Beinen über die Wiese humpelten, war auch beendet und langsam kehrte Ruhe ein. Die Göttinnen erlösten den CD-Player und gesellten sich zu den anderen, die wieder auf der Decke saßen und sich unterhielten. Midgar brachte das Eis aus dem Kühlschrank und obwohl es bereits weit nach Mitternacht war, hatten alle noch Hunger, oder zumindest den Appetit, der das Eis nicht schmelzen ließ. "Ich hoffe, du magst Kirsch, eine andere Sorte war nicht mehr da." Thor balancierte zwei kleine Schüsseln zu der Tafel, an der Heimdal nun allein saß. Bis zu dem Paarlaufen hatten sie zwei weitere Spiele gespielt, die der Wächter mit Pauken und Trompeten verlor, dafür aber zwei wunderschöne Abbildungen des Orion und der Zwillinge legte. Dann fragte Mayura, ob er nicht mitspielen könnte, da sie sonst eine ungerade Zahl ergaben und so war Thor zusammen mit Mayuras Vater über die Wiese gehumpelt und gestolpert. Leider hatten sie nicht gewonnen, aber sie hatten es überlebt, das allein zählte für den Donnergott, der die Spiele der Menschen nie wirklich verstehen würde. Danach hatte Midgar das Eis ausgeteilt und alle hatten sich in eine Runde gesetzt, um sich Gruselgeschichten zu erzählen. Vielleicht kann ich Heimdal ja davon überzeugen, sich zu uns zu gesellen. Thor stellte das Eis ab und drehte sich zu dem kindlichen Gott um, nur um zu sehen, dass dieser heute keine Geschichte mehr hören geschweige denn selbst erzählen würde. Heimdal hatte seine Arme auf den Tisch gelegt und seinen Kopf darin gebettet. Violette Strähnen hingen in sein Gesicht und sein Oberkörper hob und senkte sich regelmäßig. Der Wächter schlief tief und fest. Und das, obwohl er sich in Lokis Nähe befindet. Thor wunderte sich, ob es wirklich an dem Alkohol lag, oder ob der junge Gott die letzten Nächte nicht gut geschlafen hatte, um im Garten seines Erzfeindes eine so hilflose Pose darzustellen. Der Donnergott hatte Heimdals kränkliche Blässe während der letzten Tage bemerkt, genauso, wie er gesehen hatte, dass der kindliche Gott nicht nur in seiner Kleidung, sondern auch in seinen Stiefeln geschlafen hatte. Thor erinnerte sich noch zu gut an den Tag, da er ihn zum Schwimmen abholen wollte, und die Wohnung im totalen Chaos und Heimdal in einem Schlaf, der eher einer Ohnmacht glich, vorfand. Seitdem machte er sich Sorgen, wusste aber, dass Heimdal auf seine Fragen nicht reagieren würde, sie eher für einen Hinterhalt hielt. So wie er auch seine Einladung zum Eisessen Mitte der Woche schon für ein Attentat gehalten hatte. Thor ließ es sich nicht anmerken, aber er hatte gesehen, welche Gefühle sich auf Heimdals Gesicht abwechselten: Angst, Panik und ohnmächtige Wut - und dann maßlose Überraschung, als ihm die Eiskarte in die Hand gedrückt wurde. Warum glaubst du, dass ich dir weh tun würde? Habe ich das jemals getan, in all der Zeit? Verdammt... Thor biss sich auf die Unterlippe, um einen Seufzer zu unterdrücken, dann rüttelte er sanft Heimdals Schulter. Der Wächter konnte hier nicht sitzen bleiben. Es war noch immer Frühling und dazu noch in der Mitte der Nacht. Die anderen hatten sich bereits in dicke Pullover gehüllt, während Heimdal noch immer das dünne Kostüm Zorros trug. Wie auf Kommando fuhr der kindliche Gott fröstelnd zusammen, erwachte jedoch nicht. "Heim?" Nichts. "Heim?" Nicht einmal ein gestörtes Gesicht oder ein genervtes Luftholen. Nichts. Der Gott war wirklich tief in das Reich des Schlafes vorgedrungen und nicht einmal der Einschlag von Thors berühmt berüchtigten Blitz würde ihn jetzt wecken. "Heim, wach auf, du wirst dich sonst erkälten." Als erneut die Antwort ausblieb, sah sich Thor kurz um und nahm sich einfach die weiße Jacke, die über einer der Stuhllehnen hing. Er wusste nicht, wem sie gehörte, aber offensichtlich wurde sie nicht gebraucht. Wenn sich der Besitzer oder die Besitzerin später meldete, könnte er sie immer noch zurück geben. Vorsichtig hüllte er Heimdal, der auch jetzt nicht reagierte, darin ein und konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. Ich wünschte, er würde sonst auch so friedlich aussehen, so zufrieden mit sich selbst und der Welt. Thor strich langsam die violetten Strähnen aus einem vollkommen entspannten Gesicht, wusste jedoch, dass dies ein Wunschtraum war. Nach dem Verlust seines Auges war Heimdal, der schon davor zynisch sein konnte, wenn er wollte, beinahe ungenießbar geworden. Nichts erinnerte Thor an den jungen Gott, den er einst kennen lernte, der sein bester Freund in Asgard wurde und mit dem er - zusammen mit Loki - so viel Unsinn angestellt und so viel Spaß gehabt hatte. Dann kam diese bescheuerte Prophezeiung. Es war, als würde ein Stück Heimdal, das Thor so sehr gemocht hatte, von einem Tag auf den anderen verloren gehen. Das glückliche Lächeln verschwand fast vollständig, machte einem leicht höhnischen Grinsen Platz. Es gab noch Augenblicke, wo Heimdal sein Schicksal vergaß, seinen Zynismus überwandt und wieder freundlich, ja beinahe frei sein konnte. Seltsamerweise waren diese Momente, die Thor mit gebrechlicher Angst genoss, meist in Lokis Gemächern gewesen, in Hels Gegenwart. Nach Hels Tod und Lokis Verrat verschwanden auch diese Augenblicke und Thor meinte, Heimdal für immer verloren zu haben. Und nun fand er ihn hier, an der Tafel Lokis nach einem der absurdesten Tage seiner Existenz wieder. Wieso kann es nicht so wie früher sein? Thor holte zitternd Luft und gab dem Gefühl in seinem Herzen nach. Behutsam hob er den schlafenden Gott in seine Arme und setzte sich an seiner statt auf den Stuhl. Heimdal reagierte nicht, als er auf Thors Schoß gesetzt wurde. Kraftlos rollte sein Kopf an Thors Brust und er ließ seine Beine baumeln, rollte sich nicht zusammen, wie er das sonst immer tat. Wieso kann es nicht so wie früher sein? Stumm wiederholte Thor die Frage und verhalf Heimdal in eine angenehmere Pose, aus der er nicht mit Rückenschmerzen erwachen würde. Vorsichtig brachte er die schlaffen Arme des kleinen Gottes vor dessen Bauch und schluckte, als sich eine kindliche Hand ausstreckte und sich mit schwacher Kraft an dem dunklen Stoff des Samuraianzuges fest hielt. Wieso kann es nicht so wie früher sein? Aber Thor wusste, dass dies eine sinnlose Bitte war. Ein Wunsch, der niemals in Erfüllung gehen würde. Zu viel war geschehen, einfach zu viel. Heimdal hatte sein Vertrauen, Loki seine Familie und er, Thor, seine besten Freunde verloren. Angesichts dieser Tatsachen wog die Verbannung aus Asgard gar nicht mehr so schwer. Nein, Thor konnte damit leben, hier auf der Erde zu wandeln, von ihm aus für den Rest seiner Existenz. Denn Odin konnte er nicht mehr leiden, den Göttervater, wie er sich manchmal selbst nannte, der sich Heimdal gegenüber gar nicht väterlich verhalten und ihm von der Prophezeiung erzählt hatte. Von einer Vorhersehung der Schwestern, die Heimdal und Loki zu ewigen Rivalen, zu Erzfeinden werden ließ. Wir waren davor so glücklich gewesen, so unbeschwert, so jung. Danach war nichts mehr wie vorher gewesen. Erst recht nicht, nachdem Loki sein größter Wunsch, der nach einer Familie, von Odin so brutal zerstört wurde. Mit Schaudern dachte Thor an jene Nacht zurück, in der Loki versucht hatte, in Niflheim einzufahren - und in der Heimdal sein Auge und damit jegliches Vertrauen in jeden verlor. Sein bester Freund wurde zu seinem Rivalen - und dann zu einem Verräter. Verdammt! Thor kämpfte mit den Tränen, während er unbewusst den kleinen Körper in seinen Armen wiegte, als wäre Heimdal wirklich das Kind, hinter dessen Maske er sich verbarg. Ich hätte es irgendwie verhindern müssen. Ich bin ein Gott! Dennoch wusste er nicht wie. Gegen das Schicksal kam niemand an, nicht einmal der Gott des Donners, vermutlich nicht einmal Odin persönlich. Aus weiter Ferne hörte er fröhliches Lachen und Mayuras aufgeregte Stimme, wie sie eine mysteriöse Geschichte erzählte. Ich will Loki glücklich sehen. Mit seinen Söhnen und mit diesem Mädchen. Thor drückte Heimdal mit seinem linken Arm unbewusst an sich, während er mit der rechten Hand die violetten Strähnen aus dem Gesicht strich, über die gesunde Wange streichelte. Die Haut um das fehlende Auge war mit kleinen Narben übersät, aber Thor konnte sie nicht sehen, Heimdal hatte diese Seite gegen den warmen Körper neben sich gepresst. Ich will aber auch dich glücklich sehen, Heim. Thor wusste jedoch nicht, wie er das anstellen sollte. Würde er es laut aussprechen, Heimdal würde es ihm nicht glauben, ihn womöglich sogar auslachen und einen Lügner nennen. Nach dem Verrat schien jedes Bemühen umsonst zu sein. Egal, wie oft er zu Heimdal nach Hause kam und ihm etwas zu Essen machte, egal, wie oft er ihn von der Schule abholte oder einfach in seiner Gegend auftauchte, um einfach nur bei ihm zu sein, besonders jetzt, da Freyr mit seiner Schwester auf Weltreise war, nie schien sich Heimdal auch nur ein bisschen über seinen Besuch zu freuen. Immer grummelte er ihn an und schien ihn gar nicht zeitig genug wieder loswerden zu können. Wenn das doch alles nicht geschehen wäre. Wenn es diese blöde Prophezeiung nie gegeben, wenn Odin Lokis Familie akzeptiert und sich dieser Vorfall mit dem Auge nie ereignet hätte! Aber Thor wusste, was geschehen war, war geschehen. Er konnte es nicht ändern, so sehr er sich das auch wünschte. "Thor?" Die kindliche Stimme ließ ihn leicht zusammen zucken und er blickte geradewegs in dunkelgrüne Augen, als er aufsah. Loki stand neben dem Stuhl und musterte den schlafenden Heimdal in Thors Armen eine Weile stumm. Es war ein angenehmes Schweigen, in dem sich Thor der Illusion hingab, Loki könnte ihn verstehen, würde ihr Leid mit ihnen teilen. "Er hat die ganze Bowle getrunken, oder?" sprach der Unheilsgott schließlich und wirkte mit einem Mal so müde, wie Thor sich fühlte. "Ja." "Manchmal bin ich dankbar, dass er sich meinem Körper hat anpassen müssen. Sake ist nichts für ihn." "Aber für dich?" "Nein." Erneutes Schweigen, in dem Thor wieder Mayuras aufgeregte Stimme und das amüsierte Kichern der Schwestern hörte. "Ich hab die Gästezimmer von Midgar herrichten lassen. Du kennst dich ja aus, Thor, such eins aus. Mir ist es lieber, wenn er mit einem gewaltigen Kater hier aufwacht und uns alle angiftet, als wenn er allein in dieser Wohnung ist." Thor blinzelte und fragte sich, ob sich in seiner Limo nicht ebenfalls Alkohol befunden hatte. Hatte er gerade Besorgnis in Lokis Blick gelesen? Besorgnis um seinen ärgsten Rivalen, den er verraten hatte? Besorgnis um einen Gott, der einst - neben Thor - sein bester Freund gewesen war? Vor so langer Zeit... "Du kannst ihn zu Bett bringen, Thor. Die Party geht bestimmt nicht mehr lange, alle sehen müde und erschöpft aus. Mayura ist dir nicht böse, wenn du jetzt ins Haus gehst." "Ich will noch eine Weile hier sitzen." Erwiderte Thor ohne zu überlegen und zuckte innerlich ob seiner unüberlegten Worte zusammen. Andererseits, was machte es schon aus, wenn er offen zugab, Heimdals Wehrlosigkeit noch ein wenig ausnutzen zu wollen? Der Wächter traute ihm nicht mehr, zog sich immer mehr vor ihm zurück. Thor wollte einfach nur noch ein wenig länger in Heimdals Nähe sein, ohne, dass ihn dieser so böse anschaute oder beschimpfte. Ich bin egoistisch. Aber er sieht so aus, als würde er sich wohl fühlen. Hier, bei mir. Bei uns... Es entstand ein seltsamer Moment der Ruhe, in der sich die beiden Götter ansahen, und Loki schließlich leicht nickte. "Natürlich." Der Unheilsgott rückte seinen Flügelkranz zurecht und lehnte sich leicht vor. Zögernd, so als würde er erwarten, dass der andere kindliche Gott aufwachen und ihn anfallen würde, legte er seine Hand auf Heimdals Schulter, ließ sie dort liegen. Erneut schwiegen sie und Thor entspannte sich langsam. Er hatte nicht wirklich geglaubt, dass Loki Heimdal etwas antun würde, aber er hätte den Wächter dieses Mal verteidigt. Nein, ein weiteres Unglück hätte er nicht zugelassen. Das sanfte Lächeln vertiefte sich auf Lokis Gesicht und erneut zweifelte der Donnergott an dessen Schuld. Dennoch, er hatte gesehen, wie Loki Heimdal angegriffen hatte, seine Erinnerungen konnte ihn doch nicht trügen, oder? Heimdal drehte sich ein wenig in seinem Arm, schlief weiter. Er schien nicht zu bemerken, was um ihn herum geschah, und sollte sein Unterbewusstsein es doch mitbekommen, so schien es ihm in seinem betrunkenen Zustand egal zu sein. Fühlt er sich wirklich sicher, so wie damals vor der Prophezeiung, als wir füreinander durchs Feuer gegangen wären? "Du willst es Mayura sagen." Es war keine Frage. Loki erstarrte, dann nickte er, schaute weiterhin auf seine Hand hinab, die Heimdal sanft fest hielt. Sanft. Ihm nicht weh tat. Ihm nie hätte weh tun dürfen. Thor erinnerte sich an die vielen Stunden, die sie gemeinsam verbracht hatten. In Asgard und auf der Erde als junge Götter, die sich erst langsam ihrer Aufgaben bewusst wurden. Der Donnergott hatte sich bei den beiden so wohl gefühlt, so verstanden, so akzeptiert. Wie in einer Familie. Erst recht, als Loki seine beiden Söhne und schließlich die kleine Hel aufnahm. Heimdal war irgendwie immer da gewesen, meist mit genervtem Gesichtsausdruck und einem heimlichen Lächeln auf den Lippen, das er dann nicht mehr hatte verbergen können, wenn ein kleines Mädchen vertrauensvoll in seine Arme getapst gekommen war. In diesen Augenblicken waren sie alle glücklich gewesen. Loki mit seiner Familie, Thor mit seinen Freunden - und Heimdal auch. Wird es jemals wieder so sein? Thor hörte erneut Mayuras aufgeregte Stimme und Midgars fröhliches Lachen. Sogar Fenrir bellte aufgeregt, schien seinen >Daddy< nicht zu vermissen. Das letzte Mal, als Thor ihn sah, hatte er es sich auf Mayuras Schoß gemütlich gemacht. Wird es mit Mayura wieder so sein? Der Donnergott spürte den warmen Körper in seinen Armen, sah das Glitzern in Lokis Augen, und wusste mit einem Mal, dass diese beiden Götter die wichtigsten Personen in seinem Leben waren, egal, was vor einem Jahr auch vorgefallen war, egal, was auch immer diese dumme Prophezeiung auch aussagte. Er wollte sie nicht verlieren. "Ich unterstütze deine Entscheidung, Loki." Flüsterte Thor schließlich und als Loki erstaunt aufsah, legte er seine Hand über die kindliche, die sich ganz kalt anfühlte. "Mayura scheinen deine Flügel nicht sehr gestört zu haben, ich hoffe, dass sie die restliche Wahrheit auch akzeptieren wird. Du verdienst es, glücklich zu sein, Loki." Ja, dem Unheilsgott konnte er es offen sagen, sah die Dankbarkeit und das Verstehen in Lokis Augen. Thor wünschte sich, bei Heimdal ähnlichen Erfolg zu haben. "Danke..." Loki musterte den schlafenden Gott erneut und holte tief Luft. Sehr tief. So als würde er mit seinen eigenen Gefühlen oder sogar mit den Tränen kämpfen. "Ich weiß, dass das damals vor einem Jahr eine sehr verrückte Zeit war und dass irgendwie alles schief ging..." sagte er ganz leise, ging das erste Mal seit jenen Geschehnissen in Asgard auf Thors stumme Fragen ein, die er oft zwischen ihnen gespürt, bisher aber ignoriert hatte. Er hatte nicht mit Verständnis, sondern eher mit Ungläubigkeit gerechnet. Nun, da Thor ihn jedoch unterstützte, fühlte er, dass der Donnergott die Wahrheit verdiente. "Damals... ich war nicht ich selbst und wollte wirklich in Niflheim einfahren, Thor. Ich hab sie so geliebt und sie sind mir alle genommen worden. Ich wollte einfach nur noch sterben, nicht länger existieren. Ich wollte mir weh tun für meine Unfähigkeit, meine Familie nicht beschützen zu können. Mir! Aber niemals Heimdal oder dir." Nun rannen wirklich einige Tränen über das kindliche Gesicht. Sanft drückte Thor die kleine Hand. "Ich weiß nicht, was damals passiert ist, Thor. Alles war so verzerrt und alles ging viel zu schnell. Aber ich habe Heims Auge nicht gestohlen. Ja, die Prophezeiung besagt, dass wir uns zu Ragnarök gegenseitig umbringen werden, aber ich würde ihn nicht so hinterhältig anfallen und ihm so weh tun. Niemals." Loki schüttelte seinen Kopf und es tat gut, darüber zu reden. Endlich. Nach so langen Monaten, in denen er befürchtet hatte, seine besten, seine einzigen wahren Freunde Asgards verloren zu haben. "Ich habe sein Auge nicht genommen, Thor, das musst du mir glauben." Thor lehnte sich zurück und schloss seine müden Augen, spürte Heimdals tiefes, regelmäßiges Atmen, fühlte Lokis kleine Hand. Ja, er glaubte ihm, wollte es einfach. Und hoffen, dass alles wieder so wie früher werden würde. Irgendwie. *** Loki riss sich aus Thors Armen frei und stürmte auf den Wächter der Götter zu, um ihm auch noch sein zweites Auge zu stehlen, um ihm endgültig seine Macht und damit sein Leben zu nehmen, so wie er das schon vor einem Jahr vorgehabt hatte. Nein! Heimdal fuhr schweißgebadet in die Höhe, den Mund zu einem stummen Schrei geformt, den er nie ausstieß, egal, wie heftig seine Alpträume auch waren. Alpträume gepaart mit Erinnerungsfetzen und Angstphantasien. Nein... Der kindliche Gott vergrub sein Gesicht in seinen zitternden Händen und holte tief Luft. Für einen langen Zeitraum, beinahe eine halbe Ewigkeit, verharrte er in dieser Haltung, brachte seinen bebenden Körper wieder unter seine Kontrolle und versuchte, den pochenden Schmerz hinter seinem Auge zu ignorieren. Nach einem Alptraum wie diesen war die Pein in seinem Kopf noch intensiver, seine Sinne empfindlicher als am Tag. Verdammt! Heimdal ballte seine Fäuste und wurde sich erst jetzt bewusst, dass er nicht auf seinem Futon, sondern auf einem europäischen Bett befand. Außerdem befand er sich nicht allein in den Zimmer, in welches Haus es auch immer gehörte. Stetiges Schnarchen, kaum lauter als ein Flüstern, vertrieb die Stille der Nacht. Wo bin ich? Heimdal öffnete sein linkes Auge und fuhr stöhnend zusammen, als der Schmerz zunahm, sich wie eine Nadel durch sein Gehirn bohrte. Der Wächter wusste, dass es nicht an dem Alkohol lag, der noch zur Genüge durch seine Venen floss. Für einen Kater war es zu früh und selbst wenn, Heimdal kannte diese Pein zur Genüge, sie hatte nichts mit der Bowle zu tun. Der Wächter zwang sich, die schützende Hand von seinem Auge zu nehmen, die er in einer Reflexbewegung darüber gelegt hatte, und blinzelte erneut in die Dunkelheit des Zimmers. Lokis Zimmer. Na wunderbar! Heimdal stöhnte erneut auf, dieses Mal genervt. Was machte er hier? Wie war er hierher gekommen? Wo waren die anderen? Er drehte langsam seinen Kopf, um die Schmerzen nicht zu provozieren, und erkannte, dass es sich nicht um Lokis Schlafzimmer handelte, denn auf dem Nachttisch standen keine Photographien, aber er befand sich eindeutig in dem Haus seines Erzfeindes. Thors Wohnung war winzig, der Donnergott hätte sich niemals ein solches Zimmer samt Einrichtung leisten können. Jemand anderes als Thor und Loki kamen nicht in Frage, ihn zu beherbergen. Vielleicht noch Mayura, die Heimdal langsam für alles fähig hielt, da sie sich nicht zu wundern schien, dass ihr bester Freund nicht nur Flügel besaß, sondern auch ein äußerst explizites Lied sang, obwohl er gerade neun Jahre zählte. Dann aber erinnerte er sich, dass das Mädchen in einem Tempel wohnte, dort gab es sicherlich keine europäischen Betten, sondern traditionell japanische Futons als Schlafstatt. Also Lokis Haus. Toll, ich will ihn bezwingen und ende statt dessen betrunken in einem seiner Betten. Odin wäre begeistert. Heimdal verzog abschätzend seinen Mund und richtete sich langsam auf, schob die viel zu warme Decke von seinem zitternden Körper. Er trug noch immer dieses dämlichen Zorrokostüm, aber jemand schien ihm seine Stiefel ausgezogen zu haben. Die Maske sowie der viel zu große Hut fehlten ebenfalls. Der Wächter blickte sich um, konnte sein geliebtes Schuhwerk jedoch nirgendwo entdecken. Statt dessen blieb sein Blick an einer Gestalt hängen, die auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand lag und das schnarchende Geräusch verursachte. Wer hat in seinem Schlafzimmer ein Sofa? Heimdal blinzelte und schob sich vorsichtig von der weichen Matratze. Seine Beine vermochten kaum, ihn zu halten, und seine mit Schmerzen gefüllte Welt drehte sich um ihn. Aber es gelang ihm, sich am Bettpfosten festzuhalten und das Karussell seines Lebens allmählich zu verlangsamen. Er schwankte zu dem Sofa hinüber, als befände er sich auf einem Schiff in Seenot, und erkannte überrascht Thor, der darauf lag und tief und fest schlief. Er trug ebenfalls noch seinen Samuraianzug, hatte sich eine dünne Decke über seinen Körper geworfen und sich auf den Rücken gedreht, so dass er Heimdal eher an einen ertrunkenen Hund als an einen einst so mächtigen Gott erinnerte. Warum ist er noch hier? Vermutlich wegen des Frühstücks oder weil er die Reste des Abendbrots aufessen will. Fresssack! Heimdal fuhr heftig zusammen, als ein weißes Licht hinter seinem Auge zu explodieren schien. Der Schmerz wurde unerträglich und er biss sich hart auf die Lippen, um nicht aufzuschreien und damit Thor zu wecken. Der Wächter wollte nicht, dass ihn jemand so sah, so um Fassung ringend, erst recht nicht den Donnergott, der sich schon vor einen Jahr auf Lokis Seite schlug und Heimdal damit deutlich zeigte, dass er von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Er brauchte sein Mitleid nicht. Er stieß den angehaltenen Atem aus, als der Schmerz ein wenig abklang und tastete sich blind zur Tür, da die Schatten, die dunkler als die Nacht waren, ihn erneut umhüllten. Es war kühler auf dem Gang und Heimdal stolperte mehrere Male über unsichtbare Barrieren, konnte sich aber jedes Mal im letzten Moment noch halten. Sein linkes Auge begann zu tränen, warme Flüssigkeit lief über seine Wangen und er konnte nichts dagegen tun, obwohl er sich dafür unendlich schämte. Er weinte nicht, nein, er weinte nicht. Das würde er nie tun. Nicht als stolzer Wächter der nordischen Götter! Die Höhle seines rechten Auges, seines von Loki gestohlenen Auges, brannte, als würde sie in Flammen stehen. Ihm drehte sich der Magen um und er fiel beinahe bewusstlos gegen die Wand, die sich als eine Tür entpuppte, die nachgab. Der Wächter gab einen erschrockenen Laut von sich, bevor er eine unsanfte Bekanntschaft mit dem harten Boden machte. Für die nächsten Minuten blieb er bewegungslos auf den kalten Fließen liegen und wimmerte leise. Die Übelkeit, die nicht von dem Alkohol herführte, dafür kannte er sie zu gut, wurde übermächtig, egal, wie stark er auch dagegen ankämpfte. Vor wenigen Monaten noch hatte ein Glas Wasser und ein wenig Ruhe ausgereicht, um seinen Körper wieder zu beruhigen. Damals galt es nur, die Schmerzen auszustehen. Heute jedoch schienen sie ihn zu vernichten, er war machtlos ob ihrer Zerstörungswut. Heimdal würgte und schaffte es noch, sich wenigstens auf seine Ellenbogen zu stützen, bevor er sich erbrach. Es war Lokis Haus, da konnte es ihm egal sein, solange er sich nicht selbst bespuckte. Aber es war ihm nicht egal, ganz und gar nicht. Es bereitete ihm eine Gänsehaut, während er hingebungsvoll den Inhalt seines Magens hergab. Dass er es nicht mehr schaffte, seinen Körper zu kontrollieren, bewies ihm, dass Odin Recht hatte, dass die Lage ernst war, sehr ernst. Wenn er nicht bald sein Auge zurück erhielt, würde er sterben. So wie es im Moment aussah, einen langsamen und qualvollen Tod. Warum ich? Warum nicht er? Warum so? Heimdal hatte sich seit dem Bekanntwerden der Prophezeiung immer gefragt, auf welche Art Loki und er zu Ragnarök gegeneinander kämpfen, welche Waffen sie benutzen, welchen Ort sie auswählen würden. Der Wächter hätte es nie für möglich gehalten, dass Loki ihn heimtückisch überwältigen und anschließend dahinsiechen lassen würde, anstelle ihn in einem ehrlichen Zweikampf zu stellen. Er ist glücklich in dieser beschissenen Verbannung, während ich mir die Seele aus dem Leib kotze, dabei ist er der Verräter! Er hat Odins Zorn auf sich gezogen, er hat mich verraten! Warum? Heimdal würgte, bis sein Magen nichts mehr hergab, und konnte einen gequälten Schluchzer nicht unterdrücken. Warum? >Hol dir dein Auge zurück, mein kleiner Heimdal. Hol dir dein Auge zurück und vernichte diesen Verräter.< Der Wächter erinnerte sich der Worte des höchsten nordischen Gottes und kämpfte erneut gegen die Übelkeit und die Schmerzen an. Ein entschlossener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als die Pein ein wenig nachließ und die Schatten so weit wichen, dass er erkannte, dass er sich in Lokis Küche befand. Neben der Spüle standen diverse Arbeitsgeräte, die Midgar bestimmt mit der Kreditkarte seines Vaters bestellt hatte: ein elektrischer Reiskocher, ein Mixer, eine Mikrowelle, ein Püreestab und ein Messerset in einem Holzblock. Heimdal schwankte hinüber und zog das größte Messer, das fast genauso groß wie sein kindlicher Arm war, aus dem Block. Es glitzerte im Mondlicht und Heimdal grinste zufrieden. Jetzt werde ich ihn ein für alle Mal besiegen. Er muss mir mein Auge zurückgeben. Er muss! Heimdal spülte sich den Mund aus und bespritzte sein verschwitzte Gesicht mit kaltem Wasser. Seine Schmerzen verschwanden nicht vollständig, so ein Anfall war nie schnell vorbei, aber er fühlte sich wenigstens ein bisschen munterer. Das musste er auch sein, wollte er seinen ärgsten Feind vernichten. Wenigstens war das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Noch immer schien die Welt zu schwanken, aber der Wächter ignorierte es so gut es ging, konzentrierte sich statt dessen auf die Aufgabe, die vor ihm lag, und das Messer in seinen Händen. Befriedigt lächelte er bei dem Gedanken, die Klinge in Lokis Leib zu rammen und zu sehen, ob er dann immer noch so dämlich lachte, wenn er dieselben Schmerzen verspürte, die Heimdal dank ihm beinahe jede Nacht erdulden musste. Der Wächter öffnete aufs Geradewohl die erste Tür, die sich jedoch als das Arbeitszimmer des Unheilsgottes, oder besser, seiner Detektei entpuppte. Heimdal verzog nur angewidert seinen Mund und versuchte erneut sein Glück. Er fand eine Toilette, einen Raum voller Antiquitäten und eine Abstellkammer. Als Heimdal bereits so frustriert war, dass er die Kommode im Flur eintreten wollte, fand er schließlich Lokis Schlafzimmer. Es sah dem Gästezimmer, in dem Thor noch immer schnarchend vor sich hin träumte, zum Verwechseln ähnlich. Vermutlich hatte sich Loki beim Einrichten des Hauses keine all zu große Mühe gegeben oder aber Midgar besaß nicht mehr Phantasie, als ein Schlafzimmer zu gestalten. Die Bilder auf dem Nachttisch machten den einzigen Unterschied - und natürlich die Gestalten, die in dem europäischen Bett lagen. Gestalten? Hatte Heimdal das Wort gerade im Plural benutzt? Dies hier war doch Lokis Schlafzimmer, oder hatte er etwas verpasst? Nein, die Photos auf dem Nachttisch zeigten noch immer Loki und seine verdammte Brut. Gestalten? Heimdal schlich sich näher an das Bett heran und bemerkte sofort das Fellknäuel, das am Fuße der Matratze lag und so laut schnarchte, dass sich der Wächter wunderte, wie die anderen Personen überhaupt Schlaf fanden. Thors Schnarchen hörte sich dagegen wie sanfte Musik an. Fenrir? Heimdals Schmerzen hielten ihn zurück, missbilligend seinen Kopf zu schütteln. Er hatte ja gewusst, dass Lokis älterer Sohn einen schwerwiegenden Vaterkomplex entwickelte, aber er hatte nicht gedacht, dass es so schlimm um ihn stand. Im Bett seines Vaters zu schlafen wie ein kleines Baby, schämte sich der Höllenhund denn nicht? Nein, wenn es um seinen >Daddy< ging, hat Fenrir noch nie irgendwelche Scham besessen. Der Wächter unterdrückte ein abschätziges Brummen und wandte sich den Gestalten unter der Decke zu. Überrascht riss er sein Auge auf, das sofort wieder stärker zu pochen begann, als er Mayura erkannte. Das Mädchen hatte ihren Sherlock-Holmes Mantel gegen ein Nachthemd getauscht, das selbst in der Dunkelheit der Nacht noch entsetzlich zu leuchten schien. Grelles Pink. Wenn Heimdal nicht bereits mit seiner Gesundheit zu kämpfen gehabt hätte, jetzt hätte sein Auge mit Sicherheit weh getan. Was macht sie in Lokis Bett? Immerhin ist er nur ein neunjähriger Junge! Weiß ihr Vater das? Lässt er das etwa auch noch zu? Oder sind hier einfach nur alle bescheuert und ich krieg das als einziger mit? Heimdal ließ seinen Blick über Mayuras schlafende Gestalt gleiten und konnte ein zorniges Grollen nicht länger unterdrücken, als er seinen Feind sah, der in den Armen des Mädchens lag und in seinen Träumen selig lächelte. Er selbst hatte seine traditionelle Götterkleidung gegen einen dunklen Schlafanzug getauscht und seine sonst auch wild wirkenden Haare bildeten ein großes Durcheinander auf seinem Kopf. Wie kann er nur? Wie kann er glücklich sein, wenn ich leide? Heimdal kamen Thors Worte wieder in den Sinn und er biss erneut auf seine bereits blutende Lippe. Langsam kroch er auf die Matratze und hob das Messer, um es Loki in den Leib zu rammen. In einen kindlichen Körper, in den er ebenfalls gezwungen worden war und den er abgrundtief hasste, so wie er den Unheilsgott vor sich verabscheute. Stirb! Stirb und lass mich für immer in Ruhe! Heimdal packte den Griff der Waffe stärker und holte tief Luft. Gleich würde er zustoßen. Gleich. Jeden Moment. Jetzt! Mayura gähnte und zog den kleinen Gott stärker in ihre Arme, bedeckte unbewusst Lokis Brust mit ihrem Ellenbogen, so dass Heimdal die Angriffsfläche genommen wurde. Egal, ich kann ihm immer noch die Kehle durchschneiden. Ihm und seiner verdammten Brut. Sie sollen genauso leiden wie ich die letzten Monate. Ganz genauso! Heimdal setzte die kalte Klinge an Lokis Kehle und wollte zudrücken. Mayuras geflüsterte Worte, mehr im Schlaf als im Wachzustand gesprochen, ließen ihn jedoch erstarren. "Mein Loki-chan..." So hat sie ihn noch nie genannt. Loki-kun, aber nie Loki-chan! Unfähig, sich zu bewegen, starrte Heimdal in das entspannte Gesicht seines Feindes, der die Gefahr nicht zu spüren schien, in welcher er sich befand. Der Wächter fragte sich, ob der Unheilsgott dem Mädchen wirklich die Wahrheit gesagt hatte - und ob sie ihn als das akzeptiert hatte, was er war. Ob sie ihn dafür liebte. Wie schafft er das? Wie kriegt er immer alle dazu, ihn zu mögen? Nein, nicht alle. Mich nicht! Ich werde nie wieder nach seiner Pfeife tanzen. Wie wieder! Heimdal konzentrierte sich auf seine Aufgabe und schnappte verblüfft nach Luft, als er direkt in dunkelgrüne Augen schaute, die ihn stumm ansahen. Seit wann ist er wach? Warum reagiert er nicht, greift mich nicht an, verteidigt sich nicht? Ist das ein neues Spiel? Für eine halbe Ewigkeit starrten sich die beiden kindlichen Götter an. Keiner von beiden sagte etwas, keiner bewegte sich. Das Messer befand sich noch immer an Lokis Kehle, aber weder drückte Heimdal zu noch schob es der Unheilsgott beiseite. "Heimdal?" unterbrach Loki schließlich die Stille und der Wächter zuckte unbewusst zusammen, wobei ihm beinahe das Messer aus der Hand gefallen wäre. Er hielt es jedoch fest und sah, dass er Loki geschnitten hatte. Eine kleine Wunde an seinem Kinn blutete, aber noch immer zog er Unheilsgott nicht seine Sense, um ihn von sich zu stoßen. "Heimdal?" fragte der Unheilsgott erneut und hob endlich seine Hand. Aber nicht, um seinen Angreifer zu schlagen, sondern, um ihm die violetten Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. Loki wollte Heimdals Gesicht sehen und nicht mit einem Schatten diskutieren. Der Unheilsgott runzelte seine Stirn und schnippte kurz mit seinen Fingern. Im nächsten Moment erhellte Licht den Raum und Heimdal kniff geblendet sein Auge zusammen, das zu explodieren schien. >Ohne dein rechtes Auge wirst du erblinden und früher oder später sterben, wenn Loki nicht deine Hilflosigkeit ausnutzt und dich zuerst umbringt.< Erneut hörte Heimdal Odins Stimme in seinen Gedanken und wusste, dass er seine Chance verpasst hatte. Nun, da er geblendet war, würde Loki ihm auch noch das andere Auge stehlen und ihm vernichten, so wie es die Prophezeiung vorhergesagt hatte. Warum hatte er nicht zugedrückt, als er die Möglichkeit dazu gehabt hatte? Weshalb hatte er gezögert? Zu lang gehadert? "Heimdal..." Lokis Stimme klang mit einem Mal kurzatmig, so als wäre er einen weiten Weg gelaufen, oder als wäre er entsetzt. "Gib mir mein Auge zurück, du verdammter Verräter!" zischte der Unheilsgott und fuchtelte blind mit dem Messer in der Luft herum, wo er Loki zu treffen erhoffte. Warum weder Mayura noch Fenrir von dem grellen Licht erwachten, blieb ihm ein Rätsel, aber es interessierte ihn nicht weiter. Er musste Loki vernichten und sein Auge zurückfordern, alles andere konnte ihm egal sein. "Heim..." "Ich will mein Auge zurück. Red ich vielleicht Chinesisch?" Heimdal fuhr herum und deutete mit dem Messer in die Richtung, aus der er Lokis Stimme hörte. Der kindliche Gott schien aufgestanden zu sein, um ihn zu verwirren, um ihn zum Narren zu halten. Zitternd kam er auf seine Beine und stolperte der Stimme hinterher, die seinen Namen immer und immer wieder sagte, wie eine Litanei. "Verdammt, Loki!" Heimdal wischte sich die lästigen Tränen aus seinem Auge und blinzelte mehrfach, bis sich sein trüber Blick ein wenig aufhellte. Er erkannte nur Schemen, aber der dunkle Schatten vor ihm konnte nur Loki sein. Niemand anderes in seiner Größe trug einen schwarzen Schlafanzug, nicht einmal die verrückten Kinder in seiner Grundschule zur Mittagspause. Heimdal richtete das Messer erneut auf und stürmte auf den Unheilsgott zu, um ihn aufzuschlitzen. "Dafür wirst du büßen!" Der Schatten bewegte sich nicht von der Stelle und Heimdal grinste bereits triumphierend, da wich Loki ihm jedoch im letzten Moment aus und sich das Messer bohrte sich anstelle in den kindlichen Körper in den Schrank. Heimdal heulte zornig auf, aber es war ihm nicht möglich, die Waffe aus dem Holz zu ziehen, sie steckte fest. "Dann muss ich dich eben mit meinen bloßen Händen vernichten!" zischte der Wächter und drehte sich zu Loki um, der noch immer ein schwarzer Punkt in einer schwankenden Welt darstellte. Er streckte seine Hände aus und erwischte Loki dieses Mal, vermutlich an seinen Armen. "Heim, bitte, hör mir zu." Sagte der Unheilsgott und Heimdal spürte im nächsten Moment Hände auf seinen Schultern. "Wir müssen miteinander reden." "Reden? Wozu denn? Wir haben uns doch schon alles gesagt." Der Wächter schob Loki quer durch den Raum, bis der Unheilsgott auf ein Hindernis stieß und Heimdal ihn dagegen presste und somit gefangen hielt. "Du hast mir mein Auge genommen und dafür wirst du büßen!" "Ich hab dich nicht verraten, Heim." Antwortete Loki in einer Stimme, die für Heimdals Nerven viel zu ruhig, viel zu gefasst war. Der Unheilsgott sollte Angst vor ihm haben, so wie der Wächter sich in jener Nacht vor über einem Jahr gefürchtet hatte. "Du bist also nicht nur ein Verräter, sondern auch ein Lügner!" zischte Heimdal und verstärkte seinen Griff um Lokis Arme. Er wollte nicht, dass ihm der kleine Gott noch einmal entkam, dieses Mal würde er seine Mission zu Ende bringen, mit allen Mitteln. "Ich habe..." "Wer soll es sonst getan haben, hm? Etwa Thor? Oder gar Odin?" Als Loki nichts erwiderte, grinste Heimdal höhnisch, fühlte sich in seiner Ahnung bestätigt. "Du hast nicht auf Ragnarök warten können, nicht wahr? Langsam wolltest du mich vernichten. Aber das wird dir nicht gelingen, Verräter, denn ich werde dich zuerst umbringen!" "Heimdal..." Der Wächter erwartete Gnadenersuche, vielleicht sogar eine Beleidigung, aber die nächsten Worte des Unheilsgottes ließen ihn zusammen fahren. "Du blutest. Deine beiden Augen bluten." "Was?" entfuhr es ihm erstaunt, dann aber besann er sich auf Lokis Heimtücke. Das alles war doch nur eine Lüge, um ihn zum Zweifeln zu bringen. Sicher, der Schmerz in seinem Auge nahm mit jedem Augenblick zu, er musste sich beeilen, aber Blut? Das war lächerlich, einfach nur lächerlich! "Red keine Arien, sondern bereite dich auf deinen letzten Gang vor!" "Hast du dich verletzt?" "Du hast mir mein Auge gestohlen und wagst es, solche Fragen zu stellen?" Heimdal war außer sich. Er ließ Loki für einen Moment los, um seine Hände um dessen Kehle zu schließen. Gerade wollte er zudrücken, als ihn zwei starke Arme ergriffen und ihn von seinem ärgsten Feind fortzogen. "Das ist unfair!" schrie er und trat wild um sich, ohne aber irgendjemanden zu treffen. "Das soll ein Zweikampf sein!" "Beruhige dich, Heim." Hörte er eine ihm nur zu bekannte Stimme hinter sich und sein Zorn war unermesslich, als Thor ihn so fest umarmte, dass er sich nicht einmal mehr bewegen konnte. Wehrlos hing er in den Armen des Donnergottes und sein linkes Auge blitzte hasserfüllt den dunklen Schatten vor sich an. "Beruhigen? Ihr seid beide Verräter!" kreischte er, wunderte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, warum weder Fenrir noch Midgar bei dem Lärm auftauchten und ebenfalls ihrem Vater zur Hilfe kamen. Vier gegen einen war für diese verdammte Brut doch weitaus günstiger, und typischer, als dass zwei über eine Person herfielen. "Ihr verdammten Lügner! Erst stehlt ihr mir mein Auge und jetzt wollt ihr mich vernichten. Ich krieg nicht mal einen fairen Zweikampf!" "Du brauchst keinen Kampf, du brauchst Hilfe." Stellte Loki fest, aber seine Stimme zitterte leicht. Der Schatten trat näher an Heimdal heran und der Wächter zappelte erneut in Thors unnachgiebigen Armen. Jetzt würde Loki seine Rache vollenden und ihm auch noch das zweite Auge nehmen. Heimdal fragte sich, wie er nur zu dieser Geburtstagsfeier hatte kommen, wie er wieder einmal eine Falle hatte übersehen können. Es war alles ein abgekatertes Spiel gewesen. Vermutlich steckten sogar die Göttinnen dahinter, hatten sich deswegen den ganzen Abend so freundlich ihm gegenüber verhalten. Und er war in ihre Falle getappt wie ein blinder Anfänger. "Fass mich nicht an!" spie er und wandte in Panik seinen Kopf zur Seite, versuchte vergeblich, diesen zu verbergen. Lokis kleine Hand zwang ihn jedoch, ihn direkt anzusehen, auch wenn Loki Gesicht einem verschwommen, weißen Fleck glich. Vorsichtig wurden Heimdals Haare hinter seine Ohren geschoben und er versteifte sich in Thors Armen, bereitete sich auf den ultimativen Schlag vor. Der Donnergott schnappte nach Luft und Heimdal fragte sich, ob Thor seinen Verrat bereute, nun, da es zu spät war. "Du brauchst wirklich Hilfe, Heim." Flüsterte Loki und anstelle ihm sein linkes Auge auch noch zu nehmen, fuhren kalte Finger über seine heißen Wangen. Der Schmerz verdoppelte sich trotzdem schlagartig und Heimdal röchelte, als ihm jegliche Luft aus den Lungen gepresst wurde. "Scheiße!" fluchte Thor und seine Stimme klang mit einem Mal so weit weg, als würde er sich in einem anderen Raum befinden, oder aber in einer anderen Welt. "Heimdal! Was ist los? Was ist geschehen?" Der Wächter spürte, wie die Arme ihn losließen, aber anstelle auf den harten Boden zu knallen, wie er das in Lokis Küche bereits getan hatte, fingen ihn sanfte Hände auf und legten ihn behutsam auf eine weiche Unterlage. Heimdal konnte nicht sagen, ob es sich dabei um die Matratze von Lokis Bett handelte oder etwas anderes, es war ihm auch egal. Sein Magen schien voller Bienen zu sein, die in ihrer ohnmächtigen Wut immer wieder in seine Haut stachen und er schaffte es gerade noch, seinen Kopf zu drehen, um sich erneut zu erbrechen. Er hatte zwar geglaubt, bereits in der Küche sein gesamtes Abendbrot dem Fliesengott gespendet zu haben, aber offensichtlich hatte er sich geirrt. So schlimm war es noch nie. Er stöhnte gequält auf und die Spirale aus Schmerzen spitzte sich immer weiter zu. Die weiche Unterlage begann zu schaukeln, aber er konnte nicht zuordnen, ob jemand darüber sprang - wohl, um ihn doch noch anzugreifen - oder ob der Alkohol seine schlimmste Wirkung entfaltete und die Welt in einen Seesturm verwandelte. "Meine Güte!" Mayuras Stimme benutzte keine Schimpfwörter, aber sie klang ähnlich gehetzt wie Thors. "Was ist hier geschehen?" "Keine Ahnung, aber ruf den Krankenwagen, sofort!" Das war nun Thor, der außer sich vor Wut war. Oder war es Angst? Angst? Wovor denn? Dass ich hier krepiere? Bestimmt nicht... "Hai!" Die Welt schwankte noch ein wenig mehr und Heimdal hörte das Knallen mehrerer Türen und dazwischen Midgars verschlafene Stimme. Wenigstens er schläft nicht im Bett seines Vaters, sonst würde ich sie alle für verrückt halten. Heimdal grinste müde bei dem Gedanken und wollte sich zu einem Ball zusammen rollen, als die nächste Welle der Agonie über ihm hinweg schwappte. Es gelang ihm jedoch nicht, sein Körper schien ihn nicht gehorchen zu wollen. Mehr und mehr aufgeregte Stimmen - und ein aufgeregtes Bellen, wie Heimdal genervt feststellte - füllte seine Welt der Schatten und er stöhnte auf, als jemand mit einem feuchten Tuch über sein glühendes Gesicht fuhr. Würde man ihm jetzt sein Auge nehmen? Jetzt, da er wirklich und wahrhaftig wehrlos in Lokis Haus lag? Hatte Odin Recht gehabt? Mit der Prophezeiung und seinen weisen Worten den Unheilsgott betreffend? >... wenn Loki nicht deine Hilflosigkeit ausnutzt und dich zuerst umbringt.< Odins Stimme war allgegenwärtig in seinem Kopf, schien wirklicher zu sein als Mayuras Weinen, mit dem sie erklärte, dass der Notarzt unterwegs wäre. "Wie konnte das passieren?" >Mein kleiner Heimdal.< "Er blutet aus beiden Augen." >Mein kleiner Heimdal.< "Sein Kopf ist ganz heiß." >Mein kleiner Heimdal.< "Er hat Blut erbrochen!" >Mein kleiner Heimdal. < "Der Notarzt sollte jeden Moment da sein. Ich geh schon mal an die Eingangstür." >Mein kleiner Heimdal.< "Ich komme mit, Daidouzi-sama." Heimdal grinste höhnisch und fragte sich, wann Midgar diesen förmlichen Ton aufgeben und Mayura Ka-san nennen oder gleich das grausame Englisch seines älteren Bruders übernehmen und sie schlicht und ergreifend >Mommy< rufen würde. Erneuter Schmerz fuhr durch seinen ganzen Körper und er stöhnte laut auf. Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn und der nasse Lappen verharrte auf seine rechten Wange. "Halt durch, Heim, der Arzt wird gleich da sein." Als ob der mir helfen könnte. Niemand kann mir helfen. Niemand, außer... "Gib mir..." Das Sprechen fiel ihm unendlich schwer und er konnte die Übelkeit, die wieder in ihm aufstieg, kaum zurückdrängen. "... meine Auge, Loki." "Heimdal..." "Ohne Auge... verliere ich meine... Macht und mein... Leben..." brachte er mit letzter Kraft hervor und würgte er erneut. Sanfte Hände hielten ihn, während er sich erneut übergab. Jegliches Gefühl verließ seinen zitternden Körper und er fragte sich, ob das wirklich das Ende war, da er nicht einmal mehr seine Arme spürte, ohne sie Loki nicht erwürgen konnte. Andererseits, was brachte ihn der Tod seines ärgsten Feindes, wenn dieser sein Auge mit sich nahm? "Ich hab es nicht!" Phantasierte er bereits, oder klang Lokis Stimme wirklich verzweifelt? "... kannst gerne hier... hier leben mit all diesen Personen... ich..." Heimdal würgte und das Atmen fiel ihm schwerer. Müdigkeit breitete sich in ihm aus und er wollte mit einem Mal allein sein. Der Anfall klang ab, so wie jedes Mal, und jetzt bräuchte er seine Ruhe und ein paar Stunden Schlaf, dann würde es ihm besser gehen, dann würde er sich erneut mit ihnen befassen und vielleicht auch eine Erklärung finden, warum er mitten in der Nacht Lokis Bett vollgebrochen hatte. "... ich brauch deinen Tod nicht... Loki... mein Auge... brauch nur mein Auge..." flüsterte er und schloss das brennende Lid. Im Moment nahm er sowieso nichts mehr von der Welt um ihn herum wahr. "Ich hab es nicht! Verdammt! Wie kann ich dir sonst helfen, Heimdal. Heimdal? Heimdal?!" >Mein kleiner Heimdal...< Odins Stimme war wieder in seinen Gedanken und für einen Moment glaubte er, das gleißende Licht vor sich zu sehen, dass ihm dieses Mal jedoch nicht weh tat. Wieder spürte er die großen, kühlen Hände, die sanft über seine Wangen streichelten, hörte die väterliche Wärme in den Worten des mächtigsten nordischen Gottes. >... wieso hast du nur versagt, mein kleiner Heimdal?< fragte die Stimme und unendliche Verzweiflung stieg in dem Wächter empor, als er den Sinn der Worte verstand. Seid Ihr enttäuscht, Odin? "Heimdal?! Los, sag was, mach keinen Scheiß hier!" >Nein, nur maßlos traurig, mein kleiner Heimdal.< Ich habe alles versucht, aber ich war allein, hatte keine Hilfe in dieser schwierigen Aufgabe. >Es war deine Aufgabe, mein kleiner Heimdal, deine allein. Du hättest sie bewältigen sollen.< "Heimdal! Wach auf! Der Notarzt trifft gerade ein, hörst du's? Gleich ist Hilfe da!" Dann werde ich mir das nächste Mal mehr Mühe geben. >Es wird kein nächstes Mal mehr geben, mein kleiner Heimdal.< "Heimdal, gib jetzt nicht auf, hörst du mich? Wir brauchen dich doch!" Komme ich zurück nach Walhalla? Der Wächter fühlte sich glücklich. Nun würde er endlich seine Heimat wieder sehen, sein geliebtes Asgard. Endlich würde er diesen kindlichen Körper loswerden und so mächtig wie vor Lokis Verbannung durch das Himmelsreich wandeln. Ja, er war glücklich. Sollte sich doch jemand anderes um Loki und Odins Zorn kümmern, es war sowieso nie seine Aufgabe gewesen. Zu Ragnarök würde er bereit sein, sich dem Unheilsgott zu stellen, aber davor wollte er einfach nur seine Aufgaben als Wächter erfüllen und eine ruhige Existenz führen. Loki konnte hier auf der Erde mit Mayura und seiner Brut glücklich sein, er würde es in Walhalla sein. Heimdal lächelte glücklich und ließ zu, dass ihn die Dunkelheit vollkommen verschluckte. Ja, jetzt würde er nach Hause gehen. Endlich. >Nein.< "Heimdal!" *** ----------------------------------------------------------------------------- (wird später im Nachwort noch einmal erwähnt, aber da ich nicht alles auf einmal hochlade zur Hilfe zum Lesen des zweiten Kapitels ^-^) Gackt - Vanilla (lyric + English translation): kimi wa seijitsu na moralist kirei na yubi de boku o nazoru boku wa junsui na terrorist kimi no omou ga mama ni kakumei ga okiru You're an honest moralist You trace me with your pretty finger I'm a pure terrorist Your thoughts are rising like a revolution koi ni shibarareta specialist nagai tsume o taterareta boku ai o tashikametai egoist kimi no oku made tadoritsukitai A specialist bound by romance You used your long fingernails on me An egoist who wants to confirm love I want to struggle on until I'm inside of you kimi no kao ga toozakaru ah boku wa boku de nakunaru mae ni You keep yourself at a distance ah Before I lose myself aishite mo ii kai? yureru yoru ni arugamama de ii yo motto fukaku kuruoshii kurai ni nareta kuchibiru ga tokeau hodo ni boku wa...kimi no...Vanilla Is it okay to love, too? In the shaking night It's good as it is More Deeper As those almost maddening lips I've gotten used to melt together I am...Your...Vanilla (Translated by: Mina-P (Email: Minako@senshigakuen.com)) Kapitel 3: Alpha - 3: Daddy... ------------------------------ Hauptteil 2: Alpha "Die Seele getauscht für ein Herz aus Stein Ziehst du alle mit in den Abgrund hinein. Lügner - Verdammt sollst du sein!" Kapitel 3: Daddy... "Sie müssen sich entscheiden, wir können nicht beide retten." "Das können Sie doch nicht von ihm verlangen!" "Es... ist schon gut..." "Beeilen Sie sich, wir haben kaum noch Zeit, sonst verlieren wir beide." "Dann..." Erwartungsvolle, angespannte, furchtsame Stille gefolgt von tiefem Luftholen. "... rettet meine Frau." *** "Er ist ja noch so winzig. Können Götter so klein sein?" Thor, äußerlich selbst nicht älter als fünf Jahre wirkend, rückte sein traditionelles Göttergewand zurecht und beugte sich über die Wiege. Rote Augen blickten ihn neugierig an und kleine Hände streckten sich ihm entgegen. "Er ist noch sehr jung, so bist auch du." Odin trat zu ihm hinüber und streichelte sanft mit der linken Hand durch einen hellbraunen Schopf. Auf dem rechten Arm hielt der älteste Gott ein anderes Kleinkind. Dunkelgrüne Augen musterten die anderen Kinder neugierig und Loki lachte glücklich, als sich Thor erhob und ihn nahm. "Sie können ja noch nicht einmal sprechen." Murmelte der junge Donnergott und ging hinüber zum Fenster, trat an der Gestalt eines jungen Mannes vorbei, der die Szene vor sich schweigend musterte. Wind ließ die Vorhänge auseinander fahren, violette Strähnen blieben unbewegt. "Du musst Geduld mit ihnen haben." Thor nickte bei den weisen Worten des nordischen Gottes und schaukelte den kleinen Loki in seinen Armen, der sein Gesicht verzog und zu weinen begann. Sofort stimmte Baby-Heimdal mit ein und der junge Donnergott sah sich entsetzt zwei schreienden Kleinkindern gegenüber. Von Odin konnte er jedoch keine Hilfe erwarten, denn der mächtigste Gott war bereits gegangen. "Ich hab mich zwar beschwert, dass es hier sehr einsam ist..." seufzte Thor und blickte direkt in die Richtung des jungen Mannes, ohne ihn jedoch zu sehen. Schließlich ging er hinüber zu der Wiege, setzte Loki mit hinein und begann, das Möbelstück leicht zu wippen. Beide Götter hörten auf zu schreien und sahen ihn wieder mit ihren großen Augen vertrauensvoll an, begannen sogar zu lachen. "... aber ich denke schon, dass wir gute Freunde werden, was?" *** "Fang mich doch!" Ein kleiner Junge von äußerlich fünf Jahren stolperte über die grüne Wiese. Seine roten Augen strahlten und er grinste verstohlen, als ihn ein anderer Junge, er mochte doppelt so alt aber nicht weniger ungeschickt sein als er, verfolgte und schließlich einholte. "Hab dich!" Fest nahm er den Ausreißer in seine Arme und kicherte, als ein anderer Junge, der hinter ihnen hergerannt war, stolperte und auf sie beide fiel. "Hab euch beide." Strahlte Loki und er und Heimdal brachen in schallendes Gelächter aus, als Thor seine Chance nutzte und sie beide auskrabbelte. "Wisst ihr, dass ihr unglaubliche Frechdachse seid?" "Ja." "Natürlich." Die beiden Kinder grinsten über das ganze Gesicht und kuschelten sich an den älteren Jungen, als dieser sich auf seinen Rücken drehte und nach oben in den weiten Himmel schaute. Es war ein wundervoller Frühlingstag, die Sonne schien wärmend auf sie herab. Thor hatte Odin um Erlaubnis gefragt und war mit den zwei kleinen Göttern zur Erde gegangen, da es in Asgard keine wirklichen Jahreszeiten gab. Den halben Tag hatten sie kleine Käfer gejagt und bunte Blumen entdeckt - und sich gegenseitig verfolgt, quer über die grünste Wiese, die Thor ausfindig machen konnte. Bald würde er das Mittagessen in einem großen Korb erscheinen lassen und aufpassen, dass sich die kleinen Götter nicht all zu schlimm voll kleckerten. "Das da oben ist ein Hund." Erklärte Loki, der sich an seine linke Seite angekuschelt hatte und zeigte mit seiner kleinen Hand zu einer Wolke hinauf, die über das helle Blau des Firmament zu schweben schien. "Nee, das ist ein Falke." Korrigierte ihn Heimdal, der sich an seine rechte Seite schmiegte und gähnte. Nach all der Lauferei wurde er schläfrig im warmen Licht. "Also ich seh da nur ein Schaf." Erläuterte Thor und zuckte mit seinen Schultern. "Das ist alles, nur kein Schaf." Erwiderte prompt Loki und runzelte seine Stirn. "Vielleicht ja ein Hund mit Flügeln, aber kein Schaf." Heimdal nickte zustimmend, sagte jedoch nichts. Er hatte seine Augen geschlossen und seine Hand in Thors Hemd geballt. Es fehlte nicht viel und er würde einschlafen. "Ein Hund mit Flügeln?" "Oder eine Schlange." "Wie kommst du denn da rauf?" "Wegen dem Schwänzchen dort hinten." "Könnte das nicht ein Schafschwänzchen sein?" "Nee, die sind doch rund und ganz flauschig." "Gut, dann eben ein Hund mit Flügeln. Ich bin überstimmt." "Genau." Loki grinste und stützte sich auf seine Ellenbogen. Er gähnte ebenfalls und blinzelte müde auf Heimdal herab, dessen Brust sich in einem regelmäßigen Rhythmus hob und senkte. "Ich hasse Mittagsschlaf." Gab der kleine Unheilsgott zu, konnte aber ein weiteres Gähnen nicht unterdrücken. "Das ist doch kein Mittagsschlaf, sondern nur eine Verschnaufpause." Thor lächelte ihn sanft an und breitete einladend seinen linken Arm aus, den rechten hatte er bereits um den kleinen Wächter geschlungen. "Komm her und ich erzähl dir eine Geschichte aus der Menschenwelt und wenn Heim wieder aufgewacht ist, gibt's was zu Essen." "Wirklich?" Loki strahlte ihn an und Thor nickte. "Wirklich." "Dann will ich die Geschichte über den alten Kaiser hören." Loki kuschelte sich in den Arm des älteren Jungen und gähnte erneut. Seine Augen wurden immer schwerer und bereits nach dem ersten Satz war er eingeschlafen. Thor hielt seine beiden Schäfchen, wie er sie manchmal nannte, sanft fest und blickte mit einem seligen Lächeln zum Himmel empor, in den Wolken nach einem Hund oder einem Falken suchend. Die Gestalt des jungen Mannes, der in ihrer Nähe gegen einen Baum lehnte, blickte dem Treiben regungslos zu. *** "Herzlichen Glückwunsch zum Göttertag." Thor hievte die große Torte, die er mit Hilfe der drei Schwestern gebacken hatte, auf die große Tafel des Speisesaals Walhallas. Er hätte sie auch einfach so erschaffen können, aber ihm erschien das Backen persönlicher, auch wenn er dafür beinahe seine Gemächer in die Luft gejagt hatte. Belldandy konnte das Schlimmste gerade noch verhindern. Obwohl Thor während der letzten Jahrhunderte gewachsen war, hatte er seine endgültige Größe und vor allen Dingen Stärke noch nicht erreicht. Hartes Training lag noch vor ihm, bis er mit seinen Blitzen gezielt umgehen konnte, aber Odin war geduldig. So wie auch jetzt. Der mächtigste Gott saß am Kopf der Tafel und sah seinen jüngeren Göttern zu, die mit Loki feierten. Der Junge, der nun äußerlich wie ein zehnjähriger Mensch wirkte, grinste über sein ganzes Gesicht und blies die Kerzen mit einem gewaltigen Luftzug aus. Dann blickte er erwartungsfroh in die Runde. Es war das erste Mal, dass sein Göttertag gefeiert wurde, noch dazu mit all seinen Freunden. "Das ist von uns." Sagte Belldandy und schickte ihren Schwestern strafende Blicke, als diese von der Torte naschen wollte, obwohl Loki diese noch nicht einmal angeschnitten hatte. "Danke." Kicherte er und begann ungeduldig, das Geschenkpapier aufzureißen. Was immer ihm die Göttinnen aus der Menschenwelt auch mitgebracht hatten, er würde es mögen. Heimdal, der dem ganzen Treiben bis jetzt stumm zugesehen hatte, stellte sein eigenes Päckchen mit einem lauten Knall auf den Tisch, sprang von seinem Stuhl auf und lief aus dem großen Saal hinaus. Er rannte blindlings durch die Gänge, vorbei an den Gemächern Thors, an den Gemächern Lokis und der Gestalt eines jungen Mannes, der auf dem Fenstersims saß und ihm emotionslos nachsah, wie er in den Garten hinaus stolperte und schluchzend vor dem Springbrunnen in die Knie ging. Laute, energische Schritte, die ihm gefolgt waren, ließen ihn zusammen zucken und schuldig blickte er auf, als er Thor auf sich zukommen sah. "Ich..." er verschluckte sich und begann, hingebungsvoll zu husten. "Ich wollte nicht alles verderben..." schluchzte er leise und weitere Tränen rannen über sein kindliches Gesicht. "Ich hab... hab das nur nicht mehr ausgehalten..." "Heim." Thor unterdrückte ein Seufzen, dann kniete er sich neben den zitternden Gott und nahm ihn sanft in seine Arme, hielt ihn fest, bis das herzzerreißende Weinen langsam verebbte. "Ich hab doch keinen Göttertag..." hickste Heimdal und vergrub sein Gesicht an Thors Hemd, schien sich für seinen Ausbruch zu schämen. "Dafür finden wir schon eine Lösung. Bis dahin ist doch noch Zeit." Thor streichelte sanft durch violette Haare, wiegte den kleinen Körper in seinen Armen behutsam. "Es sind nur noch zwei Jahrhunderte!" protestierte Heimdal. Mehrere Menschenleben, für ihn in Walhalla aber wenige Augenblicke. "Dann feiern wir eben zusammen Göttertag." Schlug eine helle Stimme vor und als Thor aufblickte, sah er Loki am Garteneingang stehen. Er trug seine traditionelle Kleidung, jedoch nicht seinen Flügelkranz, da sie bei der letzten Gelegenheit, da er sich wie ein Gott kleidete, zu laut lachen mussten. Die Flügel standen ihm wirklich nicht. "Aber... aber das geht doch nicht, keiner weiß, wann..." schluckte Heimdal, der endlich aufsah und beschämt über Thors Arm schielte. Thor und Loki tauschten Blicke aus, die besagten, dass sie Heimdals Einwendungen entkräften mussten. Sie beiden wussten, dass Heimdal in einem Korb auf den Stufen Walhallas ausgesetzt worden war, Thor konnte sich an jene Nacht sogar noch gut erinnern. Niemand kannte den genauen Tag, da er als Gott in Erscheinung trat, daher wusste auch niemand, wann man ihn denn zu feiern hatte. "Du hast einfach mit mir zusammen Göttertag und gut ist." Loki grinste und schlenderte zu ihnen hinüber. "Komm zurück zur Tafel, Heim. Du kannst auch die Hälfte der Torte bekommen und dir ein paar Geschenke aussuchen." "Aber..." "Kein Aber." Loki streckte seine Hand aus und lächelte in das tränenverschmierte Gesicht des kleinen Wächters. "Kommst du?" "Ja..." Heimdal ergriff die ihm dargebotenen Hand und drückte sie dankbar. "Ja, so machen wir's." *** Thor lag in seinem Bett und starrte an die Decke. Es war weit nach Mitternacht, aber er konnte nicht einschlafen. Ein Buch lag aufgeschlagen neben ihm auf der Decke, aber die Geschichte interessierte ihn heute nicht, er las innerhalb der letzten zwei Stunde keine zwei Seiten. Die Beine hatte der Donnergott angewinkelt und pfiff leise eine Melodie. Morgen wollte Odin etwas Wichtiges mit ihnen besprechen. Thor wusste nicht, worum es sich handelte, aber der mächtige Gott hatte sehr ernst drein geschaut. Nun war der Donnergott nervös und Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Er hob seinen Kopf und blickte zur Tür, als er erst das Geräusch nackter Füße und dann leises Klopfen hörte. "Wer stört noch zu so später Stunde?" fragte er forsch, konnte aber ein Grinsen nicht zurückhalten, als die Tür aufschwang und Loki und Heimdal im Rahmen standen. Beide trugen ihre Schlafgewänder und grinsten ebenfalls. Müde wirkte keiner von beiden. Über die letzten Jahrtausende waren sie so weit gewachsen, dass kein Größenunterschied mehr zwischen ihnen bestand und sie sahen ebenfalls wie Thor wie fünfundzwanzigjährige Menschen aus. Sie benahmen sich jedoch überhaupt nicht wie erwachsene Götter, waren immer noch wie Kleinkinder, was sie bewiesen, indem sie sich mit einem mörderischen Schrei auf den Donnergott stürzten. "Kitzelattacke!" "Es gibt kein Entkommen!" Thor lachte laut auf und verteidigte sich erfolgreich mit seinem Kopfkissen. Bald entbrannte eine heiße Kissenschlacht und die drei Götter sprangen dabei auf der Matratze herum, die stöhnend unter ihrem Gewicht quietschte. Das Buch fiel zu Boden und wurde ungesehenen von der Gestalt eines jungen Mannes aufgehoben und auf den Tisch gelegt. "Was glaubst du, will der Alte von uns morgen?" Loki breitete seine Arme auf dem Bett aus und legte seinen rechten quer über Thors Beine. Die Kissenschlacht war hart und schonungslos gewesen, aber irgendwann waren sie dann doch auf die Matratze gesunken. Thor spendierte eine große Tafel Schokolade aus den Tiefen seines Nachttisches und eine Weile hatten sie schweigend gegessen. "Nicht so respektlos." Ermahnte Thor, kicherte jedoch, als Loki ihm eine braune Zunge herausstreckte. "Keine Ahnung." Gab er schulterzuckend zu. "Ach, bestimmt nichts Wichtiges. Er will doch nur eine Show abziehen, ihr wisst doch, wie er ist." Heimdal nahm sich das letzte Stück Schokolade, knüllte das Papier zusammen und warf es in einem hohen Bogen durch das Zimmer. "Gehört wohl bei einem so mächtigen Gott dazu." Stimmte ihm Loki zu. "Ob wir auch mal so sein werden, wenn wir groß sind?" "Wohin willst du denn noch wachsen?" "Ich hab was gefragt, lenk nicht ab." Schweigen, dann simultanes Schulterzucken. "Ob wir immer Freunde sein werden?" Diese Frage stellte Heimdal, der dabei seine Augen geschlossen hielt, sein Gesichtsausdruck verriet jedoch ein wenig von der Anspannung, unter der sie alle standen, seitdem Odin ernst zu ihnen gesprochen hatte. "Du kannst vielleicht Fragen stellen." Lächelte Thor und fuhr durch strubbelige violette Strähnen. "Natürlich werden wir immer Freunde bleiben, was soll ich denn sonst den ganzen Tag ohne euch machen? Mich zu Tode langweilen?" "Die allerbesten Freunde." Fügte Loki hinzu und klopfte das Kopfkissen in seinem Rücken zurecht. "Die allerbesten." *** Thor ging eiligen Schrittes durch die kleine Stadt, wich hier und da den Menschen aus, die ihm entgegen kamen. Ein Eselkarren überfuhr ihn beinahe, aber er hörte nicht einmal das Schimpfen des Fahrers. Einige Frauen lächelten ihn aufreizend an, aber er ignorierte sie. Seine Sandalen klatschten auf dem warmen Stein und er erklomm die Treppe zum Tempel, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Seine Toga rutschte und er fragte sich, warum seine zwei Freunde sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hatten, um zu schmollen. Ob sie wirklich nur schmollten oder sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Ob sie überhaupt noch seine Freunde waren, so wie sie es sich versprochen hatten. "Warum hat Odin es ihnen gesagt? War es denn wirklich notwendig? Hätte es nicht ausgereicht, wenn sie es später erfahren hätten, am Ende der Welt?" flüsterte er und schüttelte seinen Kopf. Er verstand das alles nicht. Der Donnergott atmete tief ein, als er in den Schatten der Säulen trat und zielstrebig den Geräuschen folgte. Zwei ihm wohl bekannte Stimmen schrieen sich aufgebracht an und Thor hoffte, dass er nicht zu spät kam. "Gestern waren wir noch die besten Freunde, unzertrennbar, und heute hassen sie sich. Nur weil Odin ihnen von der Prophezeiung erzählen musste!" grollte Thor und trat zu den beiden jungen Göttern hinüber, die sich lautstark beschimpften. Jeder hielt eine Karaffe mit roter Flüssigkeit in ihren Händen, vermutlich Wein. So rot wie ihre Gesichter bereits leuchteten, schienen sie schon mehr Alkohol getrunken haben als ihnen bekam. "Du wirst misch nie besiegen!" "Woher willst du das wissen?" "Weil ich stärker bin als du!" "Bist du nicht!" "Bin ich wohl!" "Bist du nicht!" Thor seufzte ob des Streites, der sich seiner Meinung auf Kleinkindniveau befand. Beide Götter hatten ihre Waffen gezogen, Loki hielt seine Sense und Heimdal einen Adler in der freien Hand, und wankten aufeinander zu. "Dann lass es uns hier und jetzt und...!" schlug Heimdal vor und blinzelte, als sich der Tempel um ihn zu drehen begann. Trotzdem nahm er einen weiteren Schluck Wein. "... und jetscht auschtragen!" "Sch..." auch Loki schien allmählich Artikulationsprobleme zu bekommen und er zertrümmerte einen Krug, als er seine Sense gefährlich durch die Luft schwenkte. Die Gestalt eines jungen Mannes, der ebenfalls eine Karaffe in seinen Händen hielt, sah schweigend zu, wie die rote Flüssigkeit über den kleinen Tisch lief und schließlich auf den hellen Boden tropfte, dort einen See bildete. "... scho schei esch!" beendete Loki seinen Satz nachdem er seinen Wein ausgetrunken und das Gefäß fortgeworfen hatte. Es klirrte hinter ihm, aber er scherte sich nicht darum. Einzig und allein Heimdals Gegenwart schien noch wichtig zu sein. Dunkelgrüne und rote Augen starrten sich hasserfüllt an - und blinzelten, als Thor zwischen die beiden Streithähne trat und sie fassungslos anstarrte. "Sagt mal, geht's euch noch ganz gut?" fuhr er die betrunkenen Götter an und entriss Heimdal die Karaffe, als sich der Wächter noch weiter abfüllen wollte. "Ich denke, du hast genug getrunken, Heim. Und du auch, Loki, grins nicht so dämlich!" Thor war außer sich vor Wut, und vor Enttäuschung. Er hatte mehr von seinen besten Freunden erhofft. War ihre Freundschaft wirklich so schwach gewesen, dass ein Wort Odins ausreichte, um sie zu zerstören? "Ihr werdet jetzt beide nach Walhalla zurückkehren und dort ordentlich ausnüchtern. Und dann denkt ihr noch mal über eure Worte nach." "Wo... wo..." Heimdal stolperte mehrfach über seine eigene Zunge und entschied sich, seine Gedanken anders zu formulieren. "Er ischt mein Feind! Mein Todfeind!" zischte er und der Adler schrie zustimmend auf. "Du hascht doch..." "Er will misch töten!" ereiferte sich nun auch Loki und hob gefährlich seine Sense, nur, um sie von Thor entwendet zu bekommen. Im betrunkenen Zustand hatte er nicht schnell genug reagieren können. "Hört ihr zwei euch überhaupt reden?" Thor ließ die Sense in seinen Händen schrumpfen und steckte sie neben seinen Hammer an den Gürtel seine Toga. "Schämen solltet ihr euch, alle beide! Gestern habt ihr euch noch die Freundschaft geschworen und nun wollt ihr wie zwei junge Stiere aufeinander losgehen?" "Freundschaft? Pah!" spie Heimdal und verschränkte abschätzend seine Arme vor der Brust. "Der ischt mein Feind!" "Die Prophescheiung irrt nie!" bestätigte auch Loki und erneut starrten sich beide mit so viel Abscheu an, dass es Thor weh tat. "Niemand weiß, ob sie überhaupt in Erfüllung gehen wird! Immerhin.." versuchte Thor erneut, zwischen seinen zwei besten Freunden zu vermitteln, wurde jedoch von Heimdal unterbrochen. "Natürlisch wird schie, die Schweschtern irren nie!" Der Wächter deutete mit seiner rechten Hand auf den Unheilsgott und verzog sein Gesicht in einer Fratze des Hasses. "Der ischt mein Feind, auf ewig!" Mit diesen Worten drehte er sich um und schwankte mit dem Rest an Würde, den ihn der Alkohol noch ließ, davon. Thor war zu erschüttert, um ihn aufzuhalten, um ihn zu schütteln und anzuschreien, damit er wieder zur Vernunft kam. Lokis leises Raunen hinter ihm jagte ihm einen Schauer über den Rücken. "Mein Feind, auf ewig!" *** "Für wen entscheidest du dich?!" Thor sah nicht auf, als er die harten Worte hörte. Es handelte sich um eine Entscheidung, die er nicht treffen wollte, niemals treffen konnte. Statt dessen starrte er interessiert auf seine Füße, als habe er in seiner ganzen Existenz noch nichts Interessanteres gesehen. Es war weit nach Mitternacht und er saß auf seinem Bett, wie er das bereits vor einer Woche getan hatte, in jener Nacht vor der Verkündung der Prophezeiung. Wie damals war er nicht allein in seinem Zimmer, Heimdal leistete ihm Gesellschaft, obwohl sich der Donnergott fragte, ob es sich bei dem Wächter noch um seinen Freund handelte. Wahre Freunde stellten einen nicht vor eine so unmögliche Entscheidung. "Bist du auf Lokis Seite oder auf meiner!" Die letzten Tage erschienen Thor wie ein Traum, nein, eher wie der schlimmste Alptraum, den er sich je hätte vorstellen können. Loki und Heimdal schienen jedes Mal, wenn sie sich sahen, übereinander herfallen zu wollen und jegliche Aktivität, die Thor bisher so gemocht hatte, endete im Desaster. Gemeinsame Mahlzeiten wurden bald ein Unding, kein Treffen verlief ohne böse Worte und verbrannte Erde und immer stand Thor zwischen den Fronten. Immer versuchte er, zwischen den zwei zornigen Göttern zu verhandeln und den größten Schaden, den die Prophezeiung angerichtet hatte, zu minimieren. Er versuchte es vergeblich. "Zu wem stehst du, Thor?!" Endlich blickte der Donnergott auf und einige Minuten starrte er schweigend in Heimdals bleiches Gesicht. Stumm fragte er sich, wo der Wächter geblieben war, den er seit so langer Zeit schon kannte, den er aufzog und den er so sehr mochte, als sei er sein eigener Sohn, auf den er aufpassen wollte, dessen Glück sein innigster Wunsch war. Seit jenen Worten Odins hatte Thor den anderen Gott nicht mehr lachen, ja, nicht einmal mehr lächeln gesehen. Immer schien er einen höhnischen Kommentar auf den Lippen zu haben und er freute sich sichtlich, seinen einst besten Freunden mit seinen unüberlegten, oder vielleicht sogar sehr wohl überlegten Worten weh zu tun. "Für wen entscheidest du dich?!" "Für euch beide." Flüsterte Thor schließlich und kämpfte hart gegen die Tränen an, die in seinen dunklen Augen brannten. Beide, Thor und Loki, waren seine besten Freunde, ja, vielleicht sogar so etwas wie eine Familie, er konnte keinen von beiden aufgeben. Keinen! Aber Heimdal verstand dies nicht. "Ich habe verstanden." Zischte der Wächter und drehte sich abrupt um, schüttelte Thors Hand ab, die vor schnellte und sein rechtes Handgelenk ergriff, um ihn zurück zu halten. "Wer für Loki ist, ist gegen mich." "Heim, nicht!" Thor konnte den bettelnden Unterton in seiner Stimme nicht unterdrücken, aber Heimdal verließ ohne ein Wort zu sagen seine Gemächer, drehte sich nicht noch einmal um. Thor blickte ihm lange schweigend hinterher, lehnte sich schließlich in sein Kopfkissen und schloss die brennenden Augen. Leise wurde die Tür von der Gestalt eines jungen Mannes geschlossen, dessen rote Augen die Dunkelheit des Tempels nach etwas abzusuchen schienen, oder nach jemandem. Unbemerkt von Thor und Heimdal hatte der Unheilsgott die ganze Zeit über auf dem Gang gestanden und gelauscht. *** "Lass mich in Ruhe!" Heimdal wollte sich die Decke über den Kopf ziehen, aber Thor hielt ihn zurück. Der junge Gott wirkte wild entschlossen und der Wächter verdrehte genervt seine Augen, nur, um im nächsten Moment laut husten zu müssen. Rasselnd holte er Luft und verbarg sein Gesicht in seinen Armen, als ein zweiter Anfall über seinen zitternden Körper herein brach. "Red keinen Unsinn, du bist krank!" Thor ergriff Heimdals Schulter und zwang ihn, sich auf den Rücken zu legen. Dann bedeckte er die schweißnasse Stirn mit einem kühlen, feuchten Tuch, so wie er das schon so oft getan hatte, als Heimdal noch ein ganz kleiner Gott gewesen war. "Bestimmt nicht!" "Oh doch, du hast Fieber. Das kommt davon, wenn man sich auf der Erde betrinkt und dann im Regen in der Gosse liegen bleibt. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht!" "Kann dir doch egal sein." Heimdal hustete erneut und zog sich den kühlen Lappen über die Augen, um nicht länger in Thors zornig funkelnde blicken zu müssen. "Das ist mir überhaupt nicht egal, wenn ich dann hier die Krankenschwester spielen muss!" fauchte Thor, aber es war mehr Besorgnis als Wut, die aus seiner Stimme sprach. "Ihr seid beide manchmal solche Kinder! Loki hustet genauso wie du! Wenn ihr euch schon betrinken müsst, was ja wohl zu eurem Hobby zu werden scheint, macht das gefälligst im warmen Griechenland oder gleich hier in Walhalla. Ich hab nämlich keine Lust, euch jedes Mal in irgendeiner Pfütze aufzusammeln!" "Dann lass es eben bleiben!" Heimdals ganzer Körper spannte sich an, aber ihm fehlte die Kraft wie auch die Stimme, um Thor anzubrüllen. Seine ohnehin schon vom Fieber geröteten Wangen färbten sich vor Zorn noch dunkler. "Nein, das kann ich eben nicht! Weil ihr beide meine Freunde seid." Erwiderte Thor und entkorkte die Phiole, um an ihr zu riechen. Urd hatte sie ihm gegeben und er hoffte, dass sie sich nicht in den Zutaten geirrt hatte. Diverse Nebenwirkungen konnten für die Götter zwar nicht tödlich, aber äußerst unangenehm sein. "Du kannst nicht der Freund dieses Idioten sein und zugleich auch meiner!" argumentierte Heimdal und protestierte, als Thor unter seine Schultern griff und ihn vorsichtig zu sich empor zog. "Und ob ich das kann!" Thor brachte die Phiole an Heimdals Mund und zwang ihn, die Hälfte zu trinken. Die andere Hälfte war für Loki bestimmt. "Nein..." brachte Heimdal trotzig hervor, aber seine Lider wurden immer schwerer, die Medizin schien zu wirken. "Noch ein Wort und ich hol Loki hierher und halte euch beiden die Standpauke eurer Existenz!" sprach Thor drohend, aber sein Gesichtsausdruck wurde sanft, als er spürte, dass der Wächter eingeschlafen war. Er deckte den jungen Gott zu und blieb noch eine ganze Weile an seiner Bettstatt sitzen, streichelte sanft durch violette Haare und wünschte sich, dass sie nie von der Prophezeiung gehört hätten, dass noch alles so wäre wie früher. Schließlich erhob er sich mit einem Seufzen und beschloss, seinen anderen Patienten zu versorgen. Leise verschloss er die Tür hinter sich, bemerkte nicht den jungen Mann, der nahe des Fensters stand und schweigend auf die schlafende Gestalt im Bett herab blickte. *** "Woher hab ich das nur gewusst? Woher hab ich nur gewusst, dass so etwas passieren würde?" Thor schüttelte seinen Kopf und lief aufgeregt in Lokis Schlafgemach auf und ab. Dabei fuhr er sich immer wieder durch die hellbraunen Haare und rieb sich die müden Augen, so als könnte er aus diesem Alptraum erwachen. "Das ist eine Katastrophe! Du weißt genau, dass das nicht sein kann!" "Ist mir egal!" Loki, den Thor als halbwegs vernünftig eingeschätzt hatte, verschränkte abwehrend seine Arme vor seiner Brust. Er wirkte auf den Donnergott wie ein kleines Kind. "Du weißt, was Odin von Fenrir und Midgar hält, er wird davon absolut nicht begeistert sein!" Thor deutete zu der Wiege hinüber, die nahe der Tür stand, bevor er seinen Weg fortsetzte und um das Bett des Unheilsgottes tigerte. Loki selbst saß auf einem Kissen und ließ die Beine baumeln. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde sich davon nicht abbringen lassen. "Ich werde sie nicht verstoßen!" "Aber Odin..." "Es ist mir egal, was der Alte davon hält!" "Du bringst sie damit aber in Gefahr!" "Besser in Gefahr als immer allein." Diese Worte ließen Thor aufhorchen. Er drehte sich zu einem ungewöhnlich bleichem Loki um und runzelte die Stirn. "Kann sie nicht bei ihrer Mutter bleiben?" fragte er argwöhnisch und wusste die Antwort, noch bevor der Unheilsgott sie aussprach, als er einen verletzten Ausdruck in dunkelgrünen Augen sah. Einen unendlich traurigen. "Sie ist bei ihrer Geburt gestorben." "Das tut mir leid." "Mir auch." Thor seufzte erneut und ließ sich schließlich in einer resignierenden Geste neben Loki auf das Bett nieder. Keiner von beiden sah die zwei Gestalten, die durch die Tür schlichen und sich auf Zehenspitzen der Wiege näherten. "Also wird sie hier bleiben." Schloss der Donnergott. "Ja, Onkel Thor." Ein wehmütiges Grinsen trat auf Lokis Gesicht und er neigte leicht seinen Kopf, um besser zu dem Gott des Donners, der ihn nie im Stich gelassen hatte, hinab schauen zu können, der neben ihm auf der Matratze lag und aussah, als würde er nie die Kraft aufbringen, sich wieder zu erheben. Thor war da gewesen, als Loki sich dazu entschloss, Migar und Fenrir aufzunehmen, gegen Odins Willen. Noch stand nicht fest, ob er seine beiden Söhne, wie er sie nannte, behalten durfte, aber der Donnergott stand auf seiner Seite, spielte sogar mit dem Höllenhund und der Weltenschlange Ball. Genauso wie Heimdal. Loki würde es nie verstehen, genauso wenig wie Thor, der sich trotz dessen finstere Blicke um Heimdal kümmerte, warum der Wächter ständig in Lokis Gemächern auftauchte. Meist endeten diese Besuche in wilden Schimpftiraden und Kämpfen, deren böses Ende Thor immer gerade so verhindern konnte. Einmal hatte Loki den Wächter der nordischen Götter in Midgars Zimmer erwischt. Erst hatte der Unheilsgott Heimdal auf der Stelle umbringen wollen, da er glaubte, dass sein Sohn in Gefahr schwebte - bis er den gelben Quietschball in Heimdals Hand sah und das aufgeregte Zischen Midgars hörte, das er immer von sich gab, wenn er den Ball fangen wollte. "Onkel Thor, hm? Ob ich dem gewachsen bin?" "Du hast Heim und mich großgezogen, du schaffst alles." Beide grinsten sich an und Thor fühlte sich an jene Tage erinnert, da sie wirklich noch die besten Freunde gewesen waren, jung, frei und unbeschwert. "Wer ist das?" Die kalte Stimme ließ sie beide zusammenfahren und gehetzt blickten sie auf, nur, um Heimdal neben der Wiege stehen zu sehen. Er hielt ein helles Bündel in seinen Armen und Loki fragte sich mit klopfendem Herzen, als er vom Bett auffuhr und seiner Tochter zur Hilfe eilte, warum Hel nicht geschrieen hatte, so wie sie es sonst immer tat, wenn sich Fremde ihrer Schlaffstatt näherten. Die Gestalt eines jungen Mannes stand hinter Heimdal und lächelte amüsiert, als Loki und Thor ihre Augen aufrissen, da kleine Hände vertrauensvoll nach violetten Strähnen griffen und Heimdal leise zu kichern begann. *** Die Gestalt des jungen Mannes sah zu den zwei jungen Göttern hinüber. Loki ließ soeben seine Sense sinken und starrte Heimdal, ebenfalls in Kampfpose, entgeistert an. Dunkelgrüne Augen weiteten sich in erbarmungsloser Erkenntnis und im nächsten Moment drehte er sich um und lief zurück zu Walhalla. "Hel!" "Hey! Was soll das! Feige weglaufen!" schrie Heimdal, aber der andere Gott reagierte nicht. Sein heller Mantel wehte hinter ihm her und schon war er im Inneren des Palastes verschwunden. "Na warte!" knurrte Heimdal und folgte ihm. "Es ist genug." Flüsterte die Gestalt des jungen Mannes und wandte sich ab. Von allen Ereignissen, von allen Erinnerungen war dies die einzige, die er nie mehr mit ansehen wollte. Jener Tag, an dem Odin Hels Existenz entdeckte - und in demselben Atemzug auslöschte. "Es reicht, ich will nicht mehr!" Der junge Mann ließ seinen Kopf hängen und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Fest schloss er sein Auge und ballte seine Hände zu Fäusten. Er hatte davon gehört, dass das Leben an einem vorbei zog, wenn man starb, aber allmählich fand er diese Show lächerlich. Er war ein Gott, er hatte mehrere Jahrtausende existiert, so schnell würden diese Bilder nicht abbrechen. Bilder, die er nicht mehr sehen konnte, nicht mehr sehen wollte. Alle haben gesagt, Niflheim wäre die Hölle. Sie hatten Unrecht. Es ist viel schlimmer! Der junge Mann holte zitternd Luft und öffnete sein Auge. Der Garten Walhallas war verschwunden, statt dessen umgab ihn gleißendes Licht. Für einen Augenblick sah er sich hoffnungsfroh um, nur, um enttäuscht zu erkennen, dass es sich dabei nicht um Odin handelte. Der mächtigste aller Götter war nicht gekommen, um ihn zu sich, um ihn zurück nach Hause zu holen. Was hattest du auch erwartet? Du hast versagt! Der junge Mann musterte seine erwachsene Gestalt, wunderte sich, warum er sie ausgerechnet jetzt wiedererlangte. War er nicht als Kind in Niflheim eingefahren? Würde er nicht als Kind in der Ewigkeit wandeln, da dies der Körper war, in dem er starb? Kann ein Gott so einfach sterben? Die Frage stellte er sich nun schon seit einer halben Ewigkeit, seit jenem Moment, da er sein Auge aufschlug und die Erinnerungen erbarmungslos über ihn herein brachen. Zuerst hatte er ja wirklich geglaubt, dass es an Lokis Verrat lag, daran, dass ihm seine Lebensenergie durch das Fehlen seines Auges und damit das Fehlen seiner göttlichen Macht ausgesaugt wurde. Aber andererseits, war es wirklich so einfach, einen Gott umzubringen? Loki war damals freiwillig in den Zug gestiegen und mit der Illusion seiner Tochter in das Totenreich gefahren, ohne seine Zustimmung wäre dies nie geschehen. Oder bin ich gar nicht tot? Der junge Mann schritt dem gleißenden Licht entgegen, aber keine weiteren Erinnerungen überfielen ihn, worüber er dankbar war. Die nächsten Bilder hätten Lokis Trauer, Hels Beerdigung und den Diebstahl seines Auges beinhaltet, er verzichtete gern auf eine Wiederholung der Ereignisse. "Beeilen Sie sich, wir haben kaum noch Zeit, sonst verlieren wir beide." Plötzlich erfüllte die Stimme seine Welt und er drehte sich einmal um sich selbst, konnte aber den Verursacher der Worte nicht ausfindig machen. "Dann..." Dies sprach jemand anderes aus. Die Stimme, die dem jungen Mann seltsam bekannt vorkam, die er jedoch nicht zuordnen konnte, klang traurig, resignierend, unendlich müde. Undurchdringbare Stille beherrschte die Helligkeit, ihr folgte ein tiefes Luftholen. "... rettet meine Frau." Der junge Mann fuhr erschrocken zusammen, als lautes Schreien sein ganzes Sein erfüllte. Wütendes, protestierendes Schreien. Das Schreien eines Kleinkindes. Was geschieht hier? Das ist keine Erinnerung. Der junge Mann riss überrascht sein Auge auf, als er den Schatten sah, der sich gegen das gleißende Licht abhob, langsam auf ihn zutrat. Es handelte sich dabei unverkennbar um eine junge Frau, die ein helles Gewand trug. Ihr Gesicht wurde von einem weißen Schleier bedeckt und obwohl er ihre Augen nicht sehen konnte, fühlte sich der junge Mann sofort in ihrer Gegenwart sicher. Instinktiv wusste er, dass sie ihm nichts antun würde. Was antun? Du bist doch schon tot! Er ignorierte seine innere Stimme, die ihn höhnisch auslachte, und trat zögernd auf die junge Frau zu. "Wer seid Ihr?" fragte er leise und verbeugte sich leicht vor ihr, weil es sich richtig anfühlte. Er selbst hätte sich niemals vor jemand anderen derartig erniedrigt, nicht vor seinen angeblichen Feinden, ja nicht einmal vor Odin höchstpersönlich, aber er wusste plötzlich, dass sie seine Ehrerbietung verdiente. "Wo bin ich?" "Das weißt du, Heimdal." Erklärte sie mit ruhiger Stimme, die seine Seele zu streicheln schien. Er zog seine Stirn in Falten bis ihm bewusst wurde, dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte. "Bin ich in Niflheim?" wagte Heimdal endlich, die nagende Frage auszusprechen. "Bin ich tot?" "Ja und nein." Antwortete sie ihm mysteriös und obwohl ihr Gesicht verborgen war, konnte er ihr sanftes Lächeln spüren, fühlte, dass alles gut werden könnte, wenn er nur an sie glaubte, ihr blind vertraute. "Was ist geschehen?" "Sehr vieles." Sie hob ihre rechte Hand und streichelte behutsam über seine vernarbte Wange. "Und es liegt an dir, dich zu entscheiden." "Mich zu entscheiden?" Er verstand sie nicht, wollte es aber so gern, wollte, dass sie ihn wieder anlächelte und nicht länger so unendlich traurig klang. "Ja, Heimdal." Weiche Hände strichen über Heimdals freie Arme und Gänsehaut überzog sofort seinen Körper. "Du bist selbst für dein Schicksal verantwortlich - und für das ihrige." "Das ihrige?" Heimdal stolperte einige Schritte erschrocken zurück, als plötzlich ein Gewicht in seine Arme gedrückt wurde. Er erblasste, als er an sich herab blickte und ein Baby in ein helles Tuch dort eingewickelt liegen sah. Die gequälten Schreie erstarben in seinen Gedanken, wurden von amüsiertem Glucksen ersetzt. "Großes Unrecht ist geschehen." Fuhr die geheimnisvolle Frau fort und lehnte sich leicht vor, um über rot glänzende Wangen zu streicheln. Das Baby lächelte in seinem Schlaf, erwachte jedoch nicht. Es wirkte in Heimdals erwachsenen Armen winzig und er wusste nicht, was er mit den Kind tun sollte, er konnte weder windeln noch kannte er sich mit Milchflaschen und Babybrei aus. "Das mag schon sein, aber ich hab keine Ahnung von Babys." Unterbrach er sie, konnte die Panik in seiner Stimme nicht unterdrücken. "Was soll ich mit ihr?" "Dafür sorgen, dass sich dieses Unheil nicht noch einmal wiederholt." Die junge Frau weinte nun, Tränen benetzten das weiße Tuch vor ihrem Gesicht. "Und nun geh, Heimdal. Geh und werde glücklich." "Wohin?" Heimdal fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dass ihm jemand Glück wünschte. Das hatte er doch nie gehabt. "Wohin?" "Das wirst du schon sehen." Die Frau trat einige Schritte zurück und als Heimdal ihr folgen wollte, stieß er gegen eine unsichtbare Wand. Das Baby verzog unruhig sein Gesicht, so als würde es gleich aufwachen und zu schreien beginnen, und so tat er das einzige, was ihm einfiel: Er wiegte es sanft in seinen Armen und sang ein altes Schlaflied, das er seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr gesungen hatte. Seit Loki seine kleine Tochter nach Walhalla gebracht und Thor und Heimdal des öfteren den Babysitter gespielt hatten. Der Blitzableiter hat immer gewickelt und gefüttert, ich durfte dafür singen und schaukeln. Heimdal stockte mitten in der Strophe, als ihn ein Gedanke durchzuckte. Hel? Gehetzt blickte er auf, konnte die Gestalt der jungen Frau aber nirgendwo mehr sehen. Sie war fort. Fest hielt er das Baby in seinen Armen, fest und schützend, als das Licht immer heller wurde und sie schließlich verschlang. Hel? Bist du das? *** "Nimm mich mit!" Der Welpe sprang mit einem Satz auf das Sofa und blickte bettelnd in dunkle Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Dunkle Ringe zogen sich über die bleiche Haut und der junge Mann schüttelte langsam seinen Kopf, als würde ihm diese Bewegung viel Kraft kosten. Thor? Heimdal blinzelte überrascht, als sich das gleißende Licht auflöste und er sich in Lokis Wohnzimmer wiederfand. Irgendwie verwunderte ihn der Ort nicht, war er doch in diesem Haus das letzte Mal auf der Erde gewesen. Dennoch hatte er nicht mit dem Donnergott gerechnet, der nicht länger wie ein siebzehnjähriger Mensch wirkte, sondern seine ausgewachsene Göttergestalt zurückerhalten hatte. "Nein, Fenrir, das geht nicht und du weißt das auch." Thor streichelte sanft durch schwarzes Fell und unterdrückte ein Gähnen. Er sah aus, als hätte er die letzten Tage nicht richtig oder gar nicht geschlafen. "Aber wenn du mich reinschmuggelst..." "Nein, Hunde sind im Krankenhaus verboten, außerdem ist das Infektionsrisiko noch zu hoch." Thor schüttelte energisch seinen Kopf und schloss den kleinen Welpen in seine Arme, als dieser auf seinen Schoß krabbelte und seine Schnauze in Thors schwarzem T-Shirt verbarg. "Tut mir leid, Kleiner." Heimdal brachte das schlafende Baby in seinen Armen in eine bequemere Position und trat hinüber zu dem Sofa. Instinktiv wusste er, dass weder Thor noch der Höllenhund ihn sehen konnten. Verwirrt betrachtete der Wächter das seltsame Bild, das sich ihm bot. Thor tröstete tatsächlich Lokis ältesten Sohn - und dieser ließ das auch noch zu! Krankenhaus? Liegt Loki im Krankenhaus? Ist Fenrir deswegen so traurig? Tja, geschieht ihm Recht mit seinem großen Vaterkomplex! Dennoch verwunderte es Heimdal zu hören, dass Loki die ärztliche Hilfe der Menschen benötigte und dass Fenrir darüber so deprimiert war, dass er sich in Thors Arme kuschelte, wobei der Donnergott ebenfalls sehr niedergeschlagen wirkte. Steht es so ernst um Loki? Heimdal hätte darüber fröhlich sein sollen, dass es seinem ärgsten Feind so schlecht ging, besonders nach der Hölle, die er in Nilfheim durchwandert hatte, dennoch konnte er keine Freude empfinden. Nicht, wenn Thor so niedergeschlagen drein schaute. "Ich bleib auch hier, okay, Nii-chan?" Die Tür öffnete sich und Midgar kam herein. Er trug einen kleinen Eimer in der rechten und einen Putzlappen in der linken Hand. Offensichtlich war er zu seinem Frühjahrsputz übergegangen, würde höchstwahrscheinlich eine neue Errungenschaft, die er über das Telefon unter Benutzung der Kreditkarte seines Vaters bestellt hatte, zum Putzen der Fenster ausprobieren. "Ich will aber nicht hier bleiben! Ich will auch einen Krankenbesuch machen! Ich will nicht tatenlos hier rumsitzen!" Heimdal blinzelte erstaunt, als er wirkliche Tränen in schwarzen Hundeaugen sah. "Du könntest doch eh nichts ausrichten." Thors Stimme klang resignierend, als er den Welpen sanft von seinem Schoß schob und sich erhob. "Ich ruf euch an, sobald ich etwas Neues weiß, okay?" Der Donnergott straffte sein schwarzes T-Shirt und Heimdal fragte sich, ob Loki es nun auch geschafft hatte, ihn mit seiner Macke für dunkle Kleidung anzustecken. Thor trug außerdem eine schwarze Jeans und ergriff eine dunkle Jacke, die über der Sofalehne hing. Mit mechanischen Bewegungen, als leide er unter körperlichen Schmerzen, streifte er sie sich über und fuhr sich durch die strubbeligen Haare. Er ist wirklich wie Loki geworden. Verräter! Heimdal sah kurz über seine Schulter zurück und sah mit Schaudern, wie Fenrir offen zu weinen begann und nun Schutz in der Umarmung seines Bruders fand. Der Eimer stand vergessen auf dem Tisch, der Putzlappen schwamm ungeachtet in dem rasch erkaltendem Schaumwasser. Tränen rannen auch über Midgars blasses Gesicht. Was ist hier geschehen? Heimdal schüttelte sich leicht, dann folgte er Thor. Der Donnergott schlüpfte soeben in seine dunklen Turnschuh und seufzte unterdrückt, als das Telefon zu läuten begann. Heimdal runzelte seine Stirn, als er sah, wie der junge Mann zögerte und schließlich seine rechte Hand ausstreckte, die sichtbar zitterte. Es schien ihn unglaubliche Überwindung zu kosten, den Hörer abzunehmen und an sein Ohr zu pressen. "Moshi moshi, Enzyaku Detektei, wie kann ich Ihnen helfen?" sprach er im professionellen Ton, aber mit bebender Stimme, so als habe er diesen Satz schon tausend Mal gesagt und leierte ihn daher aus seinem Gedächtnis, ohne groß darüber nachzudenken. "Ach, du bist's, Hashitzou-kun." Thor stieß die angehaltene Luft aus und seine angespannten Schultern sackten nach unten. Erneut strich er sich in einer nervösen Geste durch die Haare und schloss für einen Augenblick die müden Augen. "Nein, ich werd diese Woche wohl nicht zu den Vorlesungen kommen... hai... das wäre nett, wenn du mitschreiben... hai..." Thor drehte sich um und Heimdal, der hinter ihm stand, tat es ihm gleich. Im Türrahmen zum Wohnzimmer stand Midgar mit Fenrir auf seinem Arm. Beide sahen sie sehr ängstlich aus und nickten erleichtert, als Thor seinen Kopf schüttelte und stumm den Namen des Anrufers formte. Was ist hier los? Heimdal verstand nur Bahnhof. Wer war Hashitzou? Warum sollte er für Thor Vorlesungen mitschreiben? Welche Vorlesungen? Ging der Donnergott etwa zur Universität? Wie konnte es der Gott mit seinen schlechten Noten nur auf eine Universität geschafft haben? Und warum besuchte er überhaupt eine menschliche Bildungseinrichtung, die er als Gott doch überhaupt nicht nötig hatte? "... um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, ob ich dieses Semester überhaupt noch einmal auftauchen werden." Dieses Semester? Heimdal beschlich eine üble Vorahnung und er hielt das Baby in seinen Armen ein wenig fester, als er näher an den erschöpften Donnergott herantrat, der sich gegen die Kommode lehnte und hilflos seine Schultern zuckte, obwohl Hashitzou - wer auch immer er war - ihn gar nicht sehen konnte. Dieses Semester? Wie lange bin ich denn in Niflheim gewesen? Heimdal wusste, dass Thor in die Oberstufe, in dieselbe Klasse wie Mayura gegangen war. Zwischen der Oberstufe und der Universität konnten im ungünstigsten Fall schon ein paar Jahre liegen. Jahre? Der Wächter blickte sich erschrocken um, konnte in dem Flur jedoch keine besonderen Veränderungen sehen. Die Möbel standen noch genauso wie er in jener Nacht gegen sie gestoßen war im wilden Versuch, Loki mit einem Küchenmesser zu erstechen. Thor ist nicht intelligent genug, um zwei Klassenstufen zu überspringen. Heimdal grübelte noch immer über das japanische Bildungssystem und warum Thor eventuell während seiner Schulzeit die Universität besuchen könnte - vielleicht als Vorbereitungskurs oder ähnliches - wurde jedoch aus seinen Gedanken gerissen, als er die nächsten Worte des Donnergottes hörte. "Ich kann's nicht ändern, Hashitzou-kun. Gomen ne, du musst die Prüfung ohne mich machen, ich werde wohl ein Urlaubssemester einlegen. Nein, das ist mein Ernst, meine Familie ist mir im Moment wichtiger. Hai... arigatou... man hört sich..." Thor legte den Hörer auf die Gabel und straffte seine Schultern, so als müsse er sich eines unsichtbaren Gegners erwehren. Dann schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und trat hinaus in das Sonnenlicht eines lauen Frühlingstages. Trotz der warmen Sonnenstrahlen schien der Donnergott zu frieren, seine Schritte waren langsam und vorsichtig, so als würde er auf Scherben laufen, als er die Straße entlang lief. Heimdal korrigierte erneut das schlafende Baby in seinen Armen und folgte ihm neugierig und verwirrt. Familie? Wen hat Thor als Familie bezeichnet? Loki etwa? *** Viel schien sich in Tokio nicht verändert zu haben, seit Heimdal das letzte Mal hier gewesen war. Einige neue Straßenbahnen fuhren durch die Innenstadt und die Werbeplakate warben mit Produkten, die der Wächter nicht kannte, aber er bildete sich nicht viel darauf ein. Er hatte immer von denselben Instantprodukten gelebt und war selten in die Innenstadt gegangen, da ihn dort nur ständig Leute ansprachen und fragten, ob er denn seine Mutti verloren hätte. Ja, es war nervig in dem Kinderkörper gewesen, umso dankbarer war Heimdal, endlich wieder seine normale Körpergröße zurückbekommen zu haben. Er wusste nicht, welchen Umstand er dies verdankte, aber selbst wenn ihn im Moment niemand anderes sah als das Baby in seinen Armen, das aufgewacht war und ihn aufmerksam mit ihren dunkelgrünen Augen anstarrte, sehen konnte, so war er froh darüber. Sehr froh. Denn als Kind hätte er das Kleinkind nicht tragen können. Es war auch so schon schwierig genug. Hoffentlich schreit sie jetzt nicht. Heimdal riskierte einen kurzen Blick in seine Arme, aber das Mädchen schien zufrieden mit ihm zu sein, blickte neugierig in die ihm noch unbekannte Welt. Nein, viel schien sich nicht verändert zu haben, oder Heimdal wären die Veränderungen nie aufgefallen, selbst dann nicht, wenn er niemals in Niflheim gewesen wäre. Thor ging an mehreren Zeitungsläden vorbei und Heimdal war versucht, sich einfach eine aktuelle Zeitung zu stehlen, ließ es dann aber bleiben in der Angst, den Donnergott aus den Augen zu verlieren. Er wusste nicht, wo sich das Krankenhaus befand und konnte niemanden nach dem Weg fragen. Also blieb er Thor dicht auf den Fersen und vertraute darauf, dass ihm schon jemand verraten würden, welches Datum man heute schrieb. Vielleicht war ich gar nicht so lange weg. Vielleicht nur wenige Tage. Heimdal blickte zu den Kirschbäumen hinüber, als Thor an einem kleinen Park vorbei lief. Sie standen in voller Blüte und ihre weißen Blätter wehten durch die Luft wie warmer Schnee. Die Natur sah noch genauso aus wie an Mayuras Geburtstagsfeier. Vielleicht ist auch nur eine Woche vergangen? Heimdal sah, wie das Baby in seinen Armen die hellen Flocken aufmerksam beobachtete, und wiegte sie willkürlich, was ihm mit einem glücklichen Glucksen belohnt wurde. Vermutlich hatte Thor ein Praktikum an der Universität oder besuchte dort eine Vorlesung zu dem Thema >Wie verdiene ich mit möglichst wenig Jobs möglichst viel Geld< und hatte Heimdal nichts davon erzählt. Immerhin war sehr viel in dem Jahr vorgefallen, das sie auf der Erde verbracht hatten. Thor hatte es wohl nicht für wichtig erachtet, Heimdal von seinen Abendkursen zu berichten, oder er hatte es schlicht und ergreifend vergessen. Und das Krankenhaus? Heimdal setzte sich in Bewegung, als er Thor beinahe an einer grünen Ampel verlor und versuchte, logische Erklärungen für seine skeptische innere Stimme zu finden. Vermutlich lag Loki im Krankenhaus, weil er mit seinem Messer doch erfolgreicher gewesen war, als er das angenommen hatte. Der Wächter hatte zwar nicht mehr deutlich sehen können, aber vielleicht hatte er doch getroffen und nun lag Loki sicherheitshalber im Krankenhaus, schließlich steckte er noch in einem Kinderkörper. Ha! Jetzt bin ich wieder erwachsen und er muss leiden! Bestimmt hatte Mayura es für sicherer erachtet, dass der Unheilsgott ärztliche Hilfe erhielt, selbst wenn es sich nur um eine Schnittverletzung handelte, und Fenrir und Midgar übertrieben maßlos. Beide besaßen sie immerhin den größten Vaterkomplex, den Heimdal je gesehen hatte, da war es wohl ganz natürlich, dass sie ausflippten, sobald ihr Vater verletzt war, egal, wie klein die Wunde auch ausfiel. Und Thors äußere Erscheinung? Heimdal musterte den nun erwachsenen Gott und zuckte gleichgültig seine Schultern. Vermutlich besaß der Donnergott noch ein wenig seiner göttlichen Macht und hatte irgendwann die Nase voll gehabt, als siebzehnjähriger Junge durch die Welt zu marschieren. Vielleicht legte er diese äußere Erscheinung nur an den Tag, wenn er zu seiner Businessvorlesung zur Universität musste, um dort nicht all zu sehr aufzufallen. Und seine dunkle Kleidung? Ein Modetick, entschied Heimdal. Thor hatte sicherlich der dunkle Samuraianzug von Mayuras Geburtstagsfeier sehr gut gefallen und deshalb trug er nun auch schwarze Kleidung. Oder aber, er wollte Loki imponieren. Oder es ist seine Art, Loki Loyalität zu zeigen. Heimdal verzog sein Auge zu einem Schlitz und folgte dem jungen Mann in einen kleinen Laden, der überhaupt nicht so aussah, wie sich der Wächter ein Krankenhaus vorgestellt hatte. Rasch erkannte Heimdal seinen Fehler, als er all die vielen Blumen sah, die in Eimern auf dem Fliesfußboden standen. Ein Blumenladen? "Ein Strauß von denen da." Thor erwiderte müde das Lächeln der freundlichen Floristin und zeigte auf einen Topf mit besonders grellen Blumen. "Nelken?" fragte die junge Frau und hielt dem Donnergott einige Blumen entgegen, um ihm die Frische zu zeigen und eventuelle Einwände abzuwarten. "Hai." Thor nickte und Heimdal bemerkte erneut den leicht japanischen Akzent, den er zuvor noch nie bei dem jungen Gott gehört hatte. "Siebenundzwanzig Stück, bitte." "So viele?" "Hai." Heimdal kauft Blumen für Loki? Der Wächter grollte drohend und stakste empört zu dem Schalter hinüber, wo die junge Frau fachmännisch die Blumen zurecht schnitt und zu einem großen Strauß zusammen zu legen begann. Das geht nun wirklich zu weit! "Das muss aber wirklich ein ganz besonderer Mensch sein, der einen so schönen Strauß erhält." "Er ist ein Verräter!" spie Heimdal, aber keiner hörte ihn, nur das Baby gab einen gequälten Laut von sich und er schaukelte es behutsam in seinen Armen, wisperte sinnlose Worte, um es wieder zu beruhigen. Nein, er sollte in der Gegenwart des Kleinkindes nicht schreien, wollte er nicht selbst angebrüllt werden, das kannte er noch von Hel. Hel... Warum hat mir die junge Frau das Kind anvertraut, was soll ich damit? Warum bin ich hier? Wieso lauf ich hinter Thor her, der für Loki Blumen kauft, wo er sich nie einen Dreck drum gekümmert hat, wie es mir ging, ob mich die Anfälle quälten und ob ich Schmerzen wegen meines fehlenden Auges hatte. Nie hat er danach gefragt, und nun folge ich ihm durch halb Tokio, obwohl er mich nicht einmal sehen kann! Was mach ich überhaupt hier?! >Dafür sorgen, dass sich dieses Unheil nicht noch einmal wiederholt.< hörte er wieder die sanfte Stimme der mysteriösen Frau in seinen Gedanken und seufzte ergeben. Was immer ihre verworrenen Worte auch bedeuteten, ihm blieb nichts anderes übrig, als mit einem Baby im Schlepptau durch Tokio zu wandeln, um das große Unheil überhaupt erst einmal ausfindig zu machen. Die Alternative, die ihm blieb, war, nach Niflheim zurück zu kehren. Heimdal hütete lieber für den Rest seiner Existenz das Baby in seinen Armen und schlich hinter nordischen Göttern her, als noch einmal in diese Hölle hinab zu steigen, wo ihn Erinnerungen und Alpträume quälten, denen er nicht entrinnen konnte. "Ja, sie ist etwas ganz Besonderes." Thor biss sich auf die Unterlippe und drehte sich von der jungen Floristin weg, scheinbar interessiert die Rosen betrachtend. Heimdal sah jedoch, dass er mit den Tränen kämpfte. Thor weint? Heimdal tänzelte um den Donnergott herum und schwenkte zugleich rhythmisch seine Arme, um das Baby wieder zum Einschlafen zu bewegen. Er hoffte, dass das Kleinkind keinen Hunger bekam, er wusste nicht, was noch wie er es füttern sollte. Und wer ist sie? Ist es nicht Loki, den er im Krankenhaus besuchen will? Warum spricht er dann von einer sie? Oder hat Thor etwa eine Freundin? Der Wächter konnte dies nicht so recht glauben. Thor war in der Lage, Vorlesungen an der Universität oder einen neuen Nebenjob nicht zu erwähnen, weil er es für nicht wichtig hielt, aber er hätte Heimdal bestimmt erzählt, wenn er eine Freundin gehabt hätte! Hoffentlich ist es nicht wieder so eine Schaufensterpuppe. Heimdal grinste höhnisch, aber sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Horrors, als tatsächlich zwei Tränen über Thors bleiche Wangen rannen und der junge Gott offensichtlich nach Fassung rang. "Soll ich eine bestimmte Karte hinzufügen?" fragte die Floristin und band den Strauß schließlich zusammen, da sie mit der Anordnung der Blumen zufrieden war. "Gute Besserung, wir gehen schließlich in ein Krankenhaus." Erwiderte Heimdal zynisch, ärgerte sich, das sie ihn nicht hören konnte. Ihr freundliches Lächeln ging ihm auf die Nerven. Genauso wie Thors zittriges Luftholen und die raschen Bewegungen über seine Wangen, als könnte er damit die Spuren der Tränen fortwischen. Jeder wird sehen, dass du wie ein Kleinkind heulst. "Es... es ist ihr Geburtstag." "Also >Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag<. Da wird sich ihre Angebetete bestimmt freuen." Lächelte die Floristin und suchte unter dem Tisch nach einer entsprechenden Karte, die sie an den Strauß hängte. Thor erwiderte nichts, stand einfach nur da und rang nach seiner Fassung, die er schon vor Tagen verloren zu haben schien, so müde und verwahrlost wie er aussah! Geburtstag? Wir gehen aber trotzdem in ein Krankenhaus, oder? Loki feiert keinen Geburtstag, er feiert Göttertag - und der findet nur aller paar Jahrhunderte statt. Was soll das? Heimdal hob erstaunt seine Augenbrauen, als Thor schließlich seine Geldbörse zog und einen besonders großen Geldschein hervorkramte. Seit wann hat unsere Kirchenmaus denn Geld? "In Folie oder Papier?" "Papier, bitte." Die junge Floristin nickte und reichte ihm den eingewickelten Strauß, um den Schein entgegen zu nehmen. Der Strauß kostete eine erhebliche Stange Geld, deshalb wunderte sich Heimdal umso mehr, als Thor das Wechselgeld ablehnte, der jungen Frau brüchig einen schönen Tag wünschte und den kleinen Blumenladen wieder verließ. "Domo arigatou." Die Floristin verbeugte sich und wünschte ihm ebenfalls einen schönen Tag. Thor nickte nur und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Heimdal schlüpfte rasch durch den Spalt und fragte sich entgeistert, welche Wunder ihm heute noch begegnen würden. Thor hatte nicht nur extrem viel Geld ausgegeben, sondern der Floristin das höchste Trinkgeld spendiert, das Heimdal jemals gesehen hatte. Ist er es vielleicht, der krank ist? Geistig krank? Der Wächter schunkelte das Baby in seinen Armen, das nicht schlafen wollte, aber glücklicherweise schweigend seine Umwelt musterte und folgte erneut dem Donnergott und dem großen Blumenstrauß ergeben. *** Thor lief langsam durch die belebten Straßen Tokios, bemerkte die Passanten um ihn herum nicht, auch nicht die Ampel, als er einfach bei Rot über die Straße ging. Heimdal schrie entsetzt auf, konnte ihm jedoch nicht helfen. Er sah bereits die Katastrophe auf sie zurasen, aber der Fahrer des Wagen reagierte geistesgegenwärtig, um dem blind vor sich hinstarrenden Gott auszuweichen - und, um energisch auf die Hupe zu drücken. Thor zuckte bei dem durchdringenden Geräusch ein wenig zusammen, fasste dann aber stärker nach dem Blumenstrauß und setzte unbeirrt seinen Weg fort. Wenigstens schien der Donnergott genau zu wissen, wo er hinwollte, auch wenn er nicht zu bemerken schien, wo er sich gegenwärtig befand. So hab ich ihn noch nie erlebt. Heimdal schaukelte das kleine Mädchen, das erschrocken zu schreien begonnen hatte, sanft in seinen Armen, beruhigte nicht nur sie mit leise gesprochenen Nichtigkeiten. Entsetzt starrte er auf die Straße zurück, wo Thor nur knapp einem Unfall entronnen war, und lief dann rasch hinter dem Gott her, der beinahe gegen eine Plakatwand knallte. Der junge Mann schien in Gedanken überall zu sein, nur nicht in der Welt, die ihn umgab. Liegt es an seiner Freundin? Dennoch glaubte Heimdal nicht recht daran, dass Thors Unachtsamkeit von seiner Verliebtheit herrührte. Verliebte schwebten dämlich grinsend auf einer rosaroten Wolke, der Donnergott wirkte jedoch alles andere als verliebt oder gar glücklich. Auf Heimdal machte er den Eindruck, als wäre er soeben verlassen worden, oder als habe er jemanden sehr Wichtiges verloren. Durch höhere Mächte. Durch den Tod. Ist jemand gestorben? Nein, Loki kann nicht gestorben sein, dann hätte ich ihn sicherlich in Niflheim getroffen. Ich hätte ihn mit mir auf diese verdammte Reise durch diese verfluchten Erinnerungen gezerrt, bis er eingesehen hätte, was für ein Arsch er gewesen ist! Heimdal seufzte erleichtert, als das Baby sich wieder beruhigte und Thor ein großes Gebäude betrat. Hier würde er wenigstens nicht in ständiger Gefahr schweben, von Autos überfahren zu werden oder gegen Bäume und ähnliches zu laufen. Wenn er hier doch mit einem Tisch zusammen stieß, so gab es hier wenigstens Ärzte, die ihm halfen. Der Wächter betrachtete die weißen, sterilen Wände und musste niesen, als ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase stieg. Sofort fühlte er sich unwohl an diesem Ort, was nicht nur an dem unterdrückten Jammern einiger Menschen lag, an denen Thor mit unveränderter Miene vorbei schritt. Zielsicher, als sei er schon oft diesen Weg gegangen, bog er ab und hielt vor der Rezeption an. Eine Frau mittleren Alters saß dahinter und sie lächelte ihn freundlich an, als sie von ihrem Computer aufsah und ihn erkannte. "Es ist schön, dass Sie kommen." Begrüßte sie ihn und Heimdal lief zu ihr hinüber, um auf den Bildschirm spähen zu können. Leider sagten ihm die Schriftzeichen in dem Programm nichts und er konnte auch kein aktuelles Datum erkennen. Sie kennt ihn? Wie oft kommt Thor in dieses Krankenhaus? "Sie hat bereits den ganzen Morgen auf Besuch gewartet." Bei ihren sanft gesprochenen Worten, hinter denen sich kein Tadel verbarg, nur mütterliche Fürsorge, zuckte Thor heftiger zusammen als beim Erklingen der Autohupe. "Ihr Ehemann war noch nicht da gewesen?" Das Lächeln der netten Frau wurde eine Spur trauriger. "Nein." Sie blickte an Thor hinab und Heimdal sah, wie sie mehrfach ihre Hände öffnete und schloss. "Sind das Blumen?" "Hai, für sie." Thor lächelte so verzweifelt, es wirkte beinahe wie eine Grimasse. "Das ist doch erlaubt, oder? Wegen der Vorschriften..." "Keine Sorge, stellen Sie sie einfach aufs Fensterbrett, dann geht das schon in Ordnung." Die Frau konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sie beugte sich über die Theke und korrigierte den Kragen von Thors Jacke, strich ein paar Falten in dem dunklen T-Shirt glatt. So wie sie das wohl ihr ganzes Leben lang bei ihren Kindern und vermutlich auch Enkeln getan hatte. Dann produzierte sie einen Kamm aus den Taschen ihres weißen Kittels und drückte ihn dem müden Gott in die Hand. "Kämmen Sie sich, Sie sehen ja fürchterlich aus." "Hai." Thor tat wie ihm befohlen und verbeugte sich kurz, um dann zielstrebig den Gang zu seiner Rechten hinab zu gehen. Heimdal staunte erneut über die japanischen Manieren, die sich der Donnergott angewöhnt hatte und fragte sich abermals, ob er wirklich nur eine Woche in Niflheim gelitten hatte oder ob nicht doch mehr Zeit vergangen war. Sehr viel Zeit, in der aus dem nordischen Gott ein Japaner geworden war. "Warten Sie noch ein paar Minuten, der Arzt ist gerade auf Visite bei ihr." Rief die Frau dem nordischen Gott hinterher und widmete sich wieder ihrem Computerprogramm. Thor nickte und setzte sich vor einer Tür am Ende des Ganges auf einen Plaststuhl, der extrem unbequem aussah. Heimdal schaute in glasige Augen, die durch seine Gestalt hindurch auf das Bild an der Wand hinter ihm starrten und es trotzdem nicht wahrnahmen. Was ist hier nur geschehen? Der Wächter stellte sich diese Frage immer und immer wieder, wohl wissend, dass er Geduld aufbringen musste, um Antworten zu erhalten. Geduld, die er nicht hatte, besonders nicht, da das Baby in seinen Armen erneut zu wimmern begann und ihm allmählich die Muskeln einschliefen. "Hast du Hunger?" murmelte Heimdal und blickte sich verzweifelt um, aber er konnte nirgends eine Flasche Milch oder gar ein Gläschen Babybrei sehen. Da durchfuhr ihn ein entsetzlicher Gedanke. "Oder müssen deine Windeln gewechselt werden?" Geschockt hob er das Baby und es kostete ihn alle Überwindung, an der hellen Windel zu riechen. Erleichtert stellte er fest, dass der Unmut der Kleinen nicht von unangenehmer Nässe herführte. Auch knurrte der kleine Magen nicht, Hunger schien sie auch nicht zu haben. Vermutlich ist sie einfach nur angeödet, mit jemandem wie mir rumhängen zu müssen. Heimdal schnitt eine Fratze, woraufhin das Balg doch tatsächlich die Nerven hatte, ihn hell anzulachen. Genauso wie Hel damals... Der Wächter schluckte und fragte sich erneut, wer dieses Kleinkind war und warum es ihm von dieser Frau in seine Obhut gegeben wurde. Wer die Frau gewesen war. Hatte es sich dabei wirklich um Hel gehandelt? Wieso gab die Tochter Lokis ihm dann ein Baby und schickte ihn zurück in die Welt der Lebenden, wo ihn jedoch niemand sehen konnte? Es ergab alles absolut keinen Sinn! Heimdal stöhnte, als ihm der rechte Arm abzufallen drohte, denn auch wenn das Baby nicht viel wog, so konnte es im Laufe der Zeit doch recht schwer werden. Suchend blickte sich der Wächter um und wurde auch fünf Zimmer weiter fündig. Auf einem Wagen lagen ordentlich gestapelt Windeln. Traditionelle Stoffwindeln, die sich Loki immer um den Bauch gebunden hatte, um seine kleine Hel durch seine Gemächer in Walhalla zu tragen. Wie hatte er das noch gemacht? Heimdal legte das Mädchen vorsichtig auf den Wagen zwischen den Windeln ab und stritt einen erbitterten Zweikampf, den die Windel gewann. Verzweifelt fluchte er, was das Baby sehr lustig zu finden schien. Es gluckste fröhlich und Heimdal fragte sich zynisch, ob er nicht den Job als Wächter aufgeben und dafür Clown im Zirkus werden sollte, wenn andere seinen Anblick so amüsant fanden. Die Tür neben ihm wurde geöffnet und eine junge Frau trat heraus. Sie trug ein kleines Baby, kaum größer als Heimdals Schützling, in ebensolch einer Konstruktion um den Bauch, die dem nordischen Gott nicht gelingen wollte. Angeregt unterhielt sie sich mit einer anderen Frau, die im Nachthemd und sichtlich geschwollenem Leib hinter ihr her watschelte. Heimdal kannte sich in den Dingen der menschlichen Biologie nicht besonders gut aus, aber er ahnte, dass die Frau im Nachthemd kurz vor der Niederkunft stand und die erstere ihr Kind vor nicht all zu langer Zeit zur Welt gebracht hatte. Wo bin ich hier? In welches Krankenhaus ist Thor da gegangen? Heimdal sah sich den Babysitz aus der Nähe an und war zum ersten Mal froh, dass er nicht gesehen wurde, sie hätten ihn doch glatt für einen Spanner gehalten. Ja, für einen Spanner, nicht länger für ein Kind, dem man einen Lutscher schenkt! Heimdal grinste höhnisch und endlich gelang es ihm, die Windel richtig zu falten und zu verknoten. Er testete die Belastbarkeit und half dann dem kleinen Mädchen schließlich hinein. Damit trug er sie nun direkt vor seiner Brust, aber das Gewicht war besser verteilt, er hatte seine Hände frei, seine Arme würden nicht absterben und das Baby schien ebenfalls zufrieden zu sein. Vielleicht war ihm ja nur kalt gewesen. Heimdal strich gedankenverloren über den kleinen Rücken und beobachtete, wie das kleine Mädchen herzhaft gähnte und dann seine Augen schloss, um in seiner Nähe einzuschlafen. Sie sieht richtig niedlich aus... Der Wächter schüttelte seinen Kopf und vertrieb die seltsamen Gedanken. Dann stapfte er zurück zu der Empfangsdame, um das Schild zu lesen, das vor dem Gang an einer Glastür prangerte, die offen stand. >Geburtsstation E 5< Heimdal blinzelte, aber die Schrift veränderte sich nicht. Thor saß eindeutig vor einem Krankenzimmer der Geburtsstation eines Krankenhauses in Tokio, was immer das E 5 auch bedeutete. Was will er hier? Hat jemand ein Kind bekommen? Aber wer? Der Wächter umarmte automatisch das Kleinkind vor seiner Brust, als ihm eine grausame Ahnung überkam. Nein, das kann nicht sein! Das... Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich die Tür zu dem besagten Krankenzimmer öffnete und Thor sich sofort erhob. Er wechselte einige Worte mit dem Arzt und verbeugte sich tief, als der Mediziner das nächste Zimmer betrat, um in seiner Visite fortzufahren. Heimdal hatte die Unterhaltung nicht gehört, aber Thor wirkte nicht erleichterter oder gar fröhlicher nach seiner Unterredung mit dem Doktor. Statt dessen fuhr sich der Donnergott nervös durch seine Haare, unbeabsichtigt das Werk des Kammes zugrunde richtend, und betrat schließlich das Zimmer. Heimdal huschte ebenfalls hinein, bevor die Tür leise geschlossen wurde, und gab einen erstickten Laut von sich, als er hinter Thor hervor trat und die Gestalt sah, die in einem viel zu groß wirkenden Bett lag. Oder war es die Gestalt, die zu klein, zu gebrechlich aussah? Mehrere äußerst medizinisch und damit kompliziert wirkende Apparaturen standen um das Bett herum und machten leise Geräusche, die jedoch extrem laut waren in der Stille des Zimmers. Auf einigen Monitoren konnte Heimdal diverse Linien sehen, die ihm jedoch nichts sagen. Die ganze Situation war ihm völlig fremd. Dennoch wusste er sofort, dass die Person nicht ohne Grund in dem Krankenhaus lag und sich Thor nicht ohne Grund ernsthafte Sorgen um sie machte. "Hallo." Flüsterte die junge Frau und rang nach Luft. Allein dieses Wort schien ihr Kraft zu kosten, über die sie nicht verfügte. Mayura? Heimdal blieb wie versteinert inmitten des Raumes stehen, während Thor eine Vase ergriff, die leer auf einem kleinen Beistelltisch stand und diese mit Wasser füllte. Wortlos, als wüsste er nicht, was er am besten sagen könnte, kämpfte er mit dem Papier und neben dem nervigen Piepen der Geräte erfüllte nun peinliches Rascheln den Raum. Bald standen die Blumen auf dem Fensterbrett. Die Vorhänge waren vorgezogen, die Sonne blieb ausgesperrt. Plötzlich wusste Heimdal, warum der Donnergott ausgerechnet so grelle Blumen ausgewählt hatte. Sie brachten ein wenig Farbe in diesen sterilen Raum. Mayura? "Hallo, Kleines." Flüsterte Thor schließlich und zog sich einen Stuhl neben das Bett, auf dem er sich niederließ und sanft ihre reche Hand ergriff. Heimdal fuhr leicht zusammen, als er die vielen Kanülen sah, die die Haut durchgestochen, die vielen Schläuche, durch die meist durchsichtigen Flüssigkeiten in ihre Venen tropften. Kleines? Thor hat Mayura Kleines genannt? Macht der sich jetzt auch noch an dieses Gör ran? Obwohl Heimdal zugeben musste, dass es sich hierbei nicht länger um ein Gör, einen Teenager handelte. Mayura war ebenfalls gewachsen. Aus ihr war eine junge und schöne Frau geworden, wie Heimdal grummelnd feststellte. Vermutlich mochte sie noch immer >Mysteries<, jedoch war davon im Moment nichts auf ihrem eingefallenen Gesicht zu sehen. Ausgezehrt wirkte sie, als sei sie dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. "... schön..." sie deutete zu den Blumen und Tränen glitzerten in ihren braunen Augen. Ein dünnes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sich Thor vorbeugte und sie fortwischte, da sie über ihre bleichen Wangen rannen. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Kleines. Nicht nur von mir, sondern auch von Fenrir und Midgar." "'gatou...." sie schluckte sichtbar und umschloss seine Hand mit schwacher Stärke. "Wie geht's meinen Jungs?" Ihren Jungs? Heimdal war sprachlos. Hatte sie wirklich von dem Höllenhund und der Weltenschlange gesprochen, als handle es sich dabei um ihre Familie, um ihre Söhne? Akzeptierte sie Loki wirklich für das, was er war - und seine Kinder gleich mit? "Midgar hätte dir am liebsten einen großen Kuchen gebacken und Fenrir..." Thor zuckte hilflos mit seinen Schultern. "... er wäre beinahe in meine Jackentaschen gekrochen, damit ich ihn hereinschmuggle." "Kann ich mir vorstellen." Mayura drehte ein wenig ihren Kopf und blickte zu dem Beistelltisch hinüber, auf dem ein eingerahmtes Photo stand. Es zeigte fröhliche Menschen und Götter während eines großen Festes auf einer Tribüne vereint. Heimdal sah die Schwestern des Schicksals, sah Freyr und Freya, sah Gullinbrusti, sah Mayuras Vater und viele ihrer Mitschüler. Im Zentrum des Bildes saßen sie selbst und Loki auf einem mit Samt überzogenen Sofa. Der Unheilsgott hatte seine wahre Gestalt zurück erhalten und Mayura wirkte kaum älter als an dem Tag, an dem Heimdal sie das letzte Mal gesehen hatte. Midgar und Thor hatten sich direkt hinter das Sofa gestellt und grinsten stolz in die Kamera, während es sich Fenrir auf dem weißen Kimono Mayuras bequem gemacht hatte. Loki trug wie immer seine dunkle Kleidung, aber sie war anders geschnitten als normal. Ein festlicher Anzug. Heimdals Kinnlade sackte nach unten, als er erkannte, dass es sich bei diesem Photo um ein Hochzeitsbild handelte. Eine Hochzeit? Etwa Loki und Mayuras? Loki hat geheiratet? Der Gott, für den Frauen immer nur ein Abenteuer waren, hat sich an einen Menschen gebunden? "Ich vermisse sie." Seufzte die schwache Mayura in dem Krankenbett und weitere Tränen, gegen die sie nicht ankämpfen konnte, rannen über ihre Wangen, wurden zärtlich von Thor fortgewischt. "Ich will so schnell wie möglich nach Hause." "Werde erst richtig gesund, Kleines. Der Arzt hat gesagt, dass du zwar über den Berg bist, dich aber nicht übernehmen sollst. Die nächsten Wochen hast du strikte Bettruhe." "Ich weiß." Ein erneutes Seufzen. Über den Berg sein? Also hat sie wirklich im Sterben gelegen? Wo ist dann Loki? Sollte er nicht an der Seite seiner... Frau? ... sein und verhindern, dass sich dieser schmierige Thor an sie ranmacht? "Ich kümmere mich zu Hause um alles, mach dir keine Gedanken. Und wenn's dir besser geht, schmuggle ich auch Fenrir für dich rein, okay?" "Hai." Sie lächelte unendlich traurig und schloss ihre brennenden Augen. Ihre freie Hand fuhr über die Decke, die auf ihr lag, und verharrte direkt über ihrem Bauch. Wild kämpfte sie gegen ihre Gefühle an, Heimdal und Thor konnten es sehen, bevor sie dann doch schluchzen musste. "Gomen..." weinte sie und bedeckte ihr nasses Gesicht mit eben jener Hand. Heimdal konnte das Zittern nur zu gut erkennen. "... ich will nicht ständig, daran denken... ich..." schluchzte sie verzweifelt und Thor wusste in seiner Hilflosigkeit nichts anderes zu tun, als tröstend ihren Arm zu streicheln, wo keine Kanülen in ihrer weichen Haut steckten. "Kleines..." "Heute ist mein Geburtstag und ich sollte nicht so verzweifelt sein." Mayura holte stockend Luft und ein Beben fuhr durch ihren dünnen Körper. "Aber wenn ich daran denke, dass es auch ihr Geburtstag hätte sein können..." Sie nahm die Hand fort von ihren Augen und blickte durch die Tränen direkt in Thors Gesicht, das nun ebenfalls nass glänzte. "Heute wäre ihr errechneter Geburtstermin gewesen, Thor-kun, kannst du dich daran erinnern, wie erstaunt ich war, als die Ärztin mir das sagte?" "Hai..." Thor-kun? Sie nennt ihn bei seinem wahren Namen? Also hat Loki ihr wirklich alles erzählt und sie hat es tatsächlich akzeptiert. Heimdal löste sich langsam aus seiner Starre und trat auf der anderen Seite an das Bett heran, hielt das Baby in seinen Armen fest umschlungen. Das Kleinkind, das ihm die mysteriöse Frau in Niflheim gegeben hatte, schlief tief und fest, lächelte in seinen Babyträumen. Es gibt nur einen Weg, um als Baby in Niflheim einzukehren. Gänsehaut überzog Heimdals Arme, als Mayuras Hand zu ihrem Bauch zurückkehrte und über die Decke strich, als suche sie etwas. Oder jemanden. Man muss als Baby sterben. "Ich wusste, wie hoch das Risiko stand, Thor-kun, aber ich hoffte, die moderne Medizin würde es schon richten. Als ich die 32igste Schwangerschaftswoche ereichte, dachte ich, dass wir's schaffen würden." Oder man wird gar nicht geboren. "Ich weiß." Thor strich durch pinkfarbene Haare, die matt auf dem hellen Kissen lagen und küsste die junge Frau sanft auf die Stirn. Der Kuss war leidenschaftslos, vermittelte der Kranken lediglich Sicherheit und Freundschaft. Unterstützung, die sie so dringend brauchte. "Ich wünschte, wir alle hätten mehr tun können." Daraufhin weinte sie noch stärker und Thor umarmte sie vorsichtig, immer darauf bedacht, nicht die Kanülen oder die Schläuche zu berühren, und hielt sie tröstend fest. Heimdal stand neben dem Bett und wusste nicht, wie er reagieren sollte, was denken, was tun. Wie in Trance senkte er seinen Kopf und blickte auf das schlafende Baby vor seiner Brust. Ein Flaum pinkfarbener Haare bedeckte das kleine Köpfchen und er hatte ihre dunkelgrünen Augen gesehen. Zwar sagte man, dass sich bei kleinen Kindern die Augenfarbe noch ändern konnte, aber er bezweifelte es bei diesem Baby. Loki und Mayuras Kind. Es gab gar keinen Zweifel. Die mysteriöse Frau hatte ihm das Kleinkind in Niflheim in die Arme gedrückt, das in der Welt der Menschen keinen Platz, kein eigenes Leben gehabt hatte. Noch vor seiner Geburt war es gestorben. Ist dies das Unheil, das ich verhindern soll? Heimdal sah auf und musterte die junge Frau, die weinte und bei dem leidenden nordischen Gott Trost und Beistand suchte - und erhielt. Wie soll ich ein Unheil verhindern, das bereits geschehen ist? Ich bin selbst tot, ich kann dieses Baby nicht zurück ins Leben geben. Der Wächter streichelte sanft über das kleine Köpfchen und korrigierte die Windel, damit das Baby bequemer schlief. Seine Mission erschien ihm von Minute zu Minute verrückter und er fragte sich ernsthaft, was die mysteriöse Frau damit bezweckt hatte. Er als entmachteter und vernichteter Gott konnte nichts mehr ausrichten. "Loki..." schluchzte Mayura und nickte dankend, als Thor ihr ein Taschentuch vom Beistelltisch reichte und sie sich damit über die Wangen und die Augen fuhr. Tief holte sie Luft, versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. Die Geräte piepsten ohne Unterlass, aber ihre Tränen versiegten, obwohl Heimdal ahnte, dass sie bald zurückkehren würden. "Loki war heute noch nicht da." "Hat mir schon deine Lieblingskrankenschwester erzählt." "Sakura-san? Sie ist wirklich ein Engel." Mayura lehnte sich erschöpft zurück in ihr Kopfkissen und schloss ihre Augen. "Ich hab das Gefühl... dass Loki sich die Schuld für alles gibt... und... mich deshalb meidet." Die junge Frau fröstelte leicht und Thor korrigierte sofort die Decke um ihrem Körper. "Ich glaube nicht..." "Red es mir nicht aus, ich kenne meinen Ehemann gut." Fiel ihm Mayura energisch, jedoch mit müder Stimme ins Wort. "Die letzten Tage war er immer extrem ruhig und heute zu meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag taucht er nicht auf, natürlich fühlt er sich schuldig." Mayrua lächelte traurig, als Thor wieder ihre Hand ergriff und sanft fest hielt. "Er hat mir alles erzählt und ich war bereit gewesen, das Risiko einzugehen und sein Kind auszutragen." Siebenundzwanzigster Geburtstag? Heimdal setzte sich auf den Rand des Bettes, da er glaubte, dass seine Beine ihn nicht länger tragen würden. Siebenundzwanzigster Geburtstag? Ein eisiger Klumpen bildete sich in seinem Magen, als er begriff, dass er nicht nur ein paar Wochen oder Monate in Nilfheim verbracht hatte, sondern auf den Tag genau zehn Jahre. Zehn Jahre, die in Asgard rasch vergingen, sich auf der Erde jedoch in die Länge zogen und in Niflheim eine Ewigkeit darstellten. Zehn Jahre! Einige Veränderungen, die er an Thor und Mayura nicht nur äußerlicher Art festgestellt hatte, ergaben auf einmal einen Sinn. Deshalb ging Thor also auf die Universität und besaß so viel Geld. Vermutlich hatte er nach seinem Schulabschluss einen lukrativeren Job finden können oder half gar Loki beim Verkauf der Antiquitäten. Heimdal vergrub sein Gesicht in seinen eisigen Händen und fühlte den raschen Herzschlag des Babys an seiner Brust. Zehn ganze Jahre! "Trotzdem..." "Er fühlt sich schuldig und das will ich nicht." Mayura öffnete erneut ihre Augen und gähnte. Die Medizin, die stetig durch den Tropf in ihren Körper floss, ließ sie viel schlafen und es war ihr auch recht, musste sie nicht ständig darüber grübeln, was geschehen war. Mir ihr und ihrem Kind, ihrer ungeborenen Tochter. "Wenn du ihn heute siehst, Thor-kun, sag ihm, dass ich ihn liebe und ihm alles vergebe." Heimdal blickte wieder auf und fragte sich, ob es sich bei der jungen Frau um dasselbe Mädchen handelte, das er damals kennen gelernt hatte. Die Verrückte, die unbedingt ein Detektiv werden wollte und überall nach >Mysteries< suchte. Eine Oberschülerin, die statt Fenrirs Worten nur ein Bellen hörte und in Midgar nicht mehr als einen ausgezeichneten Koch und einen loyalen Freund Lokis sah. Das Mädchen, das Loki auf der Erde hielt, obwohl er nach Asgard zurückgehen und gegen Odin hätte kämpfen können. Die Mayura, in die sich der Donnergott verliebt hatte. "Hai." Thor nickte und Heimdal fragte sich, ob der Donnergott überhaupt wusste, wo sich Loki aufhielt. Zuhause bei seinen Söhnen war er nicht gewesen, genauso wenig wie er hier an der Seite seiner kranken Frau saß, die beinahe bei dem Versuch gestorben war, ihr gemeinsames Kind zu gebären. Ob Hels Mutter deswegen starb? Weil es ein tödliches Risiko birgt, mit dem Unheilsgott eine Familie gründen zu wollen? Heimdal wiegte das Kind vor seiner Brust behutsam, während Thor erneut nickte, dieses Mal entschlossener. Mayura lächelte schläfrig und schloss ihre Augen wieder, fühlte noch immer Thors Hand, die die ihrige sanft umschloss. "Arigatou, Thor-kun." flüsterte sie und war im nächsten Moment eingeschlafen. Der Donnergott blieb noch eine Weile still an ihrem Bett sitzend, bevor er erneut ihre Decke korrigierte und sich schließlich erhob, als eine Krankenschwester herein kam, um nach der Patientin und den medizinischen Apparaturen zu schauen. Thor nickte der Schwester und wenige Meter weiter der netten Empfangsdame, die Mayura Sakura-san genannt hatte, zu und trat hinaus in die warme Frühlingssonne. "Wofür dankst du mir?" murmelte der Donnergott zu sich selbst und ballte seine Fäuste. "Sieh mich an, Kleines, ich bin ein mächtiger nordischer Gott und habe das Leben deiner Tochter auch nicht retten können." Thor zog den Reißverschluss seiner schwarzen Jacke hoch, während er die Richtung einschlug, aus der er gekommen war. In dem Moment begriff Heimdal, dass der Donnergott Trauer trug. *** Thor ging noch immer langsam und tief in seine Gedanken versunken, aber nicht minder zielstrebig als auf dem Weg zum Krankenhaus, die Straße entlang. Entweder er wusste genau, wo er Loki zu suchen hatte, oder er arbeitete zuerst seinen mentalen Was-zu-tun-ist-Zettel ab. Heimdal tippte auf letztere Möglichkeit, als der Donnergott an einem Imbissstand stehen blieb und sich etwas zu Essen bestellte. Lecker! Eine heiße Kartoffel gefüllt mit Frischkäse! Heimdal blickte über Thors Schulter und ihm lief das Wasser im Munde zusammen. Sein Magen knurrte nicht, er brauchte wohl als Toter keine Mahlzeiten mehr, aber sein Appetit war geweckt. Besonders bei seinem Lieblingsmahl: Europäische Kartoffeln. Er hatte sie zu Lebzeiten in jeglicher Variation genossen, in welcher die Menschen sie zuzubereiten wussten. Zwar konnte er auch gegen die japanische Küche mit ihren traditionell reisbeladenen Schüsseln nichts einwenden, aber für eine Kartoffel, eine Pommesscheibe oder einen Teller Kartoffelbrei hätte er eine Menge getan - zum Beispiel in die ihm verhasste Grundschule gehen, wenn es denn auf dem Speiseplan stand. "Arigatou." Thor aß die Kartoffel jedoch nicht, sondern ließ sie sich einpacken. Erneut gab er unverschämt viel Trinkgeld und Heimdal fragte sich, ob er sich mit Migar Lokis Kreditkarte teilte. Anders konnte der Donnergott doch gar nicht an so viel Geld gekommen sein, oder? Heimdal schaute wehmütig zu dem Stand, entschied sich dann aber gegen einen Kartoffelraub. Vermutlich schmeckte ihm als Toter das Essen gar nicht mehr. Außerdem entfernte Thor sich schon wieder von ihm und er konnte nicht riskieren, ihn in der Menschenmenge zu verlieren. Der Donnergott stolperte hier und da noch immer über unsichtbare Hindernisse, knallte beinahe gegen Bäume, Bänke und aufgeregte Menschen, aber wenigstens hielt er das eingepackte Essen vorsichtig in seiner Hand. Für wen hat er das gekauft, wenn er es nicht selbst isst? Für Fenrir als Trost? Oder gar für Loki? Mir hat er nie etwas zu Essen gekauft. Und das Eis? Ein Eis, das kann man ja wohl kaum zählen! Der Wächter folgte Thor schmollend, als dieser in eine Seitengasse abbog und stellte erleichtert fest, dass sie sich von dem Zentrum der Großstadt entfernten. Immer mehr Grün beherrschte die Vororte Tokios, die Straßen waren kleiner und weniger Autos und Menschen stürmten an ihnen vorbei. Das Risiko, dass Thor von einem Lastwagen überrollt wurde, sank drastisch, wie auch die Gefahr, dass Heimdal den Donnergott aus den Augen verlieren könnte. Leichter Wind fuhr durch die Kirschbäume eines nahen Parks und das Weiß hob sich gegen die dunklen Wolken umso leuchtender ab. Die warmen Sonnenstrahlen verebbten und Thor fuhr fröstelnd zusammen, als ein Windstoß durch seine Haare fuhr. Helle Blüten wirbelten durch die Luft und in der plötzlich einsetzenden Dämmerung wirkte das Szenario unwirklich, beinahe wie ein Schneesturm. Dämmerung? Heimdal blickte kurz zum Himmel hinauf, um zu erkennen, dass sich ein heftiger Regenguss ankündigte. Drohende Wolken türmten sich auf und rasch beherrschte Zwielicht den Tag, dessen Ende erst in einigen Stunden beginnen sollte. Super, ich latsch diesem Idioten hinterher, um nass zu werden! Heimdal legte schützend den rechten Arm um das Baby und fragte sich entsetzt, wie er es vor dem Regen bewahren konnte. Er hatte weder Wechselkleidung, sollte der helle Strampler feucht werden, noch wusste er, wie er mit einem nassen und sicherlich extrem wütendem Baby umging. Thor hat Hel immer gebadet und gewickelt. Heimdal wusste jedoch, dass er heute keine Hilfe von dem Donnergott erwarten konnte, da ihn dieser nicht sah, seine Gegenwart nicht einmal spürte. So viel zu allerbesten Freunden! Pah! Eine Weile lief Heimdal grollend hinter Thor durch die engen Gassen. Der Donnergott gähnte mehrfach und fuhr sich mit der freien Hand über die glänzenden Augen. Einmal stolperte er und prallte gegen eine hohe Mauer, die eine Villa umgab. Anstelle jedoch zu fluchen und weiterzuschwanken, blieb Thor für einige Momente gegen die kalten Stein gelehnt und bedeckte sein Gesicht mit seinen eisigen Händen. Er sollte selbst ins Krankenhaus gehen. Oder zumindest schlafen. Heimdal trat näher an den jungen Mann heran und zupfte an seiner schwarzen Jacke, um vielleicht doch seine Aufmerksamkeit zu erregen. "Thor, du siehst scheiße aus!" Der Donnergott bemerkte weder seine Berührung noch hörte er die weniger schmeichelhaften Worte. Er straffte seinen müden Körper und fuhr fort in seinem Weg, beharrlich von einem Fuß auf den anderen fallend. "Na super, ich kann ihn nicht mal mehr beleidigen!" knurrte Heimdal und setzte sich ebenfalls in Bewegung, nur, um beinahe gegen den Donnergott zu prallen, als dieser plötzlich stehen blieb und das Portal zu seiner Linken schweigend musterte. Ein Tempel? Heimdal runzelte die Stirn, als Thor leise seufzte und schließlich das große Anwesen betrat, das aus mehreren Häusern und einer Gebetshalle zu bestehen schien. Kirchbäume blühten auf dem einladenden Hof, die Bäume rauschten im Wind, der mit jeder Minute stärker wurde. Was will Thor in einem Tempel? Er kann zu keinem Gott beten, er ist doch selbst einer! Der Wächter suchte nach einem Schild an der Eingangspforte, konnte jedoch keines finden. Also folgte er dem Donnergott, was blieb ihm auch anderes übrig? "Narugami-kun!" Ein älterer Herr im traditionellen Yukata gekleidet lief auf Thor zu. Er hielt einen Besen in den Händen und seine ergrauten Haare standen ihm wild vom Kopf, vermutlich wegen des umschlagenden Wetters. "Es ist schön, dich zu sehen." Das ist Mayuras Vater! Heimdal brauchte einige Augenblicke, um hinter die Falten und die traurigen Augen, die während der Geburtstagsfeier vor zehn Jahren so fröhlich gefunkelt hatten, zu blicken. Dann erkannte er den Vater des Mädchens, nein, der jungen Frau. Alt ist er geworden! Der Wächter runzelte die Stirn, als ihm bewusst wurde, dass der ältere Mann Thor nicht bei seinem wahren Namen nannte, also hatte Loki wirklich nur Mayura die Wahrheit erzählt. Trotzdem war er mit dem Donnergott auf Vornamensbasis, also schien Thor ein sehr guter Bekannter zu sein. Oder Heimdal hatte die Höflichkeitsfloskeln der Japaner immer noch nicht begriffen, es würde ihn nicht verwundern. "Hallo." Erwiderte Thor erschöpft und ließ sich auf eine Parkband nieder, die nahe eines besonders großen Kirschbaumes stand. "Ich war gerade bei Mayura." Das runzelige Gesicht des Mannes hellte sich bei dem Namen seiner Tochter auf, um gleich wieder zusammen zu fallen. "Ich werde sie heute auch noch besuchen, aber heute früh war Messe und danach..." Er seufzte und zuckte hilflos seine Schultern. "Es ist ihr siebenundzwanzigster Geburtstag und ich hab kein Geschenk." "Ach, darum geht es ihr doch nicht." Thor lächelte ermutigend, obwohl ihm selbst der Mut zu fehlen schien. "Kauft ihr ein paar hübsche Blumen und besucht sie, so wie Ihr das die letzten zwei Wochen auch getan habt, dann ist sie glücklich." "Glücklich, huh?" Mayuras Vater erhob sich, deutete Thor jedoch an, sitzen zu bleiben. "Ich bewundere ihre Kraft, Narugami-kun. Immer, wenn ich sie besuche, habe ich das Gefühl, dass sie mich zu trösten versucht." Daidouji-san verschwand für einen Augenblick im Haupthaus und als er wieder heraus trat, trug er einen in buntes Papier eingewickelten Gegenstand. Was... Heimdal trat näher an das Geschenk heran, dessen Form mehr verriet als was das Papier verbergen konnte. Ein Schaukelpferd? "Eigentlich hatte ich ihr das ja schenken wollen..." "Habt Ihr das selbst gemacht?" Thors müde Augen leuchteten, als er sich vorbeugte und das Papier berührte. Seine Hand lag keine zwei Zentimeter von Heimdals entfernt, dennoch spürte er den anderen Gott nicht. "Hai. Als mir May-chan erzählte, dass ich Großvater würde, hab ich mich noch an demselben Abend hingesetzt und mit Schnitzen angefangen. Nun kann ich es wohl verbrennen." "Nicht. Hebt es auf, vielleicht..." "Nein, Narugami-kun. Die Ärzte haben gesagt, dass sie wohl nie Mutter werden wird. Ich möchte sie damit nicht unnötig quälen." Sie kann keine Kinder mehr bekommen? Heimdal umfasste das Papier stärker, fühlte die kuschelige Mähne des Schaukelpferdes unter seinen kalten Fingern. Welchen Preis hat sie für ihre Liebe bezahlen müssen? Für Loki... "Stellt es in den Schuppen, Daidouji-san. Die Ärzte sagen schließlich viel, wenn der Tag lang ist..." "Du hast diese chaotische Nacht selbst miterlebt, Narugami-kun. Alles passierte so wahnsinnig schnell und die Ärzte mussten handeln, um ihr Leben zu retten. Ich glaube nicht, dass sie sich irren." "Wartet trotzdem ab. Verbrennen könnt Ihr es später immer noch." "Vielleicht hast du Recht." Mayuras Vater ließ sich wieder erschöpft auf die Parkbank nieder, drehte eine herabgefallene Kirschblüte in seinen schwieligen Händen. "Loki befindet sich seit den frühen Morgenstunden im Tempel. Er hat die Messe nicht gestört, aber einige ältere Frauen haben sich vor seinem giftigen Blick gefürchtet." Daidouji-san schüttelte traurig seinen Kopf. "Er starrt jetzt schon seit mindestens sechs Stunden den Altar an, als wäre er sein persönlicher Feind. Ich habe bereits versucht, mit ihm zu reden, aber er antwortet nicht." Loki befindet sich in einem Tempel? Er beteiligt sich an einer Messe? Als Gott? Heimdal ließ das Schaukelpferd los und sah sich um. Er kannte sich auf dem Gelände nicht aus, aber er wusste sofort, welches Gebäude Daidouji-san meinte, da der ältere Mann unentwegt in dieselbe Richtung starrte. "Es waren zwei anstrengende Wochen für ihn gewesen." Erklärte Thor. "Ich werde mit ihm reden und ihn ins Krankenhaus zu seiner Frau schicken." "Hai." Mayuras Vater lehnte sich zurück und blickte dem stetigen Blütenfall zu, der synchron mit dem kalten Wind zunahm. "Blumen hattest du gesagt, Narugami-kun?" "Hai." Thor nickte müde. "Ich hab ihr Nelken mitgebracht. Sie hat sich drüber gefreut." "Nelken. So, so." "Hai." Heimdal betrachtete die beiden Gestalten auf der Bank kurz, bevor er hinüber zu dem besagten Gebäude schritt, auf dem noch immer Daidouji-sans Augen ruhten. Behutsam schob er die Papiertüren beiseite und trat hinein in den großen Raum, der das ganze Haus ausfüllte. Das Zwielicht war noch düsterer als auf dem Hof, wurde nur hier und da von brennenden Kerzen ein wenig aufgehellt. Ein Tempel. Loki geht als Gott in einen Tempel! Heimdal schritt vorbei an den Kissen und konnte schließlich die Gestalt eines jungen Mannes vor dem Altar kniend erkennen. Wie er das bereits erwartet hatte, da er das Hochzeitsphoto in Mayuras Krankenzimmer sah, hatte auch Loki seine wahre Gestalt zurück erhalten. Seine Kleidung hatte sich jedoch nicht verändert. Noch immer trug er einen schwarzen Anzug und einen dunklen Mantel, in dem er bedrohlich wirkte. Seine dunkelgrünen Augen blitzten hasserfüllt, aber sein bleiches Gesicht zeigte dieselbe Müdigkeit wie Thor und Daidouji-sans. Seine geballten Fäuste lagen in seinem Schoß und schweigend starrte er den Altar an, so wie Mayuras Vater es beschrieben hatte. Ein Windstoß fuhr durch den Spalt, den Heimdal vergessen hatte zu schließen, und eine Kerze auf dem Altar erlosch. Die plötzliche Finsternis hüllte Lokis Gesicht in tiefe Schatten, nur seine Augen schienen weiterhin zu funkeln. "Bist du jetzt zufrieden?" sprach der Unheilsgott mit einem Mal so laut, dass Heimdal erschrocken einige Schritte zurück stolperte. Das Baby gähnte vor seiner Brust, schlief jedoch weiter, als er reflexartig beruhigend über ihren kleinen Rücken streichelte. "Bestimmt lachst du dich gerade tot über meine Dummheit. Hai, ich habe denselben Fehler zwei Mal begangen, das muss doch geradezu ein Feststag für dich sein!" Lokis Stimme war schneidend und voller Hass. Sie erinnerte Heimdal an seine eigene, die er so oft gegenüber seinem ärgsten Feind benutzt hatte. Zu dem Unheilsgott passte sie überhaupt nicht. "Freust du dich über mein Unglück?!" Lokis Stimme schwoll an und Heimdal durchfuhr der Gedanke, ob der Unheilsgott ihn vielleicht sehen oder zumindest seine Gegenwart spüren konnte. Glaubte er etwa, dass er feiern würde, wenn er seinen Erzrivalen so leiden sah? Nun, vielleicht hätte Heimdal sich tatsächlich gefreut, dass Loki einmal nicht der strahlende Sieger war, einmal genauso leiden musste wie er selbst. Aber er konnte wahrlich keine Freude empfinden, wenn Unschuldige dabei verletzt wurden, so wie Mayura. Oder wenn Thor so verzweifelt dreinschaute. "Loki?" flüsterte er und hielt schützend seine Arme über das Baby, sollte Loki herumfahren und ihn angreifen. Heimdal kämpfte gerne mit dem arroganten Gott, aber nicht mit einem Kleinkind um die Brust geschnallt. Obwohl Loki nicht mehr arrogant wirkte. Nein, sein Körper zitterte und seine Stimme verriet, dass auch er mit den Tränen kämpfte. Damals, als ihm Hel genommen wurde, hatte er gebrochen ausgesehen, nun jedoch war er zerstört. "Loki? Hörst du mich?" "Bestimmt schaust du gerade in deinen Spiegel und sagst in deiner verfluchten Stimme >Ich habe dich gewarnt, Loki.<. Pah!" Welcher Spiegel? "Loki?" "Habe ich nicht schon genug gebüßt für meine sogenannte Sünde, Odin?" Der Unheilsgott ließ seine rechte Faust auf den Boden des Tempels herabfahren. "Musst du mich dafür so sehr bestrafen?!" Odin? Er grollt gegen Odin? Heimdal wünschte sich, Lokis Gesicht besser sehen zu können. Wünschte, mit ihm sprechen zu können. Wünschte mit einem Mal, ihm seine Tochter zeigen zu können, die friedlich an seiner Brust schlief. "Ich habe nur ein einziges Mal gesündigt, wie du es nennst. Ich habe nur ein einziges Mal mein Wort gegen dich erhoben und mich deinem Befehl widersetzt. Muss ich dafür für den Rest meiner Existenz büßen?" Loki schluchzte leise und Heimdal riss seine Augen auf. Bei Hels Beerdigung hatte ihn ein trauernder Unheilsgott schon Unbehagen bereitet, dieses Gemisch aus hilfloser Trauer und ohnmächtiger Wut erschreckte ihn zutiefst. "Nur weil ich dir meine Loyalität ein einziges Mal verwehrt habe, muss ich ihren Tod immer und immer wieder erleben? Findest du das lustig, Odin? Ist es das, was du als Gerechtigkeit predigst?" Die Faust schlug erneut auf den Boden und Heimdal wusste, wenn es sich dabei um den mächtigsten nordischen Gott gehandelt hätte, hätte Loki ihn verprügelt. Viel hätte es ihm nicht gebracht, aber vielleicht hätte er sich danach besser gefühlt. "Was hat dir Mayura getan, dass du ihr so etwas Grausames angetan hast?! Antworte mir, du verkorkste Ratte!" Verkorkste Ratte? Heimdal beugte sich zu dem zornigen Unheilsgott hinab und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. Wie auch Thor konnte ihn Loki jedoch nicht spüren. "Herrschsüchtiger Alter, zeig dich und stell dich mir! Dann werde ich dir zeigen, was ich von deinen Machenschaften halte! Von deiner beschissenen Prophezeiung, von deinem verworrenen Sinn von Gerechtigkeit und deiner kaltblütigen Art, mit dem Leben meiner Frau und meiner Tochter zu spielen! Ich nehm das nicht länger hin, hörst du mich?!" "Vermutlich, aber da du all seine Schachfiguren hast schachmatt setzen können und er zu faul ist, sich auf die Erde zu begeben, wirst du wohl keine Antwort erhalten." Heimdal fuhr erschrocken herum und sah Thor am Eingang des Tempels stehen. Sein Haare war noch wüster als vorher und der Wächter hörte das Geräusch heftigen Regens, das ein wenig gedämpft wurde, als der Donnergott die Tür hinter sich zuschob. Beide scheinen sie Odin nicht besonders zu mögen. Dabei sind sie es doch, die ihn, die MICH verraten haben! Heimdal verstand ihre Trauer um Mayuras verstorbenes Kind, aber Odin konnte nun wirklich nichts dafür, dass es so gekommen war. Immerhin hatten sich Loki und Thor selbst in diese missliche Lage gebracht. Oder? "Ich hasse ihn!" zischte Loki und Heimdal konnte die Tränen in seinen Augen funkeln sehen, als Thor einige Kerzen auf dem Altar neu entzündete. Dann klatschte der Donnergott in seine Hände und verbeugte sich tief vor ihnen. Was soll der Quatsch?! Er ist ein Gott, er wird doch wohl kaum beten, oder? "Ich weiß." Antwortete Thor und richtete einen Bilderrahmen auf, der wohl während des Luftstromes auf dem Altar umgefallen war. Heimdal ging neben Loki, der ihn natürlich nicht bemerkte, auf die Knie, als seine Beine ihn nicht länger zu tragen vermochten. Entsetzt starrte er auf die Photographie, die niemand anderen als ihn selbst zeigte. Ihn in dem scheußlichen Kinderkörper und einem Zorro-Kostüm, in dem er sich unglaublich dämlich gefühlt hatte. Er grinste frech in die Kamera und hielt dabei eine dunkle Augenbinde in seiner rechten Hand. Das war während des Blinde-Kuh-Spiels gewesen. Noch deutlich erinnerte er sich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre - was es für ihn irgendwie auch war. Damals stolperte er blindlings über die Wiese und fing Thor, der sich erst nicht zu erkennen geben wollte, sich dann jedoch durch sein Lachen verriet, als Heimdal ihn kurzerhand ausgekrabbelt hatte. Blind oder nicht, er kannte Thors kitzelige Stellen, schließlich hatten er und der Donnergott Jahrtausende miteinander verbracht. Er hat mich großgezogen... Heimdal schluckte, als Thor die noch immer dampfende Kartoffel auswickelte und vor das Bild legte wie eine Opfergabe. Dann entzündete er ein Räucherstäbchen und verbeugte sich erneut vor dem Photo. Was soll das werden? "Stimmt... heute ist sein zehnter Todestag." Loki rieb sich die glänzenden Augen und erhob sich schwerfällig. "Er ist nicht tot, er ist nur... irgendwo anders..." protestierte Thor und rückte ein wenig zur Seite, damit Loki dasselbe Ritual vollführen konnte. Loki verbeugt sich vor einem Photo von MIR??? "Sagt mal, seid ihr beide nun vollkommen übergeschnappt?" japste er in die Stille des Tempels, aber keiner der beiden reagierte. "Er ist genauso tot wie meine Tochter." Flüsterte Loki mit Grabesstimme und ballte erneut seine Fäuste, wirkte unheimlich und ungemein gefährlich, so wie das von einem Unheilsgott erwartet wurde. Unheil hatte er über die Menschen gebracht, hatte selbst viel Unheil erlitten, dennoch hatte er noch nie so wütend, so rachedurstig ausgesehen wie jetzt. "Sein Körper ist in einem gleißenden Licht verschwunden." "Weil er ein Gott war, Thor. Wie oft soll ich dir das noch erklären? Götter verschwinden, wenn sie aufhören zu existieren, da bleibt keine Leiche übrig!" "Aber..." "Er hat seinen kompletten Bluthaushalt auf meinen Bett erbrochen, war zum Schluss blind und sein Herzschlag setzte aus, als der Notarzt eintraf. Was glaubst du wohl? Das überlebt nicht mal ein nordischer Gott, besonders nicht in diesem Kinderkörper!" "Trotzdem..." "Es sind zehn Jahre vergangen, Thor. Meinst du nicht auch, er wäre inzwischen wieder aufgetaucht und würde versuchen, mich mit irgendwelchen Küchengeräten umzubringen, wenn er noch existieren würde?" "Ich..." "Hör endlich auf mit diesem Theater!" Loki sah so aus, als würde er gleich über den Donnergott herfallen und ihn windelweich prügeln. Heimdal begriff, dass der Unheilsgott furchtbar wütend auf Odin war wegen des Todes seiner ungeborenen Tochter, und diesen Zorn und seine tiefe Verzweiflung ließ er nun an Thor aus. Es war nicht fair, das wusste Loki vermutlich selbst, aber offensichtlich konnte er nicht anders mit seiner Trauer umgehen. "Seit zehn Jahren bezahlst du nun die Rechnung für diese schäbige Wohnung in der Hoffnung, er würde zurückkehren. Denkst du etwa, ich bemerke nicht, wie du dich jeden Abend fortschleichst, um nachzuschauen, ob er vielleicht wieder da ist? Hör endlich auf, dich selbst damit zu quälen, er ist fort und wird nie wiederkommen!" "Das kann dir doch..." "Du gehst allen mit deinen Gebaren auf die Nerven, Thor! Er ist zehn Jahre tot. Zehn Jahre! Du kannst auch mal wieder ohne schlechten Gewissens lachen, die Trauerzeit ist vorbei! Genauso wie du diese grässliche Kleidung mal gegen was Helleres tauschen könntest! Ein Jahr ist okay, aber gleich zehn? Findest du nicht, dass du ein wenig übertreibst?" Nun wurde Loki richtig unfair und Heimdal sah dies auch an Thors verletztem Gesichtsausdruck. "Heimdal ist tot, Thor. Akzeptiere es!" Loki holte tatsächlich mit seiner Faust zum Schlag aus, der Donnergott duckte sich jedoch rechtzeitig und der Fausthieb traf nicht seine Wange, sondern den Altar. Der Rahmen wackelte und fiel schließlich klirrend zu Boden. Das Geräusch schien Loki aus seiner Rage zu holen. Verwirrt blinzelte er und erblasste noch mehr, als er direkt in dunkle Augen blickte, die ihn traurig musterten. "Thor... ich..." Der Unheilsgott schüttelte seinen Wuschelkopf, dann drehte er sich um und rannte aus dem Tempel. Heimdal hörte das Prasseln des Regens und Lokis klatschende Schritte, als der junge Gott durch das Frühlingsgewitter davon lief. Das Baby drehte sein Köpfchen ohne zu erwachen und Heimdal streichelte sanft über die weichen Wangen, während er den Inhalt des Streitgesprächs langsam verarbeitete. Um uns beide trauert jemand, Kleine. Heimdal drückte einen zärtlichen Kuss auf die winzige Stirn und wiegte das Kleinkind behutsam. Nicht nur um dich, sondern auch um mich. "Ach, Loki." Seufzte Thor und bückte sich, um das Bild aufzuheben und zurück an den vorgesehen Platz zu stellen. Ein Riss zog sich durch das Glas und automatisch strich er über den Sprung. Heimdal zuckte mit ihm zusammen, als sich der Donnergott in den Finger schnitt. "Ich würde dir ja Recht geben, wenn es dir nicht genauso ginge. Woher bekomm ich denn das Geld für die Miete? Außerdem sieht dein Kleiderschrank genauso schwarz aus wie meiner." Thor lutschte an seinem blutenden Finger und seufzte tief. "Trotzdem kann ich an seinen Tod nicht glauben, Loki. Heim kann nicht so einfach verschwunden sein, nachdem ich Jahrtausende lang auf ihn aufgepasst habe." "Ich bin doch genau hier. Wir beide sind genau hier." Thor seufzte ein weiteres Mal, dann ging er an Heimdal und dem schlafenden Baby vorbei und folgte Loki in den strömenden Regen. *** Fenrir lag wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa und sah nicht auf, als Thor das Wohnzimmer betrat. Der Donnergott war bis auf die Knochen durchweicht und hinterließ kleine Pfützen auf dem Teppich, als er durch den Raum schritt, sich suchend umsah. Es ist wirklich beschissen, tot zu sein, aber es hat auch seine Vorteile. Heimdal grinste hinterhältig, als er hinter Thor durch die offene Tür schritt. Weder er noch das Baby hatten auch nur einen Tropfen abbekommen. Die Kleine schlief weiterhin tief und fest, schien sich an dem lauten Geräusch des prasselnden Regens nicht gestört zu haben. "Wo ist Loki?" fragte Thor und sah hinter das Sofa, so als erwartete er, den Unheilsgott dort kauernd vorzufinden. "Daddy?" Fenrir wirkte noch deprimierter und vergrub seine Schnauze in seinen Pfoten. "Daddy hat uns nicht mehr lieb!" "Nani?" Thor blickte nicht minder verwirrt drein wie Heimdal, der von dem größten Vaterkomplex der Geschichte bis eben noch felsenfest überzeugt gewesen war. Nasse Haare klatschten in das Gesicht des Donnergottes, als er sich über die Lehne zu dem wimmernden Welpen beugte. "Wie kommst du denn darauf?" Behutsam kraulte er hinter weichen Ohren, nur, um von Fenrir fortgestoßen zu werden. Der Höllenhund schluchzte und verkroch sich unter ein Sofakissen, wollte niemanden mehr sehen. "Geh weg! Lass mich in Ruhe!" weinte er und nur noch das schwarze Schwänzchen lugte unter dem hellen Stoff hervor. "Loki-sama hat ihn nicht beachtet, als er nach Hause kam." Midgar wischte sich seine Hände an einer Küchenschürze ab und Heimdal roch sofort das leckere Essen, das vermutlich in der Röhre brutzelte. So wie jedoch alle dreinblickten, würde es wohl keiner anrühren. "Er hat sich in seinem Zimmer eingesperrt und will mit niemandem reden." Er reichte Thor ein Handtuch, um sich seine Haare abzutrocknen, und setzte sich neben den weinenden Welpen, der leise vor sich hinjammerte, dass sein >Daddy< ihn nicht mehr lieben würde. Thor verzog seine Augen zu Schlitzen, knetete das Handtuch in seinen Händen und eilte mit entschlossenen Schritten zur Tür hinaus. Heimdal warf einen letzten verwunderten Blick auf die beiden ungleichen Brüder, bevor er dem offensichtlich wütenden Donnergott folgte. Die Tür zu Lokis Zimmer war tatsächlich versperrt, hielt Thors Hammer jedoch nicht lange Stand, der noch immer in einem hölzernen Katana eingeschlossen an seinem Gürtel baumelte. "Jetzt reicht's, Loki!" sagte Thor drohend, als er in Lokis privates Reich eindrang. Der Unheilsgott saß bewegungslos auf seinem Bett und der Donnergott stolperte über etwas, das dabei empört quietschte. Loki zuckte heftig bei dem Geräusch zusammen und sein Blick war gehetzt, als er schließlich aufsah. Auch Thors Wut verrauchte, als er das Objekt aufhob. In zitternden Händen hielt er einen kleinen Ball, der rot leuchtete und leise quietschte, wenn man ihn drückte. Babyspielzeug. Heimdal starrte ungläubig auf all die vielen Plüschtiere, Puppen und andere Spielsachen, die überall in dem Raum verstreut lagen. Am Fenster stand eine Wiege, die weißen Vorhänge, auf denen sich Schmetterlinge tummelten, waren vorgezogen. "Das wäre deine Wiege gewesen, Kleine." Heimdal schlängelte sich durch all das Spielzeug hinüber zu der Schlaffstatt und schob die Vorhänge leicht zur Seite. Zwischen weichen, zartrosa Decken lag ein flauschiger Teddybär, der ein kleines Schild um den Hals trug. Auf diesem stand ein einziger Satz, der Heimdal jedoch zutiefst erschütterte. >Für meine Hel.< Hel? Entsetzt blickte er auf das Baby herab. Natürlich hatte er mittlerweile begriffen, dass es sich bei dem Mädchen um Loki und Mayuras gemeinsame Tochter handelte, die noch vor ihrer Geburt gestorben war. Aber Hel? Lokis erste Tochter, die vor so vielen Jahren von Odin vernichtet wurde? Wie konnte das möglich sein? Ich habe Hel sterben gesehen, ich war bei ihrer Beerdigung! Andererseits, wenn er, der bereits in Niflheim eingefahren war und zehn Jahre in der Totenwelt verbracht hatte, hier stand, dann konnte das Baby in seinen Armen genauso gut Hel sein. Wer war dann die mysteriöse Frau? Ist das nicht Hel gewesen? Ich versteh das alles nicht! Heimdal hangelte sich zurück zum Bett, ohne selbst auf ein Spielzeug zu treten, und setzte sich auf die Matratze. Thor hatte die ganze Zeit über den Ball schweigend angestarrt, nun aber schien er sich an den Grund seines Kommens zu erinnern. Jetzt würde er es sein, der Loki die Leviten las. Heimdal wollte keine Sekunde des Streites verpassen. Nicht, weil die bösen Worte seinem Erzfeind galten, sondern weil er auf Antworten hoffte. Antworten auf seine Fragen, die niemand hörte. "Jetzt reicht's, Loki! Ich versteh, dass du sehr mitgenommen bist, aber..." "Ach ja, du verstehst das? Wunderbar! Du verstehst also ganz genau, was in mir vorgeht, nachdem ich schon wieder alles verloren habe?" zischte Loki aufgebracht und presste eine Stoffpuppe mit rosa Kleidchen fest gegen seinen Oberkörper. "Alles verloren? Du..." "Du verstehst ganz prima, wie ich mich fühle, nachdem ich mich vor zwei Wochen zwischen meiner Frau und meiner Tochter habe entscheiden müssen! Du weißt natürlich ganz genau, was in mir vor geht, nachdem ich zusehen musste, wie Mayura in der zweiunddreißigsten Woche blutend zusammen brach und Hel erneut sterben musste? Du..." Loki lag im nächsten Moment auf seinem Kissen, nur wenige Zentimeter neben Heimdal, und verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich. Seine rechte Wange, wo ihn Thor soeben mit der hohlen Hand geschlagen hatte, brannte unnatürlich rot auf der bleichen Haut. "Ich verstehe deine Trauer, Loki! Glaubst du nicht, mir hat es weniger weh getan, als der Arzt seine Diagnose stellte und sagte, dass nur eine von beiden gerettet werden könnte?" "Und ich habe mich für Mayura entschieden. Das war ganz eindeutig die schlimmste Entscheidung meines Lebens gewesen. Damals in Asgard, als Hel geboren wurde, ließen mich die Ärzte nicht vor und die Hebamme nahm mir die Last ab, entschied sich für das Ungeborene. Dieses Mal wurde mir diese Gnade nicht zuteil." Loki breitete seine Arme aus und die Puppe lag bewegungslos auf seiner Brust. Traurig starrte er an die Decke des Bettes. "Wie konnte ich nur so naiv sein, Thor? Ich glaubte, dass mit Hels Vernichtung und meiner Verbannung meine Schuld endlich beglichen wäre. Ich wollte nie mehr nach Asgard zurückkehren und meine Macht Odin geben, sollte er sich einen neuen Unheilsgott suchen. Ich wollte für sie menschlich werden und einfach nur ein normales Leben führen." Loki schloss seine dunkelgrünen Augen und schüttelte leicht seinen Kopf. "Ich konnte doch nicht ahnen, dass es wie ein Fluch auf mir lastet und ich mich jedes Mal zwischen meiner Frau und meiner Tochter entscheiden müsste." "Mayura erwähnte, dass sie die Risiken kannte." "Ich hab ihr von Hel erzählt und die Umstände ihrer Geburt. Es war sogar Mays Wunsch gewesen, ein Kind zu bekommen. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich noch einmal versucht hätte, denn ich wusste ja bereits, wie schmerzhaft es ist, wenn Odin mir die Kinder nimmt, aber sie war so voller Zuversicht. Sie glaubte an die moderne Medizin und als ihre Frauenärztin ihr sagte, dass ihr Baby nun überleben würde, auch wenn die Wehen zu zeitig einsetzten, dachte ich, dass alles gut werden würden. Dass Odin das Interesse an mir verloren hätte und mich endlich in Ruhe ließe." Zwei Tränen quollen hinter den zusammengekniffenen Augenlidern hervor, rannen über Lokis blasses Gesicht. "Drei Tage später brach May blutend zusammen und ihre ach so moderne Medizin versagte." Er glaubt wirklich, dass Odin an all dem Schuld sei. Warum? Heimdal lehnte sich gegen den Bettpfosten und beobachtete, wie Thor den Ball behutsam zur Seite legte und sich nun auch auf die Matratze setzte. "Heute ist Mayuras siebenundzwanzigster Geburtstag, Loki. Sie wartet auf dich, geh und besuch sie." Thors Stimme klang sanfter, nicht länger zornig. "Wie könnte ich?!" murmelte Loki mehr zu sich selbst und riss seine Augen auf, als er Thors nächste Worte hörte. "Ich hab sie heute besucht und soll dir ausrichten, dass sie dich liebt und dir vergibt. Wobei ich glaube, dass sie gar nicht weiß, was sie dir vergeben soll, da sie dir keine Schuld gibt. Sie hat eine Fehlgeburt erlitten, das ist für sie eine größere Tragödie als für uns alle zusammen, aber sie sieht in dir keine Schuld. Sie liebt dich, Loki, und sie vermisst dich." "Woher..." "Sie mag keine tausend Jahre mit dir verheiratet sein, Loki, aber sie kennt dich. Ihr ist aufgefallen, dass du sie meidest und hat die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Sie mag noch immer verrückt nach >Mysteries< sein und mit vollen Elan deine Detektei betreiben, Loki, aber sie kennt ihre Lieben sehr gut." "Ich kann nicht..." flüsterte der Unheilsgott und verschränkte seine Arme wieder vor seiner Brust, wobei er die Puppe erneut festhielt. "Vielleicht kann sie mir vergeben, aber ich kann es nicht, schließlich hab ich sie in diese Situation gebracht. Weißt du, dass ich mich für den Bruchteil einer Sekunde beinahe für Hel entschieden hätte? Meine Sehnsucht nach ihr war übermächtig und beinahe hätte ich May dafür geopfert." "Das hast du aber nicht. Sie liebt dich, Loki, lass sie jetzt nicht im Stich, bitte. Genauso, wie du deine Söhne nicht links liegen lassen darfst. Fenrir glaubt bereits, du würdest ihn nicht mehr lieben und wenn Midgar noch mehr Essen als Ablenkung kocht, können wir die Detektei schließen und dafür ein Restaurant eröffnen." "Thor..." "Du wirst jetzt dich jetzt gefälligst aus deinem Selbstmitleid befreien, dieses Haus verlassen, einen Strauß bunter Blumen kaufen und deine Frau im Krankenhaus besuchen, um ihr zu ihrem Geburtstag zu gratulieren. Wenn du dann Stunden später nach Hause kommst, wirst du Fenrir knuddeln und Migars Abendessen probieren und sagen, dass es dir schmeckt, auch wenn du's runterwürgen musst!" Thors Augen blitzten gefährlich und er ließ keine Widerrede zu. "Thor..." "Wenn ich jetzt nicht sofort sehe, wie du deinen Hintern von diesem Bett bewegst, kriegst du einen Stromschlag, der sich gewaschen hat. Ich scherze nicht." Loki lächelte traurig, nickte und kroch schließlich von den weichen Kissen. Die Puppe legte er vorsichtig auf die Matratze und kramte in seinem Kleiderschrank, um ein neues schwarzes Hemd herauszusuchen. Heimdal, der noch immer über das eben Gehörte grübelte, drehte den Kopf und hob seine linke Augenbraue, als er die Finsternis in dem Schrank sah. "Du hattest Recht, Loki, wir sollten morgen wirklich andere Klamotten einkaufen gehen. Wie wär's mit bunten Permuda-Shirts?" "Nein, es war falsch, dir all diese Worte an den Kopf zu werfen. Du hast Heimdal und mich aufgezogen, ich weiß, wie viel er dir bedeutet hat. Hundert Jahre Trauerflor wären wohl noch zu wenig für mehrere tausend Jahre Freundschaft. Ich war nur so wütend..." "Schwamm drüber." Verzieh ihm Thor sofort. "Du hast aber nicht vor, nach Asgard zu gehen und Odin zu stellen, oder?" Heimdal blickte gespannt zwischen den beiden hin und her. Würde Loki wirklich gegen den mächtigsten aller nordischen Götter in den Kampf ziehen? Und wenn? Was bringt es mir? Ich bin tot! "Es war mein erster Gedanke gewesen, als ich May in dem Krankenbett liegen sah, an all diese Maschinen angeschlossen. Mit flachem Bauch, der kein Leben geboren hatte." Loki warf das zerknitterte Hemd achtlos auf den Boden und schlüpfte in das frisch gewaschene. "Aber ich kann nicht. Ich hab mich vor zehn Jahren, als ich ihr erzählte, wer ich wirklich bin und sie mich als tatsächlich so akzeptierte, für ein Leben auf der Erde entschieden. Hier sind Midgar und Fenrir in Sicherheit, niemand schaut sie schief an oder versucht gar, sie als abartige Monster zu töten. Den anderen Göttern gefällt es hier ebenfalls. Die Schwestern sind gefragte Journalistinnen und Freyr erhält endlich als Boss einer großen Supermarktkette den Respekt, der ihm in Asgard immer verwehrt blieb. Sicherlich, er war schon immer ein wenig verrückt gewesen..." Heimdal schnaubte bei Lokis Worten. Du weißt ja gar nicht, wie verrückt! Du musstet mit ihm nie Halloween feiern! "... aber er hat Odins ignorante Behandlung nie verdient. Endlich kann er mit seiner Schwester zusammen sein und Freya reist gerne mit den Norns durch die Welt. Warum sollte ich ihr Glück zerstören, nur, weil ich es mal wieder geschafft habe, über mich selbst Unheil heraufzubeschwören? Ich wünschte nur, May müsste unter meiner Fehlentscheidung nicht so sehr leiden." "Sie wird weniger leiden, wenn du an ihrer Seite bist. Sie liebt dich, Loki." "Ich weiß..." Loki ordnete den Kragen des Hemdes und zog sich einen anderen Mantel an, der weniger tropfte. Mit einem kurzen Kopfnicken in Thors Richtung, der ihm einen kleinen Regenschirm zuwarf, verließ der junge Gott das Schlafzimmer, das mit diversen Babyspielsachen vollgestopft war, in dem jedoch nie helles Kinderlachen zu hören sein würde. Heimdal schauderte es und er streichelte wieder sanft über weiche Wangen, während er Thor folgte, der sich in dem Zimmer selbst nicht ganz wohl zu fühlen schien. Der Donnergott gähnte und schaute kurz hinaus in den strömenden Regen. Dann ging er in einen anderen Raum, der vermutlich sein eigener war. Auf einem Schreibtisch vor einem gekippten Fenster, das Thor mit der linken Hand verschloss, da er mit der rechten bereits das Handtuch durch seine noch immer nassen Haare rubbelte, lagen mehrere Bücher und Hefter. Heimdal erkannte sofort Thors krakelige Handschrift, konnte die Schriftzeichen jedoch nicht entziffern, da der Donnergott mit einer entschiedenen Bewegung die Bücher zuklappte, auf einander stapelte und zur Seite schob. Dann setzte er sich auf den Stuhl und knipste die kleine Lampe an. In ihrem Licht konnte Heimdal mehrere Photographien sehen. Einige von ihnen waren ordentlich gerahmt und standen auf dem warmen Holz. Andere wiederum waren mit Klebeband an die Wand neben den Schreibtisch angebracht, so als handle es sich um Poster einer berühmten Rockband. Einige zierten sogar das Glas des Fensters. Das sind also seine Erinnerungen. Heimdal beugte sich nach vorn, um die Bilder besser betrachten zu können und erkannte, dass es sich dabei weder um eine berühmte Rockband noch um eine Sportmannschaft handelte. Auf den Photos an der Wand und dem Fenster sah er Thor in diversen Aufmachungen. Mal in seiner Schuluniform, wie er Mayura und einige Schulkameraden stürmisch umarmte und sie alle lachend irgendwelche Dokumente, vermutlich Zeugnisse, in die Höhe hielten. Der Sonnenhut wirkte lächerlich und Heimdal kicherte, als er Thor zusammen mit den Norns und Mayura auf der Großen Mauer von China stehen sah. Vermutlich hatte Loki das Photo geschossen. Im Hintergrund saß Fenrir auf der Mauer und schaute neugierig in die Tiefe, während Midgar besorgt zu seinem Bruder eilte, damit der Welpe nicht hinunter fiel. Freya und Freyr deuteten auf eine besonders große Portion gebratene Nudeln vor sich und Thor stritt sich mit Gullinbrusti lautstark um das letzte Paar Stäbchen. Natürlich konnte Heimdal seine Schimpftiraden auf dem Photo nicht hören, sie sich aber durchaus vorstellen. Das Hochzeitsbild, das der Wächter bereits in dem Krankenzimmer gesehen hatte, war ebenfalls dabei genauso wie ein Photo, auf dem Mayura stolz ihren dicken Bauch in die Kamera streckte. Sie saß unter einem festlich geschmückten Weihnachtsbaum und hatte einen kleinen Strampelanzug über ihren angeschwollenen Leib gelegt. Thor lebt nicht nur hier, er hat sie alle tatsächlich als Familie anerkannt. Heimdal schluckte und fühlte sich mit einem Mal leer, ausgezehrt. Alle wirkten so glücklich auf den Photos. Und er hatte dabei die Hölle in Niflheim durchwandert. "Ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffe." Flüsterte Heimdal und nahm einen Rahmen in seine Hände. Heimdal schluckte, als er sich selbst darauf sah. Verwirrt blickte er auf und erkannte, dass er auf jedem gerahmten Photo mürrisch oder betrunken in die Kamera blickte. Sie waren beinahe alle auf Mayuras Geburtstagsfeier aufgenommen worden. Das Blinde-Kuh-Photo war ebenfalls dabei, genauso wie eine Momentaufnahme der Karaoke-Show. Die Göttinnen grinsten, während ein kindlicher Gott das Mikro in seinen Händen hielt und leidenschaftlich sang. Ich habe wirklich gesungen? Wie betrunken war ich denn? Heimdals Blick fiel auf den Rahmen, den Thor in seiner zitternden Hand hielt, und fragte sich, wann dieses Photo denn aufgenommen wurde. Es zeigte einen Samurai, der einen schlafenden Zorro im Arm hielt. Ein kleiner Gott mit Flügelkranz stand neben ihnen und hatte seine Hand auf die Schulter des Rächers gelegt. Ich war stockbesoffen! "Ich wünschte, du wärst da, Heim. Du wüsstest vielleicht, wie man mit einem trauernden Loki umspringt." Thor stellte das Photo zurück auf den Schreibtisch und fuhr sich über die müden Augen. "Ich vermisse dich... verdammt..." "Ich bin doch hier." Heimdal hielt den Satz ja selbst für sinnlos, konnte Thor ihn weder sehen noch hören, aber er wusste nichts anderes zu sagen. Gerade wollte er seine Hand nach dem Donnergott ausstrecken, den er einst für einen Überläufer, für einen weiteren Verräter gehalten hatte, der jedoch offen um ihn trauerte, ihn sogar vermisste, als es leise an der Tür klopfte. "Herein?" "Thor-sama?" Midgar steckte seinen Kopf durch den Türspalt und blickte sich suchend um. "Weißt du, wo Loki-sama ist?" "Bei Mayura im Krankenhaus." "Daddy ist im Krankenhaus?" Eine kleine Hundeschnauze drängelte sich durch Midgars Beine und Fenrir schien sich persönlich davon überzeugen zu wollen, dass sich sein Vater nicht in Thors Zimmer vor ihm versteckte. "Hai." "Ach so..." Der Höllenhund machte einen derartig geknickten Eindruck, dass Thor sich schwerfällig von seinem Stuhl erhob und den Welpen in seine Arme aufsammelte. "Ich hab Mayura versprochen, dass ich dich mitbringe, sobald das Infektionsrisiko nicht mehr so hoch ist. Sie hat nach ihren Jungs gefragt und wäre am liebsten mit mir nach Hause gekommen." "Wirklich?" Fenrirs dunkle Knopfaugen blickten den Donnergott skeptisch, aber zu gleich hoffnungsvoll an. "Wirklich. Sie liebt euch doch, genauso wie euer Vater." "Daddy..." "Habt Verständnis für sein Verhalten, für ihn ist die ganze Situation schwierig. Er will euch bestimmt nicht verletzten." Verteidigte Thor den Unheilsgott und lächelte Midgar müde an. "Daddy..." "Hast du Hunger, Thor-sama? Ich hab frische Okonomiyaki gebraten. Freyr war so freundlich und hat uns heute früh einen großen Korb mit Zutaten aus seinem Supermarkt geschickt." "Ich..." Heimdal sah, dass Thor am Rande der Erschöpfung stand und sich nichts sehnlicher wünschte, als auf sein eigenes Bett zu fallen und eine Runde zu schlafen. Aber er sah auch das erwartungsvolle Lächeln Migars, das sich dankbar vertiefte, als Thor müde nickte. "Ich würde mich über ein leckeres Abendessen mit euch sehr freuen, Midgar." "Wunderbar, Thor-sama." "Daddy..." Heimdal blieb in dem Zimmer zurück, als der Donnergott den beiden Brüdern in die Küche folgte. Stumm starrte der Wächter auf die vielen Photo an der Wand und dem Fenster, schaukelte sanft das schlafende Baby in seinen Armen - und traf eine Entscheidung. *** Als Heimdal endlich das Krankenhaus fand, war bereits die Nacht herein gebrochen. Es regnete noch immer, aber der heftige Wind hatte sich gelegt. Weniger Autos als noch vor einigen Stunden fuhren durch die Innenstadt Tokios und Dank des schlechten Wetters hatten sich die meisten Passanten in große Einkaufstempel oder schicke Restaurants verzogen. Heimdal musste nicht länger fürchten, von jemandem angerempelt zu werden, der ihn nicht sah. Der Wächter schritt vorbei an Sakura-san, die an ihrem Kaffee nippte und erneut Daten in ihren Computer übernahm, und steuerte zielsicher auf Mayuras Krankenzimmer zu. Er rechnete fest damit, dass er die junge Frau allein oder höchstens in Begleitung eines Arztes oder einer Krankenschwester vorfinden würde, hatte er sich zwei Mal in den Wirren der Großstadt verlaufen. Umso erstaunter war er, als er die Tür vorsichtig öffnete, schließlich wollte er die Kranke nicht wecken, und Loki an ihrem Bett sitzen sah. Ein schwaches Lächeln lag auf seinem leicht geröteten Gesicht und er beugte sich zu seiner Frau herab, um sie sanft zu küssen. Klasse Timing! Heimdal starrte mit roten Ohren auf das wahre Blumenmeer, das nun das Fensterbrett belagerte. Daidouji-san und Loki schienen Thors Rat befolgt und ein Blumengeschäft überfallen zu haben. Andere Menschen, oder Götter, hatten Mayura offensichtlich auch besucht. Die leuchtenden Farben vertrieben ein wenig die Tristesse des sterilen Raumes. "Ich glaube, ich sollte lieber gehen, bevor mich Sakura-san am Schlawittchen packt und eigenhändig rauswirft." "Heute ist mein Geburtstag, da habe ich Narrenfreiheit." Kicherte Mayura leise und Heimdal entschied sich, dass es nun sicher wäre, sich wieder zu den beiden umzudrehen, nur, um genervt aufzustöhnen, da sich die beiden schon wieder küssten. Wie lange habe ich durch die Stadt gebraucht? Drei Stunden, nicht wahr? Reicht das denen nicht aus, um sich auszusprechen und... äh... auszuküssen? Heimdal wandte sich wieder den Blumen zu und entschied sich, sich nicht eher zu Mayura umzudrehen, bevor der Unheilsgott nicht gegangen war. "Trotzdem, du siehst müde aus..." Natürlich ist sie müde! Sie ist krank und du musst ihr auch noch die Luft wegküssen! "Du auch, Schatz." Sie nennt einen mächtigen nordischen Gott einfach so Schatz? Starkes Stück! "Ich..." Sein Satz wurde unterbrochen und Heimdal wurde schlecht bei dem Gedanken eines erneuten Kusses. Vorsichtig umarmte er das Baby, das kurz vor dem Krankenhaus aufgewacht war und sich nun neugierig umsah, und zeigte ihm eine Narzisse. Es brauchte solche Schweinereien nicht schon als kleines Kind sehen. Es konnte sonst was für Traumata davontragen! "Geh nach Hause zu unseren Jungs und kümmere dich um sie, sie brauchen dich." Heimdal konnte das Lächeln in Mayuras Stimme hören. "Ich liebe dich, Loki." "Ich liebe dich auch, May. Es... es... gomen ne..." "Ist schon gut, es ist nicht deine Schuld, hörst du mich? Bald bin ich wieder gesund und hier raus und dann fangen wir noch einmal ganz von vorn an, hai?" "Hai..." Ein weiterer Moment des Schweigens, vermutlich verursacht durch einen weiteren zärtlichen Kuss. Dann das Geräusch eines Stuhles, der nach hinten geschoben wurde. "Bis morgen, May." "Bis morgen, Schatz." Noch ein Kuss, dieses Mal ein ganz kurzer, und die Tür wurde leise, aber für Heimdal deutlich hörbar ins Schloss gezogen. Der Wächter atmete erleichtert auf und drehte sich zu der jungen Frau um. Er stockte mitten in der Bewegung, als er sah, wie das tapfere Lächeln auf ihrem Gesicht zusammen fiel und sich ihre Hände schützend auf den viel zu flachen Bauch legten. Tränen standen in ihren braunen Augen und sie wandte ihren Kopf zur Seite, um leise zu weinen. Das nennst du also >schon gut<, Mayura? Heimdal wusste, dass er ihrer Trauer, ihrem Schmerz nicht länger zusehen konnte, auch wenn er nicht wusste, wie er sie lindern sollte. Was kann ich hier schon tun? Dafür sorgen, dass sich dieses Unheil nicht noch einmal wiederholt.< Erneut hörte er die sanfte Stimme der mysteriösen Frau in seinen Gedanken und instinktiv trat er an das Krankenbett heran, in dem Mayura so leise wie möglich schluchzte. "Mayura?" flüsterte er, obwohl er nicht damit rechnete, dass sie ihn hören konnte, hatte er den ganzen Tag über mehrfach vergeblich versucht, Loki oder Thor zu erreichen. "Mayura?" >Du bist selbst für dein Schicksal verantwortlich - und für das ihrige.< "Hai?" Sie fuhr sich über die nassen Wangen und Heimdal verzog schmerzhaft sein Gesicht, als sie dabei mehrere Schläuche mit sich führte. Dann erst erkannte er, dass sie ihm geantwortet hatte. Oder war es wieder nur ein Trick, ein trügerisches Selbstgespräch wie bei Loki in dem Tempel? "Mayura?" "Hai?" Erneut antwortete sie und sah sich suchend in dem Raum um, schaute sogar zu Boden, was von ihrer Erfahrung mit verwandelten Göttern herrührte. Als sie ihren Blick wieder hob, weiteten sich ihre Augen und sie blinzelte mehrfach, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. "Heimdal-kun?" Sie kann mich sehen! Der Wächter umrundete das Bett und beugte sich über die junge Frau, die ihn nicht aus ihren Augen ließ. "Wie kann das sein? Ich hab dich damals auf Lokis Bett verbluten gesehen, vor genau zehn Jahren... kami sama!" Tränen schossen in Mayuras braune Augen, als sie das Bündel an Heimdals Brust erblickte. Zitternd streckte sie ihre Hand nach dem Baby aus, das glücklich gluckste. Das kleine Mädchen war hellwach und schien zu spüren, wer sich da vor ihm befand. Auch Mayura schien ganz genau zu wissen, wen Heimdal so sanft umarmte. Eine Mutter erkennt ihr Kind. Ich will es ihr geben. Ich will, dass sie glücklich ist. Ich will, dass dieses kleine Mädchen bei seiner Mutter aufwächst und nicht in Niflheim, wo es sie vermutlich nie kennen lernen wird. Ich will, dass Fenrir und Migar nicht so niedergeschlagen dreinschauen. Ich will, dass Loki nicht länger im Selbstmitleid vergeht. Ich will, dass sich Thor nicht so viele Sorgen zu machen braucht und sich erholt, er sieht so schwach, so krank aus... Heimdal war es egal, ob er damit seinem Erzrivalen half, ob er damit endgültig die Mission Odins unterwanderte und sich sogar gegen die Regeln des Schicksals aufbegehrte. Er wollte nur dieses Unheil von Mayura abwenden, genauso, wie die mysteriöse Frau es ihm beauftragt hatte. Nur leider wusste er nicht, wie er das anstellen sollte. >Du bist selbst für dein Schicksal verantwortlich - und für das ihrige.< "Hel..." Mayuras zitternde Hand berührte das kleine Köpfchen und Heimdal löste schweigend die Windel, um das Kleinkind in die wartenden Arme seiner Mutter zu geben. Mayura hielt es sofort sanft fest und Heimdal wusste, dass sie ihre Tochter nie mehr hergeben würde - selbst wenn es sie dieses Mal tatsächlich ihr Leben kostete. Das werde ich zu verhindern wissen! "Hel..." Mayura weinte und lachte zur gleichen Zeit, als das Baby sie mit großen dunkelgrünen Augen, die so sehr Lokis glichen, anschaute und das schönste Lachen lachte, das die junge Frau je in ihrem Leben gehört hatte. "Wie... wie ist das möglich?" fragte Mayura schließlich, zwang sich äußerlich zu einer Ruhe, die sie wohl erst dann erhalten würde, wenn ihr jemand bestätigte, dass sie ihre Tochter nie mehr hergeben musste. "Ich bin ein Gott." Erwiderte Heimdal cool, bemerkte jedoch ärgerlich das Zittern in seiner eigenen Stimme. "Loki sagt das auch von sich und trotzdem konnte er ihr nicht helfen." "Ich bin ein toter Gott. Loki kann nicht in das Totenreich gehen und sie zurück holen. Ich schon." Heimdal grinste überlegen und genoss den Triumph in vollen Zügen. Ja, er konnte wahrlich triumphieren, dass er Loki in einer solch wichtigen Angelegenheit geschlagen hatte. Und ein schlechtes Gewissen brauchte er dieses Mal nicht zu haben, tat er durch seinen Sieg sogar Gutes! "Ins... Totenreich..." "Es heißt auch Niflheim." Heimdal, vor wenigen Augenblicken noch unschlüssig ob seiner Vorgehensweise, trat nun entschlossen einen Schritt zurück und lächelte befreit, als er die ihm wohlbekannten Flügel spürte, die sich hinter seinem Rücken entfalteten. Wie lange er sie nicht mehr gespürt hatte, da er nicht mehr genug Macht in dem verfluchten kindlichen Körper besessen hatte! Als Wächter der nordischen Götter hielt er sie oft verborgen, da sie ihn bei den Arbeiten des Alltags störten und er außerdem häufig in Walhalla irgendwo hängen blieb und eine kostbare Vase herunter riss - und sich Thors schallendes Gelächter einhandelte - aber in Momenten wie diesen genoss er das Gefühl der weichen Federn auf seiner Haut, die Macht, die durch seinen Körper floss. Macht, die er vor so langer Zeit für verloren geglaubt hatte. "Was... was hast du vor?" Mayura versuchte, vor ihm davon zu kriechen, stieß aber gegen eines der medizinischen Geräte, das schneller als normal piepte. Schützend hielt sie ihre Arme vor ihr Kind, als sich Heimdal dem Bett näherte. "Nimm sie mir nicht fort, Heimdal-kun, bitte." Lokis Frau fleht MICH an. Heimdal grinste höhnisch, aber ein Blick in ihre furchtgeweiteten Augen ließ ihn zur Besinnung kommen. Er war nicht hier, um sich an seinem Erzrivalen zu rächen, sondern, um ein großes Unheil zu verhindern. Um Hel eine zweite Chance zu geben. Einem Mädchen, das er in Walhalla so oft besucht und das sein Herz zu lieben begann, als sie ihn mit ihrer Babysprache >Ontel Himtal< genannt hatte. Onkel Heimdal. Nie hatte er sich eine eigene Familie gewünscht, aber in jenen Momenten wäre er gerne ihr Onkel gewesen. "Nein, Mayura, deswegen bin ich nicht hier." Heimdal streckte seine Hände aus und musste sich auf die Matratze knien, um sie berühren zu können. Sanft legte er seine eisigen Finger auf ihre heißen Wangen, da er sich nicht getraute, ihre Arme zu umfassen. Womöglich glaubte sie ihm nicht und tat sich furchtbar weh bei dem Versuch, mit ihrem Kind vor ihm zu flüchten. Sie war noch sehr geschwächt, hatte vor wenigen Wochen dem Tod wirklich näher als dem Leben gestanden. Hel braucht eine starke Mama. "Ich will dir dein Kind zurück geben, nicht, es dir nehmen." Heimdal spannte seine Flügel und die weißen Federn leuchteten golden, als ihn seine ursprüngliche Macht durchströmte. Er wusste nicht, warum er plötzlich wieder über sie verfügte. Lag es daran, dass er sich wieder in seiner wahren Gestalt befand? Oder löste der Tod die Verbindung, durch die Loki mit Hilfe seines rechten Auges jegliche Kraft von ihm absaugte? Oder verlieh ihm die mysteriöse Frau diese Macht? Heimdal konnte keine Antworten auf seine Fragen finden, aber sie waren auch nicht wichtig. Wichtig war die junge Frau vor ihm und er konzentrierte sich. Das goldene Leuchten umfasste bald seinen gesamten Körper und ging auf Mayura über. Das nervige Piepen der Maschinen wurde langsamer, regelmäßiger und Farbe kehrte in die bleichen Wangen zurück. Die junge Frau schnappte erschrocken nach Luft, als alle Kanülen aus ihrem Körper fuhren und sich die blutenden Einstiche sofort schlossen und verheilten. Fest hielt sie ihre Tochter, die das Leuchten amüsiert beobachtete, in ihrem linken Arm, während sie mit ihrer rechten Hand unter die Decke fuhr. Ihr Bauch schmerzte nicht länger und als die Verbände von ihrem Leib abfielen, fand sie keine Wunde, nicht einmal eine Narbe. Alles, was sie fühlte, war unversehrte Haut. "Nani..." "Das ist mein Geschenk, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag." Grinste Heimdal. Das goldene Leuchten erstarb, als er sich von ihr löste und zurück auf den Boden sprang. Die Flügel zitterten leicht und er wusste, dass er seine Macht aufgebraucht hatte. Nun würde er nach Niflheim zurück kehren. Aber mit dieser Erinnerung würde er die nächste Ewigkeit überstehen, egal, welche Alpträume dort auch auf ihn warteten. Niemals würde er das selige Lächeln einer Mutter vergessen, der er ihr Kind zurück gegeben hatte. Ich hab das Unheil abgewendet, siehst du? Er verbeugte sich vor Mayura in der traditionell japanischen Art, wie er das heute bei Thor mehrfach gesehen hatte. "Gib gut auf sie auf. Auf sie und auf diese verrückten Götter, sie brauchen dich." "Wo gehst du hin, Heimdal-kun?" Heimdal-kun klingt seltsam, aber auf jeden Fall besser als Kazumi-chan, "Zurück in die Totenwelt, wo ich hingehöre." "Du gehörst hier her. Thor und Loki waren nach deinem Tod unglücklich, sind es noch heute." "Ich denke, sie haben jetzt genug zu tun, anstelle wie Trauerklöße in der Gegend herum zu sitzen." Heimdal deutete auf Hel, die herzhaft gähnte und ihre kleinen Augen schloss. Er hatte das Kleinkind nur einen Tag durch die Welt getragen, aber er ahnte, dass er sie schrecklich vermissen würde in dem Reich der Stille. "Außerdem steht es nicht in meiner Macht, hier zu bleiben. Leb wohl, Mayura." Der Wächter zog seine Flügel wieder ein und drehte sich zu dem gleißenden Licht, das sich wie erwartet hinter ihm aufgetan hatte. Vermutlich würde ihn die mysteriöse Frau empfangen und wenn er viel Glück hatte, konnte sie seine Alpträume stoppen und ihn diese eine, diese wunderschöne Erinnerung schenken. "Dann steht es in meiner Macht!" Zwei kräftige Hände packten seine Arme und zogen ihn entschieden von dem Licht fort. "Noch einmal lass ich dich nicht entkommen, Heim." Verwundert drehte Heimdal seinen Kopf und blickte geradewegs in Lokis entschlossenes Gesicht. *** Kapitel 4: Alpha - 4: Götterdämmerung ------------------------------------- Kapitel 5: Götterdämmerung Hell leuchtete der Spiegel im Sonnenlicht, reflektierte die warmen Strahlen. In ihm bewegte sich eine Gestalt, vielleicht auch mehrere, aber ein genauer Blick blieb dem Betrachter verwehrt, als ein weißes Tuch über das Glas gehängt wurde. "So breitet sich die Sünde aus!" *** Blut. Überall war Blut. Ein rotes, unendliches Meer ohne Ausweg. In ihm trieb ein Schatten. Der Schatten eines Kindes, das doch kein Kind war, schon seit etlichen Jahrtausenden nicht mehr. Bewegungslos, regungslos. Tot. "NEIN!" Thor fuhr in die Höhe und seine schreckgeweiteten Augen blickten suchend umher. Als sie das Licht der kleinen Nachttischlampe fanden, die immer in der Nacht brannte, ließ sich der Donnergott mit einem lauten Seufzen auf sein Kissen zurück sinken. Stumm starrte er an die Decke seines Bettes, in das er sich zur Ruhe begeben hatte, nachdem er zwei von Midgars Okonomiyaki gegessen und sich davon überzeugt hatte, dass es den beiden Söhnen gut ging. Wie spät ist es? Thor tastete nach seiner Armbanduhr und gähnte herzhaft, als die Zeiger ihm zehn Minuten nach Mitternacht anzeigten. Gerade zwei Stunden Schlaf! Dennoch wusste der Donnergott aus Erfahrung, dass an weiteren Schlaf in dieser Nacht nicht zu denken war. Nicht, nachdem ihm wieder dieser Alptraum heimgesucht hatte. Während er die ersten Tage und Wochen ohne Schlaf auskam, bis sein irdischer Körper sehr krank wurde und er einsehen musste, dass er sich trotz der wenigen göttlichen Kräfte, die ihm geblieben waren, nicht vor seinen Ängsten verbergen konnte. Die Alpträume, besonders dieser Alptraum, wurde seltener, raubte ihm seit jenem Abend, an dem Mayura blutend zusammen brach, jedoch erneut den Schlaf. Kurz nach Mitternacht. Thor gähnte erneut und zwang sich schließlich aufzustehen. Er konnte sich nun zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden. Entweder er suchte erneut ein wenig Schlaf, um weitere Alpträume zu finden und sich am nächsten Morgen noch geräderter zu fühlen, oder aber er beschäftigte sich für den Rest der Nacht. Letztere Wahl gefiel seinem übermüdeten Körper nicht besonders, dafür aber seinen Gedanken, die alles tun würden, um nicht wieder die Bilder eines sterbenden Gottes sehen zu müssen. Thors Blick fiel auf die eingerahmten Photographien auf seinem Schreibtisch und er biss auf seine Unterlippe, versuchte krampfhaft, den Kloß in seinem Hals hinunterzuwürgen. Zu heftig waren die Erinnerungen an jene Augenblicke, da er den erschlaffenden Körper in seinen Armen hielt und hilflos zusehen musste, wie Heimdal auf Lokis Bett verblutete und dann plötzlich verschwand. Ich habe damals das Körbchen auf den Stufen Walhallas gefunden. War es mein Schicksal, dass ich ihn auch wieder gehen sehen musste? Auf diese brutale Weise? Thor hatte einmal den Mut aufgebracht und Urd diese Frage gestellt. Die Schicksalsgöttin hatte ihn traurig angesehen und anschließend waren sie in eine Bar gegangen und hatten sich mit Sake fast zur Besinnungslosigkeit betrunken. Belldandy und Skuld waren nicht glücklich gewesen, sie im Morgengrauen torkelnd in einer Gasse Tokios vorzufinden. Sake. Der Donnergott stülpte sich einen dunklen Pullover über seinen schwarzen Schlafanzug und suchte seine Hausschuhe. Da er sie nicht finden konnte, zuckte er mit den Schultern und tapste barfuss in den finsteren Gang hinaus. Obwohl der Frühling bereits mit voller Kraft begonnen hatte, die Kirschbäume weiß und die Wiesen grün zu färben, so konnte es in der Nacht doch noch recht kühl sein. Thor fröstelte ein wenig, während er auf den kalten Dielen Richtung Küche lief. Wenn er keinen Schlaf finden würde, so könnte er sich wenigstens um das Frühstück kümmern. Natürlich war Midgar der bessere Koch, aber verschlief in letzter Zeit häufig, da er bis weit in die Nacht hinein auf seinen Vater wartete, der im Krankenhaus seine Frau besuchte oder noch durch die Straßen streifte. Zu Beginn hatte Thor befürchtet, dass Loki sich betrinken würde, so wie er es damals nach dem Tod von Hels Mutter getan hatte. Loki vertrug viel, aber auch sein Alkoholpensum stieß irgendwann an ihre Grenzen. Thor machte sich ernsthafte Gedanken, dass Loki sich vielleicht etwas antun könnte, so wie damals in Walhalla, wo er den Ritus von Niflheim durchführte. Erleichtert hatte der Donnergott den des Unheils fast immer in dem Tempel von Mayuras Vater gefunden. Hoffentlich ist Loki wirklich zu ihr ins Krankenhaus gegangen und starrt nicht wieder den Altar hasserfüllt an. Thor schlug die viel zu weiten Ärmel seines Pullovers zurück und schob langsam die Tür zur Küche auf. Einst hatte das Kleidungsstück ihm gepasst, aber Mayura hatte sich immer um die Wäsche gekümmert und nachdem sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war, übernahm Thor diese Aufgabe - mit dem durchschlagenden Erfolg, dass er die Kleidung entweder ausleierte oder einging. Migar erbarmte sich schließlich seiner, las die Bedienungsanleitung der Waschmaschine durch und seitdem konnten sie wieder ohne Bedenken ihre Anziehsachen in den Schlund des weißen Ungetüms stecken. Sake. Der Donnergott öffnete den Kühlschrank und sah die dunkle Flasche sofort. Aber er ignorierte sie und ergriff statt dessen die Milchpackung. Seine Hände zitterten leicht, als er sich ein Glas aus dem Schrank holte und es mit der weißen Flüssigkeit füllte. Diese starrte er für eine Weile schweigend an, bevor er sie in großen Schlucken trank. Nein, er würde sich heute nicht betrinken. Er würde es nie mehr machen, es brachte ihm nichts. Nicht einmal mehr das wunderbare Vergessen, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte, als er vor zehn Jahren begreifen musste, dass er Heimdal verloren hatte, dieser nie mehr zurückkehren würde. So zumindest sagten es ihm Loki und die anderen, die Heimdal in jener Nacht bluten gesehen hatten. Ja, sogar Thors Verstand riet ihm, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, während sein Herz hoffte. All die Jahre lang. Eine vergebliche, eine trügerische Hoffnung. Eine schmerzhafte Hoffnung, die er manchmal nicht mehr ertrug. Besonders dann nicht, wenn er wieder in die leere Wohnung gegangen und dort die ganze Nacht hindurch gewartet hatte. Auf ein Wunder, dass nicht geschehen würde. Selbst ihm als Gott nicht. Das erste Jahr nach Heimdals Tod hatte sich Thor in die Schularbeiten gestürzt, als hinge sein Leben davon ab. Bis tief in die Nacht hinein lernte er, oft sogar zusammen mit Mayura und einigen ihrer Mitschüler, die langsam auch seine Freunde wurde. Oder bessere Bekannte, er wusste es nicht. Er würde es nie wissen, aber sie waren nett, wenn sie auch nicht verstanden, was in ihm vor ging. Nicht einmal Loki schien es zu verstehen, obwohl der Unheilsgott ebenfalls betrübt aussah. Aber Loki hatte seine Mayura, die ihn aufheiterte. Er, so erschien es dem Donnergott, hatte niemanden mehr. Der Schulabschluss kam und plötzlich stand Thor ohne Pläne für seine Zukunft da. Für eine düstere Zukunft, die ihn nicht mehr interessierte. Er wollte nicht mehr nach Asgard zurück kehren, selbst wenn Odin ihn wieder aufgenommen hätte. Jede Ecke hätte ihn an Heimdal erinnert. An ein Kleinkind, das seine ersten unsicheren Schritte in seine wartenden Arme getan hatte. An einen frechen Jungen, der ihm die Zunge herausgestreckt und ihn aufgefordert hatte, ihn doch zu fangen. An einen jungen Mann, der ihn wütend angeblitzt hatte, um dann doch seiner Forderung nachzukommen, wenn auch zähneknirschend. An einen erwachsenen Gott, der verstohlen gelächelt hatte, wenn Lokis Kinder um ihn herum gewesen, wenn Hel in seinem Arm geschlafen, wenn Thor der Rasselbande eine lustige Geschichte vorgelesen hatte. Das Zeugnis verbannte er in die Tiefen seines Schreibtisches in seiner winzigen Wohnung und verbrachte die folgenden Monate in einem Dämmerzustand, in dem er wahllos jeden Alkohol in sich herein schüttete, den er finden konnte. Den er mit dem wenigen Geld, das er besaß, kaufen konnte. Obwohl er Sake bevorzugte. Wenig reichte schon aus, um ihn so richtig betrunken werden zu lassen, um ihn weiter an sein Ziel des Vergessens zu bringen. Er verlor irgendwann seine Wohnung und auch seinen Lebensmut. Es war mitten im Winter nach ihrer Schulentlassung, als Thor inmitten eines Schneesturmes stehen blieb und zu verstehen begann, warum Loki den Ritus von Niflheim beschwor, um seiner toten Tochter zu folgen. Ja, er hatte sich sogar gewünscht, in jenem Sturm zu erfrieren, um wieder bei Heimdal zu sein. Um sich wieder um den schmollenden Wächter zu kümmern, wie er das sein ganzes Leben getan hatte, nachdem er eines morgens die großen Portale öffnete, um im Garten spielen zu gehen, und beinahe über das kleine Körbchen stolperte. Noch zu gut konnte er sich an die großen, roten Augen erinnern, die ihn aus dem Inneren gemustert hatten. Nie würde er das glucksende Lachen vergessen, das ihm Heimdal schenkte, da er das Baby auf den Arm nahm und zu Odin trug. Er hatte den kleinen Gott sofort geliebt - und der Gedanke, ihn nie mehr wieder zu sehen, brach ihm das Herz, so wie der Verlust seiner Kinder Loki beinahe zerstört hatte. Vielleicht hatte es der Unheilsgott geahnt, kannte er Thors Schmerz nur all zu gut, oder aber er hatte sich einfach Sorgen gemacht, auf jeden Fall tauchte Loki plötzlich neben ihm in dem Schneesturm auf und erklärte ihm, dass er Mayura einen Heiratsantrag gemacht und sie angenommen hätte. Die Hochzeit würde nächsten Frühling stattfinden und sie beide wollten Thor als Trauzeugen. Sie beide brauchten ihn. Der Donnergott wäre damals gerne in dem Schneesturm stehen geblieben, aber er folgte Loki in dessen Haus, in dem er Unterschlupf und so etwas wie eine Perspektive fand. Mayura, die sich für eine Laufbahn als Polizist entschieden hatte, um später Lokis Detektei übernehmen zu können, redete so lange auf ihn ein, bis er sich schließlich zu einem Studium überwand und dieses im Sommer nach dem rauschenden Fest auch aufnahm. Ohne Loki wäre ich jetzt auch in Niflheim. Und wenn ich besser aufgepasst hätte, wäre Heim noch hier. Thor strich sich einige Strähnen seines vom Schlaf wirr abstehenden Haares hinter die Ohren und stellte das Glas in die Spüle. Gerade wollte er den Kühlschrank erneut öffnen, um die Zutaten für das Frühstück hervor zu kramen und zu hoffen, dass er nicht all zu viel Lärm verursachen und jemanden wecken würde, als er den empörten Schrei vernahm. Die Tür knallte wie von selbst wieder zu und Thor drehte sich um, starrte verwirrt in die dunkle Küche um ihn herum. Hatte er das gerade richtig gehört? Ein Schrei? Stille. Vollkommene Stille. Der Donnergott runzelte seine Stirn, aber da ertönte das Geräusch erneut. Eindeutig, es war ein lautes Brüllen, das aber sofort wieder verschwand. Bin ich jetzt schon vollkommen durchgedreht? Thor tastete nach dem Besen, der in der Ecke stand und schlich sich leise auf den Gang hinaus. Sein Holzkatana, in das er seinen Hammer gebannt hatte, stand noch in seinem Zimmer an das Bett gelehnt, aber er dachte nicht einmal an seine eigentliche Waffe, als er auf Zehenspitzen über die Dielen lief. Das Geräusch ertönte noch zwei Mal und mit Schaudern stellte er fest, dass es sich dabei nicht um Midgar oder Fenrir handelte, die sich vielleicht verletzt hatten oder aus anderen Gründen um Hilfe riefen. Nein, diese Stimme war viel höher, jünger. Ein Baby schreit. Der Donnergott schüttelte seinen Kopf und hielt den Besen fester vor seinem Oberkörper. Das konnte nicht sein, in diesem Haus gab es kein Kleinkind, selbst wenn Lokis Zimmer geradezu vollgestopft war mit Spielsachen und eine verwaiste Wiege in der Ecke stand. Ich hab doch gar nichts getrunken, wirklich nicht! Oder befand er sich in einem anderen Traum? Einen weiteren Alptraum? Hatte ihn doch der Schlaf übermannt, bevor er aufstehen und in die Küche gehen konnte? Die Schreie, die nun wieder vollkommen verstummt waren, kamen eindeutig aus dem Wohnzimmer. Was würde ihn erwarten, wenn er die Tür nun aufstieß? Ein weiteres Meer aus Blut? Würde nun neben Heimdal auch die kleine Hel mit in dem roten Strudel treiben? Oder würde sich Heimdal auf ihn stürzen und ihn für seinen Tod verantwortlich machen? Will ich wirklich da rein? Thor seufzte leise und hielt den Besen schützend vor seinen Oberkörper, während er mit seinem rechten Fuß die Tür aufschubste, die nur leicht angelehnt gewesen war. Helles Licht umhüllte ihn und geblendete kniff er seine Augen zusammen. Als er sie öffnete, war er sich sicher, in einem Traum zu wandeln, der sich später vermutlich in einen Alptraum verwandeln würde. Im Moment interessierte das den Donnergott herzlich wenig, zu sehr war er von dem Bild eingenommen, das sich ihm bot. Mayura saß auf ihrem Lieblingsplatz auf der Couch und strahlte über das ganze Gesicht. Die junge Frau hing nicht länger an diversen Schläuchen und nervig piependen Apparaturen, ihr Körper wirkte nicht mehr ausgemergelt und krank. Nein, ihre Wangen waren gerötet und sie besaß eine gesunde Gesichtsfarbe. Kein Schmerz war mehr in ihrem Blick zu sehen, nur noch Freude. Unendliche Freude. Ihre braunen Augen ruhten liebevoll auf dem Bündel, das sie in ihren Armen hielt, die nicht länger bebten. Thor erkannte in dem Baby, das Mayura zärtlich wiegte, sofort Hel. Midgar stand hinter dem Sofa und sah mit Tränen in den Augen über Mayuras Schulter in das winzige Gesicht seiner kleinen Schwester, während Fenrir mehrfach versuchte, auf den Schoß seiner Ziehmutter zu klettern, vor Schreck aber jedes Mal zurück auf das weiche Sofakissen fiel, als Hel erschrocken aufschrie, im nächsten Moment von ihrer Mutter jedoch zärtlich getröstet wurde. "Fenrir-chan, du darfst nicht so nah an ihr Gesicht rangehen, du erschrickst sie." "Ja, Mommy." Also ist das einer von den Träumen, die wundervoll anfangen und dann grässlich enden. Was wird dieses Mal geschehen? Wird Odin kommen und Mayura ihr Kind in einem Meer aus Blut verlieren? Oder wird er ein Monster schicken? Oder wird Mayura in einem hellen Licht verschwinden? So wie Heimdal verschwunden ist? "Hallo, Thor." Die helle Kinderstimme lenkte Thors Blick von einer strahlenden Mayura im Kreise ihrer Kinder auf Loki, der neben ihr auf dem Sofa saß und seine rechte Hand schützend auf das weiße Bündel gelegt hatte, das seine Tochter war. Der Unheilsgott wirkte noch immer so müde wie Thor ihn vor einigen Stunden, bevor er einschlief und dieser seltsame Traum begann, praktisch aus dem Haus geworfen und in die Klinik zu seiner Frau geschickt hatte. Aber er lächelte glücklich. Freude sprach aus seinem ganzen Wesen. Freude, die Thor während der letzten Wochen schmerzlich vermisst hatte, da er sie die Monate davor im Überfluss erlebte. Freude, die verrauchen würde wie dieser Traum. Ein so wunderschöner Traum. Wie grausam würde da erst der Alptraum ausfallen, in den sich das Bild vor Thor verwandeln würde? Gewiss bald? "Hallo." Thor runzelte seine Stirn, als ihm bewusst wurde, dass Loki nicht länger in der Gestalt auf dem Sofa saß, in der er als Gott Unheil über die Menschen gebracht, in der er Mayura einen Heiratsantrag gemacht und ihr sein Wort gegeben hatte. Dieser Loki, der sich an seiner kleinen Tochter gar nicht satt sehen konnte, befand sich wieder in dem Kinderkörper, in den Odin ihn einst auf die Erde verbannt hatte. Mayura schien dies gar nichts auszumachen, denn sie beugte sich kurz zu ihm hinunter und gab ihn einen zärtlichen Kuss, woraufhin Midgar schamhaft errötete und Fenrir fröhlich auf seinem Kissen auf und ab sprang, um einen besseren Blick auf seine kleine Schwester erhaschen zu können. Was für ein seltsamer Traum ist das? Wunschdenken und Erinnerungen gemixt? Ein grünliches Leuchten umgab den Unheilsgott bei seinen Bewegungen. Thor konnte es nicht zuordnen. Natürlich hatte er ähnliches bereits in Walhalla gesehen, als Loki noch als nordischer Gott tätig war, noch nicht in der Verbannung lebte und die meisten seiner göttlichen Kräfte durch Odins Verstoß eingebüßt hatte. Den Rest seiner Kraft benutzte der Unheilsgott selten. Wenn das eine Vorhersagung der Schwestern in einen Traum gepackt sein soll, so versteh ich sie nicht. Oder ist Urd mal wieder betrunken? "Nimm endlich den Besen runter, das sieht dämlich aus!" Diese Stimme kannte Thor, obwohl er sie seit zehn Jahren nicht mehr gehört hatte. Er hätte sie überall und jederzeit wiedererkannt. "Sind hier schwarze Schlafanzüge die Mode oder was?" Thor drehte seinen Kopf und der Besen fiel scheppernd zu Boden, als er Heimdal in dem Fernsehsessel lümmeln sah. Ja, lümmeln war der richtige Ausdruck. Der Wächter ließ seine Beine lässig über die Lehne baumeln, während er auf einem Schokoriegel kaute. Wie auch Loki saß Heimdal im Kinderkörper im Wohnzimmer und ein ähnlich grünliches Leuchten umgab auch seine Gestalt. Das rechte Auge blitzte ärgerlich, aber er schien unverletzt zu sein. Thors Blick suchte kurz den kleinen Körper ab, konnte aber zu seiner Erleichterung keine Wunden oder gar Blut sehen. Noch nicht. Warte erst ab, wie sich dieser Traum noch entwickelt! Aber ich muss das hier nicht verstehen, oder? "Soll ich dir einen Tee machen, Thor-sama?" Midgar riss sich endlich von seiner Ziehmutter und seiner kleinen Schwester los und wandte sich freudig lächelnd an den Donnergott. Dieser setzte sich auf die Kante des Tisches und nickte, da er nichts besseres zu erwidern wusste. "Und mir eine heiße Schokolade." Grinste Heimdal unverschämt, aber Thor wusste instinktiv, dass ihn etwas beschäftigte. Der Donnergott hatte den Wächter mehrere Jahrtausende um sich herum gehabt, er wusste den Gesichtsausdruck Heimdals ganz genau zu deuten. Der kleine Gott stand kurz davor, seine Beherrschung zu verlieren und einen zornigen Streit vom Zaun zu brechen. Ich habe ihn immer so gut lesen können, warum hab ich dann übersehen, dass es ihm so schlecht ging, dass er so krank war? Thor seufzte leise und musste nicht lange auf den Wutausbruch Heimdals warten. "Kannst du mir jetzt endlich mal erklären, was dieser ganze Scheiß soll?" fuhr der Wächter den selig lächelnden Vater an. "Du kannst dir die ganze Mühe gleich sparen, Loki, ohne mein Auge werde ich nie meine Macht zurück erlangen und ohne Macht fahr ich sowieso wieder in Niflheim ein. Du kannst mich nicht ewig davor bewahren." "Loki hat dich aus Niflheim geholt?" fragte Thor, bevor er sich stoppen konnte. Das würde natürlich erklären, warum Loki seine Kindergestalt angenommen hatte, denn sie sparte ihm Kraft, die er vermutlich auf Heimdal übertrug, um ihm in dieser Welt zu halten. Deswegen umgab die beiden also dieses ungesund grüne Leuchten. Thor war verblüfft darüber, dass einer seiner Träume ein wenig Logik vermittelte, normalerweise watete er ziellos durch tiefes Blut und manchmal wurde die Traumwelt sogar auf den Kopf gestellt oder verwandelte sich in einen reißenden Strudel. "Nein, Heimdal hat Mayura Hel zurück gegeben und ich lass ihn nicht mehr nach Niflheim gehen." "Sehr großmütig, Idiot, aber auch deine Macht wird irgendwann erschöpft sein. Also lass es gleich sein, ich bin sowieso tot." Ein Traum mit logisch denkenden Hauptpersonen. Absolut seltsam. "Das glauben aber nicht alle in diesem Raum." "Eine heiße Kartoffel und ein dummes In-die-Hände-Klatschen bringen mich auch nicht wieder ins Leben!" "Dein Auge schon." "Du willst es mir ja nicht geben!" "Aber ich weiß, wo es ist... zumindest vermute ich das..." "Weil du es mir gestohlen hast!" "Nein, hab ich nicht, zum hunderttausendsten Mal!" Sie streiten sich in meinen Träumen genauso wild wie damals, als Heimdal noch lebte. Ich muss wohl sehr viele Streitereien erlebt haben, um so etwas Reales zu träumen. "Er hat es wirklich nicht, Heim, sonst hätte er dich nicht verbluten lassen." Thor wusste, dass dieser Traum vergehen würde und alles, was er sagte, würde keine Bedeutung mehr haben, aber er musste einfach etwas sagen, egal, wie sinnlos es war. Loki war wirklich unschuldig. "Er hat auch um dich getrauert. Ich habe die letzten acht Jahre hier gelebt, Heim, und ich habe nie auch nur einen Hinweis gefunden, der Lokis Verrat bestätigt hätte." "Es war Odins Werk gewesen." Der Unheilsgott war von dem Sofa gesprungen und ging zu dem Wächter hinüber, der wild mit seiner rechten Hand in der Luft gestikulierte - und damit den Schokoriegel auf dem gesamten Sessel verteilte. "Das glaubst du doch wohl selbst nicht!" Heimdals Auge funkelte zornig und er erhob sich seinerseits, bemerkte gar nicht, dass er mit seinen Stiefeln den sauberen Stoff beschmutzte. Midgar würde sicherlich Stunden brauchen, um den Dreck wieder zu entfernen. "Odin hat immer auf meiner Seite gestanden, als du mich verraten hast, Loki! Er wollte mir helfen, als es mir immer schlechter ging. Ihr habt euch hier beim Kartenspiel amüsiert, aber er ist in diese verdammte Wohnung gekommen und hat mit mir gesprochen, hat versucht, mich zu trösten und mich zu heilen!" Ja, ich habe nicht gesehen, dass Heimdal litt, das werde ich mir nie vergeben. Thor blickte kurz auf und dankte Midgar, der ihm eine Tasse Tee in die Hand drückte. Die heiße Schokolade stellte er auf den Tisch, blickte kurz auf Heimdals dreckige Stiefel, sagte jedoch nichts, als er wieder hinter seiner Ziehmutter Stellung bezog. Er kannte die Streitereien noch zu gut aus der Vergangenheit, er wusste, dass seinem Vater keine Gefahr drohte. Keine wirkliche Gefahr. "Warum bist du dann in Niflheim eingefahren, Heimdal?" konterte Loki und Thor sah, wie Heimdal nach Luft schnappte, ihm aber offensichtlich geeignete Schimpfwörter fehlten, die er seinem Rivalen an den Kopf werfen konnte. "Meinst du nicht, dass Odin stark genug gewesen wäre, dieses Unglück zu verhindern?" "Das glaube ich dir nicht! Das ist alles Verleumdung! Odin hat an mich geglaubt und mir immer geholfen! Er hat mich nicht verraten, so wie ihr!" Er wies auf Loki - und auch auf Thor, der leise seufzend seinen Tee umrührte. Langsam entwickelte sich der Traum in den Alptraum, den er die ganze Zeit schon erwartet hatte. Gleich würde Heimdal wieder blutend zusammen brechen, ihn verfluchen und er würde erneut schweißgebadet in seinem Bett erwachen und sich für all das hassen, was er versäumt hatte. "Heimdal! Das..." "Wer war denn sonst in dem Raum, als ich mein Auge verloren habe? Thor und du, niemand anderes! Kein Odin, keine Norns, nur ihr zwei, meine einst besten Freunde! Verraten habt ihr mich, alle beide!" "Ich hab dich nie verraten." Flüsterte Thor, rührte weiterhin den Tee um, den er nicht trinken würde. Seine Brust schmerzte und er wollte so schnell wie möglich aufwachen. Es war leichter mit seiner Schuld zu leben, wenn ihm nicht ständig jemand seine Fehler unter die Nase rieb. Seinen Gedanken entkam er nicht, trotzdem war es besser, wenn sie in seinem Kopf umherschwirrten und nicht Heimdals gereizte Stimme. "Ach ja? Seltsam, warum hab ich hier nur eine Höhle?" Heimdal lüftete mit seiner freien Hand die violetten Strähnen und deutete auf sein fehlendes Auge. "Weil Odin..." "Hör mir auf mit dem Scheiß! Odin liebt mich wie seinen Sohn und..." "Odin hat sich nie auch nur einen Dreck um dich gekümmert!" Thor stellte die Tasse scheppernd auf den Tisch und zuckte leicht zusammen, als heißer Tee seine Finger verbrühte. Einen derartig realistischen Traum hatte er noch nie durchleiden müssen. "Ich habe dich damals auf den Stufen Walhallas gefunden, Heim! Nur weil ich Odin bekniete und er mir wohl so etwas wie einen Spielgefährten geben wollte, durfte ich dich behalten. Um dich hat er sich nie gesorgt, du wurdest in meine Obhut gegeben und es war ihm egal, was ich mit dir anstellte. Ich war damals selbst erst einige Jahrtausende alt, Heim, und hatte absolut keine Ahnung vom Windeln, Füttern und all den Sachen, die ein Baby benötigt. Aber ich hab's mir angelernt, ich hab ein paar andere ältere Götter genervt und hab es hinbekommen, auch wenn du mir die ersten Mahlzeiten ins Gesicht gespuckt hast." Thor war aufgestanden und blickte direkt in Heimdals blitzendes Auge. Der Donnergott wusste, dass dieser Alptraum umso schlimmer werden würde, je mehr er sagte, aber er wollte, dass Heimdal ihn verstand. Nein, er wollte nicht länger mit dem Gedanken leben, dass der Wächter ihn gehasst haben könnte, da er kurz vor seinem Tod glaubte, Thor hätte ihn verraten. "Ich habe dich groß gezogen, genauso wie ich mich immer um Loki gekümmert habe. Ihr wart Odin doch egal, genauso, wie ich ihm egal war." "Diese Verleumdungen höre ich mir nicht länger an!" Heimdal schleuderte den Schokoriegel wütend auf den Fußboden und wollte aus dem Raum stapfen, aber Thor hielt ihn zurück. Der Stoff des T-Shirts fühlte sich seltsam warm und real unter seiner Hand an. "Odin hat ein Mal für dich gesorgt, als ich nicht da war. Wie oft hab ich mich um dich gekümmert, als er sich nicht hat blicken lassen? Verdien ich für die paar Jahrtausende denn kein Vertrauen?" "Vertrauen?" zischte Heimdal und drehte sich um, um erst zu Thor und dann zu Loki zurück zu blicken. "Ich soll euch vertrauen und Odin nicht? Ihr seid doch diejenigen, die immer behauptet haben, meine allerbesten Freunde zu sein und die mich dann verraten haben! Und euch soll ich vertrauen?" "Heim, bitte..." Lass mich aufwachen! Ich will diesen Alptraum nicht länger durchstehen müssen! "Gut, dann misstraust du uns eben. Das Problem mit deinem Auge und Niflheim bleibt. Ich schick dich da nicht zurück, vergiss es, und wenn du noch so sehr rumtobst!" Loki verschränkte seine Arme vor der Brust und sah sehr zornig, aber auch sehr entschlossen aus. "Du hast mir meine Tochter gebracht, dafür stehe ich in deiner Schuld." "Vergiss es, ich hab's nicht für dich getan, sondern für sie." Heimdal deutete auf Mayura, die Hel sanft in ihren Armen wiegte. Die junge Frau blickte von dem Baby auf und lächelte den Wächter sanft, so unendlich dankbar an. In dem Moment entschied Hel, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit erhielt, und fing laut an zu brüllen. Sie ballte ihre kleinen Fäuste und winzige Tränen glitzerten in ihren dunkelgrünen Augen. "Hunger?" vermutete Thor und spürte, wie Heimdal unter seiner Hand leicht zusammen zuckte, als erinnerte er sich an etwas Unangenehmes. "Hunger und volle Windeln, vermute ich mal." Grinste Mayura, hielt ihre Tochter sicher in ihren Armen und erhob sich. Midgar und Fenrir standen sofort zu ihrer Seite. Sie würden ihre Ziehmutter und ihre kleine Schwester so schnell nicht mehr verlassen. "Brauchst du meine Hilfe?" bot sich Thor an. Traum hin oder her, Windeln konnte er noch immer sehr gut, hatte er doch mehrere Jahrtausende an Übung gehabt. "Arigatou, aber nein. Loki und ich haben genug Seminare darüber besucht, ich denke, ich bekomm das schon hin. Kommt, Jungs." Mayura hielt ihre Tochter sanft fest, blieb aber im Türrahmen stehen und sah zu Heimdal zurück, der das Baby in ihren Armen mit einem fast sehnsüchtigen Blick begutachtete. "Ich danke dir von ganzem Herzen, Heimdal-kun. Außerdem würde ich mich freuen, wenn du Lokis Angebot annehmen würdest und hier bleiben könntest. Ich denke, auch Hel fände das super, nicht wahr, meine Süße?" Sie herzte das Baby, warf Loki einen Blick zu, der mehr sagte als tausend Worte, und war im nächsten Moment zur Tür hinaus, ließ einen sichtlich verwirrten Heimdal vor einer plötzlich verschlossenen Tür stehen. "Na toll!" knurrte der Wächter und setzte sich schwungvoll auf das Sofa, wo Mayura noch vor wenigen Minuten zusammen mit ihren Kindern gesessen hatte. Heimdal verschränkte die Arme vor seiner Brust und starrte seine ehemals allerbesten Freunde skeptisch an. "Und was habt ihr jetzt vor?" So bald wie möglich aufwachen. Thor ergriff erneut seine Tasse und schlenderte zum Fenster hinüber. Kurz sah er hinaus, aber eine normale Frühlingsnacht hieß ihn willkommen. Nirgendwo konnte er Blut oder ein Monster erkennen, das ihn bald angreifen, ihm erneut Heimdal und Hel entreißen würde. Jeden Moment würde Mayura zu schreien beginnen und er würde zu spät kommen, um ihr zu helfen - oder wieder hilflos daneben stehen, während sie mit ihrem Leben rang - und das Leben ihres Kindes verlor. "Wir gehen zu Odin und fordern dein Auge zurück." "Trottel! Er hat mein Auge nicht! Wie oft..." "Ich diskutiere nicht weiter mit dir, Heimdal. Wir haben keine Zeit für unsere üblichen Spielchen..." "Das nennst du Spielchen? Das ist blutiger Ernst, du..." "Dein Leben ist in Gefahr, Heimdal, und ein zweites Mal werde ich das nicht leichtfertig übersehen. Wir gehen zu Odin und fordern für dich eine zweite Chance. Entweder er gibt dir dein Auge zurück - oder nimmt dich wenigstens in Walhalla wieder auf. Es ist mir egal, was du lieber glauben willst, meinetwegen, dann halte mich eben für den Verräter, aber ich lass dich nicht mehr zurück nach Niflheim gehen! Verstanden?" Loki fuhr sich über die müden Augen. Thor wünschte, dass Loki wenigstens in seinen Träumen nicht so erschöpft aussehen würde. Sie alle hatten ein wenig Schlaf nötig, wenn auch ohne lästige Alpträume. "Es wird verdammt gefährlich werden, einfach nach Walhalla zu spazieren und dich Odin stellen, obwohl er dich - zu Recht - verbannt hat." Heimdal schloss sein Auge, auch er wirkte nicht viel munterer als Loki aussah und Thor sich fühlte. "Mir bleibt kaum eine andere Wahl. Du hast Niflheim nicht verdient, genauso wenig wie meine Tochter. Du glaubst doch wohl nicht allen Ernstes, dass Odin Hel dieses Mal in Ruhe lässt, nachdem er sie mir schon zwei Mal fortgenommen hat, oder?" "Ist mir scheißegal." "Mir aber nicht." Loki schüttelte seinen Kopf. Thor sah, dass sein Entschluss feststand. Sie würden nach Asgard gehen und Odin zu einem letzten entscheidenden Kampf stellen. Wenn dies die Realität gewesen wäre, Thor hätte sich vermutlich erleichtert gefühlt, denn damit würde es bald vorbei sein - entweder mit einem guten oder mit einem schlechten Ende. Wie besagte schon ein altes Sprichwort? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Nach zehn schier endlosen Jahren stimmte Thor ihm aus tiefstem Herzen zu. "Ich ruf die anderen an." Loki schaute kurz auf die große Standuhr und gähnte unterdrückt. Es war mittlerweile kurz nach ein Uhr morgens. "Am besten wir verabreden uns alle für morgen Abend oder so, ich werde Odin wohl kaum besiegen, indem ich ihn zu Boden gähne." "Tu, was du nicht lassen kannst, meine Unterstützung hast du aber nicht." "Hatte ich nie." Loki zuckte seine Schultern und trat näher an Heimdal heran, der ihn nicht sehen konnte. Der Wächter zuckte leicht zusammen, als er plötzlich Lokis Hand auf der seinen spürte. "Willkommen zu Hause, Heimdal." Der Wächter verzog angewidert seinen Mund und wollte etwas Passendes kontern, aber Loki hatte den Raum bereits verlassen, um das Telefon aufzusuchen und die anderen Götter mitten in der Nacht aus ihrem Schlaf zu läuten. In diesem Traum geschieht wenigstens mal etwas. Vielleicht ist es doch eine Vorhersehung oder die Schwestern halten es einfach nicht mehr aus, Loki so traurig zu sehen, oder aber sie wollen einfach wieder zurück nach Walhalla. Auf der Erde kann es schön sein, erst recht als gefragte Journalisten, aber die Heimat ist doch etwas anderes. Obwohl Thor selbst nicht den Wunsch verspürte, nach Asgard zurück zu kehren. Solange er bei den Göttern beziehungsweise Menschen war, die ihm etwas bedeuteten, war er überall zu Hause. Der Traum hat bereits zu lange angedauert, gewiss folgt gleich die Katastrophe. Heimdal wird sterben, Mayura wird weinend nach Hel suchen und Loki wird vielleicht den Ritus von Niflheim anwenden, nur, dass ich ihm dieses Mal nicht helfen kann. Werde ich im Blut waten? Werde ich schreiend aufwachen und mich für den Rest des Tages fragen, warum es mir als Gott nicht möglich gewesen war, Heimdal zu helfen? Thor nahm einen Schluck des mittlerweile kalten Tees und seufzte tief. Ich will einfach, dass das alles vorbei ist. "Loki will die Revolution?" stöhnte Heimdal genervt und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Thor drehte sich um und betrachtete ihn schweigend, wünschte sich innerlich, ihn aus diesem Traum in die Wirklich nehmen zu können. "Und was willst du?" "Meine Familie zurück. Dich zurück, Heim." Thor stellte die Tasse auf das Fensterbrett und lehnte sich gegen das Glas, das sich unter seiner Stirn realistisch kühl anfühlte. Gleich würde die Katastrophe über ihn herein brechen, selbst der schönste Traum konnte bei ihm nicht so lange halten, nicht während der letzten zehn Jahre. Er hörte, wie Heimdal vom Sofa rutschte und zu ihm hinüber ging. Erneut reichte ihm der Wächter nicht einmal bis zur Brust und beschwor somit alte Erinnerungen, in denen Thor der Vater, der ältere Bruder und der beste Freund auf einmal für den kindlichen Gott gewesen war. Als Heimdal ihm noch vertraute. Bevor er auch in ihm einen Verräter sah. "Langsam weiß ich nicht mehr, was ich, wem ich glauben soll." Das grüne Leuchten verstärkte sich um den Kinderkörper und Heimdal fuhr sich über das intakte Auge, rieb die Wange darunter nachdenklich. "Dann glaub dir selbst." "Selten dämlicher Spruch, Thor, wirklich. Bist du weich geworden während der letzten zehn Jahre?" "Vielleicht..." Thor sah weiterhin hinaus in die undurchschaubare Nacht und konnte in der Reflektion des Fensters sehen, wie sich Heimdal auf die Zehenspitzen stellte, um ebenfalls in die Dunkelheit zu blicken. Für eine Weile standen sie schweigend da, bis Heimdal schließlich an Thors überweiten Pulloverärmel zog. "Geh ins Bett, Thor, du schläfst ja im Stehen ein. Loki wird sowieso die nächsten Stunden am Telefon hängen und ich kann ja eh nichts verhindern." Er deutete auf das grüne Leuchten und wirkte alles andere als begeistert. "Bringt nichts." Der Donnergott schüttelte seinen Kopf. "Ich wache nie aus meinen Träumen auf, wenn ich ins Bett gehe. Da muss es schon Blut regnen oder ein Monster uns angreifen, mindestens." Thor wandte sich erneut dem Fenster zu und wartete tatsächlich auf die unvermeidbare Katastrophe. In der Reflexion des Glases sah er Heimdals völlig entgeistertes Gesicht, hörte die leise Kinderstimme sarkastisch: "Nee, du bist nicht weich geworden, sondern einfach nur total bekloppt, sonst hättest du nie einem Bilderrahmen eine leckere Kartoffel angeboten!" Wie bitte? Als Thor sich umdrehte und in Heimdals hämisch grinsendes Gesicht blickte, hegte er plötzlich den irrationalen Verdacht, gar nicht zu träumen. *** "Stör ich?" Heimdal öffnete die Tür und lugte durch den Spalt. Im Moment wollte er weder mit Loki zusammen sein, der nun seit einer halben Stunde ununterbrochen telefonierte, noch mit Thor, der ihn plötzlich seltsam anstarrte und sich in eine Salzsäule verwandelt zu haben schien. Vermutlich hatte der Wächter mit seinem Urteil "total bekloppt" sogar Recht. Aber allein wollte er sich auch nicht in irgendein Gästezimmer zurückziehen, Einsamkeit hatte er die letzten Jahre zu Genüge gespürt. "Nein, komm ruhig rein." Mayura strahlte noch immer über das ganze Gesicht. Das Baby lag nicht länger in ihren Armen, sondern nun in der dafür vorgesehen Wiege. Die blass rosa Vorhänge waren beiseite gezogen und Heimdal konnte das kleine Mädchen darin liegen und schlafen sehen. Mayura hatte es offensichtlich gewindelt, Hel trug nun einen pinkfarbenen Schlafanzug, der gut zu ihrem Haarflaum passte. Heimdal nickte und bemühte sich, nicht auf all zu viele Spielzeuge zu treten, so wie er das vor wenigen Stunden noch getan hatte, als Thor und Loki sich stritten, als sie ihn noch nicht sahen, als Mayura noch krank und ohne Kind im Krankenhaus lag. Fenrir lag in einem aufgeblasenen Plastikring und schnarchte leise. Vermutlich hatte auch er die letzten Nächte nicht viel geschlafen, lange auf seinen Vater gewartet und sich Sorgen um seine Ziehmutter gemacht. Heimdal mochte den Welpen immer noch nicht, sah in ihm immer noch den größten Vaterkomplex der Götterwelt, aber er musste zugeben, dass der Höllenhund ein gutes Herz hatte, zumindest, was seine Familie betraf. Heimdal kniete sich vor die Wiege und legte seine Hände in den Schoß. Zuerst befürchtete er, dass Mayura ihn ausfragen würde, wie er es denn geschafft hätte, aus dem Totenreich zu entkommen und ihr ihre Tochter wieder zu geben, denn darüber wusste er selbst nicht die rechte Antwort. Auch wollte er über die letzten zehn Jahre nicht sprechen, zu sehr schmerzten die Bilder an jene Erinnerungen, die er nicht mehr ändern konnte. Die unbeschwerte Zeit in Walhalla war endgültig vorbei. Ja, Loki, der ihm sein Auge geraubt hatte, hielt ihn nun in der Welt der Lebenden mit seiner eigenen Kraft und behauptete mit einem Mal, dass dies alles Odins Schuld wäre. Das konnte er einfach nicht glauben! Während Thor den älteren Bruder, den allerbesten Freund mimte, hatte Heimdal immer den Vater in dem mächtigsten aller nordischen Götter gesehen. Ein Vater verriet doch nicht seinen eigenen Sohn! Oder? Aber er hatte sich doch um ihn gekümmert, all die Zeit in Walhalla und später auf der Erde, als er den Auftrag hatte, Loki, den Verräter, zu vernichten. Oder? Heimdal ballte seine Hände, denn er erinnerte sich an Asgard nur an Loki und Thor, die ständig um ihn gewesen waren, mit denen er so manchen Streich spielte, so viele Tage verbrachte. Der Donnergott saß an seinem Bett, wenn er krank geworden war, er brachte ihn zum Lachen, wenn er sich traurig fühlte und es war auch Thor gewesen, der ihn zu Bett brachte und einem bettelnden Jungen eine Gutenachtgeschichte erzählte und noch eine und noch eine. Selbst auf der Erde war Odin ihm nur erschienen, um ihn zu ermahnen, dass er seine Mission noch immer nicht erfüllt hatte, Loki noch immer existierte. Statt dessen war Freyr mit in seine Wohnung gezogen. Auch wenn der Wettergott, der ihn trotzdem nicht vorwarnen konnte, ob er nun einen Regenschirm bräuchte oder nicht, immer nur nach seiner Schwester suchte und so manch seltsame Idee ausheckte, so war Heimdal doch nie wirklich allein gewesen. Und nachdem Freyr seine Freya fand und mit ihr auf Weltreise ging, hatte sich Thor um ihn gekümmert. Er rettete ihn aus der Grundschule, lud ihn zum Eis ein, tauchte öfter unerwartet in seiner Wohnung auf, um den Kühlschrank zu plündern, das zubereitete Mahl aber auch mit ihm zu teilen. Manchmal wachte Heimdal auf und die Wohnung, die den Abend zuvor noch total chaotisch ausgesehen hatte, war mit einem Mal aufgeräumt und ein Frühstück stand auf seinem Küchentisch. Heimdal hatte all dem wenig Beachtung geschenkt, hatte geglaubt, dass Thor dies nur tat, weil sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte, immerhin hatte er sehr deutlich Stellung bezogen - für Loki, gegen Heimdal. Nun zweifelte der Wächter jedoch daran, was er seinen ehemals besten Freunde unterstellt hatte, da er sie während des letzten Tages beobachtete. Sie trauerten um ihn. Um ihn! Dabei hätten sie doch froh sein sollen, dass er endlich verschwunden war, Loki nicht länger bedrohte. Statt dessen trug Thor seit zehn Jahren Trauer! Heimdal zweifelte dieses eine Mal nicht an Lokis Worten, der Unheilsgott hatte ihn nicht sehen können, hatte nicht gewusst, dass er lauschte, warum hätte er dann lügen sollen? Eingerahmte Photos standen auf dem Schreibtisch des Donnergottes und er opferte einem Bild eine leckere Kartoffel! Loki begibt sich in höchste Gefahr, um mich hier zu behalten, um mich nicht zurück nach Niflheim gehen zu lassen. Heimdal hob seinen rechten Arm und betrachtete das grüne Leuchten, das seiner Bewegung sofort folgte. Es war ganz allein die Macht des Unheilsgottes, die ihn in dieser Welt hielt. Eine Tatsache, die den Wächter ungemein verwirrte. Dankbar, dass Mayura schwieg und ihn nicht mit diversen Fragen bombardierte, hob Heimdal seinen Kopf und wollte ihr gerade sagen, dass ihm die Wiege gut gefiel, da sah er, dass die junge Frau eingeschlafen war. Sie war auf dem Boden neben der Wiege zusammengesunken, hielt eine Hand noch am Rand der kleinen Schlafstatt, so als wollte sie ihre Tochter nicht los lassen. Wer weiß, wie lange sie nicht mehr geschlafen hat. Heimdal holte ein Kissen, dass er unter Mayuras Kopf schob und hüllte sie vorsichtig in eine Decke. Er hatte die junge Frau gerade erst geheilt - woher auch immer diese Macht hergekommen war - er wollte nicht, dass sie sich jetzt erkältete. Wenn Loki wirklich seinen Plan umsetzte und sich gegen Odin erhob, standen der jungen Frau anstrengende Tage bevor, ein wenig Ruhe vor dem Sturm würde ihr gut tun. Der Wächter nahm seinen Platz vor der Wiege wieder ein und schob diese sanft hin und her. Hel schmatzte in ihren Träumen und er seufzte leise. Gern würde er das kleine Mädchen in seine Arme nehmen, so wie er das den letzten Tag getan hatte. Aber er befürchtete, dass Mayura aufwachte und in Panik geriet, wenn sie dachte, er würde ihr das Kind wieder wegnehmen. Also begnügte er sich mit wenig Körperkontakt, lehnte sich vor und streichelte behutsam über die weiche Wange des Babys. Hel lächelte in ihrem Schlaf und automatisch erwiderte er das Lächeln. Heimdal wusste nicht, was er von all dem Chaos, das aus seinem Leben geworden war, halten sollte. Er vertraute weder Loki noch sich selbst. Odin als Verräter, das konnte er ebenfalls nicht glauben. Aber Heimdal wusste ganz genau, dass dieses kleine Mädchen vor ihm ein Leben, eine richtige Familie, alles Glück dieser Welt verdient hatte. Er wollte sie wieder aufwachsen sehen, dieses Mal jedoch ohne das ewige Versteckspiel, ohne die Angst vor der Entdeckung, zusammen mit ihren Brüdern. Sie sollte groß und stolz werden und nicht in ihrem sechzehnten Lebensjahr ein jähes Ende finden. Der Wächter hatte sich selten um andere gekümmert, war lediglich um Thor und Loki besorgt gewesen, bevor sie ihn verrieten. Aber dieses kleine, unschuldige Mädchen hatte sich in nur einem Tag in sein Herz geschlichen und er wollte, dass sie glücklich war. Gibt es denn keine Möglichkeit, dass ich in Walhalla bleibe unter der Obhut Odins? Er würde mich nicht zurück nach Niflheim schicken. Wenn ich Loki nun vergebe und Odin ihn in Ruhe mit seiner Familie hier in Japan leben lässt, ihm seine göttliche Kraft nimmt und einen neuen Unheilsgott ernennt? Heimdal erschrak selbst, dass er Loki wirklich seinen Verrat vergeben wollte. Aber ein Blick auf Hel sagte ihm, dass er das für das Baby tun würde. Die Tür wurde leise geöffnet, aber Heimdal blickte nicht auf. Er vermutete, dass es sich um Midgar handelte, der sich um seine Ziehmutter sorgte oder einfach seine kleine Schwester betrachten wollte, deshalb schnappte der Wächter überrascht nach Luft, als ihn plötzlich zwei Arme umschlossen und ihn fest hielten. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, ob Loki ihn nur zurückgehalten hatte, um ihn nun zu überrumpeln und zu besiegen, dann aber erkannte er die Person und atmete erleichtert auf. "Hast du endlich deine Ich-starre-Löcher-in-die-Luft-Phase überwunden?" fragte er zynisch und strampelte doch ein wenig gegen die stürmische Umarmung an, konnte sich aber nicht befreien. Natürlich nicht, schließlich stecke ich wieder in dem beschissenen Kinderkörper. Jeder Erwachsene war ihm bei Weitem überlegen. Nicht einmal sein Adler kam ihm zur Hilfe, wobei Heimdal gar nicht wusste, wo sich dieser befand, hatte er ihn während der letzten zehn Jahre nur in seinen Erinnerungen, jedoch nicht real an seiner Seite gesehen. "Das ist kein Traum? Du bist wirklich wieder zurück?" Thors Stimme klang erstickt und Heimdal entschied, sich nicht umzudrehen. Er konnte erwachsene Götter einfach nicht weinen sehen. "Dir haben sie aber ganz schön heftig auf den Kopf gehauen, oder?" "Kein Traum?" wiederholte Thor und Heimdal schrie auf, als ihn der Donnergott ohne Vorwarnung in den Arm kniff. "Hey! Das tut weh, du Idiot!" zischte der Wächter und wand sich erneut vergeblich in den starken Armen. "Außerdem musst du dich selbst kneifen und nicht andere, um zu unterscheiden, ob du träumst oder nicht!" "Also träume ich nicht." "Nein, du Volltrottel!" "Also bist du wieder zurück, Heim..." "Kann's ja wohl nicht verhindern, Loki hat sich's eben in den Kopf gesetzt, warum auch immer." Erwiderte Heimdal etwas zu laut, denn Mayura bewegte sich unter ihrer Decke und beide Götter verstummten peinlich berührt, aber die junge Frau wachte nicht auf, drehte sich nur auf ihren Bauch und schlief weiter. Heimdal wollte vorschlagen, dass sie ihre Unterhaltung, oder besser, ihr sich entwickelndes Streitgespräch, im Wohnzimmer fortsetzen sollten, wo sie niemanden störten, aber Thor wirkte nicht, als würde er ihn loslassen, also ließ er es bleiben, ergab sich seufzend in sein Schicksal. "Wo bist du all die Jahre nur gewesen, Heim?" Mayura war eingeschlafen, hatte ihn mit schmerzhaften Fragen verschont. Bei Thor schien Heimdal weniger Glück zu haben. "Frag lieber nicht genauer nach. Das ist wirklich ein Teil meines Lebens, den ich niemandem antun will." Blockte er deshalb sofort ab und lehnte sich gegen den warmen Körper in seinem Rücken. Schon immer hatte er allein sein wollen und jedes Mal hatten Loki und besonders Thor diesen Plan vereitelt. Wie sehr er die beiden vermisste, vielleicht sogar brauchte, war ihm während seines Aufenthaltes in Niflheim bewusst geworden. Dort hatte er ganze zehn Jahre, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, in totaler Einsamkeit verbracht, war von niemandem in seinen Erinnerungen gesehen worden, hatte immer allein im Schatten gestanden, als Beobachter, von allen ignoriert. Für seinen Geschmack war das genügend Einsamkeit für den Rest seiner Existenz, die sich verkürzte je länger er auf Lokis Kraft lebte. Nachdenklich hob er seine rechte Hand und betrachtete das grüne Licht nachdenklich. "Ich würde dir zuhören, Heim." "Ich weiß." Erwiderte der Wächter seufzend und erkannte erstaunt, dass dies auch stimmte. Thor hatte ihm in Asgard immer zugehört, selbst dann, als er ihn mit seinen Worten vergraulen wollte, da er glaubte, dass er auf Lokis Seite stehen würde. Dennoch konnte er ihm nicht von seinen Erlebnissen aus Niflheim erzählen, von seinen Erinnerungen. Vielleicht wäre er in ein paar Jahren dazu in der Lage, aber nicht heute, selbst wenn jede Stunde seine letzte sein konnte. Deshalb wechselte er das Thema. "Hab gehört, dass du jetzt studierst." "Hai, ich besuche ein paar Vorlesungen und Seminare." Erwiderte Thor und lehnte sich gegen die Wand, zog Heimdal auf seinen Schoß. Der Wächter wollte ihn anfahren, dass ihn das jetzt reichte, dass er doch kein Kuscheltier wäre und er es absolut nicht mochte, so geknuddelt zu werden, schließlich war er kein Kleinkind mehr, auch wenn er in einem kindlichen Körper steckte. Dann aber hörte er Thors traurige Stimme in seinen Gedanken, als der Donnergott am letzten Abend an seinem Schreibtisch gesessen und einen kleinen Zorro hinter Glas verzweifelt angeschaut hatte. >Ich wünschte, du wärst da, Heim.< >Ich vermisse dich... verdammt...< Na gut, dann soll er eben knuddeln. Aber wenn er mich zu würgen beginnt, reicht's! "Was Loki vorhat, klingt ziemlich verrückt, nicht wahr?" flüsterte Thor nach einer langen Weile, in dem er den kleinen Wächter schweigend festgehalten hatte, so als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass Heimdal wirklich und wahrhaftig da war und es sich nicht, wie so oft während der letzten zehn Jahre, um einen Traum oder Wunsch handelte. "Hat Loki jemals etwas getan, das nicht verrückt war?" "Als ob du je besser gewesen wärst, Heim. Oder war das jemand anderes, der damals der Statue von Odin einen Strohhut aufsetzte und einen Schnurrbart auf das verhangene Gesicht malte?" "Es gibt ja wohl noch ein Unterschied zwischen einer Statue und dem echten Gott. Odin ist mächtig und furchtbar wütend auf Loki." Heimdal schielte zu der Wiege und schüttelte seinen Kopf. "Ich wünschte, all dies hätte endlich ein Ende." "Hai..." "Seit wann sprichst du eigentlich diesen bekloppten japanischen Akzent, Thor?" "Gewöhnt man sich über die Jahre so an. Sei du erst mal zehn Jahre in Japan, dann kommt das ganz von allein." "Danke, ich verzichte." Erneutes Schweigen, erneutes tiefes Luftholen von beiden. "Thor, ich..." "Heim, ich..." Begannen beide zur selben Zeit. "Du zuerst." Entschied Heimdal, der sich normalerweise nicht darum scherte, ob er jemandem ins Wort fiel. "Weißt du noch, was ich damals zu Mayura-kuns Geburtstagsfeier in Lokis Garten gesagt habe? Wir haben sie und Loki auf der Lichtung beobachtet." "Loki hat ihr seine Flügel gezeigt. Ganz schönes Risiko, würde ich sagen." Murrte Heimdal, wusste nicht so recht, worauf Thor hinaus wollte. "Aber es hat sich gelohnt. Manchmal muss man einfach ein Risiko eingehen." "Loki hat schon immer hoch gepokert." "Und auch hoch verloren." "Ja, ich kann mich an jenen Moment erinnern, und was willst du mir damit sagen?" fragte Heimdal ungeduldig und schloss sein Auge, als sich die Welt um ihn zu drehen begann. Er schob es auf seinen übermüdeten Körper, wollte aber nicht schlafen. Jede Minute, die er nicht in Niflheim verbringen musste, war ihm kostbar geworden, er wollte sie nicht mit Schlaf oder anderen Nichtigkeiten vergeuden. "Ich hab damals gesagt, dass ich Lokis Entscheidung, Mayura-kun alles zu sagen, akzeptiere, weil ich ihn glücklich sehen will. Du hast extrem wütend reagiert und mich nicht ausreden lassen." Thor holte tief Luft, Heimdal konnte es spüren. "Damals hab ich dir sagen wollen, dass ich dich auch glücklich sehen will. Ihr seid mir beide verdammt wichtig, Loki und du. Ich hab mich in all den Jahren nie für einen von euch entschieden, sondern habe versucht, für euch beide gleichermaßen da zu sein. Gomen ne, wenn mir das nicht gelungen ist und du das Gefühl hattest, dass ich dich allein gelassen hätte." "Thor..." "Lass mich ausreden, Heim. Nachdem Loki den Ritus von Niflheim beschwor und von Odin auf die Erde verbannt wurde, bin ich immer in seiner Nähe gewesen, weil ich glaubte, dass er es erneut versuchen würde. Ich dachte, dass er noch immer zu seiner Tochter wollte und deshalb hab ich auf ihn aufgepasst. Dabei hab ich übersehen, dass es dir schlecht ging. Ich hätte mich besser um dich kümmern sollen, dann wäre das alles nicht geschehen. Das tut mir leid, Heim." "Käse." Heimdal legte seinen Kopf in seinen Nacken, um in Thors bleiches Gesicht hinauf zu sehen. Er zuckte leicht zusammen, als ein ihm zu bekannter Schmerz durch den Kopf schoss. "Ohne mein Auge verliere ich meine Macht. Du hättest meinen Tod nur verhindern können, wenn du mir mein Auge zurückgegeben hättest." "Dann hätte ich eher und intensiver danach suchen müssen." "Wieso suchen? Du hast doch praktisch bei Loki gewohnt." "Loki hat es nicht!" "Du bist zu leichtgläubig. Loki solltest du nicht vertrauen." "Wenn ich meiner Familie nicht vertrauen kann, wem sonst?" Niemanden, wollte Heimdal antworten, aber der Schmerz nahm so rasch zu, dass er ihm die Luft raubte. Laut stöhnte er auf und bedeckte sein gesundes Auge in einer schützenden Geste, die Thor oft gesehen hatte und endlich zu analysieren wusste. Das grüne Licht flackerte und Blut rann im nächsten Moment aus der leeren Augenhöhle über eine vernarbte Wange. "Heimdal?" Thor kümmerte sich nicht darum, dass seine laute Stimme Mayura oder das Baby aufwecken könnte. Er wusste nur, dass er diese Katastrophe nicht mehr zulassen würde. Nein, er würde den Wächter nie mehr gehen lassen! "Heimdal!" "Ich hab doch gesagt... dass... dass es sinnlos ist, ich... bin schon tot..." keuchte der kleine Gott und schrie auf, als der Schmerz zu heftig wurde. "Heimdal!" Die Tür wurde aufgestoßen und Loki erschien im Rahmen. Er hielt das Telefon in seiner rechten Hand und Heimdal, dessen Welt erneut in Schatten zu versinken drohte, erkannte, dass das grüne Leuchten, das den Unheilsgott umgab, ebenfalls flackerte. Starke Arme hoben ihn auf und er wurde auf eine weiche Unterlage gelegt. Er grinste böse, als er bemerkte, dass sich die Geschichte wiederholte. Die Übelkeit war schlagartig in seinen Magen zurückgekehrt und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich erneut auf Lokis Bett übergeben würde. Wenige Minuten blieben ihm noch in dieser Welt, wenn überhaupt, dann würde er nach Niflheim zurückkehren. Nun, wenigstens konnte ich Hel ihrer Mutter geben. Obwohl Heimdal gerne hier geblieben wäre, um sie aufwachsen zu sehen. Auch wollte er nicht, dass Thor weiterhin so traurig aussah und sich die Schuld für jene Ereignisse gab, die er niemals hätte verhindern können. So wie Heimdals Tod jetzt, nun bereits zum zweiten Mal. "Heimdal! Sag was! Nicht einschlafen!" Wieder die panische Stimme, wieder die warmen Arme, die seinen schlaffen Körper so liebevoll hielten, ihn nicht gehen lassen wollten. "Heimdal, verdammt, bleib wach!" Thor? "Dass wir nicht viel Zeit haben, dachte ich mir schon..." Diese Stimme gehörte eindeutig zu Loki. Zwei kalte Hände wurden gegen Heimdals heiße Stirn gepresst und er atmete erleichtert auf, als die Übelkeit abnahm. Der Schatten, der seine Welt bestimmte, färbte sich von undurchdringbaren Schwarz in ein sattes Grün, durch das er Lokis Gesicht sehen konnte. Der Unheilsgott sah sehr ernst aus. Besorgt. Besorgt um mich? "... aber ich hab nicht gedacht, dass es so schlimm um ihn steht." Die Müdigkeit nahm zu und Heimdal vermochte nicht länger, sein Auge auf zu halten. Die schützende Hand war schon längst von seinem Gesicht gerutscht und während der Schmerz ein wenig abklang, kehrte das Gefühl in seine Gliedmaßen zurück. Seine Füße juckten und er brauchte mehrere Anläufe, bis er seine Fäuste ballen konnte. "Heim..." "Lass ihn sich ausruhen, Thor." Die kühlen Hände verschwanden und Lokis leise Stimme hörte sich erschöpft an. "Und versuch auch, deine Kräfte zu sammeln. Ich ruf gleich noch mal die Norns an. Morgen brechen wir auf, wir dürfen keine Zeit verlieren, weil wir keine mehr haben." Heimdal kämpfte verzweifelt gegen die Dunkelheit an, die ihn schließlich verschlang. Er lag noch immer in Thors Armen, als er einschlief. *** Angenehmes Zwielicht empfing ihn, als er wieder zu sich kam. Müde drehte er seinen Kopf und erkannte, dass er in Lokis Bett lag. Mayura und die Wiege waren verschwunden, Fenrirs Schnarchen jedoch nicht. Heimdal erkannte den Welpen, der sich am Fuße des Bettes zusammengerollt hatte und tief und fest schlief. Langschläfer! Die Nacht war schon längst vorüber, helle Sonnenstrahlen versuchten vergeblich, durch die vorgezogenen Vorhänge in das Zimmer einzudringen. Ich bin noch hier? Nicht in Niflheim? Wie lang hab ich geschlafen? Heimdal versuchte sich aufzurichten, aber sein Körper fühlte sich zu erschöpft an, es mochte ihm nicht gelungen. Genervt verzog er sein Gesicht und schaffte es schließlich, sich auf seine Unterarme zu stützen. Na toll, so bin ich doch das ideale Ziel! Der Wächter ballte seine Fäuste und befeuchtete seine aufgesprungenen Lippen mit seiner Zunge. Sein Mund war ausgetrocknet und fühlte sich pelzig an. Alles schmeckte nach Sandpapier und er hätte eine Menge für das Glas gegeben, das auf dem Nachttisch stand. So nah und doch so unerreichbar. Ich hasse es, so hilflos zu sein! Die Tür wurde leise geöffnet und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Er hob schwerfällig seinen Kopf und fiel zurück in das Kissen, als seine Arme ihn nicht länger unterstützten. Gegen seine Befürchtungen war es jedoch nicht Loki, der herein trat, um seinen ärgsten Rivalen so wehrlos zu sehen, sondern Thor. Früher wäre das Heimdal dennoch unglaublich peinlich gewesen, dass ihn irgendjemand so sah, jetzt fühlte er sich immer noch nicht besonders wohl in seiner Hilflosigkeit, aber wenn ihm die grausamen Erinnerungen in Niflheim eines gelehrt hatten, so war es die Erkenntnis, dass Thor schon wesentlich peinlichere Situationen mit ihm erlebt hatte. Er hat mich gewindelt und gefüttert, wobei ich ihn öfter angespuckt habe. "Hast du Durst, Heim?" fragte der Donnergott und stellte einen zugedeckten Teller auf den Nachttisch. Heimdal wunderte sich nur kurz, woher Thor genau wusste, was er wollte, dann nickte er aber und ließ sich in eine sitzende Haltung helfen. Das Kissen fühlte sich weich in seinem Rücken an und er trank das kühle Wasser in kleinen Schlucken, so wie der Donnergott es ihm empfahl. Glucke! Heimdal wollte ihn gerade aufziehen, schwieg dann aber, als er Thors bleiches Gesicht erblickte. Schlaf schien der Donnergott während der letzten Nacht keinen mehr gefunden zu haben und der Wächter ahnte, dass dies auch an seinem Anfall lag. Eigentlich ist es ja schön, wenn sich jemand um einen sorgt... "Was ist geschehen?" verlangte er zu wissen, nachdem er seinen ersten Durst gestillt hatte. Er fühlte sich gleich viel munterer. "Du bist zusammen gebrochen, so wie damals vor zehn Jahren." Erklärte Thor und Heimdal bemerkte, dass dessen Hand zitterte, als er ihm das Glas wieder abnahm und es durch den Teller ersetzte. "Loki konnte dir dieses Mal jedoch durch das Band helfen, das er zwischen euch erschaffen hat, um dich in dieser Welt zu halten, Heim. Er gab dir damit seine Lebensenergie und konnte dein Sterben stoppen." "Aber er wird es nicht ewig können." "Nein, deswegen brechen wir nach dem Mittagessen nach Walhalla auf. Odin muss eine Lösung für diesen Schlamassel finden." "Also glaubst du doch, dass Loki mein Auge gestohlen hat?" "Nein, ich vertraue Loki, aber es mit Schluss sein mit diesem unterschwelligen Krieg. Odin und Loki sollten sich wieder vertragen. Und selbst wenn Loki seinen Götterstatus aufgibt, so muss Odin wenigstens dir helfen." "Hm..." Heimdal schob seine zweifelnden Gedanken beiseite und betrachtete den Teller skeptisch, der sich warm anfühlte. "Was ist das?" "Dein Mittagessen. Lass es dir schmecken." "Mittagessen?" Der Wächter hob erst seine Augenbraue, dann die Abdeckung. Erstaunt blickte er auf die noch dampfende Kartoffel und grinste schließlich. "Endlich hast du's begriffen, dass man so was essen und keinem Bild opfern soll." "Woher weißt du davon?" Thor beobachtete Heimdals klägliche Essversuche und seine Finger zuckten, als die Hälfte vom Löffel und zurück auf den Teller fiel. Der Wächter war von seinem Anfall noch sehr geschwächt, konnte das Besteck kaum halten geschweige denn sicher zu seinem Mund führen. Wenigstens schien er Hunger zu haben. Thor sah lieber einen kleinen Gott, der das halbe Bett mit Essen voll schmierte, als Blut auf die Lacken zu erbrechen. "Mir hat keiner gesagt, dass es sich bei dem Baby um Hel handelt." Heimdal kämpfte mit der Kartoffel, seinem Leibgericht, und brummte genervt, als ihm ein weiteres Stück entkam, das er schon hatte schmecken können. "Also bin ich erst einmal einen Tag quer durch Tokio gelaufen, um zu verstehen, was hier so läuft. Dabei hab ich die Szene im Tempel gesehen, als Loki und du gestritten habt. Ihr konntet mich aber beide nicht sehen." Genervt ließ er den Löffel auf den Teller fallen und lehnte sich zurück. Es brachte nichts. Schon überlegte er, ob es nicht einfacher und vor allem effektiver wäre, seine Finger zum Essen zu gebrauchen, als Thor das Besteck ergriff und die Kartoffel fachmännisch zerteilte. "Wie ist es dir überhaupt gelungen, mit Hel aus Niflheim zu entkommen und die Kleine zurück ins Leben zu rufen sowie Mayura-kun zu heilen?" "Da war so eine Frau, die hat mir das Baby in die Hand gedrückt und nur in Rätseln gesprochen, war nervig, aber wenigstens eine Abwechslung." Heimdal nickte, als er Thors fragende Blicke sah und öffnete ergeben seinen Mund, um sich füttern zu lassen. Er spürte, wie Schamesröte in sein Gesicht stieg und versuchte, sich selbst einzureden, dass er sich nicht so anstellen sollte, schließlich hatte Thor ihn während seiner Kleinkindzeit ständig gefüttert. Er hatte das selbst in Niflheim gesehen. "Bei den anderen Fragen hab ich absolut keine Ahnung." Er zuckte mit seinen Schultern und kaute langsam sein Mittagessen. Es schmeckte köstlich und Heimdal fragte sich, ob Thor extra in die Stadt gegangen war, um ihm von dem Stand eine heiße Kartoffel zu kaufen oder ob Midgar während der letzten Jahre seine Kochkünste perfektioniert hatte. Das restliche Mahl verlief in Stille, nur das Kratzen des Löffels auf Porzellan und Fenrirs Schnarchen war zu hören. "Was immer in Walhalla auch passiert, Heim, ich lass dich nicht zurück nach Nilfheim gehen!" flüsterte Thor schließlich. Heimdal wollte zynisch erwidern, dass das nicht in seiner Macht läge und er es vor zehn Jahren auch nicht hatte verhindern können, behielt seine skeptischen Gedanken jedoch bei sich, als er die Entschlossenheit in Thors Gesicht sah. Selbst wenn er machtlos sein wird, so macht er sich Sorgen um mich. Er kümmert sich um mich und will, dass ich glücklich bin. Heimdal vertraute niemandem mehr, nicht einmal mehr seinen einst allerbesten Freunden, ja selbst Odins strahlende Person war in das Licht des Zweifels gerückt, aber er wusste ganz genau, dass Thor ihn nicht anlügen würde. Nicht bei einer so ernsten Sache. Nicht nach all den Ereignissen des letzten Tages. "Gut..." antwortete er deshalb, da ihm nichts Besseres einfiel und strich sich über den Bauch, fühlte sich satt und wenigstens ein wenig zufrieden. "Wo sind Mayura und das Kleine?" "Im Badezimmer. Hel wird noch einmal gewickelt, bevor es los geht." "Was? Will Loki sie etwa mitnehmen?" Heimdal wollte sich aufrichten, es gelang ihm jedoch nicht. "Mayura-kun wird Hel nicht mehr los lassen und Loki meint, dass die beiden in seiner Nähe am sichersten sind. Er will sie bei sich haben, wenn er Odin entgegen tritt. Das ist ihm sicherer als mehrere tausend Meilen entfernt in Japan, wo sich Mayura nicht verteidigen könnte." Das leuchtete Heimdal ein, auch wenn ihm der Gedanke nicht gefiel, dass der Unheilsgott wirklich einen Menschen nach Asgard bringen wollte. Leise klopfte es an der Tür. Thor lächelte ein müde und rief ein kurzes >Herein.<. Im nächsten Augenblick schlichen sich verschiedene Personen in den Raum und versammelten sich beinahe andächtig um das Bett. Heimdal erkannte die Norns, Freya, Freyr und sogar Gullinbrusti, die ihn anblickten, als wäre er das achte Weltwunder. Nur Fenrir bekam von all dem nichts mit. Der ach so tolle Wachhund schnarchte laut vor sich hin. Die sollen nicht glotzen und so dämlich grinsen! "Es tut gut, dich wieder zu sehen!" durchbrach schließlich Urd die angespannte Stille, setzte sich auf die Matratze und zog Heimdal, der zu schwach war, um sich erfolgreich zu wehren, in ihre Arme. "Wenn du mich jetzt auch noch kneifst, gibt's Tote!" "Ach, wie ich diesen giftigen Blick von meinem Lieblingswächter vermisst habe." Witzelte die Schicksalsgöttin und es wirkte, als würde Gullinbrusti ihr grunzend zustimmen. "Außerdem waren diese Trauerklöße ohne dich nicht mehr zum Aushalten!" nickte Skuld und verschränkte ihre Arme vor der Brust. "Urd hat sich ständig mit Thor besoffen, war nicht gerade lustig." "Jetzt bist du aber wieder da." Lächelte Belldandy aufmunternd. "Und wir werden dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Odin wird seine gerechte Abreibung erhalten!" Freya streckte siegessicher beide Arme in die Höhe. Sie war dem obersten nordischen Gott noch immer sauer, dass er sie damals in den Körper eines Kindes steckte, ohne jedoch ihre Erinnerungen an ihr wahres Ich bei zu behalten. Sporadisch konnte sie sich in ihre wahre Gestalt verwandeln, aber nicht oft genug, um zu verhindern, dass sich Loki, ihr Loki, in Mayura verliebte. Zornig, wütend, ja sogar verzweifelt war sie gewesen, als sie hören musste, dass sich die beiden verlobt hatten und ihre Hochzeit planten. Auf der Feier jedoch musste sie einsehen, dass sie gegen die lebhafte, liebenswürdige und ein klein wenig verrückte Mayura keine Chance hatte und gab ihren Loki frei. Die Weltreisen mit ihrem Bruder hatten ihr geholfen, sich über ihre Gefühle im Klaren zu werden und sie erkannte, dass sie besser mit Loki befreundet war, als für den Rest ihrer Existenz einer Liebe nachzutrauern, die nie ihr gegolten hatte. "Wir werden ihn in den Arsch treten!" rief sie siegessicher und grinste, als sich Heimdals berühmt berüchtigter Todesblick auf sie richtete. Sie alle mögen Odin nicht. Ich versteh das nicht, er hat doch immer nur unser Bestes gewollt. Loki hat mich verraten, hat sie alle in diese missliche Lage gebracht. Loki und nicht Odin! Warum sieht das denn niemand? Heimdal betrachtete erst Freya bitterböse, dann seine Hände, sah, dass das grüne Leuchten stärker, intensiver geworden war. Seine düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als Freyr aufsprang, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen. "Wir haben jetzt eine Supermarktkette, Heimdal." Sagte er fröhlich grinsend. "Und im Moment sind Tomaten im Angebot. Die sind wirklich schmackhaft und im Duzend umwerfend preisgünstig." Den Wächter wunderte diese Aussage kein bisschen, immerhin hatte er mit dem Wettergott fast ein Jahr in ein und derselben Wohnung gelebt, mit ihm Halloween gefeiert und mehrfach mit ihm einkaufen gewesen, das prägte. Die anderen Götter schienen Freyrs Art jedoch nicht gewöhnt zu sein, jedenfalls herrschte für einen Moment verwirrte Stille. "Besonders gut schmecken sie als Salat mit ein wenig Käse." Fuhr Freyr in seiner Rede fort, als wären diese Informationen besonders wichtig für jemanden, der gerade nach zehn Jahren aus dem Totenreich zurück kam. "Aber nicht zu viel Käse, sonst wird es zu mehlig." "Baka!" rief schließlich Freya und durchbrach somit die Stille. Die anderen Götter verzogen ihre Gesichter und brachen schließlich in schallendes Gelächter aus. Auch Heimdal musste leise kichern und fühlte sich sogar ein wenig... glücklich. Glücklich darüber, dass all diese Götter froh waren, dass er wieder unter ihnen weilte. Nicht nur Thor, sie alle haben sich um mich gesorgt. Heimdal blickte auf die lachenden Götter, beobachtete, wie Freya ihrem Bruder eine Kopfnuss verpasste und Gullinbrusti sie dafür warnend anquiekte. Die Norns feuerten sofort den Kampf der Geschwister an und Thors müde Augen leuchteten, während auch er leise kicherte. Sie alle wollen mich nicht zurück nach Niflheim schicken. Seltsam... *** Asgard hatte sich während der letzten Jahre kein bisschen verändert. Heimdal, der seinen schwachen Körper auf einen alten Stock aus Lokis Antiquitätensammlung stützte und jegliche Hilfe entschieden ablehnte, erkannte sofort die ausladenden Gärten, Parkanlagen sowie den gewaltigen Tempel Walhallas. Endlich bin ich wieder zu Hause! Dennoch konnte sich keine rechte Freude bei ihm einstellen. Damals, als er auf die Erde verbannt wurde, um Loki zu finden und zu vernichten, hätte er sich wie ein kleines Kind gefreut, nach Asgard zurückkehren zu dürfen. Nun aber empfand er nichts, nur ein beklommenes Gefühl, das sich in seiner Magengegend ausbreitete. So, als habe er Angst. Ich und Angst? Niemals! Heimdal sah sich zu den anderen um, die neben ihm auftauchten. In Walhalla durfte niemand einfach so erscheinen, außer dem höchsten Gott persönlich, deswegen waren sie außerhalb der ehrwürdigen Mauern in Asgard angekommen. Mayura hielt Hel fest an ihre Brust gedrückt und wirkte ernsthaft besorgt. Midgar und Fenrir wichen nicht von ihrer Seite. Sie würden ihre kleine Schwester und ihre Ziehmutter gegen Odin bis zum letzten Atemzug verteidigen. Entschlossenheit stand in ihren Gesichtszügen. Die Norns sahen extrem konzentriert aus und selbst Freyr blickte sich wachsam um, schien seinen Supermarkt und die wundervollen Sonderangebote vergessen zu haben. Sie alle wirkten jedoch ruhig im Vergleich zu Loki und Thor. Der Unheilsgott konnte seine wahre Gestalt noch immer nicht annehmen und das grüne Leuchten war erneut stärker geworden. Aber der Hass, der in seinen Augen brannte, ließ nicht daran zweifeln, weshalb er nach Walhalla gekommen war. Mit Sicherheit nicht, um mit Odin Tee zu trinken und ein wenig mit ihm über vergangene Zeiten zu plaudern. Thor hielt seinen Hammer in seinen Händen, den er aus dem Holzkatana geholt hatte, und Heimdal ahnte, dass der Donnergott diesen auch einsetzen würde, egal, wie schlecht seine Chancen gegen den höchsten aller nordischen Götter auch standen. Odin wird es ihnen erklären. Sie werden erkennen, dass sie sich alle geirrt haben und Loki wird bestraft. Aber Odin wird Hel nichts antun, genauso wie er Mayura unversehrt nach Japan zurück schicken wird. Loki hat die Sünde begangen, er allein. Odin weiß das doch. Oder? Heimdal ärgerte sich selbst über seine Zweifel und folgte Loki, der zielstrebig den Tempel betrat. Dem Wächter kam es mit einem Mal vor, als sei er nie fort gewesen, als hätte er kein Jahr auf der Erde und keine Ewigkeit in Niflheim verbracht. Sie gingen an Thors Gemächern vorbei und er spürte, wie der Donnergott kurz stehen blieb und einen Blick hinein warf, dann jedoch seine Fäuste stärker um den Stiel seines Kriegshammers schloss und an seinen Platz an Heimdals Seite zurück kehrte. "Es ist schön hier." Sagte Mayura und schien alles von Walhalla in sich aufzunehmen. "Ich kann mir jetzt vorstellen, wovon du immer geschwärmt hast, Loki." Sie lächelte und korrigierte das Tuch, mit dem sie Hel vor ihren Bauch gebunden hatte, so ähnlich wie Heimdal das kleine Mädchen einen ganzen Tag am Körper getragen hatte. Das Baby schlief tief und fest, bemerkte nicht, dass sie die Welt der Menschen verlassen hatten. Solange Hel bei ihrer Mutter, bei ihrer Familie war, fühlte sie sich sicher, egal, wo sie sich auch befand. Heimdal beneidete sie insgeheim für dieses Vertrauen. "Dennoch ist Japan schöner mit seiner Kirschblüte und den kleinen Tempel und Schreinen." Fuhr sie fort und reckte sich, um besser in den kleinen Garten in der Mitte des Tempels sehen zu können. Heimdal zuckte leicht zusammen, als er an jene Erinnerung dachte, in der er weinend vor dem Brunnen kniete und Thor und Loki einen kleinen Gott trösteten, der nicht wusste, wann er seinen Göttertag feiern durfte. "Alles in Ordnung, Heim?" flüsterte Thor, als fürchte er, dass Odin ihn hören konnte, und griff stützend nach Heimdals rechten Arm. Dieser schüttelte die Hand ab und nickte energisch. "Klar." Zischte er, obwohl der Schmerz in seinem Kopf wieder zu nahm. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb, aber Loki sollte Odin möglichst bald finden, sonst würde jede Hilfe für den Wächter zu spät kommen. "Stimmt, May, Japan ist mir auch sehr ans Herz gewachsen." Nickte Loki und öffnete mit Freyr und Freyas Hilfe die großen Portale, die sie in den riesigen Thronsaal führten. Der Thron selbst war jedoch verwaist, von Odin fehlte jede Spur. "Ich würde den Blütenregen im Frühling sehr vermissen." Brauchst du auch nicht, Odin wird dich sowieso wieder verbannen! Heimdal holte tief Luft, als die leere Augenhöhle schmerzhaft pochte und seine Welt für einen Augenblick in völliger Dunkelheit versank. Zum Glück hielt dieser Zustand nur kurz an, dann konnte er wieder sehen, wenn auch alles ein wenig verschwommen wirkte und die Säulen zu schwanken schienen. Heimdal versuchte, die eindeutigen Anzeichen eines erneuten - und wohl seines letzten - Anfalles zu ignorieren. "Was geht hier vor sich?" schrie Skuld plötzlich und Heimdal brauchte einig wenig, um zu begreifen, dass das Schwanken der Säulen nicht nur an seinem kranken körperlichen Zustand lag, sondern dass der Tempel tatsächlich bebte. Einige Steine krachten gefährlich nahe neben ihm zu Boden und Thor zog ihn fort, hustete, als Staub aufstieg. Die drei Schicksalsgöttinnen und Freya bildeten einen Kreis um sie herum und Heimdal spürte ein seltsames Kribbeln in seinen Armen, als eine Halbkugel aus goldenen Strahlen aus dem Boden wuchs und sie einhüllte. Eine Säule neben ihnen zitterte und brach schließlich in ihre einzelnen Gesteinswürfel auseinander. Die Brocken prallten an dem Licht ab, aber an den Gesichtern der jungen Frauen konnte Heimdal erkennen, dass es nicht einfach war, diesen Schutzwall aufrecht zu erhalten, und dass ihnen jede Beschädigung der Halbkugel persönlichen Schmerz zufügte. "Du hast es wirklich gewagt, hier her zu kommen, Loki." Odins Stimme, laut und durchdringend wie immer, füllte mit einem Mal die Luft und Heimdal schnappte nach Luft, als der Schmerz zunahm. Der Stock vermochte nicht länger, ihn zu stützen und er ging auf seine Knie. Kurz schloss er sein brennendes Auge und fühlte Wind, der ihn erfasste. Er fuhr durch seine Kleidung, einen dunklen Anzug, den er von Loki erhalten hatte, da seine anderen Sachen dreckig in der Waschmaschine lagen. Heimdal fröstelte leicht und blinzelte verwundert, als er sein Auge wieder öffnete und die goldene Strahlen verschwunden waren, genauso wie die Schicksalsgöttinnen und die Geschwister. Ja, nicht einmal mehr Gullinbrusti lief noch umher im verzweifelten Versuch, seiner Herrin zu helfen. Was ist geschehen? Sie befanden sich auch nicht länger im Thronsaal, sondern in einen kleineren Gemach. Heimdal hielt den Stock fester in seinen Fäusten, als er Hels Kinderzimmer erkannte. Puppen und Plüschtiere bevölkerten das Bett und eine Spiegelkommode stand verlassen in der Ecke. Das Glas war blind, eine dicke Staubschicht bedeckte die Fläschchen und Döschen auf der Ablagefläche. Was machen wir hier? Mayura umarmte das Baby vor ihrem Bauch schützend, während Fenrir und Migar ihre wahren Gestalten annahmen und sich als großer Wolf und furchteinflößende Schlange vor ihre Ziehmutter stellten. Die junge Frau wirkte verwirrt ob ihrer Umgebung, jedoch nicht ob ihrer Söhne. Vermutlich hatte sie sie bereits in dieser Gestalt gesehen, oder aber sie liebte sie so sehr, dass sie ihr neues Äußeres ohne zu zögern akzeptierte. Sie hat jedes Glück verdient. Sie und Hel... Heimdal biss sich auf die Unterlippe, als der Schmerz erneut schwindelerregende Höhen erreichte und presste sich die Hand gegen die pochende Augenhöhle. Sein gesundes Auge zwang er, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Solange er noch sehen konnte, noch nicht blind und hilflos auf dem Boden lag, wollte er auch mitbekommen, was um ihn herum geschah. Thor kniete neben ihm und hatte ihn beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt. In der anderen hielt er seinen Kriegshammer. Aber der Donnergott sah nicht zu ihm herab, sondern hatte seinen Blick stur vor sich gerichtet. Heimdal hob seinen Kopf und blinzelte geblendet, als er das bekannt gleißende Licht Odins neben dem großen Fenster sah. Die Sonne dahinter schien warm, aber Odins Strahlen waren heller. Heimdal brauchte einige Momente, um den Schatten zu sehen, der vor dem höchsten nordischen Gott stand. Loki. Der Unheilsgott hatte seine Sense gezogen und stellte sich Odin entgegen. Das grüne Licht wirkte schwach im Vergleich zu Odins grellen Leuchten, aber es war noch immer vorhanden. Heimdals Rettungslinie in diese Welt. Odin wird mir helfen. Heimdal wollte sich auf seine Beine stemmen, konnte aber nicht genügend Kraft aufbringen. Leise stöhnte er, als Odins Stimme erneut durch seine von Schmerzen vernebelten Gedanken schnitt. "Für so dreist hätte ich selbst dich nicht gehalten, Loki. Glaubst du etwa, mich mit diesem Spielzeug besiegen zu können? Bist du wirklich so dumm und schleppst sogar deine Familie mit an?" Die Gestalt Odins drehte ihren Kopf und Midgars warnendes Zischen verriet Heimdal, dass der höchste Gott Mayura und das Baby in ihren Armen schweigend musterte. "Du bist arrogant, Loki, aber das warst du schon immer." "Nein!" Lokis Stimme klang erschöpft in Heimdals Ohren und der Wächter wusste, dass der Unheilsgott die Hälfte seiner Macht, vielleicht sogar noch mehr, aufbrachte, um ihn am Leben zu erhalten. "Nein, ich will dich nicht besiegen, ich will nicht einmal nach Walhalla zurück kehren." Lokis Worte waren klar und deutlich gesprochen, mit leiser Stimme aber mit viel Entschlossenheit. "Entbinde mich meiner göttlichen Pflichten, nimm mir meine übernatürlichen Kräfte und verbanne mich für den Rest meines Lebens auf die Erde, dagegen werde ich nicht ankämpfen." "Und was willst du dann?" Odins Lachen klang höhnisch und Heimdal biss sich auf die Unterlippe, als die Worte in seinem schmerzenden Kopf dröhnten. Bald schmeckte er Blut, spürte, wie sich Thors Griff verstärkte. "Lass Hel in Ruhe und rette Heimdal vor Nilfheim." Loki senkte seine Sense ein Stück, um anzudeuten, dass er es ernst meinte. Er beabsichtigte nicht, den höchsten aller nordischen Götter anzugreifen, sondern bat ihn offen um... ... um mein Leben. Loki, mein ärgster Feind, bittet um MEIN Leben? Heimdal sammelte den Rest seiner Kräfte und endlich gelang es ihm, sich zurück auf die Beine zu ziehen. Thor wollte ihn sofort stützen, aber erneut schlug er die helfende Hand beiseite. Er wollte vor Odin nicht wie ein Schwächling wirken. Nicht vor Odin! Sein ganzer Körper bebte und das grüne Licht bestand nur noch aus einem Flackern, als er langsam auf die gleißende Gestalt zustolperte. Auf den nordischen Gott, der ihn einst in Walhalla aufnahm und immer nur sein Bestes gewollt hatte. Odin würde ihm helfen, dessen war er sich ganz sicher. Loki war der Verräter. "Odin..." keuchte er und hustete. Die Übelkeit nahm erneut zu und sein Magen verwandelte sich in ein Bienennest, aber er rang nach Atem und zwang sich zur Ruhe. Er wollte sich nicht vor Odin übergeben, dann würde er allein aus Scham sterben. "Odin..." "Mein kleiner Heimdal." Odins Stimme hörte sich sanft, so unendlich zärtlich an wie sich Heimdal ihrer immer in seinen Gedanken erinnert hatte. Der Wächter schloss sein brennendes Auge, als sich die schimmernde Gestalt ihm näherte und er seufzte leise, als er die kühle Hand auf seiner Stirn fühlte. Behutsam strich der höchste nordische Gott violette Strähnen aus einem bleichen Kindergesicht. "Du hast versagt." Heimdal riss bei diesen Worten sein Auge wieder auf und schrie gepeinigt auf, als sich die Finger in seine Haare bohrten und seinen Kopf nach oben rissen. Direkt starrte er in ein verschwommenes Gesicht, sah nur die Helligkeit, die sich tief in sein Gehirn zu bohren schien, ihm unsagbare Schmerzen bereitete. "Odin... ich..." stammelte er und hob seine Hände bittend. Der Stock fiel scheppernd zu Boden und seine Beine drohten, unter ihm nachzugeben. Aber er war fest in Odins stählernen Griff gefangen, es gab kein Entkommen. "Wieso sollte ich diesem Wurm helfen, Loki?" fragte Odin zynisch und Heimdal schluckte, als sich die sanfte, die so zärtlich sprechende Stimme in pures Eis verwandelte. Anstelle väterlicher Zuneigung hörte er nur noch Abneigung und Verachtung aus ihr heraus. "Er hat in seiner Mission versagt, ich brauche ihn nicht länger." Was? Heimdal strampelte und hörte Schritte, die sich ihm näherten, dann schrie Thor gepeinigt auf und der Wächter wusste, dass der Donnergott in einer Ecke des Zimmers lag, Odin war schon immer stärker gewesen als er, hatte ihn immer auf dieselbe Weise bestraft, wenn er es gewagt hatte, gegen ihn aufzubegehren. "Aber..." Loki schien wirklich geschockt zu sein und auch Midgar zischte etwas Unverständliches, das sich in Heimdals klingenden Ohren verdächtig nach einem Schimpfwort anhörte. Dann fing sich der Unheilsgott und fuhr mit festerer Stimme fort. "Heim hatte auch keine Chance, das musstet Ihr doch sehen, Odin. Er sollte allein gegen mich kämpfen und alle Götter, die Ihr ihm zur Unterstützung geschickt habt, schlugen sich rasch auf meine Seite. Auch bin ich stärker als Heim, ich hätte ihn immer besiegt, ganz gleich, was er auch angestellt hätte." Wenn Heimdal nicht begriffen hätte, dass Loki ihn soeben in Schutz nahm, ja, sogar um das Leben des Wächters flehte, wäre er unsagbar wütend auf den Unheilsgott gewesen. Woher wollte dieser wissen, dass er stärker gewesen wäre, immerhin erhielten sie kaum die Gelegenheit zu einem fairen Kampf! "Das werden wir jetzt wohl niemals erfahren, nicht wahr?" Odins Stimme war zuckersüß, ließ Heimdal erschaudern. "Ich brauche niemanden, der mir widerspricht, das solltest du langsam verstanden haben, Loki. Und ich brauche auch niemanden, der so unfähig ist wie der da." Er schüttelte Heimdal und dieser würgte, als die Übelkeit übermächtig wurde. Tränen traten in sein gesundes Auge. Es waren keine Tränen der Scham, sondern der Enttäuschung und der Traurigkeit. Odins Worte schmerzten mehr als Lokis Verrat. Viel mehr. "Odin..." keuchte er und strampelte mit seinen Beinen, als er plötzlich in die Luft gehoben wurde. Das Leuchten des höchsten nordischen Gottes verstärkte sich und er rang nach Atem, als seine Kehle zugedrückt wurde. "Helft ihm, bitte!" flehte nun auch Thor und etwas raschelte hinter Heimdal, vermutlich der Donnergott, der sich von Odins letztem Angriff erholt zu haben schien. "Das kommt davon, wenn man einmal nachgibt!" Sagte die kalte Stimme und Heimdal konnte die heißen Tränen nicht verhindern, die über seine Wange liefen. "Warum hab ich damals nur auf dich gehört und diesen Nichtsnutz aufgelesen? Man sollte eben keinen Abfall vom Boden auflesen." "Das kann nicht Euer Ernst sein!" "Ich hätte nie Mitleid mit dir haben sollen, dass du dich einsam fühlen könntest, Thor. Dann wäre mir dieser aufmüpfige Gott und dieser Nichtsnutz hier erspart geblieben! Nicht einmal Ragnarök konnten sie heraufbeschwören!" Odin hielt den zappelnden Heimdal noch ein wenig höher und vollkommene Schwärze umgab den Wächter, als das Band zwischen Loki und ihm durchtrennt wurde. Er konnte es nicht mehr sehen, aber er spürte es ganz genau, hörte Lokis und Thors aufgeregte Stimmen wie aus lauter Ferne, vernahm Mayuras Rufe, Fenrirs Bellen und Midgars Zischen. Wenigstens sterbe ich nicht in Einsamkeit. "Soll er doch verrecken, was kümmert's mich?" Die Worte bohrten sich wie ein Schwert durch seine Brust und im nächsten Moment wurde Heimdal durch die Luft geschleudert. Er kniff sein blindes Auge zusammen und bereitete sich auf den Aufprall vor, das letzte, das er wohl spüren würde. Er hoffte, dass Loki wenigstens Hel retten konnte, denn er wollte nicht auch noch die mysteriöse Frau enttäuschen. Er schlug jedoch nie auf dem harten Steinboden auf. Statt dessen prallte er gegen etwas Weiches, Lebendiges. Gegen eine Person. Heimdal rang röchelnd nach Luft, als sich der Druck um seine Kehle verringerte. Die Dunkelheit wurde von einem blauen Licht durchdrungen und er blinzelte mehrere Male, bis sich die Schatten legten und er wieder Hels Zimmer in Walhalla sah. Der Schmerz war noch immer vorhanden, hatte aber ein erträgliches Maß erreicht. Wie bitte? Ich bin nicht tot? Oder ist das die erste Erinnerung? Heimdal blinzelte und duckte sich, als Odin gefährlich langsam auf ihn zuschwebte. Zwei warme Arme legten sich schützend um ihn, hielten ihn sanft fest. "Das wirst du bereuen, du Narr! Niemand missachtet meine Entscheidungen, selbst du nicht!" dröhnte die Stimme durch den Raum. "Er wurde mir in meine Obhut gegeben, Odin, ich werde nicht zulassen, dass ihm etwas zustößt! Ich werde keine Entscheidung tolerieren, die ihm Schaden zufügt!" Diese Stimme klang seltsam vertraut und zugleich so fremd. Hoch, beinahe kindlich. Heimdal hob mühsam seinen Kopf und blickte fassungslos in Thors Gesicht. Zumindest glaubte er, dass es sich bei dem Jungen neben ihn um den Donnergott handelte. Dunkle Augen blitzten zornig und braune Haare hingen in ein vor Zorn gerötetes Gesicht. Ja, ohne Zweifel, das war Thor, nur kniete der Donnergott ebenfalls in einem Kinderkörper hinter Heimdal. Ein blaues Leuchten ging von dem kindlichen Gott aus, umschloss sie beide. Er hat seine Macht benutzt, um mich zu retten? "Wenn ich gewusst hätte, dass es so viel Ärger bringt, hätte ich deine Einsamkeit ignoriert, Thor!" "Wenn du etwas von Gefühlen verstanden hättest, dann hättest du gewusst, dass ich ihn lieben, dass ich mich um ihn sorgen würde, >Vater<." Thor spuckte die Anrede beinahe aus und sein Gesicht verzog sich zu seiner Fratze des Hasses. Er erwähnte selten die Beziehung, die zwischen ihm und dem ältesten nordischen Gott bestand. Loki war nicht der einzige, der an dem schönen Geschlecht Gefallen gefunden hatte, nur dass sich Odin nie so weit herab ließ und gewöhnliche Sterbliche verführte. Das Produkt seiner Lust war Thor gewesen, mit dem Odin nichts anzufangen wusste, in dem er aber großes Potential sah. Heimdal konnte sich nicht erinnern, dass Thor den höchsten Gott je anders als Odin genannt hatte. Nie hatte sich der Donnergott etwas auf seine Verwandtschaft eingebildet, ja, sie schien ihm sogar lästig zu sein. "Du hast sie bei mir abgeladen, weil du dich nicht um sie kümmern wolltest. Aber ich habe das getan und sie sind meine Familie geworden. Wenn du ihnen weh tun willst, so werde ich das nicht länger zulassen, sondern mich dir in den Weg stellen!" Es waren mutige Worte, aber sie waren zugleich sinnlos. Gegen Odin kamen weder Thor noch Loki an, besonders nicht in ihrem geschwächten Zustand. Bringt Hel in Sicherheit! Schickt Mayura fort! Versteckt die Söhne! Heimdal wollte es laut heraus schreien, aber nur ein gequältes Stöhnen entkam seinen trockenen Lippen. Müde fühlte er sich. Müde und unendlich enttäuscht. "Das wäre eine Verschwendung, Thor. Ich habe große Hoffnungen in dich gesetzt. Aber ich werde dich nicht verschonen, wenn du deine Drohung wahr machst." Odins Stimme schien die Luft zu durchschneiden. Thor zuckte nicht einmal zusammen, lediglich die Arme hielten Heimdal ein wenig fester. "Lieber gehe ich mit ihnen unter, als ohne sie leben zu müssen!" erklärte er entschlossen. "Ich lass Heim nicht noch einmal allein in Niflheim einfahren!" Idiot! Vollkommener Trottel! Rette wenigstens dein Leben und nimm Mayura und die Kinder mit! Wieder konnte Heimdal nichts von seinen Gedanken laut formulieren, hing weiterhin hilflos in Thors Armen. Der Junge spannte seinen Körper an, als sich Odin über ihn beugte, würde jedoch nicht vor dem entscheidenden, den letzten Schlag davon laufen. "Idiot..." gelang es Heimdal endlich zu flüstern. Als einzige Antwort verstärkte sich der Druck der Arme noch mehr, fügten ihm jedoch kein Leid zu, sondern hielten ihn warm in einer Welt, die plötzlich nur noch aus ablehnender Kälte zu bestehen schien. "Dann stirb!" "Ich denke, da hab ich auch noch ein Wörtchen mitzureden!" Loki stellte sich zwischen die zwei kindlichen Göttern auf dem Boden und dem höchsten Gott in der Luft. Der Unheilsgott hatte seine wahre Gestalt wieder angenommen und trug seine traditionelle Kleidung. Die Sense hielt er in seinen Fäusten vor seinen hellen Gewändern, seine dunkelgrünen Augen blitzten wütend. "Ach so, das denkst du. Dann wirst du mit ihnen sterben. Für aufmüpfige Götter habe ich sowieso keine Verwendung." "Aufmüpfig?!" Lokis Stimme überschlug sich beinahe, als er die Sense ein wenig hob und Odin unauffällig von seinen besten Freunden fort lockte. Langsam ging er bis zum Bett hinüber und goldene Funken schossen aus der scharfen Klinge. "Wieso bin ich aufmüpfig, wenn ich Euch ein einziges Mal die Stirn biete und >Nein< sage?" "Ein Mal ist zu viel. Weißt du denn nicht, dass es eine Sünde ist, sich gegen den höchsten Gott zu stellen?" Sünde? Heimdal drehte leicht seinen Kopf, um dem Kampf, dem so aussichtslos wirkenden Kampf, zu folgen. Ist das die Sünde, von der Odin immer gesprochen hat? Die Sünde, weswegen Loki auf die Erde verbannt und ich hinterhergeschickt wurde, um ihn zu vernichten? "Ich sehe keine Sünde darin, mich der wahnwitzigen Idee zu verweigern, dass ich meine eigenen Freunde töten soll!" "Aber die Prophezeiung besagte deutlich..." "Ich scher mich einen Dreck um diese Prophezeiung!" fiel Loki dem höchsten Gott ins Wort und wich geschickt einem Angriffsblitz, tausend Mal stärker als jeder Blitz, den Thors Kriegshammer erschaffen konnte, aus. Das Bett explodierte und Federn hüllten Loki ein. Heimdal brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass es sich dabei nicht um das zerrissene Kopfkissen, sondern um Lokis eigene Flügel handelte. "Ich werde Heimdal nicht angreifen und töten, selbst wenn das Ende der Welt hereinbrechen sollte. Zu Beginn wirkten Eure giftigen Worte, aber ich habe meinen Fehler erkannt! Heimdal ist mein Freund, ich werde ihm nicht weh tun!" Weitere Blitze folgten, verwüsteten rasch Hels ehemaliges Kinderzimmer. Glas klirrte, als die Fenster zersprangen. Midgar zischte besorgt und zusammen mit Fenrir geleitete er Mayura hinüber zu den kindlichen Göttern, zu der einzigen Ecke des Zimmers, die noch nicht vollkommen zerstört war. "Du hast mich in der Vergangenheit dafür mächtig leiden lassen, Odin. Erst nahmst du mir meine Söhne, dann meine Tochter und verbanntest mich schließlich nach Japan. Aber ich werde meine Meinung nie ändern, egal welche Gemeinheiten du noch ausheckst." Loki sprang zu spät fort und ein Blitz durchtrennte seinen linken Flügel. Blut quoll sofort aus der Wunde und Mayura schrie gepeinigt auf, als Loki strauchelte und gegen die nächste Wand prallte. Federn flogen durch die Luft und die Übelkeit kehrte in Heimdals Magen zurück, als das blaue Licht auf seiner Haut zu flackern begann. "Solch einen jähzornigen Gott kann ich nicht dulden!" Loki kämpfte sichtbar gegen seine Schmerzen an und es kostete ihn viel Überwindung, seine Sense wieder zu erheben und erneut gegen den höchsten nordischen Gott anzutreten. Es war ein verzweifelter Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Aber Aufgeben hätte Loki nicht ähnlich gesehen. Weder seine Söhne noch seine Freunde können ihm helfen. Und sein unglaubliches Glück wird ihm gegenüber Odin auch nichts nützen. Heimdal holte tief Luft, als ein zweiter Blitz Loki traf und der Gott sich in den Kinderkörper zurück flüchtete, der weniger Kraft kostete. Odin grinste hämisch, jedenfalls glaubte das der Wächter, weil das Strahlen das Gesicht des höchsten Gottes noch immer verdeckte. "Jetzt werde ich dich lehren, was es bedeutet, mir nicht zu gehorchen!" Da verstand Heimdal. Lokis Sünde bestand nicht darin, dass er Midgar und Fenrir als seine Söhne aufnahm oder Hel mit einer unbekannten Frau zeugte. Er versündigte sich nicht in Odins Augen, weil er die Halbgöttin heimlich nach Walhalla brachte und aufzog. Seine Sünde bestand darin, dass er sich gegen Odin stellte - weil er mich nicht töten wollte, so wie es die Prophezeiung besagte! Loki hob erneut seine Sense, aber sie wurde ihm aus den Händen gerissen, schlitterte über die Marmorplatten und blieb in den Trümmern der Spiegelkommode stecken. Damit war sie unerreichbar für den Unheilsgott, der mit festem Blick zu der hellen Gestalt über sich blickte. Nein, er würde sich nicht geschlagen geben. Niemals! "Loki!" "Daddy!" Aufgeregtes Zischen. Heimdal schluckte und kämpfte gegen Thors warme Arme an, als er seinen einst ärgsten Feind geschlagen auf dem Boden liegen sah, mit gebrochenem Flügel, voller Blut, jedoch nicht ohne seinen Kampfgeist, seinen Willen verloren zu haben. Er wollte mich nie umbringen, auch wenn er damit all diese Schicksalsschläge auf sich zog. "Hilf mir auf!" flüsterte er und blickte kurz in braune Augen. Thor nickte und er brauchte zwei Versuche, da sein kleiner Körper ebenfalls erschöpft war. Loki ist nicht der Verräter, sondern Odin. Odin hat mich als Abfall bezeichnet. Verdammt... Heimdal konzentrierte sich und im nächsten Augenblick trug auch er sein traditionelles Gewand. Mit letzter Kraft entfaltete er seine eigenen Flügel, die heftig zitterten, und nahm dieses Mal die ihm dargebotenen Hand Thors an. Der andere Gott hatte ebenfalls seine Flügel gespannt und zusammen stolperten sie langsam zu Loki hinüber. Odin, der sie bemerkt hatte, beobachtete sie höhnisch. "Was soll das werden?" fragte er kaltschnäuzig, hielt aber in seiner letzten Attacke inne. Weder Thor noch Heimdal beachteten ihn, als sie erschöpft neben Loki auf die Knie sanken. "Du siehst scheiße aus." Murmelte Heimdal und senkte seinen Kopf, als der Schmerz erneut hinter seiner leeren Augenhöhle zu explodieren drohte. "Danke, gleichfalls." Grinste der Unheilsgott und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. Der Wächter zuckte nicht zusammen, schüttelte sie nicht ab. "Wenn du mir die Kneipe zeigst, spendier ich dir in Niflheim auch einen Drink." "Nein, du bist mein Gast. Freunde sind immer meine Gäste." Lächelte Heimdal schwach zurück und sah das Verständnis sowie die sofortige Vergebung in Lokis Blick. "Schnapsdrosseln." Schimpfte Thor erschöpft und das blaue Leuchten erstarb zu einem fast unsichtbaren Glühen. Sofort nahm der Schmerz zu und Heimdal stöhnte gequält auf, als Odins brutale Stimme wie Nadeln durch seinen Kopf stach. "Wir rührend, aber das wird euch nichts nützen! Empfangt nun die Strafe für eure Sünden!" Heimdal presste sein schmerzendes Auge zusammen und tastete suchend nach Thors Hand. Vielleicht verlor er die beiden nicht in Niflheim, wenn sie in Kontakt standen. Erleichtert atmete er auf, als er sie schließlich fand. "Loki!" "Daddy!" Zorniges, dann schmerzvolles Zischen. Heimdal duckte sich, erwartete den endgültigen Schlag. *** "Jetzt ist genug!" Die Zeit schien still zu stehen. Heimdal öffnete sein Auge einen Spalt breit und hörte Loki neben sich nach Luft schnappen, als sich Mayura über den zerstörten Boden bewegte. Fenrir bellte aufgeregt und Midgar zischte unentwegt unverständliche Worte, aber sie beide schienen von einer fremden Kraft festgehalten zu werden, konnten ihrer Ziehmutter nicht zu Hilfe eilen. "Es reicht, Odin!" Die junge Frau schob sich zwischen den höchsten nordischen Gott und die drei kindlichen Gestalten und hob ihre rechte Hand. Heimdal traute seinen Ohren nicht, als er das klatschende Geräusch hörte. Hatte Mayura es wirklich gewagt, Odin mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen? Ist sie aus Sorge um ihren Ehemann vielleicht verrückt geworden? Der höchste Gott stolperte ein paar Schritte zurück und Heimdal stockte der Atem, als das gleißende Licht, das Odin schon immer umgeben hatte, verblasste und schließlich vollkommen verschwand. Anstelle des Leuchten stand nun ein junger Mann vor ihnen, der kaum älter als Loki oder Thor in ihrer wahren Gestalt wirkte. Er trug ähnliche Kleidung wie Heimdal und ein Ährenkranz thronte in seinem blauen Haar, das ihm wirr vom Kopf stand. Muss wohl in der Familie liegen. Der Wächter grinste bei dem Gedanken an Thor, der sein Haar ebenfalls nie richtig bändigen konnte, und sein Unterbewusstsein fragte sich, ob es nicht er war, der langsam seinen Verstand zu verlieren schien. Rote Augen starrten die junge Frau voller Abscheu an, aber auch voller... Angst. Angst? Odin hat Angst vor Mayura? Jetzt bin ich wirklich vollkommen übergeschnappt. Oder aber Niflheim beschert mir nun lächerliche Wunschträume, da ich ja schon durch alle Erinnerungen gewandert bin. "Ich habe deinem Treiben lange genug tatenlos zugesehen, das hat nun ein Ende, Odin!" Mayura hob ihren Zeigefinger und der höchste Gott wich doch tatsächlich einige Schritte zurück. "Das ist noch immer meine Angelegenheit!" brachte er hervor, aber seine Stimme klang nicht mehr so selbstsicher, so tödlich kalt wie noch vor wenigen Augenblicken. Mayura schüttelte ihren Kopf und als sie sich zu den kindlichen Göttern umdrehte, hatte Heimdal das Gefühl, dass nicht wirklich der Mensch vor ihm stand, sondern jemand ganz anderes. Eine junge Frau, die Mayura war und doch wieder nicht. "Sie sieh dir an, Odin! Was hast du ihnen nur angetan!" Mayura verschränkte die Arme vor der Brust und nur Hel schien sie davon abzuhalten, den höchsten Gott richtig auszuschimpfen und ihn anzuschreien. "Du solltest dich schämen!" "Das geht dich überhaupt nichts an!" Odin erhob seine rechte Hand, wurde aber von unsichtbaren Kräften auf die Knie gezwungen, als Mayura mit ihren Fingern schnippte. Ihre Augen funkelten gefährlich, als sie auf ihn zu trat. "Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten, Odin? War es nicht meine Schwester, die dir einen Sohn gebar? Ich verzieh es dir, dass du sie verstoßen hast, ja, ich gab dir sogar zwei meiner liebsten Geschöpfe in deine Obhut, damit mein Neffe nicht allein aufwachsen muss!" Heimdal ärgerte sich ein wenig, von der jungen Frau als >Geschöpft< bezeichnet zu werden, gleichzeitig drehten sich seine Gedanken im Kreis. Wer war diese Frau, die in Mayuras Körper steckte, vermutlich sogar ein Teil der jungen Japanerin war? Wie kam es, dass sie stärker war als Odin und mit dem höchsten aller nordischen Götter schimpfte, als handele es sich bei ihm um einen unartigen Schuljungen? "Wer seid Ihr?" fragte er und fiel gegen Thor, als sich die Welt immer schneller um ihn drehte. Tiefe Schatten umfingen ihn, aber Mayuras Gestalt schien nicht zu verschwimmen, wie all die anderen Personen um ihn herum. "Ich bin die Göttin der Unterwelt." Lächelte sie freundlich und schritt zu dem Wächter hinüber. Sie beugte sich zu ihm herab und streichelte sanft über Heimdals vernarbte Wange. Als sie ihre Hand zurück zog, klebte Blut an den weichen Fingern. "Ich danke dir, dass du Hel zurück gebracht hast." "Ihr seid die mysteriöse Frau?" "Ja. Ich bin Lokis Frau und Hels Mutter." "Na wunderbar! Loki hat sich an der Göttin der Unterwelt vergriffen? Prima!" Der übliche Sarkasmus rutschte ihm heraus, bevor er sich hatte zurück halten können. Thor vergrub sein Gesicht schüttelnd in seinen Hände, während Loki die junge Frau unentwegt ansah. "Er war schon immer mein Gemahl gewesen, nur gab ich ihn in Odins Obhut, gemeinsam mit dir, Heimdal, da mich Odin darum gebeten hatte." "Und Mayura?" "Sie ist meine Wiedergeburt auf der Erde." Eine Wiedergeburt... "Seid Ihr nicht bei Hels Geburt gestorben?" "Ja, das bin ich." Traurig lächelte sie. Es war eine Gefühlsregung, die er schon einmal bei ihr gesehen hatte, trotz des Schleiers vor ihrem Gesicht. "Aber wie kann das sein?" "Du weißt selbst am besten, dass auch Götter sterben können, Heimdal. Ich kannte das Risiko, Hel zu bekommen, war aber bereit, es einzugehen." "Die Göttin der Unterwelt stirbt während einer Geburt?" "Nein, am Schicksal." "Trotzdem seid Ihr hier." "In ihrem Körper ist dies möglich, aber ich bin auf ewig an Niflheim gebunden." "Na super." Heimdal brummte der Schädel und seine leere Augenhöhle pochte unangenehm. Außerdem nahm die Übelkeit erneut zu. "Ich versteh kein Wort mehr, dafür krieg ich jetzt wohl eine ausgewachsene Migräne." Mayura, oder besser, die mysteriöse Frau lächelte ihn sanft an und erhob sich. Fordernd streckte sie ihre Hand dem jungen Mann entgegen, der entsetzt seine roten Augen aufriss und sich gegen unsichtbare Hände heftig zur Wehr setzte. Aber es nützte ihm nichts. Laut schrie Odin auf und es klang nicht mehr wie ein menschenähnliches Wesen, sondern vielmehr wie ein verwundetes Tier. Seine Gewänder blähten sich auf und rissen. Eine Wunde zog sich quer über den Bauch des nordischen Gottes und etwas kugelförmiges verließ seinen Körper. Es schwebte langsam durch die Luft, so als wollte die Herrscherin Niflheims Odin seinen Verlust deutlich vorführen, bevor es sanft auf ihrer Hand landete. "Lass dich nie mehr von falschen Freunden täuschen, sondern vertraue auf dein Herz." Sagte sie in ihrer rätselhaften Art und beugte sich erneut über den Wächter. Dieser wollte seine Hände empor reißen, als er ihre Finger auf seiner leeren Höhle spürte, die plötzlich zu brennen begann. Aber unsichtbare Kräfte hielten ihn in einem festen Griff gefangen und so konnte er nur hilflos abwarten, was weiterhin mit ihm passieren würde. "Jetzt wird alles wieder gut." Was? Als er endlich wieder frei kam, geschah es so unerwartet, dass er vornüber kippte und ohne Loki und Thors beherztes Eingreifen wohl auf den Steinfussboden geknallt wäre. Er rappelte sich auf, öffnete seine Augen und blickte seine Freunde dankbar an. Sekunde! Augen? Nicht nur die peinigenden Schmerzen waren verschwunden, nein, er sah seine Umgebung klarer und deutlicher als je zuvor, auch änderte sich der Blickwinkel, als er leicht seinen Kopf drehte. Er tastete vorsichtig mit seinen Händen sein Gesicht ab und starrte fassungslos seine Freunde an, als er erkannte, dass er sich nicht getäuscht hatte. Beide Augen lagen in ihren Höhlen, dort, wo sie hingehörten. Eine ihm wohl bekannte, aber so lang vermisste Kraft strömte in seinen Körper und ohne zu zögern nahm er wieder seine wahre Gestalt an. Nun war er es, der auf Thor herab blickte. Auf einen Jungen von äußerlich neun Jahren, der ihn anlächelte. Heimdal ergriff die kindliche Hand und gab ihm die Kraft zurück, mit welcher der Donnergott ihn während des Kampfes mit Odin am Leben erhielt. Thor nickte dankbar, als auch er seinen erwachsenen Körper wieder annehmen konnte. Um Loki kümmerte sich die Göttin des Totenreiches selbst. Mit einem Wink heilte sie den gebrochenen Flügel und das Blut verschwand von den hellen Gewändern des Unheilsgottes. Schweigend sah sie den kindlichen Gott an, bevor sie ihn zärtlich auf den Mund küsste. Müssen die das auch hier zelebrieren? Da wird einem ja übel! Dieses Mal wandte sich Heimdal aber nicht ab, wollte er doch selbst wissen, was nun geschah. "Es steht dir frei zu entscheiden, was du nun tun möchtest, Loki." "So sehr ich diesen Ort hier liebe, ich denke, May gefällt es in Japan besser." Loki lächelte traurig und als er sich erhob, war auch er nicht länger ein Kind. "Ich finde die Kirschblüte auch nicht schlecht." "Das habe ich mir fast gedacht." Die Göttin sah ihn geheimnisvoll an und schnippte abermals mit ihren Fingern. Plötzlich waren Midgar und Fenrir befreit und rannten zu ihrem Vater. Sie blickten genauso verwirrt drein wie die Schicksalsgöttinnen sowie die Geschwister, die im nächsten Moment neben ihnen standen. Dreck lag auf ihrer Kleidung, sie schienen bis zum Schluss den einstürzenden Säulen des Thronsaales getrotzt zu haben. "Ihr könnt alle entscheiden, ob ihr lieber in Walhalla leben oder euch erst noch ein wenig auf der Erde umsehen möchtet. Dies ist euer Ort, aber nicht euer Gefängnis." Die Göttin lächelte die Norns an und ging dann hinüber zu Odin, der innerlich kochte. "Ihr könnt nicht so einfach über meinen Kopf hinweg bestimmen! Ich werde diese Verlierer nie hier dulden!" schrie er empört und deutete auf Hel, die erwacht war und aufmerksam die Welt um sich herum betrachtete. "Genauso wie ich nie dieses Balg dulden werde." "Ich werde dich nicht länger dulden." Mayura lächelte, aber es war eindeutig die Göttin, die langsam ihre rechte Hand hob. "Du wolltest die dir Anvertrauten bestrafen? Wie wäre es, wenn ich dich dafür bestrafe?" Odin erblasste und Heimdal schluckte, als er direkt in rote Augen blickte, die suchend umher schauten. Suchend nach Unterstützung, die Odin jedem von ihnen verwehrt hatte. "Nicht!" hörte der Wächter aus weiter Ferne seine eigene Stimme und blinzelte überrascht, als ihm bewusst wurde, dass Thor, Loki und er zur gleichen Zeit um Einhalt geboten hatten. "Bitte, tötet ihn nicht." Erklärte der Donnergott leise. "Niemand hat Niflheim verdient." Bestätigte Heimdal und beobachtete, wie die Göttin zu Loki blickte und von ihm ein kurzes Nicken erhielt. "Nun gut." Sie musterte die drei Götter und hob erneut ihre Hand. "Dann werde ich ihm die Strafe angedeihen lassen, die ihr als gerecht für ihn empfindet." Odin schrie gepeinigt auf, als grelles Licht ihn umfing. *** "Wie wär's mit einer Geburtstagsfeier morgen Abend?" Heimdal stand am Fenster in Lokis Wohnzimmer und schaute hinaus in das Abendrot. Erstaunt drehte er sich um, als er den Satz hörte. Vor nicht einmal einer Stunde waren sie aus Asgard zurückgekehrt, fühlten sich alle erschöpft von einem Kampf, den sie beinahe nicht überlebt hätten, ihre Existenz auf der Erde, so sie sich dafür entschieden, musste neu überdacht werden. Es würde einige Tricks brauchen, um den Behörden klar zu machen, dass Mayura doch keine Fehlgeburt erlitten hatte, Hel lebte. Wie würde Mayuras Vater das Unvorstellbare aufnehmen? Und in all dem Chaos hatte wirklich jemand die Nerven, so einen unsinnigen Vorschlag zu machen? Wenn das Mayura gewesen wäre, so hätte es Heimdal nicht weiter gewundert, aber Loki war derjenige gewesen, der gesprochen hatte. "Das klingt super!" Was die junge Frau natürlich nicht davon abhielt, sofort Feuer und Flamme für die Idee ihres Ehemannes war. Ich denke, wir haben jetzt andere Probleme! Dennoch teilte niemand in dem Raum seine Bedenken. Die Norns, die es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten und dankbar von Midgar einen Tee entgegen nahmen, nickten und schlugen sogleich ein weiteres Kostümfest vor, so wie damals zu Mayuras siebzehnten Geburtstag. Oh nein, das können die vergessen! Ich steig in kein Zorro-Kostüm mehr! Ich werde überhaupt kein Kostüm tragen! Selbst in seiner wahren Gestalt wusste der Wächter, dass er sich nur in eine peinliche Situation bringen würde. Sicherlich wollte Urd, dass er wieder Karaoke sang. Diesen Wunsch würde er ihr kein zweites Mal erfüllen. "Vielleicht sollten wir alle erst einmal nach Hause gehen und eine Mütze voll Schlaf nehmen. Treffpunkt dann morgen Abend um acht?" schlug Freya gähnend vor und Heimdal beglückwünschte sie insgeheim, dass sie als einzige nicht ihren Verstand in Walhalla zurückgelassen hatte. "Gute Idee. Ich bring dann auch ein paar Steaks mit zum Grillen." Freyr grinste und nur der warnende Blick seiner Schwester hielt ihn davon ab, ihnen die Preisliste der Fleischtheke vorzutragen. "Klingt super." Midgars Augen leuchteten und Heimdal war sich sicher, dass die Weltenschlange, die endlich ihre menschliche Gestalt zurückerhalten hatte, bereits die köstlichsten Menüs in Gedanken zusammen stellte. Vielleicht sollte der Wächter wenigstens zum Abendbrot kommen? Verlockend klang es schon... Wenn ich dann überhaupt noch hier bin! Babygeschrei unterbrach das aufgeregte Gespräch über Karaoke, Essen, Trinken und diverse Gesellschaftsspiele, die Heimdal kein zweites Mal spielen oder erst gar nicht kennen lernen wollte. "Hunger oder Windeln." Vermutete Mayura laut und verließ den Raum. Thor folgte ihr nachdenklich. Natürlich, er hat mehr Ahnung mit Kleinkindern als wir alle zusammen. Mit seiner Hilfe wird es Mayura leichter haben. So richtig verstand er die "Strafe" der Todesgöttin nicht. Vermutlich hatte sie Lokis oder Thors Wunsch entsprochen. Heimdal hatte nicht gewollt, das sie Odin tötete, aber er wusste nicht, ob er mit dem jetzige Ergebnis glücklich sein konnte. "Also dann bis morgen acht Uhr." Wiederholte Freya und Loki grinste zufrieden. "Hai." "Das sind wirklich leckere Steaks." "Mit Kräuterbutter verfeinert..." "Die sind im Moment im Sonderangebot, genauso wie die Tomaten." "Baka!" "Aua, das tat weh, Freya!" "Baka!" "Hey..." Heimdal nutzte die entstandene Unruhe und schlich sich aus dem Wohnzimmer und Lokis Haus. *** Hier bin ich also wieder. Heimdal machte sich nicht die Mühe, seine Stiefel auszuziehen, als er die Eingangstür aufstieß und wie erstarrt im Rahmen stehen blieb. Die Wohnung sah nicht so aus, als sei er zehn Jahre fort gewesen. Alles stand an seinem Platz und jemand schien die Räume auf Hochglanz poliert zu haben. Heimdal war sich sicher, dass seine Küche noch nie so sauber ausgesehen hatte, da er sich nie die Mühe gemacht hatte, mit dem ohnehin viel zu großen Wischmopp zu kämpfen. Thor. Der Wächter erinnerte sich noch gut an den Streit zwischen Loki und Thor, in dem der Unheilsgott dem Donnergott vorgeworfen hatte, unnütz Miete für eine verlassene Wohnung zu zahlen. Nun sah Heimdal, dass Thor mehr getan hatte, als sich um die Rechnungen zu kümmern. Frische Blumen standen in einer Vase, deren Existenz Heimdal in den Tiefen seiner Schränke nicht einmal erahnt hatte, auf dem Küchentisch. Der Wächter strich nachdenklich über die roten Blüten, atmete den süßlichen Duft ein. Sie wirkten kein bisschen verwelkt, der Donnergott war wohl wirklich jeden Abend in diese Wohnung gekommen, wie Loki es ihm vorgeworfen hatte. Und das wegen mir... Ein Bild lehnte an dem Porzellan und Heimdal war nicht verwundert, als er sich darauf wiedererkannte. Mayuras Mitschüler hatte viele Photos zu jener Geburtstagsfeier gemacht und es schien, als habe Thor sich jedes einzelne erbettelt und die Bilder überall dort verteilt, wo er sich aufhielt. Nein, er hat nicht gelogen, er hat mich wirklich vermisst. Dennoch wusste Heimdal nicht, ob er in Japan bleiben sollte, aber er war sich auch nicht sicher, ob er sich in Walhalla wohler fühlte. Er nahm den Rahmen in seine Hände und schluckte, als er sich selbst in Kindergestalt sah, mit nur einem Auge, dessen leere Höhle er immer hinter seinen violetten Haaren verborgen hatte. Dennoch konnte er den Makel sehen, selbst auf diesem Photo, wo er zusätzlich eine schwarze Zorro-Maske trug. Es war nicht Loki gewesen, der ihm sein rechtes Auge gestohlen hatte. Nein, Odin hatte ihn schändlich hintergegangen, ihn sogar als >Abfall< und >Nichtsnutz< bezeichnet. Der höchste Gott hatte ihn nie geliebt, egal, wie sehr sich der Wächter auch nach väterlicher Zuneigung gesehnt hatte. Für Odin war er lästig, nur ein Werkzeug für seine verworrenen Pläne gewesen. Das tat weh. Tränen stiegen in seine roten Augen und der Rahmen entglitt seinen zitternden Händen. Es klirrte laut in der stillen Küche, aber er hörte das Geräusch nicht einmal. Das tat verdammt weh. Niemals hatte er sich so erniedrigt, so verlassen gefühlt wie in jenem Moment, als Odin ihn verhöhnte, ihn von sich stieß, ihn nicht vor dem drohenden Tod rettete. Und nun befindet sich der wahre Verräter in Lokis Obhut. Heimdal würde die Entscheidung der Herrin Niflheims nie verstehen, machte sie es ihm doch schier unmöglich, auf der Erde zu bleiben. Wie sollte er Loki besuchen, ohne dabei immer an den Verrat erinnert zu werden? Nie würde er den Jungen ohne Vorurteile ansehen können, egal, wie viel Zeit auch verging. Odin hatte ihn von sich gestoßen, als er ihn am dringendsten brauchte, das würde er ihm nie verzeihen können. Aber Walhalla klang in seinen Ohren auch nicht viel erstrebenswerter. Kurz nach der Verbannung war es sein größter Traum gewesen, endlich wieder als Gott durch die Säulenhallen zu wandeln. Jedoch nicht allein! So wie die anderen Götter reagiert hatten, würden sie noch ein wenig in Japan bleiben oder die Welt bereisen, so dass er in Walhalla niemanden sehen würde, zumindest niemanden, den er seine Freund nennen könnte. Loki wird bei Mayura und seinen Kindern bleiben. Und Thor? Bestimmt wird er sich ebenfalls für Tokio entscheiden, schließlich hat er sich während der letzten zehn Jahre hier eingelebt. Und ich? Was soll ich tun? Heimdal seufzte und es knirschte laut, als er über den Rahmen lief, um sich ein Glas Wasser zu nehmen. Plötzlich fühlte er sich ungemein durstig. Er betrachtete die Scherben auf dem Boden und begann, leise zu fluchen, während er sich hinabbeugte und sie vorsichtig aufsammelte. "Verdammt!" Warum konnte das Leben nicht einfacher werden? Immerhin hatte er sein rechtes Auge und damit seine göttliche Kraft zurück, wieso wurde statt dessen alles noch komplizierter? Heimdal strich über das Glas, das sich wie von selbst zusammen fügte und lehnte den Rahmen zurück an den Bauch der Vase. "Verdammt..." Ein Geräusch hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Entgeistert musterte er Thor, der ihm Türrahmen stand und ihn schweigend betrachtete. Wie ist er so rasch hierher gekommen? Ich habe doch allein eine halbe Stunde per Fuß gebraucht und sicherlich hat er kein Auto. Dann dämmerte es Heimdal. Natürlich, sie alle hatten ihre komplette Macht zurück, so war es für den Donnergott ein Leichtes, einfach so in seiner Wohnung zu erscheinen. Heimdal ahnte, dass er noch lange brauchen würde, um sich daran zu gewöhnen, dass er nicht mehr an die irdischen Gesetze gebunden war. "Na, Windeln beendet?" fragte er in seinem zynischsten Ton und füllte sich ein Glas mit Wasser, trank jedoch nicht. "Du bist mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, oder?" Verflucht, warum stellte Thor immer die richtigen Fragen? "Scheiße, nein! Ich wollte nicht, dass er umgebracht wird, weil Niflheim ganz schön brutal sein kann, aber ich wollte auch nicht für den Rest meines Lebens seinen Babysitter spielen! Was hat sich diese Göttin nur dabei gedacht, Odin in den Körper eines Kleinkindes zu stecken?" Heimdal schüttelte seinen Kopf und stellte das Glas zurück auf die Anrichte, um aufgeregt durch seine Wohnung zu tigern. Der Donnergott folgte ihm schweigend, ließ ihn in seiner Schimpftirade ausreden. "Ich kann nicht in der Nähe dieses Kindes sein, ohne an seinen Verrat zu denken, Thor. Er hat mich als Abfall bezeichnet und mich wie Müll weggeworfen, und da soll ich auf ihn aufpassen? Spinnt diese bekloppte Göttin oder was?" "Odins Gedächtnis wurde ausgelöscht, er wird sich nicht an die Ereignisse erinnern." "Aber ich erinnere mich verdammt gut! Ich habe zu ihm aufgesehen und ihm vertraut und er hat mich mit Füßen getreten. Ist mir scheißegal, ob er sein Gedächtnis verloren hat, aber seinen miese Charakter hat er bestimmt behalten. Ich wette mit dir, dass er in fünf oder zehn Jahren das totale Eckel sein und uns wieder nach Strich und Faden betrügen wird. Einmal Lügner, immer Lügner!" Aufgeregt warf Heimdal seine Arme in die Luft und umrundete die Couch in seinem Wohnzimmer drei Mal in seiner Aufregung. "Er muss es nicht werden, wenn wir es verhindern. Wir können ihn erziehen und dabei aufpassen, dass er nicht in alte Muster zurück fällt. Ich hab dich groß bekommen, Heim, da wird mir das bei ihm auch gelingen." "Also bleibst du auf der Erde?" Der Wächter stoppte seine Schritte und schaute den Donnergott herausfordernd an. "Du willst also wirklich diese tolle Aufgabe übernehmen, die uns diese Göttin auferlegt hat?" "Das hast du falsch verstanden. Sie wollte Odin umbringen und wir haben sie davon abgehalten, indem..." "Verschon mich mit dem Mist!" Heimdal hob abwehrend seine Hände, um Thors Redefluss Einhalt zu gebieten. "Ich hab kein Wort verstanden, was sie gequatscht hat, schon damals in Niflheim nicht. Ihr scheint es Spaß zu machen, in Rätseln zu sprechen, also lass mich mit deinen Interpretation ihrer Sätze in Ruhe. Ich versteh's nicht und wenn ich ehrlich sein will, hab ich auch kein Bedürfnis dazu!" Thor betrachtete ihn zweifelnd und Heimdal wusste, dass dieser Teil des Gespräches nicht wirklich beendet war, sie es aber ein andermal zu Ende führen würden. "Du willst also nach Walhalla zurück gehen?" "Ich habe keine Ahnung." Gab Heimdal ehrlich zu und ließ sich seufzend auf die Couch fallen. Er schloss seine müden Augen, um nicht länger in Thors trauriges Gesicht sehen zu müssen und gähnte unterdrückt. Es war ein extrem anstrengender Tag gewesen, er fühlte sich hundemüde. "Versuch's doch erst einmal, Heim." Schlug der Donnergott vor und Heimdal spürte, wie sich Thor neben ihn auf die Couch setzte, hörte, wie er seine Füße geräuschvoll auf den kleinen Wohnzimmertisch legte. Heimdal wollte etwas Gemeines hinsichtlich Hygiene und Sauberkeit sagen, verkniff sich dann aber jeglichen Kommentar, war es schließlich Thor gewesen, der die Wohnung bezahlte und sie auf Vordermann brachte. "In Lokis Haus ist sicherlich noch ein Gästezimmer frei, das du dir aneignen kannst, sollte dir diese Wohnung nicht mehr zusagen." Heimdal verzog abschätzig seinen Mund und Thor beeilte sich hörbar, in seinen Vorschlägen fortzufahren. "Midgar macht ein phantastisches Frühstück und seine Abendbrote sind auch nicht zu verachten. Am Wochenende unternehmen wir meist kleinere Ausflüge, im Sommer sogar ins Freibad. Loki kann zwar noch immer nicht schwimmen, hat aber seine Angst weitestgehend überwunden. Schau doch mal in der Uni vorbei, Heim, die Vorlesungen können sehr interessant sein. Besonders amüsant sind die Vorträge über Mythen der Welt. Es ist lustig zu hören, was Menschen so über Götter denken. Außerdem..." "Willst du mich gerade zum Bleiben überreden?" fragte Heimdal schläfrig und gähnte erneut. "Mit Midgars Kochkünsten?" "Die Kartoffel hat dir doch geschmeckt, oder?" Heimdal spürte Thors Arm um seine Schultern und gähnte abermals. "Klar will ich dich hier haben, Heim, das wollen wir alle, wenn nötig mit Fesseln." "Beruhigend zu wissen. Aber dir ist klar, dass ich beiße, oder?" "Ich dachte, diese Unart hättest du vor langer Zeit abgelegt." "Ja, dachtest du." Heimdal grinste, biss jedoch nicht, sondern lehnte sich gegen den Donnergott, der immer für ihn da gewesen war, der sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, um ihn zu retten, der sich gegen seinen eigenen Vater auflehnte, um ihn vor Niflheim zu bewahren. Allein ihm wäre er es schuldig, noch ein wenig in Japan zu bleiben und nicht sofort nach Walhalla zurück zu kehren. Ich kann nicht mit Odin unter ein und demselben Dach leben, ganz gleich, ob er ein kleines Kind ohne Gedächtnis ist. Das kann niemand von mir verlangen! Obwohl Heimdal ahnte, dass Thor dies sehr wohl konnte. "Weißt du was?" "Nein, tu ich nicht." "Ich mach dir noch einen Vorschlag." "Wir sind heute voller Tatendrang, was?" "Frech bist du überhaupt nicht." "Nee, wieso?" Heimdal konnte Thors Lächeln förmlich spüren, als eine warme Decke über seinen müden Körper ausgebreitet wurde und sich der Donnergott bequemer hinsetzte, ohne aber den Wächter aus seinem Arm zu entlassen. "Du schläfst jetzt eine Runde und danach lad ich dich zu einem Eis ein." "Seit wann hast du denn Geld? Wieder gefeuert worden und Abfindung kassiert?" "Dieses Mal nicht." Thor kicherte leise. "Ich helfe nur ab und an in Lokis Antiquitätenhandel aus und krieg dafür ein ordentliches Taschengeld." "Also könnte ich mich gleich von Loki einladen lassen." "Interessiert es deinen Magen wirklich so brennend, wo das Essen herkommt?" "Nee." Heimdal driftete tiefer in das Traumland und sein Unterbewusstsein registrierte, dass sanfte Finger durch seine violetten Strähnen streichelten. Es war eine schlichte Geste, die ihn jedoch tröstete, den Schmerz in seinem Herzen ein wenig linderte. Odin mochte ihn verraten, ihn wie Abfall fortgeworfen haben, aber er war nie allein gewesen. Loki und Thor hatten immer an seiner Seite gestanden, ihn nie im Stich gelassen. Egal, was die Zukunft für ihn auch bereit hielt, egal, ob er sich nun für Walhalla oder für Japan entschied, er wusste, dass es immer zwei Personen geben würde, denen er vertrauen konnte. Blindlings vertrauen, da sie ihn liebten. "Danke..." flüsterte er und kuschelte sich tiefer an den warmen Körper und unter die weiche Decke. "Gern geschehen, Kleiner." Thor hielt den schlafenden Wächter sanft fest. "Gern geschehen." *** "Komm, sing mit uns!" Heimdal schaute die drei Schicksalsgöttinnen entsetzt an, musste aber grinsen, als sich Urd in ihrem Kostüm verhedderte und fast von der kleinen Bühne fiel, die Mayuras Vater in Lokis Garten errichtet hatte. Der Priester hatte die Geschichte von der Fehldiagnose der Ärzte und der wundersamen Rettung seiner Enkelin sofort akzeptiert. Selbst wenn er sie vielleicht nicht völlig glaubte, so zeigte er es nicht, hielt einfach nur die kleine Hel stolz in seinen starken Armen und würde sie wohl für den Rest des Abends nicht mehr los lassen. Eines Abends, der für Heimdal wohl noch sehr lange werden würde. "Das ist ein Klassiker, den kennst du auch, ganz bestimmt." Bettelte Skuld und hielt ihm auffordernd das Mikrophon entgegen. Die drei Göttinnen hatten sich als Indianerinnen verkleidet und Heimdal mochte ihre verrückte Kriegsbemalung. Er fand sie umso besser, nachdem er erfahren hatte, dass Belldandy aus Versehen wasserfeste Farbe eingekauft hatte und die Schwestern wohl mehrere Tage brauchen würden, um ihre ungewohnte Schminke zu entfernen. "Die Steaks sind gleich fertig." Verkündete der Mönch Freyr stolz vom Grill, den Midgar ihm überlassen hatte, um sich in letzter Minute noch um die Geburtstagstorte für Mayura zu kümmern. Die junge Frau saß, selbstverständlich wieder als Sherlock Holmes verkleidet, neben ihrem Ehemann und strahlte schon die ganze Zeit. Geschenke stapelten sich vor ihrem Platz, aber sie hatte sich am meisten über ein selbstgeschnitztes Schaukelpferd für ihre Tochter gefreut. Einige ihrer ehemaligen Mitschüler, die noch in der Stadt wohnten, hatten sich ebenfalls eingefunden und der Verrückte mit der Kamera und den vielen Festplatten, der dieses Mal als Peter Pan um die Tafel tänzelte, schoss erneut ein Photo nach dem anderen. "Phantastisch, ich hab schon Bärenhunger." Pharao Thor hielt ein anderes Baby in seinen Armen, das mit roten Augen aufmerksam den Löffel betrachtete, den der Donnergott wie einen Hubschrauber durch die Luft fliegen ließ. Noch hatten sie sich für Odin keine glaubwürdige Geschichte ausdenken können, dafür war die Zeit zu knapp gewesen, aber erstaunlicherweise fragte niemand nach. Der kleine Junge schmatzte, als der Brei in seinem hungrigen Mund verschwand und gluckste zufrieden, als Thor in der Babysprache mit ihm redete. Hat er mich auch so behandelt als ich so klein war? Heimdal schielte zu den köstlich brutzelnden Steaks und Mayuras strahlendes Gesicht. Loki, der dieses Mal in dem Kostüm eines chinesischen Kaisers steckte, hatte bereits gesungen und sich dabei mehrfach versungen und sich, wie Heimdal es nannte, vollkommen zum Ei gemacht. Dennoch hatte ihn niemand mit faulen Tomaten beworfen. "Bitte?" flehte nun auch Belldandy und Heimdal ergab sich schließlich in sein Schicksal und erhob sich unter dem lauten Jubel der drei Schwestern. Sie werden mich schon nicht rösten, wenn ich die Töne nicht treffe oder das Lied absolut nicht kenne. Denn er wusste nicht, was die Norns unter einem Klassiker verstanden. Freya sprang auf, um den CD-Player zu bedienen und er raffte den langen Yukata, den er als Kostüm trug, und kletterte auf die Bühne. Skuld und Urd halfen ihm sofort. Ein wenig albern kam er sich schon in den weiten Gewändern vor, die laut Mayuras Vater die Höflinge vor tausend Jahren in Japan getragen hatten. Besonders der Hut störte ihn. Und nun sollte er auch noch singen? Aber er dachte an das saftige Steak, das ihn erwartete und die leckere Geburtstagstorte, von der Midgar schon den ganzen Tag schwärmte. Heimdal hob das Mikrophon und wusste, das es diese peinliche Situation wert war, als er in Lokis grinsendes und Thors dankbar lächelndes Gesicht blickte. Diese und all die anderen Situationen, die er mit ihnen noch erleben würde. "There's nothing you can do that can't be done Nothing you can sing that can't be sung Nothing you can say but you can learn how to play the game It's easy Nothing you can make that can't be made No one you can save that can't be saved Nothing you can do but you can learn how to be you in time It's easy" *** Epilog: Maiglöckchen -------------------- "Lügner - Verdammt sollst du sein! Lügner - Und nun bist du allein..." Epilog: Maiglöckchen "Schau mal, was ich gebaut hab." Ein kleines Mädchen von etwa drei Jahren lief durch den Sandkasten und hielt dabei eine Schaufel hoch über ihrem Kopf. Ihre pinkfarbenen Zöpfe wippten und ihre dunkelgrünen Augen leuchteten. Entschlossen stapfte sie durch den Sand und ihr helles Sommerkleid war schmutzig, genauso wie ihre kleinen Hände. Der junge Mann, der sie überschwänglich in seine Arme schloss und sie durch die Luft wirbelte, bis sie laut lachte, störte dies nicht. "Ist das eine Burg, kleine Prinzessin?" fragte er und sie kicherte bei ihrem Spitznamen, den sie so sehr mochte. "Hai, Onkel Heimdal." Eifrig nickte sie und lief zurück zu dem Gebilde aus Sand, um es ihm stolz zu präsentieren. "Dort sind die Schlafzimmer und dort die Ställe..." erklärte Hel aufgeregt. Das kleine Mädchen hatte gerade ihre Leidenschaft zu den europäischen Märchen entdeckt, die ihr Vater ihr jeden Abend vorlas und seitdem zierte jedes Bild, das es malte, eine Burg und eine Prinzessin, um die sich mindestens zehn Ritter stritten. "Sehr hübsch." Heimdal streichelte durch ihre Locken und ließ sich neben ihr nieder. Kurz schloss er die Augen und genoss die warme Frühsommersonne, die direkt in sein Gesicht schien. Nun befand er sich schon seit drei Jahren auf der Erde und obwohl ihn manchmal die Sehnsucht nach Walhalla, seiner Heimat, überkam, so hatte er keinen einzigen Tag in Japan bereut. Er nahm Lokis Angebot an und zog ebenfalls in eines der Gästezimmer in dem Haus des Donnergottes. Rasch verwüstete er sein kleines Reich und wenn nicht Thor sich ab und an erbarmen und ein wenig Ordnung schaffen würde, fände er wohl nichts wieder. Hel mochte seine Räuberhöhle, wie sie es nannte, und somit hatte er einen Grund mehr, sich vor dem lästigen Aufräumen zu drücken. Thor schimpfte öfter, wenn er zusammen mit dem Mädchen das Wohnzimmer in ein Schlachtfeld verwandelte, nur, um sich grinsend zu ihnen zu gesellen, um ebenfalls Pferdchen zu spielen oder das Signal des Feuerwehrauto nachzuahmen. Nicht selten fand Mayura sie so und musste laut lachen. Ich verpasse nichts in Walhalla, aber ich würde so viel hier verpassen. Heimdal öffnete seine Augen wieder und arbeitete bereitwillig an dem Burggraben, als Hel ihm kurzentschlossen ihre zweite Schaufel in die Hand drückte. Ihre Wangen waren gerötet und er konnte sich ein Leben ohne dieses lebhafte Kind nicht mehr vorstellen. Heute war Samstag und damit herrschte Hochbetrieb auf dem Spielplatz in dem großen Park, der etwa zehn Minuten von Lokis Haus entfernt lag. Viele Kinder kletterten auf den Gerüsten, schaukelten oder jagten sich über den Platz, aber Heimdal störte das laute Kinderlachen nicht mehr. Nein, er fühlte sich wohl hier. Loki und Mayura hatten einen wichtigen Termin im Tempel bei Mayuras Vater und Thor und Heimdal hatten sich sofort als Babysitter angeboten. Midgar kümmerte sich derweil um das Abendbrot, während Fenrir faul auf seinem Fell lag und sich den ohnehin schon schwarzen Bauch bräunen ließ. Letztes Jahr entschied sich Loki, einen kleinen Pool im Garten einzubauen und seitdem bevölkerte der Welpe diesen, planschte bereits seit Wochen auf einer quietschgelben Luftmatratze durch das Wasser, das sich in der warmen Sonne wunderbar frisch anfühlte. Wenn Heimdal den faulen Höllenhund gefragt hätte, wäre er sicherlich mitgekommen, aber Tiere wurden auf dem öffentlichen Spielplatz nicht so gern gesehen, also ließ er Fenrir seinen Frieden. "Schokolade war leider aus, ich hoffe, Zitrone tut's auch." Heimdal blickte auf, als ihm eine Eiswaffel entgegen gehalten wurde und blickte in Thors grinsendes Gesicht. "Na, gerade so." neckte er und nahm sich zwei Tüten und reichte die mit der roten Kugel, Hels heißgeliebtes Erdbeereis, an das kleine Mädchen, das seine Burg vergaß und sein Kleid begeistert voll zu kleckern begann. Thor nickte und setzte sich ebenfalls zu den Burgherren. Der Donnergott beendete letztes Jahr seine universitäre Laufbahn, sogar mit einem Abschluss, und arbeitete seitdem an drei Tagen der Woche ehrenamtlich in einer sozialen Einrichtung. Lokis Antiquitätenhandel warf weiterhin genügend Geld ab, so dass der Donnergott von den hilfsbedürftigen Menschen keinen Lohn zu verlangen brauchte. Den Rest der Woche sowie am Wochenende war er engagierte Onkel - und Vater. "Lecker." Strahlte Hel mit rotem Mund. "Wirklich lecker." Bestätigte ihr der Donnergott und winkte einem kleinen Jungen zu, der etwa zehn Meter entfernt auf einer Schaukel saß und an einem gelb aussehenden Eis leckte. Blaue Haare standen in alle Richtungen und seine roten Augen leuchteten, als er Thors Winken enthusiastisch erwiderte. Heimdal hatte erwartet, dass sich Mayura hauptsächlich um das zweite Kind in ihrer Familie kümmern würde, umso mehr überraschte es ihn, als Thor nach einem halben Jahr verkündete, dass er den gedächtnislosen Odin adoptieren würden, da sich die japanischen Behörden für ihn zu interessieren begannen. "Deinem Kleid scheint's ja auch zu schmecken." Heimdal zückte ein Taschentuch und wischte wenigstens die roten Wangen Hels ab, als das Mädchen ihr Eis beendet hatte. "Hai!" grinste sie. Der Wächter selbst besuchte ab und an noch Vorlesungen, stritt sich regelmäßig mit seinen Professoren über Mythologiethemen, in denen er einfach wusste, dass sie Unrecht hatten, und übernahm gerne die Rolle des Babysitters, wenn Loki und Mayura verhindert waren. Die junge Frau hatte tatsächlich die Detektei wieder eröffnet und war deswegen öfter unterwegs, wusste aber, dass ihre Hel bei ihm, dem Onkel, in guten Händen war. Ja, auf Hel gab er gerne acht. Mit Odin verhielt es sich da ganz anders. "Zeit zum Aufbrechen." Die Turmuhr der nahen Kirche schlug und Heimdal musste Thor Recht geben, als sich dieser erhob und die benutzten Taschentücher einsammelte und in den nächsten Abfalleimer warf. Wenn sie sich beeilten, konnten sie noch vor dem Abendbrot die beiden Kinder baden und in saubere Kleidung stecken, dann sah Mayura nicht, dass sie den beiden so kurz vor dem Essen ein Eis spendiert hatten. "Wir kommen morgen wieder her, oder?" Hel streckte Thor ihre kleinen Ärmchen entgegen und lachte erfreut, als er sie auf seinen Schultern reiten ließ. Heimdal grinste, als sich das Mädchen an den Haaren des Donnergottes fest hielt und dieser schmerzhaft sein Gesicht verzog, es aber ertrug wie ein Mann. "Hai, es sei denn, es regnet." "Dann soll die Sonne lachen." Entschied Hel und lachte, als sich Thor in Bewegung setzte. "Rufst du Odin?" Heimdal sammelte Hels Schaufeln zusammen und packte sie in den kleinen Eimer. Nein, er wollte den Jungen nicht rufen, es fiel ihm schon schwer genug, mit ihm unter ein und demselben Dach zu leben, aber ein Blick auf Hel auf Thors Schultern verriet dem Wächter, dass er keine andere Wahl hatte. Thor war offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt, als seinen Sohn von der Schaukel abzuholen. Ich werde nie verstehen, warum er diesen Lügner adoptiert hat. War er betrunken und wir haben es nicht mitbekommen? Oder hatte sein Verstand kurzzeitig ausgesetzt? Der Schmerz über den Verrat Odins steckte tief in seiner Seele, Heimdal konnte ihm nicht vergeben, selbst wenn der einst höchste nordische Gott nun in dem Körper eines etwa vierjährigen Jungen steckte, sich nicht mehr an seine grausamen Taten erinnern konnte. "Wir gehen, komm!" meinte er deshalb knapp zu dem Kind, das auf der Schaukel vor sich hin baumelte und es ebenfalls geschafft hatte, sein helles T-Shirt mit gelber Eiskrem zu verschmieren. Heimdal fragte sich, warum kleine Kinder nicht essen könnten, und zog dann schließlich genervt sein letztes sauberes Taschentuch. "Du bist fast vier Jahre, du solltest langsam mal lernen, wie man isst." Unsanft fuhr er über Odins Gesicht und der Junge zuckte leicht zusammen, rutschte dann aber von der Schaukel und folgte ihm. "O... Heimdal?" fragte er und zupfte zaghaft an Heimdals Hemd, dessen Ärmel er in der Wärme umgeschlagen hatte. Wenigstens hat er sich gemerkt, dass ich nicht sein Onkel bin! "Was gibt es?" erwiderte er grob und blickte hinab in rote Augen, sah jedoch nicht den kleinen Junge vor sich, der ihn erwartungsvoll anblickte, sondern sah wieder den Gott, der ihn verhöhnt, der ihn verstoßen hatte. Allein die Gegenwart Odins schmerzte. "Will auch reiten." Forderte der Junge und streckte ihm seine Arme entgegen. Das Lächeln erstarb auf seinem kindlichen Gesicht, als Heimdal ungläubig seinen Kopf schüttelte. "Schämst du dich nicht? Du bist doch alt genug, um allein zu laufen." "Demo..." "Hel ist ein Jahr jünger als du und außerdem ein Mädchen." Mit diesen Worten, die selbst in seinen Ohren unfair klangen, eilte Heimdal dem Donnergott und Lokis Tochter hinterher. Odin schaffte es nicht, Schritt zu halten. *** "Lass mich raten, du findest dein Bett nicht mehr." Thor blickte von der Zeitschrift in seinen Händen auf und grinste über das ganze Gesicht, als er Heimdal in sein Zimmer schleichen sah. Der Wächter trug seinen violetten Schlafanzug, den Mayurka ihm letztes Weihnachten geschenkt hatte, da er so gut zu seinen Haaren passen würde, und hielt ein Kopfkissen unter seinem Arm geklemmt. "Baka." Der Wächter hatte trotz der drei Jahre, die er nun schon in Tokio lebte, nur wenig Japanisch gelernt. Die Schimpfwörter beherrschte er jedoch fließend. "Wenn du einmal aufräumen würdest, würdest du's wiederfinden, vertrau mir. Ansonsten erstickst du noch mal in deinem Chaos." "Halt deine Klappe und rutsch ein Stück." Brummte Heimdal anstelle einer Verteidigung und rollte sich auf Thors Bett zusammen. Es war schon weit nach Mitternacht und alle im Haus schliefen bereits außer dem Donnergott, der die nächtliche Stille genoss und sich dann gerne in seine Magazine über soziale Themen oder schlicht über Rockmusik vertiefte. Heimdal, der sein Bett wohl noch fand, seine Matratze jedoch unter einer dicken Schicht aus Büchern über japanische und europäische Mythologie begraben hatte, sah in seinem besten Freund die einzige Rettung, doch noch ein wenig Schlaf auf einer bequemen Unterlage zu finden. "Langsam wird das zur Angewohnheit, Heim." Thor legte seine Zeitschrift beiseite und opferte die Hälfte seiner Decke, um den jüngeren Gott zuzudecken. "Schränke sind für Bücher da, keine Betten." "Wenn's dir nicht passt, dann geh doch." "Hör mal, das ist noch immer mein Zimmer und mein Bett." Empörte sich der Donnergott, lächelte jedoch, als Heimdal nur mit seinen Schultern zuckte und sich tiefer in die warme Decke hüllte, die im Gegensatz zu seiner eigenen nicht so zerknittert war und nicht nach altem Papier roch. "Hast du dir mal überlegt, eine Professur in Mythologie anzustreben? Mit deinem Arbeitsmaterial hast du schwerwiegende Argumente." "Meinst du?" "Klar, dreißig Kilo lagern bestimmt da drüben." "Baka!" "Nein, ernsthaft, Heim, du könntest den Studenten viel beibringen." "Ich könnte sie umbringen." "So schlimm bist du nun auch nicht." "Frag da mal meine Professoren." Heimdal kniff seine Augen zusammen und Thor löschte amüsiert das Licht seiner kleinen Nachttischlampe. "Morgen helfe ich dir, dein Zimmer aufzuräumen." "Wieso, stör ich?" "Das nicht, aber da gibt es etwas, das du von mir noch nicht weißt. Ein ganz, ganz dunkles Geheimnis." Thor grinste hinterhältig und rutschte näher an den Wächter heran, der sich schlafend stellte, ein Kichern jedoch nicht unterdrücken konnte. "Ich hab es Äonen von Jahren mit dir ausgehalten, was sollst du da schon zu verbergen haben?" "Es ist ein ganz dunkles Geheimnis." "Ja, so dunkel, dass nicht mal du es kennst, was?" "Ganz extrem dunkel. Ich hab da nämlich manchmal nachts so Kitzelattacken." Bevor Heimdal reagieren konnte, hatten sich Thors Hände um seine Seiten geschlossen und der Wächter lachte laut auf. "WAH! THOR! HÖR AUF!" japste er und wehrte sich, aber Thor blieb erbarmungslos. Er setzte sich auf Heimdals Beine und hielt ihn somit gefangen. Ohne Rücksicht auf Verluste fuhr er fort in seiner krabbeligen Tortur. "THOR!" wand sich Heimdal lachend unter ihm. "Ich wecke noch das ganze Haus! HÖR AUF!" "Ich sagte doch, ein ganz dunkles Geheimnis, aber du wolltest ja nicht auf mich hören." "Thor..." "Was?" "HÖR AUF!" "Wie heißt das Zauberwort?" "SOFORT!" "Falsch." "Bitte?" "Richtig." Thor grinste, als er seinen Händen Einhalt gebot und rote Augen ihn bitterböse anfunkelten. Dann verzog sich Heimdals Gesicht zu einem Grinsen und sie kicherten beide. "Für so hinterhältig hab ich dich gar nicht gehalten." Heimdal rang noch immer nach Atem und ergriff Thors Hände, um sie von seinen kitzeligen Seiten fortzuziehen. "Ich sagte doch, ganz dunkles Geheimnis." "Wahrlich." "Also, soll ich dir nun morgen beim Aufräumen helfen?" Thor ließ den Wächter frei und fiel zurück auf seine Seite des Bettes. "Wieso? Jetzt, da ich dein ach so dunkles Geheimnis kenne, kann ich mich doch darauf einstellen." "Meinst du?" Thor rollte hinüber zu dem feixenden Wächter und bevor Heimdal reagieren konnte, schlossen sich zwei Arme um seinen noch immer nach Luft ringenden Körper. "Oh je, eine weitere Kitzelattacke." "Thor!" "Papa?" Die hohe Kinderstimme unterbrach ihr beinahe hysterisches Kichern. Heimdal versteifte sich, während Thor von seinem frechen Opfer abließ, sich aufrichtete und hinüber zur Tür blickte, in Odin stand und ihn mit seinen großen Augen unsicher anstarrte. Er hielt einen Teddybären, der beinahe genauso groß wie er selbst war, in seinen kleinen Armen, Tränen glitzerten in seinen Augen und seine geröteten Wangen sahen aus, als habe das Kind geweint. "Hast du schlecht geträumt, mein Kleiner?" fragte der Donnergott und im nächsten Moment hatte er beide Arme voll mit einem schluchzenden Jungen. "Da war ein Monster, Papa, das wollte... wollte mich fressen..." Das einzige Monster in diesem Raum bist du! Heimdal richtete unauffällig seinen Schlafanzug und seufzte tief, als er sah, dass Thor keine Anstalten machte, den Jungen in sein eigenes Bett zurück zu bringen. "Es gibt doch gar keine Monster, mein Kleiner." Thor strich beruhigend über blaue Haare und wiegte den kleinen Jungen, als wäre er noch immer ein Baby. "Darf ich heute hier schlafen, Papa?" "Hai." Thor ergriff die Decke und hüllte sich und den kleinen Jungen darin ein. Dass er genügend für Heimdal übrig ließ und weiterhin auf seiner Seite des Bettes blieb, bemerkte der Wächter nicht einmal. Er hatte nur Augen für Odin, den er so sehr verabscheute, den er aber nicht aus seinem Leben verbannen konnte, nicht, wenn er zugleich auf Thor, Loki und dessen Familie verzichtete. Heimdal sah nicht ein, warum er wegen des Gottes, der ihn verstoßen hatte, auch noch Opfer bringen sollte. Er hatte damals nicht gewollt, dass Odin von der Todesgöttin nach Niflheim geschickt wurde, dennoch wünschte er sich, dass er ihn wenigstens aus diesem Haus verbannen könnte. Thor hatte sich jedoch anders entschieden, den Lügner adoptiert. Heimdal war dagegen machtlos, musste zähneknirschend die Entscheidung des Donnergottes akzeptieren. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass er mit Odin in ein und demselben Bett nächtigen würde. Das geht zu weit! Heimdal schnappte sich sein Kopfkissen und stolperte in der Dunkelheit Richtung Tür. Das Sofa im Wohnzimmer war bei weitem nicht so bequem wie Thors Matratze, aber für die kommende Nacht würde es schon ausreichen. Es wurmte Heimdal, dass er von Odin, ausgerechnet Odin, vertrieben wurde und sich nun gezwungen sah, sein Zimmer doch aufzuräumen und sich damit die Ausreden nehmen zu lassen, öfters mal bei Thor Unterschlupf und ein wenig Ruhe vor den Alpträumen zu finden, die ihn ab und an quälten, ihm Bilder aus Niflheim und von dem finalen Kampf gegen Odin zu zeigen. Das Wort >Abfall< würde für ihn nie mehr die bloße Bedeutung von altem Papier oder verfaultem Gemüse haben. "Heim? Wo gehst du hin?" flüsterte Thor, vermutlich war das Balg bereits eingeschlafen und er wollte den Junge nicht wecken. Aber er bringt ihn auch nicht zurück in sein eigenes Zimmer! "Ins Wohnzimmer." "Mach keinen Quatsch, die Couch ist viel zu klein, um bequem darauf zu schlafen." "Dein Bett ist's auch!" Entschieden zog Heimdal die Tür hinter sich ins Schloss und tapste barfuss die kalten Dielen entlang. Äußerlich fror ihn, aber innerlich kochte er vor Wut. *** "Okonomiyaki oder Spaghetti?" Midgar saß auf dem Rand des kleinen Pools und ließ seine Beine im kühlen Wasser baumeln. Er hatte die Beine seine Hose hochgekrempelt und wirkte seltsam lässig, da er die oberen Knöpfte seines Hemdes aufknöpfte, sein Jackett komplett ablegte. "Spaghetti!" bellte Fenrir fröhlich und schnappte nach dem Ball, den sein jüngerer Bruder ihm zuwarf, um ihn zurück an den Rand zu zerren und schwanzwedelnd darauf zu warten, dass Midgar das klingelnde Ungetüm erneut werfen würde. "Spaghetti klingt lecker." Stimmte ihm Mayura zu, die mit ihrer Tochter auf einer Decke saß und mit wichtiger Miene eine Puppe frisierte. Hel zeigte ihrer Mutter ganz genau, was für Frisuren sich ihre Puppen wünschten. Ein dunkles Handy lag neben Mayura im Gras, aber es klingelte nicht. Die Kunden ihrer Detektei hatten bei den heißen Temperaturen wohl auch keine besondere Lust, ihr neue Aufträge zu übermitteln. "Lange Würmer." Lachte das Mädchen und schüttelte ihren Kopf, als Mayura den Zopf falsch flocht. "Das muss so aussehen, Mommy." Mommy, das hatte sie von Fenrir übernommen. Heimdal zuckte mental seine Schultern und schob die Sonnenbrille zurück auf seine Nase. Er lag unter einem großen Sonnenschirm in einem Klappstuhl, den Midgar erst letzte Woche im Internet bestellt hatte. So recht vertraute er dem Ungetüm nicht, aber es schien ihn auszuhalten, ohne seine Knöchel lebensgefährlich einzuklemmen. Thor war in seiner sozialen Tätigkeit unterwegs und Loki besuchte die Geschwister Freyr und Freya. Alles in allem versprach es, ein ruhiger Nachmittag zu werden. "Was meinst du, Heimdal-sama?" Ich reg mich jetzt nicht auf und ermahne ihn, dass mein Name mit diesen seltsamen japanischen Kürzeln einfach nur bekloppt klingt, sonst streicht er meinen Eiskaffee. "Nudeln sind okay." Er lehnte sich in dem Stuhl zurück und fuhr zusammen, als etwas Kaltes auf seinen freien Oberkörper gelegt wurde. Er trug nur kurze Hosen, hatte sich aber mit Sonnenmilch eingecremt, nachdem Thor ihn den ganzen Morgen wegen Sonnenbrand in den Ohren gelegen hatte. "Was...?" fragte er und schob die Sonnenbrille zurück in sein Haar, um das Unkraut zu begutachten, das nun seinen noch recht bleichen Oberkörper zierte. Er nahm die grünen Stängel in seine rechte Hand und hob fragend seine Augenbrauen, als er den Strauß Maiglöckchen erkannte, die bereits ihre Köpfchen hängen ließen. Maiglöckchen? "Für dich." Erklärte eine hohe Kinderstimme und Heimdal sah direkt in Odins lächelndes Gesicht, als der junge auf den Strauß deutete. "Freust du dich?" Maiglöckchen? Oh nein! "Wo hast du die hier?" fragte er ahnungsvoll und erhob sich vorsichtig von der Mausefalle, wie er den Klappstuhl getauft hatte, um dem Jungen zu folgen, der ihm sichtlich aufgeregt den Weg zeigte. Mayura blickte nur kurz auf, nickte ihm dann aufmunternd zu und widmete sich erneut den Haaren der Puppen. Migar warf den Ball zum zigsten Mal und Fenrir sprang dem klingenden Ungetüm freudig bellend hinterher. "Hab ich extra für dich gepflügt, Onkel Heimdal." Der Junge wischte sich die dreckigen Finger an seiner kurzen Hose ab und grinste ihn stolz an. "Freust du dich?" "Du hast mein Beet geplündert!" Heimdal blickte fassungslos auf das kleine Stückchen Erde, das er Anfang des Frühjahrs bearbeitet hatte, um wenigstens ein paar Blumen zwischen all den Bäumen im Garten zu haben. Thor half ihm sogar und zwei ganze Tage buddelten sie in der noch halb gefrorenen Erde. Freudig hatte er während der ersten Sonnenstrahlen beobachtet, wie die Frühlingsblüher zu sprießen begannen - nun aber wirkte das Beet eher wie ein Schlachtfeld. Odin hatte wirklich ganze Arbeit geleistet mit seiner kleinen Schaufel. Die Maiglöckchen, die Heimdal in seinen Fäusten hielt, waren nicht die einzigen Blumen die dem Jungen zum Opfer gefallen waren. "Onkel Heimdal?" "Nenn mich nicht so! Ich bin nicht dein Onkel!" zischte der Wächter und warf den Strauß entnervt auf die umgegrabene Erde zu den anderen welkenden Blumen. "Den hatte ich extra für dich gepflückt!" "Du hast mein Beet kaputt gemacht!" Heimdal holte tief Luft und bezwang seine Wut. Er schlug keine Kinder, selbst wenn es sich dabei um Odin handelte, der auf seine Gesundheit nie Rücksicht genommen hatte. "Du machst mir immer alles kaputt. Bist du nun zufrieden?" Heimdal sah, dass dies nicht der Fall war, als Tränen über dreckige Wangen liefen, aber er ignorierte das Schluchzen des Jungen und stapfte wütend zum Haus zurück, wo er für den Rest des Nachmittags mit ungeahnten Elan sein Zimmer aufräumte - oder zumindest die Bücher alphabetisch sortierte. *** Zornig trommelte Heimdal mit seinen Fingern auf dem Tisch. Die anderen waren unterwegs und hatten ihn allein in dem Haus zurück gelassen. Gut, sie hatten alle gute Gründe gehabt und er konnte sich schlecht in Thors noch in Mayuras und Lokis Arbeit einmischen, aber es missfiel ihm, dass Mayura ihre Tochter dieses Mal mitnahm und er dafür den Aufpasser für Odin mimen durfte. Midgar und Fenrir hatten sich in die Küche verzogen, um das Abendbrot zu kochen beziehungsweise schläfrig zu bewachen und nun war dieser verdammte Junge wieder an ihm hängen geblieben. Onkel Heimdal hier, Onkel Heimdal dort, dabei hatte er ihn doch oft genug ermahnt, dass er mit ihm nicht verwandt war und eine solche Beziehung auch nicht anstrebte. War der Junge vielleicht taub? Jedenfalls schien er es immer zu vergessen und blickte ihn so traurig an, wenn er ihn erneut daran erinnerte, ihn Heimdal zu nennen, wenn er denn schon mit ihm reden musste. Heimdal hatte sich ein dickes Buch über japanische Mythologie mit ins Wohnzimmer genommen und Odin schließlich zum Spielen in den Garten geschickt. Zu laut hatte der Junge mit seinen Bauklötzern gespielt, ja, seine pure Anwesenheit nervte den Wächter ungemein, ließ nicht zu, dass er sich auf seine Texte konzentrieren konnte. Einmal schlich sich Odin noch einmal in das Wohnzimmer und fragte leise, ob er den Roller benutzen dürfte, den er von seinem Opa, Mayuras Vater, zum letzten Geburtstag erhalten hatte. Brummend hatte Heimdal ihm zugestimmt, um endlich seine Ruhe zu haben, nicht aber, ohne ihn zu warnen, dass er das Spielzeug nicht kaputt machen sollte. Das war vor zwei Stunden gewesen. Zuerst hatte sich Heimdal über die friedliche Stille gefreut, dann aber verdunkelte sich der Himmel und es begann zu regnen. Der Wächter ergab sich in sein Schicksal, denn er vermutete, dass der Junge jeden Moment hereinkommen und ihm erneut auf der Nase herumtanzen würde, aber nichts geschah. Er wird doch wohl nicht draußen im Regen spielen. Thor bringt mich um, wenn Odin sich erkältet hat. Heimdal erhob sich seufzend und blickte zum Fenster hinaus. Weit und breit konnte er jedoch nichts von dem Jungen sehen. Ob er schon wieder rein ist und hat sich bei mir nicht gemeldet? Hat er wirklich einmal eine Lektion gelernt? Der Wächter hob abschätzig seine Augenbrauen und verließ das Wohnzimmer, um seinen Kopf kurz in die Küche zu stecken. Midgar erklärte gerade einem sichtlich schlafenden Fenrir die Zutaten des Rezeptes und einen eigenartig aussehenden Mixer, den er erst gestern mit der Post erhalten hatte, aber von Odin war weit und breit keine Spur. Auch sein Kinderzimmer, das für Heimdals Geschmack zu viel Spielzeug enthielt, war verlassen. Spielt der mir einen üblen Streich? Heimdal blickte auf die Uhr im Flur und zuckte schuldbewusst zusammen, als er sah, dass die anderen in spätestens einer Stunde nach Hause kommen würden. Thor würde sicherlich außer sich vor Sorge sein, sollte er seinen Sohn nirgendwo finden. Kann er sich denn nie benehmen? Heimdal ballte beide Fäuste und trat hinaus in den Regen, der so dicht fiel, dass er kaum den Zaun erkennen konnte, der um das Grundstück führte. Innerhalb weniger Minuten war er bis auf die Knochen durchweicht, was seine Laune nicht unbedingt hob. Laut fluchend suchte er den Pool und den Garten ab, aber von dem Jungen konnte er nichts entdecken. "Odin?" rief er ein paar Mal halbherzig, aber niemand antwortete ihn. Nur das Rauschen des Regens war zu hören. "Odin!" Was mach ich jetzt? Panik kroch in ihm empor und er konnte bereits Thors entsetztes Gesicht vor sich sehen, wenn er ihm sagen müsste, dass er den kleinen Gott verloren hatte. Er sollte nur im Garten spielen! Es ist doch nicht meine Schuld, wenn er woanders hinläuft! Ja, aber Heimdal hatte auf ihn aufpassen sollen, und Thor hatte sich auf ihn verlassen. Verdammt! Was mach ich jetzt? Er überlegte, ob er zurück ins Haus laufen und einen Regenschirm holen sollte, entschied sich aber dagegen. Viel nasser als jetzt konnte er nicht mehr werden. Statt dessen setzte er seine Suche fort, durchkämmte den gesamten Garten mehrmals und rief dabei immer den Namen des ihm so verhassten Gottes. "Odin!" Der Junge blieb jedoch unauffindbar. Ich frag Midgar um Rat. Zwei Personen sehen mehr als eine. Heimdal strich sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht und hatte bereits die Fronttür erreicht, als er die kleine Gestalt sah, die am Zaun stand, außerhalb der Grundstücksgrenzen. "Odin? Bist du das?" Die Gestalt reagierte nicht, aber Heimdal war mittlerweile so verzweifelt, dass er jeden Strohhalm ergriff. Selbst wenn es sich um ein anderes Kind handelte, so konnte er es ja fragen, ob es Odin gesehen hatte. Wenn sich der Lümmel auf dem Spielplatz amüsierte, konnte er etwas erleben! Es war jedoch kein anderes Kind, sondern tatsächlich Odin, der hinter dem Zaun stand, seine kleinen Fäuste um die Gitterstäbe geballt hatte und mit sehnsüchtigem Blick zum hell erleuchteten Wohnzimmerfenster hinauf starrte. Findet der das vielleicht lustig?! Heimdal öffnete das Portal und wollte soeben den Jungen packen und ihn durchschütteln, dass ihm Hören und Sehen verging, da sah er jedoch das Blut an dem kleinen Körper kleben. Beide Knie waren aufgeschlagen und ein tiefer Schnitt zog sich über die rechte Wange, blutete stark. "Odin! Was ist passiert?" entfuhr es dem Wächter fassungslos. Der Junge blinzelte und zuckte zurück, als er erst jetzt seine Anwesenheit bemerkte. Erschrocken stolperte er einige Schritte rückwärts und stolperte fiel über den Roller, der hinter ihm am Zaun lehnte. Die Vorderachse war vollkommen verbeult, das Rad fehlte. "Was ist passiert?" wiederholte Heimdal seine Frage und die Angst, die noch stärker als seine Panik war, ließ seine Stimme anschwellen. Sein Unterbewusstsein wies ihn hämisch darauf hin, dass er mehr Angst um den Jungen als vor Thors Reaktion hatte, aber er ignorierte es, als er sich langsam dem verletzten Odin näherte. "Gomen nasai!" schluchzte der Junge und hockte sich in den Schlamm, seine Arme schützend über seinen Körper halten, als erwarte er Schläge. "Es tut mir leid, ich wollte das nicht... ich wollte den Roller nicht kaputt machen..." "Roller?" "Jetzt bist du sicherlich furchtbar böse... bitte nicht schlagen..." stammelte der Junge zusammenhangslos und hustete, als er sich verschluckte. Sein ganzer Körper zitterte erbärmlich und Heimdal schüttelte fassungslos seinen Kopf, so dass nasse Strähnen in seinem Nacken klebten. Er verabscheute Odin für das, was er ihm angetan hatte, aber er schlug kein Kind! "Odin, komm rein ins Haus, du bist verletzt." Sagte er ein wenig schroffer als beabsichtigt, denn der Junge zuckte heftig vor seiner Berührung fort. "Nicht schlagen..." stammelte er und hob leicht seinen Kopf. Tränen standen in seinen roten Augen und plötzlich sah Heimdal nicht länger den höhnisch grinsenden Gott vor sich, sondern einen kleinen, verletzten Jungen. "Bitte, hass mich nicht..." Hassen? Ja, er hasste den einst höchsten nordischen Gott für all das, was er ihm, was er seinen Freunden angetan hatte, aber dieser Gott existierte nicht mehr. Sein Gedächtnis hatte die Todesgöttin mit sich genommen, ihnen einen kindlichen Odin in ihre Obhut gegeben. Aber es ist so verdammt schwer, ihm zu vergeben. Ich kann das nicht! Andererseits konnte er den Jungen nicht länger so weinen sehen. Sein Leid glich so sehr dem Leid, das er selbst gespürt hatte. Verstoßen von der Person, der er vertraut hatte. "Wieso sollte ich dich hassen, Odin?" Heimdal überlegte einen Augenblick, dann kniete er sich ebenfalls in den Schlamm, zog er den bebenden Junge in seine Arme. "Ich kann nie etwas richtig machen. Ich mache dein Beet und jetzt auch noch den Roller kaputt. Und ich nehme dir Papa weg." Autsch, war ich so offensichtlich gewesen? "Das Beet kann ich nächstes Jahr wieder anpflanzen und der Roller lässt sich auch reparieren." Heimdal erhob sich mit dem Jungen in seinen Armen und ging vorsichtig zum Haus zurück. Die Knie bluteten und er hoffte, dass Midgar wusste, wie man solche Wunden verband oder ob er gleich in die Notfallaufnahme gehen sollte. "Aber Papa..." "Dann müssen wir eben lernen, ihn uns zu teilen." Es war das beste Friedensangebot, das er momentan stellen konnte. Der Junge nickte und nahm es unbewusst an, als er seinen Kopf an Heimdals Schulter schmiegte. Ich verabscheue den Odin der Vergangenheit. Der Wächter seufzte leise, als er die Tür zur Küche aufstieß und ein aufgeregter Midgar ihm zur Hilfe kam. Dieser Junge ist jedoch der Odin der Zukunft. Ich wünschte, ich könnte die beiden voneinander trennen. Er wusste nicht, ob es ihm je gelingen würde, aber er konnte es zumindest versuchen. *** Menschenmassen drängten sich in den Park. Es roch nach leckerem Essen, das man an den kleinen Buden kaufen konnte, die den breiten Weg säumten. Einige Karusselle und ein großes Riesenrad waren aufgebaut worden und leuchteten hell in der einbrechenden Dunkelheit. Heimdal ergriff die kleine Hand in seiner stärker und blickte sich suchend um. Aber er sah nur fremde Gesichter. Fast ganz Tokio schien auf den Beinen zu sein und er war froh, dass sie alle traditionelle Kleidung zu dem Sommerfest trugen, das ein Mal im Jahr in diesem Park gefeiert wurde. Mist, wo sind die denn alle? Vor wenigen Minuten noch waren Loki und seine Familie direkt hinter ihm gewesen. Aus weiter Ferne konnte er auch noch Fenrirs aufgeregtes Bellen hören. Der Welpe hatte es sich in den Armen seines Vaters gemütlich gemacht, wollte von den vielen Menschen nicht zertreten werden. Hel saß auf Midgars Schultern und hielt den großen Luftballon fest umschlungen, aber es gab so viele Luftballons auf diesem Fest, dass Heimdal dieses Wissen auch nicht weiter half. Wir hätten uns einen Treffpunkt ausmachen sollen. Gleich beginnt das Feuerwerk und ich habe keine Ahnung, wo sie sind. Heimdal fluchte leise, als ihm ein älterer Herr auf die Füße trat. Zwar entschuldigte sich dieser sofort mehrfach bei ihm, aber das linderte die Schmerzen des Wächters nicht. "Onkel Heimdal? Wo ist Papa?" fragte Odin und klammerte sich fester an Heimdals Hand. Wohl schien sich der Junge auch zwischen all den Menschen zu fühlen. "Keine Ahnung. Er wollte was zu Trinken kaufen, seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen." Heimdal, der dem Jungen mittlerweile gestattete, ihn als seinen Onkel zu bezeichnen, seufzte tief und suchte noch einmal seine Umgebung ab, hatte aber erneut kein Glück, die anderen blieben verschwunden. "Ach so..." Odin blickte traurig zu Boden und schrie leise auf, als ihn ein Erwachsener schubste und er beinahe hin fiel. Heimdal fing ihn gerade noch auf. Odins Knie waren noch immer verbunden, ein weiterer Sturz hätte ihm sehr weh getan und vermutlich eine Menge Schaden angerichtet. "Können Sie nicht aufpassen?" brüllte Heimdal zornig, als sich die betreffende Person dieses Mal nicht entschuldigte. "Hier gibt es auch noch Kinder!" Wütend fluchte er einige nicht besonders schöne Schimpfwörter und half Odin schließlich zurück auf seine Füße. "Alles okay?" fragte er, woraufhin er Junge tapfer nickte. Ach herje, es wird mich schon nicht umbringen! "Komm, Odin, da oben ist die Luft etwas frischer. Vielleicht siehst du ja deinen Papa." Er griff behutsam unter die Arme des Jungen und hob ihn über seinen Kopf. Odin umklammerte Halt suchend seinen Hals, aber ansonsten schien ihm der Ritt auf Heimdals Schultern sehr zu gefallen. Fröhlich baumelte er mit seinen kleinen Beinen, vergaß aber, nach seinem Vater zu suchen, als das Feuerwerk startete. Sofort blieben die Menschen stehen und blickten hinauf zum sternenklaren Himmel, der nun in allen erdenklichen Farben zu strahlen begann. Goldener Regen fiel auf sie herab und nicht wenige Japaner bestaunten die Schönheit des Feuerwerks mit einem lauten >Ah!<. "Das ist schön, Onkel Heimdal." Flüsterte der Junge ihm ins Ohr, als er sich zu ihm herabbeugte. Der Druck der kleinen Arme verstärkten sich um seinen Hals, ohne ihn zu würgen. "Ich hab dich lieb, Onkel Heimdal." Der Wächter wusste nicht, wie er reagieren sollte, also starrte er unbeweglich in den nächtlichen Himmel, nickte lediglich, wenn Odin ihm eine besonders schöne Feuerwerksrakete zeigte. Er hat mich lieb? Mich, den er einst als Abfall bezeichnete und von sich stieß? Nein. Unbewusst schüttelte er seinen Kopf, als eine Rakete in der Luft explodierte und die Form eines Baumes annahm. Eines weißen Baumes mit langen Ästen. Die Japaner um ihn herum klatschten begeistert, während er einfach nur da stand und die Beine des Jungen sanft fest hielt, damit er nicht herunterfiel. Nein. Dieser Odin hat mich nicht beschimpft und belogen. Er nicht... "Da seid ihr ja." Thor tauchte plötzlich aus der Menschenmenge neben ihnen auf. Er hielt zwei Becher in seinen Händen wie Rammböcke vor sich her und sein Haar sah noch zerwühlter als sonst aus. Er trug einen dunklen Yukata und wirkte mit einem Mal wie ein richtiger Japaner. Der nordische Gott hatte sich in diesem Land gut eingelebt, würde es so rasch nicht mehr verlassen. Mit jedem Tag, der verstrich, verstand ihn Heimdal besser. Auch er hatte dieses Land mögen gelernt, wenn auch nicht unbedingt alle seiner Einwohner. "Loki und die anderen stehen ganz weit hinten, aber da ist im Moment kein Durchkommen mehr." Thor streckte einen Becher seinem Sohn entgegen, aus dem anderen trank er selbst durch einen Strohhalm. So verschüttete er wenigstens nichts auf unschuldige Passanten und verunreinigte deren aufwendig genähte Kimonos. "Soll ich ihn dir wieder abnehmen?" bot sich der Donnergott an und fuhr herum, als ein besonders helles Leuchten für einen kurzen Moment den Nachthimmel erhellte. "Nein, er ist nicht schwer." Heimdal stibitze sich Thors Becher und zuckte mental seine Schultern, als er viel zu süße Cola schmeckte. Aber er war durstig und Thor hatte sich extra dafür durch all diese Menschen gekämpft, er würde nicht meckern. "Stört er dich auch nicht?" Thor wirkte noch immer ein wenig skeptisch und eroberte sich seine Cola zurück. "Überhaupt nicht. Wir haben uns köstlich amüsiert, nicht wahr, Kleiner?" Heimdal drehte seinen Kopf und blickte in leuchtende Kinderaugen. "Na klar!" erwiderte der Junge begeistert und deutete mit seiner rechten Hand zum Himmel hinauf, wo ein weiterer Stern aus rotem Licht explodierte. In der linken hielt er seinen Becher und Heimdal umschloss die Beine ein wenig fester, als das Kind auf seinen Schultern herumrutschte. "Das Feuerwerk ist super." Strahlte er und legte seinen Kopf in den Nacken, als eine Rakete weit in den Himmel schoss. "Genauso wie Onkel Heimdal." Thor hob fragend seine Augenbrauen, was sein Sohn jedoch nicht sehen konnte. Auch bemerkte Odin nicht, dass Heimdal unsicher lächelte, leicht nickte und schließlich tief errötete, als sich der Donnergott vorbeugte und dem Wächter einen Kuss auf die Stirn drückte. "Arigatou, Heim." Das Feuerwerk war viel zu schnell zu Ende und langsam lichteten sich die Menschentraube um sie herum. Dennoch durfte Odin auf Heimdals Schultern sitzen bleiben. "Willst du einen Luftballon, Kleiner?" fragte er Wächter und steuerte geradewegs auf eine kleine Bude zu, in der schon Hel den ihren bekommen hatte. "Aber Papa hat doch gesagt, dass es sich nicht lohnt, weil morgen die Luft raus ist." "Papperlapapp." Wischte Heimdal jegliche Einwände beiseite und kramte in dem Yukata nach seiner Geldbörse. "Ist doch egal, was morgen ist. Jetzt sieht das doch toll aus." "Sag bloß, du wagst es, meine Autorität zu untergraben?" fragte Thor drohend zu seiner Rechten, aber sein unterdrücktes Grinsen verriet, dass er dem anderen Gott nicht böse war. "Glaubst du etwa, dass es dir besser ergehen würde als Loki?" "Onkels sind ein grausames Völkchen." "Find ich nicht!" kam Odin Heimdal sofort zur Hilfe und streckte seine freie Hand dem höflichen Verkäufer entgegen, der die Schnur um sein Gelenk band. Bald stieg ein mit Heißluft gefüllter Adler in den Nachthimmel auf. "Du hast ihn die letzten drei Jahre verwöhnt, Thor." Heimdal konnte es sich nicht verkneifen, dem Donnergott die Zunge herauszustrecken und kicherte erfreut, als dieser leise brummelte. Der Wächter bezahlte den Luftballon und drehte sich um, um zu Loki und seiner Familie hinüber zu gehen, die er nun, da sich die Menschenmenge ein wenig auflöste, wieder sehen konnte. Hel winkte ihnen aufgeregt entgegen und Loki grinste glücklich, umgeben von seinen Lieben. Meine Familie, der ich vertrauen kann. "Jetzt bin ich dran, Thor!" "Oh Gott!" "Genau." *** Ende ---------------------------------------------------------------------------- NACHWORT Disclaimer: Der Anime "Matantei Loki Ragnarok" gehört (weiß leider nicht wer *sniff*, ich korrigier's, wenn ich's rausgefunden habe...), die Idee, die Umsetzung und die Geschichte an sich habe ich mir ausgedacht und niedergeschrieben, da ich nach dem Ende des Anime das Gefühl hatte, dass noch zu viele Fragen unbeantwortet geblieben waren. Das zwischen den einzelnen Hauptteilen zitierte Lied "Lügner" gehört der Gruppe "Tanzwut". Für die Karaokeszenen habe ich folgende Lieder verwendet (missbraucht hört sich so böse an ^-^'''): Help / All you need is love - The Beatles Vanilla - Gackt You must love me - Andrew Lloyd Webber Bring me to life - Evanescence Gackt - Vanilla (lyric + English translation): kimi wa seijitsu na moralist kirei na yubi de boku o nazoru boku wa junsui na terrorist kimi no omou ga mama ni kakumei ga okiru You're an honest moralist You trace me with your pretty finger I'm a pure terrorist Your thoughts are rising like a revolution koi ni shibarareta specialist nagai tsume o taterareta boku ai o tashikametai egoist kimi no oku made tadoritsukitai A specialist bound by romance You used your long fingernails on me An egoist who wants to confirm love I want to struggle on until I'm inside of you kimi no kao ga toozakaru ah boku wa boku de nakunaru mae ni You keep yourself at a distance ah Before I lose myself aishite mo ii kai? yureru yoru ni arugamama de ii yo motto fukaku kuruoshii kurai ni nareta kuchibiru ga tokeau hodo ni boku wa...kimi no...Vanilla Is it okay to love, too? In the shaking night It's good as it is More Deeper As those almost maddening lips I've gotten used to melt together I am...Your...Vanilla (Translated by: Mina-P (Email: Minako@senshigakuen.com)) Ich konnte einfach nicht widerstehen, Loki genau dieses Lied singen zu lassen. Irgendwie hatte ich dabei den Live-Auftritt von Gackt im Hinterkopf und der Gedanke, dass Loki es mit denselben lasziven Blicken singt, war einfach zu verführerisch ^-^'''. Gackt-Fans mögen es bitte nicht all zu eng sehen, okay? Frühlings-Fanfiction-Wettbewerb des Animexx 2004 (Leitung Cristall): Diese Fanfic nahm an dem oben genannten Wettbewerb teil unter folgenden Bedingungen: Formalitäten: insgesamt mindestens 10 Seiten, Schriftgröße 12, einfacher Zeilenabstand. Die Story muss aus zwei Teilen bestehen. Es gibt keine vorgegebene Seitenzahl für die einzelnen Teile. Beide Teile müssen im Frühling spielen. Der zweite Teil muss (mindestens) zehn Jahre nach dem ersten spielen. Statt den üblichen Begriffen müssen diesmal vorgegebene Sätze in den Text eingebaut werden. Hier gibt es eine Kategorie 1 und eine Kategorie 2. Ihr müsst beide Kategorien benutzen, aber nur jeweils eine Kategorie für einen Teil! Auf welchen Teil ihr welche Kategorie anwendet, ist euch selbst überlassen. Es müssen aus jeder Kategorie mindestens drei und maximal fünf Sätze benutzt werden. (meine verwendeten Sätze habe ich extra markiert) Kategorie 1: 1. "Manchmal wünschte ich mir, ich könnte noch mal neu anfangen und jemand anderes werden." 2. "Wenn ich jetzt gehen würde... was würdest du dann tun?" 3. "Frag lieber nicht genauer nach. Das ist wirklich ein Teil meines Lebens, den ich niemandem antun will." 4. Er betrachtete die Scherben auf dem Boden und begann leise zu fluchen, während er sich runterbeugte (hinabbeugte) und sie vorsichtig aufsammelte. 5. "Du kannst das Ende einer Geschichte nicht voraussagen, bevor du auf der letzten Seite des Buches angekommen bist." 6. "Liebe? Wer braucht die schon? Ich ganz sicher nicht!" 7. "Das war ganz eindeutig die schlimmste Entscheidung meines Lebens." 8. "Wie konnte es nur so weit kommen? Das habe ich doch so nie gewollt." Kategorie 2: 1. Er drehte sich um und grinste sie frech an und zwinkerte. "Regeln sind doch nur da um gebrochen zu werden." 2. "Ich kann es gar nicht abwarten, endlich wieder Blumen sehen zu können." 3. "Die Sonne strahlt, es wird warm und die Welt wird endlich wieder bunt - wie kann es mir da nicht gut gehen?" 4. "Das war mit Abstand das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe." 5. "Die Feier ist um acht Uhr. Es würde mich freuen, wenn du kommen würdest." 6. "Ich genieße mein Leben. Ich tue das, was ich will und erfülle mir all meine Wünsche. Du solltest es auch mal versuchen. Kann dich nur glücklicher machen." 7. "Du willst wissen, was Frühling ist? Neues Leben, Hoffnung, ein Ende der Kälte, die Zeit der Kirschblüten und natürlich der Geist der Natur, der die Welt nach der Zeit der Dunkelheit in den schönsten Farben erstrahlen lässt. Warum fragst du?" 8. "Es ist erstaunlich, wie einfach es manchmal sein kann einen Schritt vorwärts zu machen - und wie stark man sich nach diesem Schritt fühlt." Erneut gab es keine maximale Seitenanzahl (obwohl ich sie gewarnt hatte ^-^''') und ich bin der Jury sehr dankbar, dass ich so viel schreiben durfte, wie ich glaubte, für diese Geschichte zu benötigen. Domo arigatou *verbeug*. Meine erste Reaktion auf diese Regeln war: Ach du meine Güte! Das klingt ja total kitschig und romantisch! Wie soll ich denn da eine ordentliche Geschichte hinbekommen? Ich beschloss, eine Nacht darüber zu schlafen und sah mir dann die Sätze noch einmal genauer an - und genau in dem Moment wusste ich, wie meine Geschichte aussehen sollte, wo ich die Sätze einbaue (natürlich in anderer Reihenfolge und Stellen, so dass nicht viel Kitsch aufkommen konnte) und wie ich die Charakter beschreiben würde. Auf den Titel meiner Fanfiction und der Hauptidee, Heimdals Anfälle, kam ich durch den Satz 2 aus Kategorie 2 ("Ich kann es gar nicht abwarten, endlich wieder Blumen sehen zu können."). Letztendlich habe ich diesen Satz doch Mayura in der eher ursprünglich vorgesehenen Fassung sagen lassen und nicht einen langsam erblindenden Heimdal, aber die Idee war geboren. Das Lied "Lügner" tat ihr Übriges (wobei die Zeilen in mehrerlei Hinsicht auf die Geschichte bezogen werden können). Ich habe bei diesem Wettbewerb den ersten Platz belegt *sich sehr darüber freut* ^_____^. Danke für die Jury fürs Durchlesen und Bewerten und überhaupt fürs Durchziehen des Wettbewerbes. Freut mich, dass die Geschichte so gut angekommen ist ^-^. Schlussbemerkungen zur Geschichte: Der Anime "Matantei Loki Ragnarok" basiert sehr stark auf der nordischen Mythologie. Ich habe mich während der letzten Wochen eingehend mit dieser beschäftigt und festgestellt, dass der Anime SEHR stark von der mythologischen Vorlage abweicht. Diese Mythologie ist, wie so viele andere auch (man denke nur an Zeus!) sehr brutal und ich konnte mich mit ihr nicht so recht identifizieren. Deshalb habe ich mich entschieden, die recht verzerrte Darstellung des Anime zu übernehmen, in dem die Götter nicht wie Monster, sondern wie hübsche, junge Männer aussehen - und zum Teil sogar als kleine Jungen durch Japan laufen ^-^. An dieser geänderten Version konnte ich es natürlich nicht lassen, auch noch ein wenig herumzuschustern (sonst wäre ich keine richtige Fanfiction-Autorin und bräuchte diese Geschichte ja gar nicht zu schreiben, wenn ich blind nur den Inhalt des Animes wiedergeben würde ^-^). Meine Veränderungen liegen ganz klar in der Vergangenheit der Götter, über die man im Anime nichts Ausführliches erfährt. Mein Prolog sowie die Erinnerungen Heimdals in Niflheim sind frei meiner Phantasie entsprungen und haben weder Grundlage in der Mythologie noch in dem Anime. Ohne sie hätte meine Geschichte aber keinen Sinn gehabt und ich konnte einfach nicht widerstehen und musste über Heimdal und Loki als Kleinkinder schreiben. Wer kann schon Heimdal in Windeln kalt abweisen? Ich würde ihn auf jeden Fall knuddeln (der Ärmste ^-^'''). Andererseits, niemand sagt, dass es nicht doch so stattgefunden hat. Wer weiß... Das Ende dieser Geschichte, die Lösung der allmächtigen Frage, was denn genau Lokis Sünde war und warum Odin ihn auf die Erde verbannte, ist meine eigene Interpretation des Anime. Nach Folge 26 waren noch so viele Fragen offen, die ich jetzt auf meine eigene Art und Weise (immer basierend auf den Prolog und den Geschehnissen in Asgard vor Lokis Verbannung) beantwortet habe. Die Hintergrundgeschichte zu Hels Mutter habe ich ebenfalls frei erfunden, da sie nie im Anime auch nur erwähnt wird. Selbstverständlich ist sie keine Riesin wie in der Mythologie. Es tut mir leid, dass Freya und Freyr recht selten vorkamen, aber in meiner Geschichte waren Loki, Heimdal und Thor eindeutig die Hauptcharaktere und es wäre alles zu unübersichtlich geworden, sie auch noch fester in die Handlung einzubinden. Aber eine kleine Nebenrolle haben sie ja dennoch abbekommen ^-^. Wen ich bewusst komplett rausgelassen habe, ist dieser kleine Elemantargeist, Punyan (oder auch Ech-chan genannt). Ich habe seine Rolle nie ganz verstanden im Anime und da er mir mehr wie ein Haustier vorkam und ich einfach keinen Platz in meiner Fanfic für ihn fand, ohne die Geschichte unfreiwillig ins Lächerliche zu ziehen, habe ich ihn einfach als nicht-existent angesehen. Punyan-Fans mögen mir bitte verzeihen ^-^''''. Diese Geschichte ist bewusst zu 80% aus Heimdals Sicht und zu 20% aus Thors Sicht geschrieben. Lokis Gedanken werden so gut wie nie für den Leser sichtbar. Dies ist beabsichtigt. Shonen-Ai Elemente konnte ich in dieser Serie keine finden und habe sie folglich auch in dieser Fanfiction nicht eingebaut. Für mich sind die drei Götter Freunde beziehungsweise Erzrivalen und Thor sieht in ihnen seine Familie. Die einzige Liebesgeschichte, die ich sehen kann, ist die zwischen Loki und Mayura. Ich kann jedoch niemanden davon abhalten, andere Beziehungen in den Anime oder meine Geschichte hineinzudichten. An "Blindes Vertrauen" habe ich sechs Wochen gearbeitet, vom 23. Februar bis zum 1. April 2004. Geschätzte Arbeitszeit: 100 Stunden (ohne Planung). Ich hatte viel Spaß, diese Geschichte zu schreiben (besonders Heimdals Ärger über seinen kindlichen Körper, z.B. als er in der Grundschule ist oder Alkohol trinken will und keinen kaufen kann ^-^'''). Ich möchte mich bei den Lesern bedanken, dass sie so eine lange Geschichte gelesen haben und hoffe, dass sie allen gefallen hat. Wenn sie nach der letzten Seite nicht sofort aus dem Gedächtnis des Lesers verschwunden ist, sondern er oder sie auch noch später daran zurückdenkt, dann bin ich mehr als glücklich ^-^. Falls jemand mit mir über diese Geschichte, über den Anime "Matantei Loki Ragnarok", über nordische Mythologie oder über etwas völlig anderes reden will, der kann mir gerne eine ENS (Animexx) oder eine Email schreiben: aprileagle@freenet.de. Emails werden immer beantwortet, nur manchmal hab ich viel Stress oder das Netz lässt mich nicht rein >.<'''. Über Kommentare freue ich mich natürlich auch immer, so wie jeder Autor. Denn ohne unsere Leser wären wir nichts (nur Verrückte, die ständig am Schreibtisch sitzen und irre vor sich hinkichern ^-^''') und ohne konstruktive Kritik oder Hinweise auf Kleinigkeiten, die man als Schriftsteller so nie wahrnimmt (man weiß ja schließlich beim Schreiben meist schon, wie die Geschichte ausgeht und nimmt vieles für gegeben hin, das der Leser vielleicht anders sieht), kann sich niemand weiter entwickeln. Vielen Dank! Erneuerter, besonderer Dank gilt wie immer der Jury, die auch diesen Fanfiction-Wettbewerb mit neuen Regeln auf die Beine gestellt, durchgezogen und mal wieder eine meiner Mammut-Geschichten gelesen hat. Domo arigatou *erneut verbeugt* April Eagle Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)