Ashita wa kitto von Yamato_ (Tomorrow For Sure (Daiken)) ================================================================================ Prolog: Omoi (Erinnerung) ------------------------- Disclaimer: Dies ist eine Fanfiction und ich mache keinen Profit damit. Alle Digimon, und Erabareta Kodomo gehören Bandai und Toei Animation. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie (hoffentlich unbeschädigt) wieder zurück. Koji und Izumi gehören Minami Ozaki, auch wenn Izumi 2002 vermutlich kein Fußballspieler in der Nationalmannschaft ist, weil er wahrscheinlich wieder mal im Koma liegt. Oder Koji liegt im Koma und Izumi sitzt am Koji’s Bett. *g* Author: Yamato Rating: PG-13 (für die gesamte Story) Spoiler: Digimon Adventure 02: Die ganze Folge 8 und mehrere kleinere Spoiler für die Folgen davor. Fortsetzung: Ashita wa kitto ist mit fünf Teilen ganz ähnlich aufgebaut wie Mukashi Mukashi: Part 0 (Prolog): Omoi Part 1: Yuuki Part 2: Yasashisa Part 3: Shinjitsu Part 4 (Epilog): Kizuna Ashita wa kitto kann für sich alleine stehen, aber wenn man beide Geschichten im Doppelpack liest, werden manche Handlungsstränge klarer. Die Reihenfolge ist dabei nicht entscheidend. Auch Walk on the Edge spielt im selben Universum. Arigatou: Ein ganz herzliches Dankeschön an alle DigiRitter, die mich immer wieder ermutigen weiterzuschreiben. Ashita wa kitto Prolog: Omoi (Erinnerung) My only love sprung from my only hate too early seen unknown, and known too late. -William Shakespeare’s Romeo and Juliet- “Koko wa doko?“ Sie sah sich um, konnte aber absolut nichts erkennen. Dies war keine natürliche Dunkelheit, nicht die Schwärze des Nachthimmels, der selbst bei Neumond noch auf irgendeine Weise Licht aussendete. Nicht das warme Schwarz der Erde, das nach Leben roch und Geborgenheit schenkte. Genaugenommen war es überhaupt kein Schwarz, eher eine Art Grau. Aber das würde bedeuten, daß es irgendwo eine Lichtquelle geben mußte. Und hier war kein Licht. Sie konnte die Hand nicht vor Augen erkennen. Unwirklich! Das war das treffende Wort. Sie befand sich nicht in der Wirklichkeit. Unwirklichkeit? Aber wie war sie hierher gekommen? Und warum? “Wo bin ich?“ Sie rief es ein zweites Mal, nur um den Klang ihrer eigenen Stimme zu hören. Ein Geräusch war etwas Bekanntes, etwas Wirkliches in dieser unwirklichen Welt. Aber hier klang selbst ihre Stimme unwirklich. Verzerrt. Würde es sie beruhigen, wenn eine zweite Stimme ihr antworten würde? Oder würde sie noch mehr Angst bekommen, vor einem unbekannten, möglicherweise gefährlichen Wesen? Sie gab sich selbst die Antwort, egal was für ein Wesen hier sein mochte, egal wie schrecklich und grauenerregend es auch sein würde. nichts war schlimmer als diese vollkommene Stille und Einsamkeit. “KOKO WA ANKOKU NO SEKAI. DIES HIER IST DIE WELT DER DUNKELHEIT.“ Und wirklich, die zweite Stimme nahm ihr etwas von ihrer Angst. Jetzt wußte sie wenigstens, daß sie nicht allein hier war. Nun blieb nur noch zu hoffen, daß das andere Wesen sie nicht angreifen würde. “KEINE ANGST, DU BIST NICHT IN GEFAHR.“ Nun spürte sie deutlich die Anwesenheit einer zweiten Person, eines anderen Wesens. Eine angenehme Erinnerung wurde in ihr wach. Wesen, die keine Körper hatten, sondern nur Stimmen. Stimmen, die außer ihr niemand hören konnte. Sie waren geheimnisvoll, aber sie waren keine Feinde. Sie hatten ihr noch nie etwas Böses getan. “Ich weiß jetzt, wer du bist. Und ich habe keine Angst vor dir. Aber es wäre schön, wenn es hier nicht so dunkel wäre. Gibt es hier denn keine Sonne?“ Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es um sie herum heller wurde. Ein warmer rötlicher Schimmer durchzog ihre Umgebung, und wenige Minuten später erhob sich ein rotglühender Ball über den Horizont. Wie würde der Boden unter ihr aussehen? Eine Blumenwiese vielleicht? Tatsächlich, eine Blumenwiese. Sie blickte hinunter, und stand zwischen Gras und bunten Blüten. Es war wunderschön, und doch erschien es ihr nicht wirklicher als zuvor. Sie kniete sich hin, und roch an einer der Blüten. “WAS HAST DU?“ fragte die Stimme, als sie enttäuscht das Gesicht verzog. “Na ja, sie duftet nicht. Es ist irgendwie so, als ob sie gar nicht da wäre.“ “DAS TUT MIR LEID. KLEINE MÄDCHEN HABEN SEHR VIELE WÜNSCHE UND ES KOSTET MICH SEHR VIEL KRAFT, SIE ALLE ZU ERFÜLLEN. HAB EIN WENIG GEDULD MIT MIR.“ Sie schüttelte den Kopf. “Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte. Ich konnte nicht wissen, daß du hier meine Wünsche erfüllst, und ich will dir keine Kraft rauben. Ab jetzt werd‘ ich mir einfach nichts mehr wünschen.“ “DANN WIRD DIESER ORT EBENSO KALT UND DUNKEL SEIN WIE VORHER. DU MUSST DIR ETWAS WÜNSCHEN, DAMIT ES GESCHIEHT.“ So hatte noch keines der anderen Wesen zu ihr gesprochen. Sie hatte nicht einmal gewußt, daß diese Wesen überhaupt die Macht hatten, Wünsche zu erfüllen. Normalerweise redeten sie nur über sehr komplizierte Dinge, die sie nicht verstehen konnte. “In Ordnung. Dann wünsche ich mir... ...Daß meine Familie und meine Freunde immer gesund bleiben ...Daß es keine Kriege mehr auf der Welt gibt ...Daß niemand mehr hungern muß ...Und daß...“ “WAS SIND DENN DAS FÜR WÜNSCHE?“ lachte die Stimme. “DIE KANN ICH DIR NICHT ERFÜLLEN! ES MUSS SCHON ETWAS FÜR DICH SELBST SEIN UND ETWAS, DAS ICH IN DIESER WELT AUCH ERSCHAFFEN KANN. SÜSSIGKEITEN VIELLEICHT ODER EIN FAHRRAD. ES GIBT DOCH SICHER VIELE DINGE, DIE DU GERNE HÄTTEST.“ “Schon, aber was nützt mir das, wenn ich hier ganz alleine damit bin? Ich glaube nicht, daß ich etwas von hier in die wirkliche Welt mitnehmen kann. Mein Bruder ist verrückt nach Süßigkeiten, er würde sich sehr freuen, wenn ich ihm etwas mitbringen würde.“ “WOZU BRAUCHST DU DIE WIRKLICHE WELT, WENN DU HIER ALLES HABEN KANNST, WAS DEIN HERZ BEGEHRT? UND WARUM WILLST DU DEINEM BRUDER ETWAS SCHENKEN, WENN ER DOCH DARAN SCHULD IST, DASS DU KRANK GEWORDEN BIST? HAST DU DAS SCHON VERGESSEN?“ “Ich bin krank?“ Verzweifelt suchte sie in den Tiefen ihres Gedächtnisses nach einer Erinnerung. Ein Bild erschien vor ihren Augen. Sie lag reglos auf einem Bett, im Zimmer eines Krankenhauses. Medizinische Geräte zeigten ihre Herztöne und Atemfrequenz. Allein der Gedanke daran schüttelte sie. Und doch, jetzt wußte sie es wieder. Sie mußte zurück nach Hause. Ihre Familie wartete auf sie und machte sich Sorgen. “Mein Bruder ist ganz bestimmt nicht schuld daran,“ rief sie. “Und du hast nichts, was mich interessiert! Ich will wieder nach Hause, das ist mein einziger Wunsch!“ “DAS SOLLTEST DU DIR NOCH EINMAL ÜBERLEGEN,“ sagte die Stimme eindringlich. “DIR SCHEINT GAR NICHT BEWUSST ZU SEIN, WAS DU DIR ENTGEHEN LÄSST! WELCH UNGLAUBLICHE MACHT WIR ERST BESITZEN WERDEN, WENN WIR UNSERE SEELEN VEREINIGEN!“ Die Stimme lachte, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Dies war keines von den Wesen, die sonst zu ihr sprachen, ganz sicher nicht. Aber was war es dann? “DU BIST ETWAS GANZ BESONDERES,“ flüsterte die Stimme, “ABER AUSSER MIR SCHEINT DAS NIEMAND ZU ERKENNEN! DU HAST FÄHIGKEITEN, DIE ANDERE KINDER NICHT BESITZEN, ABER NOCH WEISST DU NICHT, WIE DU SIE NUTZEN KANNST. LASS ES MICH DICH LEHREN! DU WIRST ES NICHT BEREUEN!“ “Nein, es gibt nichts, das du mir beibringen kannst!“ protestierte sie. “Ganz im Gegenteil, du solltest etwas lernen! Nämlich daß es viel Wichtigeres gibt, als Macht zu haben! Freunde zu Beispiel! Eine Familie! Menschen, die dich lieben!“ “LIEBE?“ spöttelte die Stimme. “LÄCHERLICH! “WEISST DU DENN NICHT, DASS DIE DUNKELHEIT IMMER TRIUMPHIEREN WIRD? SELBST ÜBER DIE AUFRICHTIGE UND REINE LIEBE EINES UNSCHULDIGEN MENSCHENHERZENS.“ “Du... du bist ein Dämon.“ Ihre Stimme zitterte, aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. “JA, SO KÖNNTE MAN ES WOHL NENNEN. MIT DEN UNZUREICHENDEN MENSCHLICHEN BEGRIFFEN. ABER IN WAHRHEIT BIN ICH ETWAS VÖLLIG ANDERES. DU WIRST ES BESSER VERSTEHEN, WENN MEINE MACHT IN DIR LEBT UND DEINE SEELE ZU MEINER GEWORDEN IST. ICH KANN DIR DIE KRAFT GEBEN, DINGE ZU VOLLBRINGEN, VON DENEN DU NICHT ZU TRÄUMEN GEWAGT HÄTTEST.“ “Davon will ich auch gar nicht träumen!“ “ICH FRAGE DICH ZUM LETZTEN MAL,“ sagte die Stimme bedrohlich. “WIRST DU DIESE GANZEN ALBERNHEITEN VERGESSEN UND MIR DEIN HERZ ÖFFNEN?“ Sie schüttelte nur stumm den Kopf. Und versuchte, keine Angst zu haben. Um sie wurde es wieder dunkel. Kalt. Unwirklich. Etwas war bei ihr, ganz nahe. Ein Nebel? Düsternis. ‘Du kannst mir nichts tun!‘ schrie es in ihr. Du hast keine Gewalt über mich!‘ Sie schlug die Augen auf. Sie lag auf einem Bett, im Zimmer eines Krankenhauses. Medizinische Geräte zeigten ihre Herztöne, und ihre Atemfrequenz. “WENN ALLE KINDER SO WÄREN WIE DU,“ lachte die Stimme, “DANN HÄTTE ICH SCHON VERLOREN. ABER DU HAST RECHT, DU BIST NUR DESHALB SO STARK, WEIL ES MENSCHEN GIBT, DIE DU LIEBST UND DIE DICH LIEBEN.“ Höhnisch fügte sie hinzu: “ZUM GLÜCK GIBT ES AUCH KINDER, BEI DENEN DAS NICHT SO IST.“ Schweißgebadet fuhr sie hoch. Sie war wieder zu Hause, in ihrem Zimmer, und langsam verblaßten die Bilder des unheimlichen Alptraums. Zurück in der Gegenwart. Im Jahr 2002. Montagnacht, oder Dienstagmorgen. Die Uhr auf ihren Nachttisch zeigte 3:45. “DU HÄTTEST DICH FÜR MICH ENTSCHEIDEN SOLLEN,“ sagte die Stimme böse. “SCHON BALD KOMMT DER TAG, AN DEN DU BITTER BEREUEN WIRST, ES NICHT GETAN ZU HABEN." Tsuzuku... Kapitel 1: Yuuki (Mut) ---------------------- Part 1: Yuuki (Mut) “Tor!“ jubelte Daisuke, als das Leder aufs Netz zusauste. Aber leider zu früh gefreut, in allerletzter Sekunde gelang es Koushirou noch, den Ball mit zwei Fingern zu stoppen. Daisuke zog einen Flunsch. Sein Gesicht hellte sich aber gleich wieder auf, als Taichi ihn lobte. “Das war ein exzellenter Schuß, Daisuke-kun! Hoffen wir einfach, daß der Torwart von den Tamachis nicht so gut ist, wie unser Koushirou!“ Daisuke schüttelte den Kopf. “Ich will ja, daß er gut ist,“ protestierte er, “ich will, daß sie alle gut sind. Man muß doch aus eigener Leistung gewinnen, nicht weil die anderen schlecht sind oder mit irgendwelchen Tricks. Ich will der beste Fußballspieler auf der ganzen Welt werden!“ “Hört euch den an!“ lachte Sora. “Eingebildet ist der ja gar nicht!“ Taichi boxte sie in die Seite. “Da kenn‘ ich noch jemanden!“ “Tut bloß nicht so scheinheilig, alle miteinander,“ rief Yamato. “Im Sprücheklopfen seid ihr alle Weltmeister.“ “Ruhe auf den billigen Plätzen,“ rief Taichi zurück. Yamato und Jou hockten auf einer Bank, oder besser gesagt, auf der Banklehne, neben dem Spielfeld. Bei den ersten beiden Spielen waren sie noch mit von der Partie gewesen, aber eigentlich waren sie ziemliche Fußballmuffel. So hatten sie es sich bald bequem gemacht, hörten Musik auf dem mitgebrachten MiniDiscman, und vertieften sich in eine Prozedur, die Mimi gerne als “Schwanzvergleich des neuen Jahrtausends“ bezeichnete. Sie studierten die Funktionen ihrer Handys, und debattierten eifrig darüber, welches das Bessere war. “Machen wir noch ein Spiel?“ bettelte Daisuke. “Ich glaube nicht, daß die Zeit dazu reicht,“ Taichi schielte immer noch zur Bank hinüber. “Deine Schwester dürfte ja jeden Moment hier sein, um dich abzuholen.“ “Schwester?“ Yamato’s Kopf flog hoch, und er fiel beinahe von der Banklehne. “Jun kommt hierher? Uhm, mir ist grad eingefallen, daß ich noch was Wichtiges zu erledigen hab‘. Seh’n wir uns nachher noch, Taichi?“ “Ich komm‘ zu dir, wie abgemacht. Ja mata!“ “Ja!“ Yamato hüpfte von der Bank, und wetzte davon. Die anderen DigiRitter brachen in lautes Lachen aus. “Was soll das, Onee-chan kommt mich doch überhaupt nicht abholen,“ fragte Daisuke verwundert. “Du hast versprochen, daß du mich nach Hause bringst, Taichi-sempai!“ “Natürlich bring‘ ich dich heim, wollte nur Yamato ein bißchen ärgern. Wir stressen uns hier ‘rum, um aus dir einen besseren Spieler zu machen, und er flackt faul in der Sonne und läßt dumme Kommentare ab!“ “Aber für heute sollten wir es wirklich genug sein lassen.“ Sora warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. “Wenn du es übertreibst, Daisuke-kun, bist du morgen beim großen Spiel nicht mehr fit!“ Jou schwang sich auf sein Fahrrad, Sora und Koushirou gingen zur nächsten U-Bahn Station, und auch Taichi machte sich mit Daisuke auf den Heimweg. Normalerweise hätte Daisuke die paar Minuten auch alleine gehen können, aber er hatte etwas auf dem Herzen, das er vor den anderen nicht bereden wollte. Taichi war für ihn so etwas wie ein großer Bruder, er würde ihm bestimmt helfen können. “Wie schätzt du unsere Chancen gegen Tamachi ein?“ Daisuke hörte sich ganz anders an, als noch vor einigen Minuten. “Die haben doch diesen Wunderknaben als Mittelstürmer, diesen...“ er überlegte, aber der Name fiel ihm nicht mehr ein. “Ichijouji!“ Offenbar wußte Taichi, wen Daisuke meinte. “Ich weiß schon, aber mit einem guten Stürmer gewinnt man kein Spiel. Da gibt es so viele Faktoren, eine gute Abwehr, die richtige Taktik, Teamwork zwischen den Spielern, und so weiter. Nur die Leute, die nichts vom Fußball verstehen, schauen nur auf die Torschützen.“ “Ohne gute Paßgeber keine Torschützen,“ zitierte Daisuke einen Kommentar von Sora, dem einzigen Mädchen in der Mannschaft der Odaiba Schule. Übernächstes Jahr, wenn er auf die Mittelschule wechselte, wollte er auch zu dieser Mannschaft gehören, so wie Taichi, Sora, und Koushirou. Bis es soweit war, würde er eben in der Grundschulmannschaft sein Bestes geben. Inzwischen hatten sie Daisuke’s Wohnblock erreicht. Entweder rückte er jetzt mit der Sprache heraus, oder er mußte auf die nächste Gelegenheit warten, Taichi allein zu sprechen. “Sag mal, Sempai... wenn man gut Fußball spielt, sind die Mädchen doch beeindruckt, oder?“ “Einige schon, andere wieder nicht, das kommt immer auf das Mädchen an. Hast du denn ein bestimmtes Mädchen im Auge, das du gerne beeindrucken möchtest?“ “Na ja,“ Daisuke wurde knallrot im Gesicht, als er an Hikari dachte. Taichi’s süße, kleine Schwester hatte es ihm schon lange angetan. Obwohl er in der Schule neben ihr saß, und auch trotz ihrer gemeinsamen Abenteuer in der DigiWelt waren sie sich noch nicht so nahegekommen, wie er es gerne hätte. Weil dieser dumme Takeru immer im Weg sein mußte. ‘Was hat der Kerl nur, was ich nicht hab‘, überlegte Daisuke. ‘Ständig hängt sie mit ihm ‘rum, und sogar ihre Digimon haben eine gemeinsame Attacke. Das ist wirklich nicht gerecht! Ich hab‘ sie bestimmt schon öfter gerettet als er.‘ Aber Takeru hatte den Vorteil, daß er schon länger mit Hikari befreundet war. Sie waren schon damals zusammen in der DigiWelt gewesen und hatten Dinge erlebt, die Daisuke und die anderen neuen DigiRitter nur aus Erzählungen kannten. Bei Taichi, Yamato, Sora, Koushirou, Mimi und Jou machte Daisuke es nichts aus, daß sie mehr Erfahrungen hatten, was die DigiWelt betraf. Ganz im Gegenteil, sie waren den “Küken“, wie sie zu sagen pflegten, schon oft mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Bei ihnen war es in Ordnung, sie waren ja auch älter. Aber bei Takeru nervte es unglaublich. Schon öfter waren er und Daisuke aneinander geraten, wenn es darum ging, Entscheidungen zu treffen. Taichi und Yamato, die Streithähne der ehemaligen Gruppe, fanden das ganz besonders amüsant. “Ich merke schon, du willst nicht darüber reden,“ meinte Taichi, der auf eine Antwort von Daisuke gewartet hatte. “Mach dir bloß nicht zu viele Sorgen, wenn du heute kein Glück hast, dann morgen ganz sicher. Also bis dann und geh‘ früh ins Bett, damit du ausgeschlafen bist, für dein großes Spiel!“ “Ja mata!“ Daisuke sah ihm nach, als er weiter zur U-Bahn Haltestelle ging. Jetzt hatten sie doch nicht wirklich drüber reden können. Wie Taichi wohl reagiert hätte, wenn er erfahren hätte, daß es um seine Schwester ging? ‘Morgen ganz sicher!‘ Das sagte Taichi so einfach. Ob er wohl schon eine Freundin hatte? Erwähnt hatte er bisher nichts davon. Irgendwie hatte Daisuke noch keine großartige Lust nach Hause zu gehen. Seine Mutter würde ihn fragen, warum er so ein Gesicht zog, und was sollte er darauf antworten? Daß er unglücklich verliebt war? Sie würde ihn auslachen, und sagen daß man sich mit elf noch gar nicht verlieben kann. Sie glaubte ja noch nicht einmal seiner Schwester, daß sie in Yamato verliebt war, und Jun war immerhin schon fünfzehn. Trübsinnig schlenderte er durch die Parkanlagen seines Wohnblocks. Da es ein warmer, sonniger Abend war, gingen viele Leute spazieren. Am Spielplatz hatte ein nahegelegenes Nudelrestaurant einen kleinen Stand aufgestellt. Daisuke überlegte gerade, ob eine ordentliche Portion Ramen mit Meeresfrüchten seiner trüben Stimmung vielleicht abhelfen könnte, als plötzlich jemand seinen Namen rief. Er drehte sich um, und sah einen weiteren Stand, der offensichtlich zum Mizukawa Schrein gehörte. Hier verkaufte ein junges Mädchen im Priesterinnengewand Glückskekse, Talismane, und Maneki Katzen aus Porzellan. Daisuke kannte das Mädchen, sie ging in Jun’s Klasse, und war auch schon ein paarmal bei den Motomiyas zu Besuch gewesen. “Yuuko-san! Ich wußte ja gar nicht, daß du eine Miko bist.“ Grinsend sah Daisuke auf das lange Gewand des Mädchens. “Bin ich auch nicht.“ Sie winkte ihn näher heran, und wandte die Augen nach links und rechts, um sicherzugehen, daß niemand zuhörte. “Ich mach‘ das nur, um mir ein bißchen Taschengeld zu verdienen.“ Sie hielt einen kleinen Anhänger hoch. “Willst du einen, bringt Glück für die Liebe. Deine Schwester hat heute nachmittag gleich fünf gekauft, damit dieser Ishida-kun sie endlich erhört.“ “Hab‘ leider nicht soviel Geld dabei. Ich will mir noch Nudeln kaufen.“ Mit einem Nicken deutete er zum Ramen Stand. “Was? Dir ist eine Portion Nudeln wichtiger als dein Glück? Du bist wie dieser Typ aus der Bibel, der sein Erbe für eine Schale Reis verscherbelt hat. Oops... das ist eine andere Religion! Auch egal. Jedenfalls wirst du ein sehr unglücklicher Mensch werden, wenn du so weitermachst.“ Yuuko sah ihn aus großen unschuldigen Augen an. Daisuke sah gelangweilt zurück. “Hast du auch einen, mit dem man ein Fußballspiel gewinnen kann?“ “Du bist ein hoffnungsloser Fall, wirklich, Daisuke-kun. Na, macht nix, ich hab‘ heute schon genug Leute abgezockt.“ Sie kramte in den Anhängern herum. “Hier ist einer, den hat mir vorhin ein Mädchen zurückgebracht, weil er angeblich nicht funktioniert. Wenn er kein Glück in der Liebe bringt, dann vielleicht Glück im Spiel, so heißt es doch oder? Für einen Hunderter gehört er dir.“ “Na ja, probieren kann man es ja mal!“ Daisuke dachte an Hikari, und sein Herz schlug höher. Ein Fußballspiel konnte man durch Leistung gewinnen, aber mit der Liebe war es komplizierter. Eigentlich glaubte er ja nicht an den Quatsch, aber... Er zählte sein Geld, und stellte fest, daß es noch für die Nudeln reichte. Und wenn sie am Montag Mathe rausbekamen, wo er ausnahmsweise eine gute Note haben würde, waren seine Eltern sicher bereit, wieder ein bißchen was springen zu lassen. Yuuko band ihm das Amulett ums Handgelenk. “Ich mache jetzt drei Knoten, und bei jedem mußt du dir was wünschen. Dann mußt du das Amulett eine Weile tragen, und danach muß ein Junge... in deinem Fall natürlich ein Mädchen die Schnur wieder durchschneiden. Kannst du dir das merken?“ “Ich bin doch nicht blöd,“ brummelte Daisuke. * * * “Dai-chan? Dai-chan!“ Es funktionierte tatsächlich. Das Amulett funktionierte! Zum allerersten Mal in seinem Leben hatte ihn ein Mädchen, das nicht mit ihm verwandt war, ‘Dai-chan‘ genannt. Die einzige, die das bisher getan hatte, war seine Schwester und auch nur dann, wenn sie etwas von ihm wollte. Wenn es auch nicht seine angebetete Hikari war, sondern nur Miyako, aber immerhin war es ein Anfang. “Dai-chan, ich hätte da eine klitzkleine Bitte an dich. Könntest du mir ein Autogramm von Ichijouji Ken besorgen?“ So eine Gemeinheit! Es war Sonntag vormittag, noch drei Stunden Zeit bis zum Spiel gegen die Tamachi Schule. Die DigiRitter hatten sich im Computerraum getroffen, um herauszufinden, welche Neuigkeiten es in der DigiWelt gab, und ob ihr gefährlicher Feind, der Digimon Kaiser wieder zugeschlagen hatte. Natürlich war die Schule sonntags abgeschlossen, aber Miyako, die Leiterin des Computerclubs besaß einen Schlüssel und die Erlaubnis, den Computerraum auch am Wochenende zu nutzen. “Wie stellt du dir das vor, Miyako-kun? Soll ich zu einem Typen von der gegnerischen Mannschaft hinlatschen und ihn um ein Autogramm bitten?“ “Bingo.“ Miyako verzog keine Miene. “Du könntest ihn auch in ein Gespräch verwickeln, und ihm erzählen, was für ein attraktives Mädchen ich bin. Oder ihm einen Kuß von mir geben.“ “Hab ich dir schon den Artikel gezeigt, der letzte Woche über Ken erschienen ist, Miyako-san?“ wollte Hikari wissen. “Sie haben ein Interview mit ihm gemacht, und das Photo ist so süß... Du weißt ja, er ist nicht nur Fußballstar, sondern auch ein Genie. Er war letztes Jahr Landesstufenbester in Mathematik, stell dir das vor!“ “Weiß ich alles,“ sagte Miyako stolz. “Wahrscheinlich kenn‘ ich den Artikel, aber zeig‘ ihn mir trotzdem.“ “Ich hab‘ ihn eingescannt.“ Hikari öffnete einen Ordner und suchte nach der richtigen Datei. “Wollten wir nicht Kontakt zur DigiWelt aufnehmen?“ fragte Iori, als Hikari und Miyako sich gespannt über den Bildschirm beugten. “Da habt ihr’s Mädels, der Kleine ist vernünftiger, als ihr,“ schimpfte Daisuke. Hikari hatte inzwischen die richtige Datei gefunden, und Miyako kreischte laut auf, als Ken’s Photo auf dem Bildschirm erschien. “Kawaiiiiiii!“ Auch Hikari’s Gesicht zeigte ein träumerisches Lächeln. Daisuke verschränkte die Arme vor der Brust. “Ich kann nicht finden, daß der Kerl gut aussieht.“ “Ich auch nicht!“ Ausnahmsweise war Takeru mit Daisuke einer Meinung. “Absolut nicht!“ Der Kerl sah verdammt gut aus, leider, aber natürlich hätten die Jungs sich eher die Zunge abgebissen, als das zuzugeben. Na ja, es blieb immerhin noch die Chance, daß er ein mieser Fußballer war. Das würde Daisuke bald herausfinden. Was ihm gefiel war, daß Takeru offensichtlich Grund zur Eifersucht hatte. Hikari schien ziemlich beeindruckt von diesem Ichijouji zu sein, sie interessierte sich also doch für Jungen, die nicht Takeru hießen. Vielleicht war sie eines von den Mädchen, die sich von einem guten Fußballspiel beeindrucken ließen. ‘Heute werde ich das beste Spiel meines Lebens abliefern,‘ nahm Daisuke sich vor. ‘Hikari soll die Klappe runterfallen.‘ “Daisuke, Daisuke, Daisuke!“ brüllte Chibimon, als es aus seiner Tasche gehüpft kam. “Willst du gar nicht wissen wie’s mir geht?“ * * * Das Stadion der Odaiba Schule war nicht übermäßig voll, schließlich war es ja nur ein Grundschulspiel. Einige Eltern und Freunde hockten auf den Tribünen und feuerten an, obwohl das Spiel noch überhaupt nicht begonnen hatte. Oben am Parkplatz wartete eine Gruppe Mädchen auf das Eintreffen der Tamachi Spieler. Einige hielten ein Transparent mit der Aufschrift ‘We love you, Ken‘. “Schlampen,“ zischte Miyako leise, als sie an ihnen vorüberging. Die DigiRitter hatten ihre Digimon wieder einmal als Plüschtiere getarnt, bei einem Fußballspiel konnte man sie wunderbar als Glücksbringer ausgeben. Takeru’s Patamon und Iori’s Upamon guckten zwischen Brotzeit und Getränkedosen aus der mitgebrachten Reisetasche, während Miyako’s Poromon auf ihrem Schoß hockte und versuchte, sich still zu verhalten. Das war alles andere als einfach, da Miyako ständig an ihm herumzerrte. Tailmon hatte es wieder mal am einfachsten. Es saß auf dem Boden zu Hikari’s Füßen und spielte harmlose Miezekatze. Von den ursprünglichen DigiRittern war nur Taichi gekommen. Er hatte versprochen, während des Spiels ein Auge auf das temperamentvolle Chibimon zu haben, damit es nicht zuviel herumhüpfte und herumkreischte. So froh Daisuke darüber war, daß sein Digimon ihm die Daumen hielt, die Leute von seiner Schule wollte er ganz bestimmt nicht schocken. Außerdem sollte es ein Geheimnis bleiben, daß er ein DigiRitter war. Ganz besonders jetzt, wo ihr Feind kein Digimon war, sondern vermutlich ein Mensch. Zumindest hatte der Digimon Kaiser das behauptet. Aber natürlich konnte er ebensogut gelogen haben. Die Odaiba Spieler in den roten Trikots waren noch dabei sich warmzuspielen, als oben auf dem Parkplatz der Schulbus mit der Aufschrift ‘Tamachi‘ hielt. Neugierig reckten Zuschauer wie Spieler die Hälse, als die gegnerische Mannschaft den Bus verließ und augenblicklich von der kreischenden Mädchengruppe umringt wurde. “Gut, daß sie grüne Trikots haben, “ sagte Miyako zu Hikari, “ich hatte schon Angst, sie haben dieses häßliche Grau von ihren Schuluniformen.“ Wieder drückte und zerrte sie an Poromon herum. “Ich bin so aufgeregt, Hikari-chan, kann’s gar nicht abwarten. Wahrscheinlich steigt er sowieso als Letzter aus.“ “Das war gerade der Letzte,“ sagte Hikari, als die Tür sich wieder schloß. “Wie es scheint, ist Ichijouji-kun überhaupt nicht dabei.“ “Gemeinheit,“ heulte Miyako, “wozu bin ich denn überhaupt hergekommen?“ “Du bist hergekommen, weil unser Freund Daisuke ein wichtiges Spiel hat und wir ihn anfeuern wollen,“ Hikari runzelte die Stirn. “Hast du das etwa vergessen?“ Daisuke klopfte das Herz bis zum Hals. Das hatte Hikari gesagt! Seine Hikari-chan! So etwas hatte sie noch nie gesagt. Nur warum wurde Takeru nicht eifersüchtig? Er mußte den Satz doch gehört haben. Natürlich brannte allen die Frage auf der Zunge, warum Ichijouji nicht mitgekommen war. Selbst die Jungs vom Odaiba Team tuschelten durcheinander wie eine Schar aufgeregter Gänse. Eine Weile hörte Daisuke sich das noch an, doch dann wurde es ihm entschieden zu dumm. Begleitet von den schockierten Blicken seiner Teamkameraden, die jedoch alle viel zu neugierig waren, um ihn aufzuhalten, marschierte er geradewegs ins feindliche Lager. Dort erntete er jede Menge mißtrauischer Blicke. “Ken-kun ist heute verhindert,“ war die einzige Antwort, die er bekam. “Aber gegen euch gewinnen wir auch so.“ “Das wollen wir doch mal sehen,“ lachte Daisuke. Er war in Top-Form, das wußte er, und Hikari’s Bemerkung war noch das Sahnehäubchen auf dem Kuchen gewesen. Von der Tribüne her hörte er die Rufe seiner Freunde, doch Hikari’s jauchzendes ‘Ganbatte, Daisuke-kun!‘ schien alles andere zu übertönen. Wie ein Pfeil jagte er über das Spielfeld, im Hinterkopf die Ratschläge seiner Freunde. Nicht einfach drauflosstürmen, sondern mit Technik spielen. Den Ball lieber abgeben, wenn ein anderer eine bessere Schußlinie hat. Darauf achten, was der Gegner als nächstes vorhat und versuchen, es zu vereiteln. Und vor allen Dingen spielen, als ob man Flügel hätte! Das Odaiba Team schien die besseren Stürmer zu haben, aber die Abwehr von Tamachi war einfach unbezwingbar, und ihr Torhüter ein echter Profi. Mehr als einmal stoppte er den Ball nur wenige Millimeter vor dem Netz. Beide Mannschaften hatten bereits mehrere Torchancen gehabt, als Daisuke dem ausgezeichneten Torhüter kurz vor Ende der ersten Halbzeit das 1:0 reindrückte. Es war ein exzellenter Schuß, stolz und glücklich warf er die Arme in die Höhe, als seine Teamkameraden ihn jubelnd umringten. Dies war der große Moment, den er sich erhofft hatte. Er sah zur Tribüne hinüber, wo seine Freunde ebenfalls winkten und jubelten. Einige von ihnen, auch Hikari, waren sogar aufgesprungen. Sie ließ ihre Kamera sinken, mit der sie den Torschuß photographiert hatte, und Takeru nahm sie ihr ab, damit sie zum Winken die Hände frei hatte. Es war nur eine winzige Geste, als Takeru die Kamera nahm, und einen Augenblick lang Hikari’s Hände festhielt, und doch versetzte sie Daisuke einen Stich, daß ihm schier die Knie zitterten. In diesem Moment wurde ihm eindeutig und unmißverständlich klar, daß Hikari niemals dasselbe für ihn empfinden würde, egal wie gut er Fußball spielte, oder was er sonst unternahm. Bei seinen Spielen mochte sie ihm zujubeln, in der DigiWelt mochte sie ihn beschützen, aber es war nicht dasselbe, und würde es auch nie sein. Es war Freundschaft, eine enge Freundschaft sicher, aber nicht Liebe. Es war nicht das Herzklopfen und auch nicht das Kribbeln im Bauch. Sie würde ihn niemals mit diesem ganz besonderen Blick ansehen, mit dem sie Takeru ansah. Daisuke schluckte, und spürte, wie die Tränen in ihm hochstiegen. Mochten die anderen ruhig glauben, daß es Freudentränen für das wahrscheinlich gewonnene Spiel waren. Die Wahrheit würden sie nicht erfahren. Der Pfiff des Schiedsrichters kündigte das Ende der ersten Halbzeit an. Die Spieler gingen zu den Bänken, um sich hinzusetzen, und etwas auszuruhen. Wie in Trance ließ Daisuke die aufmunternden Worte des Trainers und seiner Mitspieler über sich ergehen. Der Coach des Odaiba Teams hielt eine kurze Ansprache darüber, wie toll sie gespielt hatten, und kam dann umgehend zur Aufstellung für die zweite Halbzeit. Daisuke würde weiterspielen, er erschien dem Coach fit genug, noch jede Menge weitere Tore zu schießen. Normalerweise wäre Daisuke bei einem solchen Lob ausgeflippt, jetzt aber lächelte er kaum. Er tastete nach dem Amulett an seinem Handgelenk und verspürte das plötzliche Bedürfnis, es herunterzureißen und wegzuwerfen. Wenn du heute kein Glück hast, dann morgen ganz sicher. Taichi’s Worte. War es nicht nur leeres Gerede gewesen? Er hielt das kleine Amulett fest, es war albern, an solchen Unsinn zu glauben. Trotzdem, hatten sich nicht schon wirklich unglaubliche Dinge in seinem Leben ereignet? Wenn ihm vor einem Jahr jemand erzählt hätte, daß es eine digitale Welt gab, die er mit seinen Freunden beschützen mußte, hätte er auch darüber gelacht. Und doch war diese Welt Wirklichkeit. Das Digimental des Mutes, mit dem V-Mon zu FlaDramon digitierte! Es funktionierte nur, weil der Mut wirklich in ihm war. Es kam nicht auf äußere Dinge an, sie waren nur Symbole für etwas, das man im Herzen trug. Genauso war es mit diesem Amulett. Er sah wieder zu Hikari hinüber, die Takeru irgend etwas erzählte, was er nicht hören konnte. Es tat weh, sie anzusehen, aber es würde vorübergehen, das wußte er ganz sicher. Er spürte Traurigkeit, aber keinerlei Wut oder Eifersucht. Hikari-chan sollte glücklich sein, sie hatte es verdient, glücklich zu sein. ‘Irgendwann werde ich auch jemandem begegnen. Jemandem, der mich mit diesem ganz besonderen Blick ansieht. Er legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel hinauf, bis das helle Sonnenlicht ihn blinzeln machte. ‘Morgen, ganz sicher.‘ Das erste Geräusch, das die Stille durchbrach, war das Quietschen von Reifen, doch es dauerte nur einen Augenblick lang, bis es im Geschrei und Gejohle der Mädchen unterging. Die Köpfe von Zuschauern und Spielern gleichermaßen fuhren herum, um die Ursache des Trubels auszumachen. Zunächst konnte Daisuke nichts erkennen, da immer noch bunte Flecken vor seinen Augen tanzten. Angestrengt kniff er die Brauen zusammen und richtete seinen Blick auf die Zuschauertribüne. Er sah, wie die Menschenmasse sich teilte, um jemandem den Weg freizugeben. Auf dem obersten Treppenabsatz stand ein Junge, etwa in Daisuke’s Alter, im grünen Fußballtrikot der Tamachi Schule. Den Kopf hoch erhoben, den Blick starr geradeaus gerichtet, kümmerte er sich nicht im geringsten um das Theater um ihn herum. Für die Mädchen, die um seine Aufmerksamkeit rangen, hatte er nicht einmal ein Lächeln übrig. Langsam und majestätisch schritt er die Treppe hinunter, als wäre er der Tennoh persönlich. Seine geschmeidigen, fließenden Bewegungen hatten etwas von einer Raubkatze an sich, jeder Muskel des schlanken, athletischen Körpers schien angespannt, obwohl er nach außen hin vollkommen ruhig wirkte. Desinteressiert glitt sein Blick über die Reihen, der Ausdruck seiner dunkelvioletten Augen rätselhaft, unmöglich zu deuten. Trotzdem schien es, als ob nichts diesen Augen entgehen konnte. Als seine Teamkameraden ihn jubelnd empfingen, sah Daisuke ihn zum erstenmal lächeln, ein Lächeln, das die Augen nicht erreichte. Sie hatten etwas sehr Melancholisches an sich, diese Augen, vielleicht lag es aber auch nur an ihrer ungewöhnlichen Farbe. Wieder erklang die Trillerpfeife des Schiedsrichters, um das Ende der Pause zu verkünden. Die Stimmung bei den Tamachis war merklich gestiegen, und Daisuke konnte spüren, wie sich im eigenen Lager die Unsicherheit breitmachte. 'Kein Grund zur Panik' sagte er zu sich selbst. 'Jetzt soll dieser Ichijouji erst mal zeigen, was er draufhat.' Tsuzuku... Kapitel 2: Yasashisa (Freundlichkeit) ------------------------------------- Part 2: Yasashisa (Freundlichkeit) Sie standen sich an der Mittellinie gegenüber und maßen sich mit abschätzenden Blicken. Da Lächeln immer noch die beste Art war, seinem Gegner die Zähne zu zeigen, verzog Daisuke das Gesicht zu einem solchen. Das fiel ihm nicht weiter schwer, eigentlich freute er sich wie ein Schneekönig auf die zweite Halbzeit und konnte die gedrückte Stimmung seiner Teamkameraden überhaupt nicht verstehen. “Hi,“ sagte er schließlich, “Ich bin Motomiya Daisuke.“ “Freut mich,“ entgegnete sein Gegenüber knapp, ohne dabei den Ball aus den Augen zu lassen, den einer seiner Teamkameraden noch unter dem Arm trug. Er machte sich nicht die Mühe, sich vorzustellen, wahrscheinlich ging er davon aus, daß ihn sowieso jeder hier kannte. Ken und der Tamachi Spieler mit dem Ball betraten den Anstoßkreis. Höchstwahrscheinlich würde der andere Spieler anstoßen und Ken den Ball zuspielen. Danach würde Ken den Ball vermutlich nicht wieder abgeben, sondern anfangen zu dribbeln. Wenn Daisuke ihn richtig einschätzte, würde er versuchen, das gegnerische Tor selbst zu erreichen. Einen Augenblick später zischte der Ball samt Spieler an ihm vorbei, mit einer Geschwindigkeit, die Daisuke in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet hätte. Zum Glück brauchte er nur eine Schrecksekunde, bis er begriffen hatte, daß er ja nicht nur dastehen und gaffen konnte, wie es einige seiner Mitspieler noch taten. Mit großen Sätzen jagte Daisuke hinterher, aber ihm war klar, daß er Ichijouji unmöglich rechtzeitig erreichen konnte. Jetzt war es an der Abwehr, ihn aufzuhalten. Daisuke lief sich frei, nur für den Fall, daß es einem seiner Mitspieler doch noch gelang, Ichijouji den Ball abzujagen, so unwahrscheinlich das auch sein mochte. “Go, Ken, go!“ überbrüllte Miyako sämtliche Zuschauerrufe, und die anderen wiesen sie wieder einmal zurecht, daß sie zur falschen Mannschaft hielt. Ausgleich. Das war zu erwarten gewesen, aber noch war ja nicht alles verloren. Odaiba war wieder im Ballbesitz. Mit grimmigen Vergnügen bemerkte Daisuke, daß ein ganzes Aufgebot an grünen Trikots damit beschäftigt war, ihn zu decken. Die sollten ihn nur ja nicht unterschätzen. Leider kam Daisuke nicht dazu, sein Talent unter Beweis zu stellen. Sein Versuch sich freizulaufen, glückte noch so gerade eben, aber als der Ball auf ihn zuflog, schoß Ken in letzter Sekunde dazwischen. Diesmal gab er den Ball sofort weiter, und hatte damit den Überraschungsmoment auf seiner Seite. Odaiba kämpfte hart, aber vergebens. Eine Dreiviertelstunde später hatte Ken sieben Tore geschossen, und war Paßgeber bei zwei weiteren Toren gewesen. Bei den roten Trikots machte sich langsam, aber sicher die Enttäuschung breit. 9: 1 für Tamachi, und noch ein paar Minuten bis Spielende. Jeder normale Mensch hätte es damit gut sein lassen und sich einen ruhigen Abschluß gegönnt. Aber Ichijouji, dieser Wahnsinnige, jagte schon wieder auf das Tor zu. Wie so viele Male zuvor schien der Ball magisch mit seinem Bein verbunden zu sein. Es sah absolut mühelos, nahezu spielerisch aus, wie er an den Roten vorbei dribbelte, beinahe wie ein Kätzchen, das einen Wollknäuel vor sich her rollte. Seine violetten Augen sprühten vor Lebensfreude, in ihnen funkelte schon die Siegesgewißheit. Diesmal nicht! Wild entschlossen setzte Daisuke ihm nach. Daß sich hinter diesem Kätzchen ein wilder Panther verbarg, hatte er in den letzten fünfundvierzig Minuten immer wieder aufs Neue erfahren müssen. Aber aufgeben? Niemals! Auch diesmal würde er wieder an seine Grenzen gehen. Schwanz einziehen und feige das Feld räumen galt nicht, auch wenn das Spiel verloren war und ein Tor mehr oder weniger keinen Unterschied machte. Irgendwie war es doch ein Unterschied! Das Odaiba Tor rückte näher. Ichijouji würde versuchen, so nahe wie möglich heranzukommen, bevor er abschoß. Obwohl es seinen Schüssen keineswegs an Kraft mangelte, lag seine eigentliche Stärke in seiner Geschicklichkeit und das würde er ausnutzen wollen. Die gesamte Odaiba Abwehr konnte einpacken, wenn er einmal zu dribbeln begonnen hatte. In der buchstäblich letzten Sekunde wetzte Daisuke zwischen zwei Grünen hindurch, und warf sich nach vorn, um Ken den Ball vor der Nase wegzukicken. Da Ken im selben Moment ebenfalls nach dem Ball trat, fuhr Daisuke’s Schuh an Ken’s Schienbein entlang, und riß es auf. Die Jungen stolperten, und in einem verzweifelten Versuch sich aneinander festzuhalten, landeten sie beide im Gras. “Gomen!“ Ungeschickt versuchte Daisuke den Knäuel aus Armen und Beinen zu entwirren, um seine eigenen wiederzufinden. Ihm war leicht schwindelig, er wußte nicht, ob es von dem Sturz herrührte, oder von dem warmen, schweißnassen Körper, der sich unter ihm herauszuwinden versuchte. Heißer Atem strich über sein Gesicht, und ein unbekanntes Prickeln breitete sich in seinem Bauch aus, als sein Blut plötzlich schneller durch seine Adern zu kreisen schien. Der Geruch von verschwitzten Haaren stieg ihm in die Nase, und er schloß für einen winzigen Moment die Augen, als er sich nach vorn lehnte, um den Duft in vollen Zügen einzuatmen. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er sie wieder öffnete. Ihre Gesichter waren sich so nahe gekommen, daß die Wangen sich beinahe berührten. Dunkelviolette Augen blickten ihn an, wie aus einem Traum erwacht. Der schrille Pfiff des Schiedsrichters riß Daisuke abrupt in die Wirklichkeit zurück, und ihm wurde klar, daß nicht mehr als ein paar Sekunden vergangen sein konnten. Vorsichtig, um Ken nicht weh zu tun, rollte er sich zur Seite und stand auf. Er streckte die Hand aus, um auch Ken hochzuhelfen, dessen verletztes Bein blutete. “Das war Foul!“ Zwei andere Tamachi Spieler drängten sich dazwischen, und zogen ihren Teamkameraden vom Boden hoch. “Du hast Ichijouji-kun mit Absicht getreten!“ “Er hat den Ball getreten, nicht meinen Fuß.“ Ohne Daisuke weiter zu beachten, wandte sich Ken an den Schiedsrichter, um das Mißverständnis aufzuklären. Der nickte dazu und erklärte das Spiel für beendet. Merkwürdigerweise waren es die Sieger, die lange Gesichter zogen. “Du hast uns soeben um einen Elfmeter gebracht,“ murrte einer der Tamachi Spieler, den Ken’s Aussage nicht gerade zu begeistern schien. Ken schien das allerdings herzlich wenig zu beeindrucken “Man muß ein Spiel doch mit eigener Leistung gewinnen und nicht mit billigen Tricks,“ hörte Daisuke ihn noch sagen, bevor er mit den anderen zur Bank zurückkehrte. Amüsiert grinste er in sich hinein. Woher kam ihm dieser Satz nur so verdammt bekannt vor? Wie es schien, war da jemand auf seiner Wellenlänge. Er reckte den Hals und spähte zur anderen Bank hinüber, wo der Coach gerade dabei war, Ken einen Verband anzulegen. Ganz so harmlos, wie Ken getan hatte, war die Verletzung wohl doch nicht. Hoffentlich würde er nicht die nächsten Tamachi Spiele aussetzen müssen. Entschlossen stand er auf. Sich für den Vorfall entschuldigen, war das mindeste, was er tun konnte. “Alles in Ordnung mit dir?“ “Paßt schon.“ Ken schien ziemlich perplex, als Daisuke auf einmal vor ihm stand. Bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen, fügte er hinzu: “Du hast einen ziemlichen Kick drauf... Motomiya Daisuke-kun, das war‘s doch, oder?“ “Hai.“ stammelte Daisuke. Unglaublich, der Typ hatte sich doch tatsächlich seinen Namen gemerkt. Er kämpfte noch gegen die aufsteigende Röte in seinem Gesicht, als sein Gegenüber die Hand ausstreckte. “Ichijouji Ken.“ “Yoroshiku na.“ Als sie die Hände schüttelten stieg ihm plötzlich wieder der Duft von Ken’s Haaren in die Nase. Er versuchte seine Verlegenheit zu überspielen, indem er einfach weiter redete: “Und du dribbelst wie ein Weltmeister.“ Ken lächelte und diesmal lächelten die Augen mit. “Hab‘ ja auch vor, es zu werden. Weltmeister, meine ich.“ “Cool. Dann werden wir in ungefähr zehn Jahren in derselben Mannschaft spielen.“ Erschrocken bemerkte Daisuke, daß er immer noch Ken’s Hand festhielt und der andere Junge bisher keinen Versuch gemacht hatte, sie zurückzuziehen. Verlegen ließ er sie los. “Na ja, dann will ich mal wieder... “ Mit einem Kopfnicken deutete er zu seinen Teamkameraden. “Hast du Bock, nachher noch ein bißchen Ball zu kicken? Oder hat es dir schon gereicht?“ fragte Ken mit einem herausfordernden Unterton in der Stimme. Daisuke sah ihn entsetzt an “Bist du verrückt? Mit deiner Verletzung?“ “Wenn ich mit links spiele, hast du zumindest den Hauch einer Chance.“ Frech grinste Ken ihn an. “Hey, ich lass‘ mich doch von dir nicht ärgern, also los!“ Daisuke grinste ebenso frech zurück. “Muß nur schnell ein paar Leuten Bescheid sagen.“ Er wetzte die Zuschauertribüne hoch und hielt nach seinen Freunden Ausschau. Sie saßen nicht mehr auf ihren Plätzen, sondern waren irgendwo in der Menge verschwunden. Endlich gelang es ihm in dem Durcheinander aus Spielern und Zuschauern Taichi zu erspähen, der schon wieder bei seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Sprücheklopfen war. Gerade schilderte er zwei andächtig lauschenden Spielern in leuchtenden Farben, wie er beim letzten Game gegen Kawada in letzter Sekunde das Siegestor geschossen hatte. Nur zu schade, daß Daisuke genau wußte, daß Odaiba das Spiel verloren hatte. “Daisuke-kun, wo hast du so lange gesteckt? Geh’n wir den Rest einsammeln, wir haben alle mächtig Kohldampf!“ “Ich komm‘ nicht mit zum Essen, Sempai, ich geh‘ noch mit...“ “Daisuke-kun! Matte yo!“ Eine kreischende Miyako versuchte sich, heftig mit den Armen wedelnd, durch die Menge zu drängeln. Zweifellos hatte sie seine Unterhaltung mit Ken beobachtet, und wollte jetzt mit ihm bekannt gemacht werden. “Ja mata, Taichi-sempai!“ Daisuke nahm Reißaus. Unten am Spielfeld war Ken inzwischen von einer Mädchenhorde umringt worden. “Nein, ich geb‘ keine Autogramme, aus Prinzip nicht,“ erklärte er seinen enttäuschten Fans. “Nein, ich hab‘ keine Zeit für eine Freundin, viel zuviel zu tun.“ Er fing Daisuke’s Blick auf und rollte vielsagend mit den Augen. Daisuke grinste ihn nur hämisch an und machte das V-Zeichen, worauf Ken die Hand zu einer Faust ballte und sie in Daisuke’s Richtung schüttelte. “Ach, du meine Güte!“ Miyako war neben ihm aufgetaucht und stieß einen Seufzer nach dem anderen aus, als sie die vielen Mädchen sah. “Wie in aller Welt, soll ich ihn bei dem Haufen dazu kriegen, mich zu bemerken? Wenn ich jetzt da runtergehe, falle ich ja überhaupt nicht auf!“ jammerte sie. “Was soll ich nur machen, es ist wirklich ganz und gar hoffnungslos!“ Daisuke verzog das Gesicht zu einem Grinsen. “So ein Pech aber auch.“ Um schneller nach unten zu kommen, hüpfte er über die Zuschauerbänke und jagte wie vom wilden Affen gebissen mitten in die Mädchenschar, die kreischend auseinanderstob. “Ichijouji-kun, warum hast du dein Handy ausgeschaltet, deine Mutter versucht seit Stunden, dich zu erreichen, deine Katze hat Durchfall, und dein Wellensittich auch und vielleicht auch noch BSE und muß in die Klinik, und du sollst sofort nach Hause kommen, es ist ein absoluter Notfall...“ Ohne seinen Redeschwall zu unterbrechen, packte er Ken an der Hand und sie wetzten an den verblüfften Gesichtern vorbei, übers Spielfeld zum Hinterausgang des Stadions. Irgendwo, weit entfernt glaubte er noch Miyako fluchen zu hören. “Dein Wellensittich hat BSE? Was Blöderes konnte dir wohl nicht einfallen,“ prustete Ken los, als sie übers Feld rannten. “Hat aber funktioniert, du Genie!“ kicherte Daisuke zurück. “Oh Mann, hast du die Gesichter von den Hühnern geseh‘n, echt zum Schreien.“ Allein der Gedanke daran, trieb ihm noch die Lachtränen in die Augen. Beide Jungs drückten inzwischen die Hände in die Seiten, das Seitenstechen kam aber wohl eher vom Lachen, als von ihrem kurzen Sprint. Das bißchen Laufen konnte sie nicht außer Atem bringen. “Abgeschlossen!“ Ken hatte als erster den Ausgang erreicht. “Und jetzt?“ “Weiter am Zaun entlang, gleich kommt eine Stelle, da können wir untendurch krabbeln!“ Normalerweise hätte Daisuke vorgeschlagen, über das Tor zu klettern, mit Hilfe einer Räuberleiter wäre das sicher kein Problem gewesen. Aber da Ken diesen Vorschlag nicht selbst gebracht hatte, würde sein verletztes Bein vermutlich nicht mitspielen und Daisuke wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. “Du bist einfach total bescheuert!“ Fassungslos schüttelte Ken den Kopf, und folgte Daisuke unter dem Zaun hindurch. Anschließend schlüpften sie durch die dahinterliegende Hecke und krochen einige Meter durchs Dickicht. “Ich kann gar nicht glauben, daß ich so etwas tue.“ Das Dickicht endete an einem schmalen Kiesweg, der sich zwischen Büschen und Bäumen hindurchschlängelte. Sie befanden sich mitten im Wald, genauer gesagt, in einem Waldstreifen, am Rand des Odaiba Parks. Sonnenlicht funkelte durch die hohen Baumkronen und malte geheimnisvolle Muster auf den Boden. Menschen waren keine zu sehen, oder zu hören, das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, waren die Rufe der Vögel und dann und wann ein Rascheln im Unterholz. Unglaublich, daß es so einen Ort mitten in der Stadt geben konnte Ken sah sich um. “Ich meine, was machen wir hier überhaupt?“ “Du bist ja überall dreckig, Ichijouji-kun!“ zog Daisuke ihn auf. “Keiner hört einem zu, der überall dreckig ist.“ Daisuke hüpfte auf das hölzerne Geländer, das am Wegrand entlanglief und turnte darauf herum. “Deine Mutter würde einen Tobsuchtsanfall kriegen, und dich bei lebendigem Leibe in die Waschmaschine stecken.“. “Schau dich erstmal selber an, siehst aus wie ein Waldschrat.“ Ken setzte sich auf das Geländer, und verzog leicht das Gesicht, als er sein verletztes Bein ausstreckte. “Häh? Ein was?“ Verständnislos sah Daisuke ihn an. Als er versuchte, über Ken zu steigen, um weiter zu balancieren, verlor er das Gleichgewicht und plumpste etwas unsanft ins Gras. “Na, ein Waldschrat. So eine Art Troll, der im Wald lebt.“ Ken streckte die Hand aus, und zog Daisuke hoch. “Du siehst aus wie einer, weil deine Haare voller Blätter und Zweigstückchen sind. Die müssen hängengeblieben sein, als wir durchs Dickicht gekrochen sind.“ “Machst du sie mir raus, ja?“ Daisuke hockte sich zu Ken aufs Geländer und Ken fing an die Blätter herauszuplücken. ‘Das müssen aber viele sein‘, überlegte Daisuke, aber er hielt weiter still, es war einfach zu angenehm. Er schloß genießerisch die Augen und lehnte den Rücken an Ken’s Brust. “Du machst das wohl nicht oft, wie?“ “Was denn?“ Ken schien ein ganz besonders hartnäckiges Zweigstückchen hinter Daisuke’s rechtem Ohr entdeckt zu haben. “Durchs Dickicht kriechen. Oder unter Zäunen durch. Einfach mal abhauen und irgendeinen Blödsinn machen. Oder auch einfach mal überhaupt gar nichts.“ “Eigentlich nicht, nein.“ Ken’s linke Hand durchforstete weiterhin Daisuke’s Haare, während die rechte über seine Wange streichelte und schließlich auf dem Kinn liegenblieb. “Ich hab‘ immer sehr viel zu tun, muß lernen und so. Da bleibt keine Zeit für kindische Spiele.“ “Kindische Spiele? Aber du bist doch ein Kind!“ Daisuke legte den Kopf weit in den Nacken zurück, um Ken ins Gesicht sehen zu können. “Schon.“ Ken nutzte die Gelegenheit, ihn unterm Kinn zu kraulen. “Als ich noch klein war, hab‘ ich mir oft vorgestellt, ich könnte irgendwohin gehen, wo mir keiner sagen kann, was ich zu tun, oder zu lassen habe. In eine ganz andere Welt eben.“ Seine Finger glitten über Daisuke’s Kehle. “Wo ich die Regeln mache, und immer alles tun kann, was ich will und wozu ich Lust habe.“ Daisuke strahlte ihn an, und rieb den Kopf an seiner Schulter. “Wenn ich alles tun könnte, wozu ich Lust habe, würd‘ ich wahrscheinlich den ganzen Tag Fußball spielen. Und essen.“ Er schluckte, als sich auch die zweite Hand auf seinen Hals legte. “Und nie wieder Proben schreiben. Und vielleicht...“ Er dachte an Hikari, und stellte überrascht fest, daß es gar nicht mehr weh tat. “So etwas würdest du tun?“ Ken’s Hände verharrten in der Bewegung. “Und dann wärst du glücklich? Ich muß schon sagen, so jemand wie du, ist mir noch nicht unter die Augen gekommen!“ Er ließ Daisuke’s Hals los. “Wenn wir uns schon früher begegnet wären, vielleicht wäre dann... “ Er brach ab und senkte den Kopf. “Was ist denn bitte an mir so ungewöhnlich?“ Jetzt war es an Daisuke, sich zu wundern. “Ich bin doch nur ein ganz normaler Junge! Bin auch kein Genie oder sowas.“ Er verdrehte die Augen. “Du solltest mal meine Noten sehen! Das einzige Fach, wo ich wirklich gut bin, ist Sport. Meine Mutter sagt immer, wenn ich groß bin, werd‘ ich entweder Fußballprofi oder Straßenkehrer.“ Er sprang auf, das ganze Stillsitzen war ihm zuviel geworden. “Wenn’s deinem Bein wieder gut geht, müssen wir mal zusammen trainieren, wie du’s vorgeschlagen hast.“ “Mal sehen.“ Ken starrte immer noch zu Boden, während Daisuke zwischen Boden und Geländer hin- und her hüpfte. “Ich wollte auch Fußballprofi werden, als ich noch kleiner war. Fußball war das einzige, was mein Bruder nicht...“ “Du hast einen Bruder?“ fragte Daisuke, als Ken nicht weitersprach. “Cool! Ich hab‘ nur ‘ne Schwester, sie ist eine schreckliche Nervensäge.“ “Hatte. Ist ‘ne lange Geschichte, aber ich muß jetzt wirklich geh’n. Wenn wir in dieser Richtung weitergehen und uns rechts halten, müßten wir doch wieder zum Parkplatz zurückkommen, oder?“ Daisuke hakte nicht weiter nach, er war zwar furchtbar neugierig, hatte aber gemerkt, daß Ken das Thema unangenehm war. So redeten sie lieber über die letzten japanischen Meisterschaften und debattierten lang und breit darüber, wer wann welche Torchance verhauen hatte. Als nächstes war die Vorrunde für die WM an der Reihe. “Hast du am Donnerstag das Match gegen die USA gesehen?“ wollte Daisuke wissen. “Izumi hat wieder gespielt wie der letzte Mensch!“ “Sie waren alle reichlich mies, hatten schon aufgegeben. Manchmal merkt man relativ schnell, welche Mannschaft im Vorteil ist und das kann die Moral der Spieler ziemlich untergraben!“ Fast automatisch mußte Daisuke an das Spiel vom Nachmittag denken. Gerade gegen Ende hatte bei einigen seiner Teamkameraden der Kampfgeist merklich nachgelassen. “Wenn man glaubt, daß das Spiel verloren ist, gibt man oft viel zu schnell auf,“ stimmte er Ken zu. “Du nicht!“ Ken lächelte, obwohl seine Augen ernst blieben. “Du hast permanent versucht, mir in die Quere zu kommen, wieder und immer wieder, obwohl ihr schon längst verloren hattet. Du bist ein gefährlicher Gegner, Motomiya-kun, weil du zu den Menschen gehörst, die nie aufgeben, ganz egal, wie schlecht ihre Chancen stehen.“ Sein Blick fiel auf den Anhänger an Daisuke’s Handgelenk. “Und du scheinst auf dein Glück zu vertrauen. Gib‘ nur acht, daß es dich nicht eines Tages im Stich läßt!“ Sie hatten das Ende des Parks erreicht und standen wieder vor dem Stadion. Durch die Hecke konnte er den Parkplatz erkennen, wo die Tamachi Spieler gerade dabei waren, in ihren Bus einzusteigen. Es waren jetzt weniger als vorhin, vielleicht wurden einige von ihren Eltern abgeholt. “Ken-kun!“ Ungeschickt löste Daisuke das Band von seinem Handgelenk. “Ich will‘s dir schenken!“ Ken zog überrascht die Augenbrauen hoch. “Was soll ich damit?“ Etwas herablassend sah er auf das Amulett in Daisuke’s ausgestreckter Hand. “Vielleicht wird es dir Glück bringen!“ Verlegen senkte Daisuke den Blick, und eine leichte Röte überzog seine Wangen. “Irgendwie glaub‘ ich nämlich, daß du das brauchen kannst.“ Etwas unbeholfen suchte er nach den richtigen Worten. “Glück, mein‘ ich! Du bist zwar ein Genie und ein Supersportler, hast Fans und massig Kohle, aber du bist nicht glücklich. Du bist traurig. Und sehr einsam.“ Lange Zeit gab Ken ihm keine Antwort, ihm schienen die Worte zu fehlen. Er machte einen Versuch, nach dem Amulett zu greifen, ließ die Hand aber wieder sinken, als sie zu zittern begann. Als Daisuke sie jedoch festhielt, zog er sie nicht zurück. “Du weißt doch überhaupt nicht, wovon du redest,“ brachte er heraus, “du kennst mich doch überhaupt nicht. Wenn du wüßtest, wer ich wirklich bin, würdest du...“ Er sah zu Boden und umklammerte Daisuke’s Hand fester. “Warum redest du nicht weiter?“ wollte Daisuke wissen. “Du brichst immer die Sätze ab und redest sie nicht zu Ende. Hast du Angst davor, zuviel über dich zu verraten?“ Er machte noch einen Schritt auf Ken zu, sie standen jetzt genau voreinander. “Angst, daß dir jemand zu nahe kommt?“ Ken wich ihm nicht aus. Er zog seine Hand nicht zurück, und als Daisuke mit der anderen sein Kinn anhob, um ihm in die Augen zu sehen, machte er keinen Versuch den Kopf wegzudrehen. “Eine Freundin von mir hat gesagt, ich soll dir den von ihr geben,“ flüsterte Daisuke. “Also nicht, daß du jetzt was Falsches denkst.“ Er schloß die Augen und drückte Ken einen schnellen Kuß auf die Wange. “Wenn das so ist, dann... dann solltest du ihr einen von mir wiedergeben.“ Seine Lippen fühlten sich ganz warm an. Feucht. Schmeckten gut. Und seine Nase drückte an der Wange. Und das Prickeln war wieder da. Im Bauch. “Sayonara, Motomiya Daisuke-kun!“ Er drehte sich um, und ging mit schnellen Schritten um die Hecke herum zum Parkplatz. Von seinen Fingern baumelte die Schnur des Anhängers. “Sayonara,“ sagte Daisuke, aber er glaubte nicht, daß Ken es noch gehört hatte. Das Stadion war nahezu leer, nur wenige Leute kamen ihm noch entgegen. Taichi und die anderen warteten am Eingang, sie hielten Tüten und Plastikbecher in den Händen. “Is noch wasch da,“ nuschelte Taichi, der sich gerade zwei Sushi auf einmal in den Mund gesteckt hatte. “Falsch du auch Hunger hascht!“ “Gib ihm nix!“ fauchte Miyako. “Pack ihn lieber und schmeiß ihn an die Wand!“ Vorsichtshalber flatterte Poromon ein bißchen weg von ihr, wahrscheinlich befürchtete er, als Ersatz herhalten zu müssen. Hikari und Takeru grinsten sich an, während Miyako Daisuke mit bösen Blicken bedachte. Während des Heimwegs redete sie minutenlang kein Wort mit ihm, bis schließlich die Neugier über die Wut siegte. “Nachdem du schon so einfach mit ihm abgehauen bist, könntest du mir wenigstens erzählen, was für ein Mensch er ist. Hat er schon eine Freundin? Was mag er an Mädchen und was nicht?“ “Über so einen Blödsinn haben wir überhaupt nicht geredet!“ Angeberisch legte Daisuke die Hände in den Nacken und Chibimon klammerte sich an seiner Fliegerbrille fest, damit es nicht von seinem Kopf fiel, auf dem es, wie üblich, hockte. “Wir haben... ach, eigentlich geht es dich gar nix an.“ Miyako stemmte die Hände in die Hüften. “Geht mich sehr wohl etwas an, schließlich hab‘ ich mich zuerst in ihn verliebt und darum hab’ ich auch die älteren Rechte. Laß die Finger von meinem Ken-chan!“ “Erstens ist er nicht dein Ken-chan, und zweitens bist du total bescheuert! Ich verlieb’ mich doch nicht in einen Jungen!“ “Pfff, mir kannst du gar nix erzählen, hab’ doch geseh’n wie du ihn angeschmachtet hast! Von heute an bist du nicht mehr mein Freund, sondern Konkurrenz!“ Sie streckte den Zeigefinger in die Höhe und setzte ihren Oberlehrerblick auf. “Du bist, wie nennt Mimi-Onee-sama das immer?... Sexual Competition!“ “Ach, du hast sie doch nicht mehr alle!“ Normalerweise stritt sich Daisuke lange und ausgiebig mit Miyako, es war sogar eine Art Lieblingsbeschäftigung der beiden. Heute jedoch war er froh, als er daheim in seinem Zimmer war und ihr Gekreische nicht mehr hören mußte. “So ein Blödsinn,“ murmelte er immer noch, als er das Licht ausschaltete und es sich unter seiner Bettdecke bequem machte. “Ich bin doch nicht verliebt.“ “Nicht?“ Chibimon hüpfte auf dem Kopfkissen Trampolin. “Wieso nicht?“ “Na, weil er ein Junge ist und ich au... autsch.“ Daisuke zuckte zusammen, als Chibimon versehentlich seinen Kopf erwischte. “Und Jungen verlieben sich nicht in Jungen, jedenfalls nicht in echt. In den bescheuerten Manga von meiner bescheuerten Schwester, wo alle fünf Seiten einer ins Koma fällt, natürlich schon.“ Er schnappte sich das zappelnde Digimon und nahm es in den Arm. “O-yasumi nasai.“ Chibimon schmiegte sich an seine Schulter und fing an zu schnarchen. Bei Daisuke dauerte es noch ein bißchen, bis er einschlafen konnte. Es war ein langer und ereignisreicher Tag gewesen. Seltsam, daß er sich so gut fühlte, obwohl sie das Spiel verloren hatten. Und obwohl seine Illusionen in Bezug auf Hikari geplatzt waren. Vielleicht... Ken’s Bild stieg vor seinem inneren Auge auf, der Geruch seiner Haare, der Geschmack seiner Lippen. Die Melancholie in seinem Blick. Bestimmt hatte er irgendein Geheimnis. Aber was konnte es sein? Daisuke rollte sich auf die andere Seite. ‘Wenn ich es heut‘ nicht rauskriegen kann, dann morgen ganz sicher.‘ Tsuzuku... Kapitel 3: Shinjitsu (Wahrheit) ------------------------------- Part 3: Shinjitsu (Wahrheit) “Nach der Schule im Computerraum!“ blinkte Koushirou‘s Nachricht auf dem D-Terminal. “Der Digimon Kaiser hat wieder zugeschlagen.“ “Was meinst du könnte es diesmal sein?“ fragte Takeru, als er mit Hikari durch die stillen Gänge des Schulgebäudes ging. “Einen großen Teil der DigiWelt haben wir ja schon wieder befreit. Ich hab‘ gar nicht mehr mitgezählt, wie viele dieser Dark Towers wir inzwischen zerstört haben.“ “Willst du meine ehrliche Meinung hören?“ “Natürlich, ich bin ja froh um alles, was uns weiterhelfen könnte. Wenn du eine Idee oder Theorie hast, dann bitte laß sie mich hören!“ Nachdenklich sah sie zum Fenster auf den Schulhof hinaus. “Es führt zu nichts, Takeru-kun. Wir zerstören die Dark Towers, der Kaiser stellt neue auf, und wir zerstören sie wieder. Es ist ein ewiger Krieg, ohne Sinn und Ziel. Wir sollten wirklich ernsthaft darüber nachdenken, unsere Strategie zu ändern!“ Takeru verzog das Gesicht zu einen gequälten Lächeln. “Ernsthaft nachdenken? Strategie?“ Sie bogen in den Gang, an dessen Ende der Computerraum lag. “Mit einigen Leuten aus unserem Team könnte das etwas problematisch...“ Ein Entsetzensschrei gellte durch das Schulgebäude, noch bevor Takeru seinen Satz beenden konnte. “Du hast waaaasss!“ “Du hast gesagt, ich soll ihm einen Kuß von dir geben, hat sie, oder hat sie nicht, Iori-kun? Ich versteh‘ überhaupt nicht, warum du dich so aufregst.“ “Ich soll mich nicht aufregen? Ich soll mich nicht aufregen! Du willst mir meinen Typen ausspannen, und ich soll mich nicht aufregen!“ Miyako’s Stimme überschlug sich, “Sag’ mal, du hast sie wohl nicht mehr alle!“ “Wollten wir nicht Kontakt mit der DigiWelt...“ Zaghaft versuchte Iori’s Stimmchen sich bemerkbar zu machen, fand aber keinerlei Gehör. “Bloß weil du bei Hikari-chan abgeblitzt bist, mußt du doch nicht gleich schwul werden. Obwohl, bei deiner Visage..“ “Schau dich mal im Spiegel an, du Schreckschraube, dann weißt du was eine Visage ist!“ “Leute, ich hab‘ eben die neuesten Daten heruntergeladen, und...“ “Mimi-Onee-sama, sagt, daß ich hübsch bin. Und Mimi-Onee-sama hat... “ “Ist das wieder ein Dark Tower, Izumi-sempai?“ “Allerdings, Iori-kun, das ist... “ “Mimi-Onee-sama! Wenn hier irgendwer schwul ist, dann du mit deiner Mimi-Onee-sama! Jedes zweite Wort von dir ist Mimi-Onee-sama....“ Die Tür wurde mit voller Wucht aufgerissen und knallte krachend gegen die Wand. Heraus stürmte eine verzweifelte Miyako und warf sich schluchzend in Hikari’s Arme. “Findest du mich häßlich, Hikari-chan?“ Daisuke stand ziemlich hilflos im Türrahmen und sah betreten drein. “Was hab‘ ich jetzt wieder gemacht?“ Takeru rang die Hände und wandte die Augen gen Himmel. “Oh, ihr Götter der DigiWelt, was habt ihr uns da nur angetan!“ Hikari grinste. “Sei nicht so streng mit ihnen, Takeru-kun, wir waren damals auch nicht viel besser.“ Einige Minuten später hatten die DigiRitter sich einigermaßen beruhigt und standen im Halbkreis um einen der PCs, wo Koushirou ihnen die neueste Karte der digitalen Welt zeigte. Die einzelnen Gebiete waren in Karos unterteilt, weiße Karos für die Regionen, die sie schon befreit hatten und schwarze Karos für diejenigen, die noch unter der Kontrolle des Digimon Kaisers standen. Inmitten einer großen weißen Fläche prangte ein einzelnes schwarzes Karo. “In diesem Gebiet wurde etwa vor vier Stunden ein Dark Tower errichtet,“ erklärte Koushirou. “Bis jetzt haben uns noch keine Hilferufe der dortigen Digimon erreicht, das Gebiet scheint weitgehend unbewohnt zu sein. Aber irgend etwas muß der Digimon Kaiser dort entdeckt haben, sonst hätte er sich nicht gerade dieses Gebiet ausgesucht.“ “Was könnte er dort wollen?“ überlegte Takeru. “Taktisch wäre es doch viel klüger, seine Grenzen zu verschieben, anstatt sich ein Gebiet aus der Mitte herauszupicken. Es ist von allen Seiten aus angreifbar, er wird es nicht lange halten können. Er muß etwas ganz Bestimmtes dort entdeckt haben.“ “Vor etwa vier Stunden, nicht wahr, Sempai?“ Hikari griff einen anderen Gedanken auf. “Das müßte gegen halb eins gewesen sein. Sieht so aus, als ob der Angriff während der Mittagspause stattgefunden hätte.“ “Mittagspause?“ fragte Daisuke zweifelnd. “Ja, stimmt schon, an den meisten Schulen ist die Mittagspause irgendwann zwischen halb zwölf und halb zwei.“ Hikari nickte. “Ist euch schon mal aufgefallen, daß die meisten Angriffe nachmittags, oder abends erfolgen. Nicht während der Schulzeit! Das spricht für die Theorie, daß der Kaiser tatsächlich ein Mensch ist. Während er in der Schule sitzt, kann er natürlich nicht in der DigiWelt herumgeistern.“ “Ich finde, wir sollten Hikari’s Gedanken auf alle Fälle weiter verfolgen!“ Daisuke griff nach seinem DigiVice. “Koushirou-sempai könnte zum Beispiel so eine Art Statistik aufstellen. Wenn er die Stundenpläne von den Schulen mit den Zeitpunkten der Angriffe vergleicht, kriegt er vielleicht raus, auf welche Schule der Kerl geht.“ Er nahm Chibimon auf den Arm. “Aber jetzt sollten wir in die DigiWelt, und dort nach dem Rechten sehen. Wozu sind wir schließlich die DigiRitter!“ Die Kinder hatten ihre DigiVices bereits auf den Bildschirm gerichtet, als Daisuke Miyako mit dem Ellenbogen anstieß: “Sag mal, Miyako-san, willst du nun deinen Kuß, oder nicht?“ “Den werd‘ ich mir schon selbst abholen, verlaß dich drauf!“ Miyako war wieder die Zuversicht in Person. “Digital Gate Open! Erabareshi Kodomo-tachi Start!“ DigiVice voran sausten die fünf in den Bildschirm, gefolgt von ihren Digimon. Wie immer digitierten Poromon, Upamon und Chibimon sofort aufs RookieLevel, als sie die DigiWelt erreichten. Tailmon und Patamon blieben so, wie sie waren. Als einziges Digimon der Kinder konnte Tailmon dauerhaft im ChampionLevel bleiben. “Wo sind wir hier?“ Daisuke sah sich um. “Ist das wirklich der Teil der DigiWelt, den der Kaiser unter seine Kontrolle gebracht hat?“ Auch Iori spähte angestrengt in die Ferne. “Ich kann hier nirgendwo einen Dark Tower entdecken.“ “Unsere Koordinaten stimmen.“ Wie immer traute Miyako ihrem Laptop weiter als ihren Augen. “Koushirou-sempai hat sich bestimmt nicht verrechnet.“ Sie befanden sich inmitten einer Felsenwüste. Weit und breit nichts außer Sand und Steinen, keine Digimon, keine Pflanzen, gar nichts. Was in aller Welt wollte der Digimon Kaiser mit einem solchen Gebiet? Wo es kein Leben gab, war auch nichts worüber er herrschen konnte. “Vielleicht ist es eine... “ Takeru kam nicht dazu den Satz zu beenden. Als Daisuke sich umdrehte, konnte er gerade noch sehen, wie Takeru, Hikari, Patamon und Tailmon im Sand versanken, als ob sich plötzlich der Boden unter ihren Füßen aufgelöst hätte. “Was ist hier los?“ schrie Miyako entsetzt. Einen Augenblick später sausten auch sie und Hawkmon nach unten, der Sand erstickte ihren Hilfeschrei. Iori versuchte nach ihr zu greifen und verschwand in Sekundenschnelle mit Armadimon in der Tiefe. Daisuke brach in die Knie und begann im Sand zu graben. Vielleicht war es Treibsand, seine Freunde würden ersticken, wenn er sich nicht beeilte. Warum nur war der Boden auf einmal wieder so fest? Und warum waren alle Spuren im Sand verschwunden? So, als ob niemals jemand hiergewesen wäre? “Daisuke!“ In einem verzweifelten Versuch, endlich beachtet zu werden, schlüpfte V-Mon zwischen Daisuke’s Arme und sah ihm ins Gesicht. “Sie sind nicht da unten! So können wir sie nicht finden!“ Daisuke ignorierte sein Digimon und buddelte weiter. Sand brannte in seinen Augen, aber er bemerkte es kaum. Seine Finger schmerzten, doch es war nicht wichtig. Er würde sie finden, egal was geschehen war, er würde sie retten. Der Wind trug das Lachen über die Wüste, höhnisch und grausam gellte es in den Ohren und brach sich an den Felsen in der Ferne. Sein verzerrtes Echo wurde zurückgeworfen und hallte am Horizont wieder, womöglich noch unbarmherziger als vorher. Obwohl es ihn schauderte, biß Daisuke die Zähne zusammen, er wollte keine Angst zeigen. “Macht dir wohl Spaß, im Dreck rumzuwühlen!“ verspottete ihn die Stimme. “Du bist genau da, wo du hingehörst!“ “Wo sind meine Freunde?“ schrie Daisuke. “Was hast du mit ihnen gemacht?“ “Im Augenblick warten sie noch auf dich. Noch. Sie können von Glück sagen, daß ich sehr viel Geduld besitze.“ “Daisuke, sieh‘ nur!“ V-Mon deutete in die Ferne. Am Horizont war jetzt deutlich der Umriß eines Dark Tower zu erkennen. Womöglich hatten die Luftspiegelungen der Wüste ihn vorher unkenntlich gemacht. “Geh‘ zum Teufel, du verfluchter Digimon Kaiser!“ Ohne lange zu überlegen sprang Daisuke auf und rannte auf den Tower zu. V-Mon folgte ihm. “Schwierig. Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, Unschuldslämmchen, ich bin der Teufel. Und du solltest dich etwas beeilen, denn deinen Freunden läuft die Zeit davon.“ Er wußte nicht, wie lange er gelaufen war, als um ihn herum die ersten großen Felsen auftauchten. Ihre zerklüfteten Gestalten ragten schattenhaft in einen düsteren Himmel, ihre Konturen verschwammen mit dem Nebel zu einem geisterhaften Grau. Und über allem thronte, gefährlich und geheimnisvoll, der Dark Tower. “Daisuke-kun!“ Hikari’s angsterfüllter Schrei gellte durch die Schlucht, und riß ihn aus seiner Trance. Er fuhr herum, und sah seine Freunde und ihre Digimon gefesselt von einer Felsenbrücke hängen. Sie waren so eingeschnürt, daß sie sich kaum bewegen konnten und unter ihnen tat sich ein Abgrund auf. “Wir wußten, daß du kommen und uns helfen würdest!“ Miyako’s Stimme klang erleichtert, fast zuversichtlich. Auch Iori rang sich ein Lächeln ab. “Mach‘ den Kerl fertig und dann nichts wie weg von hier!“ “Willkommen in meiner Hölle, du widerliche kleine Schmeißfliege von einem DigiRitter!“ Der Digimon Kaiser stand vor ihm, genauer gesagt, über ihm, auf der Spitze eines Felsens. Heulend fuhr der Wind durch sein zerzaustes blauviolettes Haar, zerrte an seinen Kleidern und bauschte den mächtigen Umhang. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen. Wie üblich hielt er es hinter seiner riesenhaften dunklen Brille verborgen, die im Dunkeln aufblitzte wie ein einzelnes dämonisches Insektenauge. Ohne jede menschliche Regung fixierte es Daisuke und er spürte, wie die Wut in ihm emporstieg. “Verfluchter Digimon Kaiser!“ Daisuke griff nach dem Digimental des Mutes und hob es hoch. “V-Mon, mach dich bereit zur...“ “Ist das eine Art mit seinem Kaiser zu sprechen?“ lachte die Gestalt auf dem Felsen. “Wird langsam mal Zeit, daß dir jemand ein paar Manieren beibringt!“ Mit einer herrischen Geste warf er den Umhang zurück und deutete auf den Abgrund unter der Felsenbrücke “Deltamon!“ Sand wirbelte auf. Die Felsen erzitterten und kleine Gesteinsbrocken wurden in der Luft herumgeschleudert. Daisuke schloß die Augen, und schlug schützend die Hände vors Gesicht. Sofort sprang V-Mon schützend vor ihn, um sicherzugehen, daß er nicht von etwas getroffen wurde. Da es viel zu klein war, um irgendetwas ausrichten zu können, hüpfte es aufgeregt auf und nieder. Das Wesen, das sich aus dem Abgrund erhob, war mit Abstand das schauderbarste Geschöpf, das Daisuke je zu Gesicht bekommen hatte. Sein Kopf schien nur aus einem einzigen riesigen Rachen mit gewaltigen Zähnen zu bestehen, den es nun unter den verzweifelten DigiRittern aufsperrte. Es ging aufrecht, auf zwei Beinen, und hatte kräftige Arme, aber keine Hände. Aus den Armstümpfen wuchsen zwei weitere Köpfe, nicht minder furchterregend als der erste. Alle drei Rachen waren nun weit geöffnet und nur wenige Meter von seinen Freunden entfernt. Ob es von Natur aus böse war, wußte Daisuke nicht, aber der schwarze Evil Ring, der sich um seinen Körper spannte, war Beweis genug, daß es jedem Wink des Digimon Kaisers gehorchen würde. Die anderen DigiRitter waren in höchster Gefahr. “Tu ihnen nichts,“ schrie Daisuke entsetzt, als die Köpfe sich bedrohlich seinen gefangenen Freunden näherten, “laß sie gehen!“ Der Digimon Kaiser verzog das Gesicht zu einem hinterhältigen Grinsen. “Erste Lektion in gutem Benehmen, kleiner Schreihals: Einem Kaiser befiehlt man nicht, man bittet ihn! Und zwar auf Knien.“ Als Daisuke verzweifelt in die Knie brach, wurde das Grinsen noch hämischer. “Und an deiner Anredeform solltest du auch noch etwas feilen. Wie wäre es denn mit ‘Euer Majestät‘? Oder...hm, mir fällt da sicher noch was Besseres ein. Sagen wir doch ‘Allmächtiger Tennoh, Herrscher über Leben und Tod.‘ Kannst du dir das merken, du Wicht, oder bist du zu blöd dazu?“ “Kuso!“ fluchte Daisuke mit zusammengebissenen Zähnen. “Ich werde...“ “Du wirst zusehen, wie deine Freunde sterben, wenn du nicht tust wie dein Tennoh dir befielt!“ Das Gesicht des Kaisers verzerrte sich vor Wut. “Deltamon!“ Das gewaltige Digimon reckte einen seiner Arme und ein aufgesperrter Rachen näherte sich Takeru. “Kümmere dich nicht um mich!“ rief er, als seine Haare und Kleider in Deltamon’s Atem zu flattern begannen. “Du mußt kämpfen, Daisuke-kun, gib nicht auf!“ Er versuchte angestrengt, nicht nach unten zu sehen. “Allmächtiger Tennoh, Herrscher über Leben und Tod,“ Daisuke’s Stimme zitterte, noch nie in seinem ganzen Leben war er so gedemütigt worden, “bitte seid gnädig und schont das Leben meiner Freunde!“ “Gut, sehr gut!“ Der Kaiser brach in ein meckerndes Lachen aus, das von den Felswänden widerhallte. In Sekundenschnelle war er wieder todernst und Daisuke glaubte das haßerfüllte Blitzen seiner Augen selbst hinter den dunklen Gläsern seiner Brille wahrnehmen zu können. “Aber leider nicht gut genug! Wo bleibt die Verbeugung?“ Daisuke neigte den Kopf und preßte Stirn und Handflächen gegen den harten Untergrund, daß es weh tat. Schmerz gegen Schmerz. Anders konnte er es nicht mehr ertragen. Seine Freunde zählten auf ihn, jetzt war er vollkommen auf sich allein gestellt. Alles hing jetzt von seiner Fähigkeit ab, sich beherrschen zu können. Er war ein DigiRitter, er durfte seine Freunde nicht im Stich lassen, ganz egal welches Opfer ihm abverlangt wurde. “Nicht tief genug! Deine Stirn ist nicht am Boden, wo sie hingehört, willst du deinen Tennoh verärgern?“ zischte der Digimon Kaiser. “V-Mon! Du solltest etwas nachhelfen – mit deinem Fuß!“ “Daisuke,“ wimmerte V-Mon, “ich kann doch nicht...“ “Mach schon, V-Mon, stell den Fuß auf meinem Kopf. Irgendwann werden wir’s ihm heimzahlen, verlaß’ dich drauf.“ “Gomen, Daisuke!“ Das Digimon stieß einen Schluchzer aus und gehorchte. Daisuke war schon oft auf jemanden wütend gewesen, aber das was er jetzt empfand, war nicht damit zu vergleichen. Es war Haß, purer Haß, der in diesem Augenblick in seiner Seele hochwallte. Es war ein Brennen, das von seinem Herzen Besitz ergriff und sich allmählich im ganzen Körper ausbreitete. Er wußte nicht, wie lange er in dieser erniedrigenden Position verharrte. Er hörte Schritte, die sich ihm langsam näherten, aber er wagte nicht den Kopf zu heben. So lange der Kaiser mit ihm beschäftigt war, würde er zumindest den anderen nichts antun, soviel war sicher. Er mußte versuchen, irgendeinen Plan zu schmieden, den Kaiser irgendwie abzulenken, damit V-Mon sich vielleicht davonstehlen, und die anderen losbinden... Ein Zischen durchschnitt die Luft, wurde lauter, als es auf ihn hernieder sauste und endete in einem ohrenbetäubenden Knall. Sekunden später spürte er ein furchtbares Brennen auf seinem Rücken, und jeder Versuch einen klaren Gedanken zu fassen, löste sich in rasenden Schmerz auf. ‘Er hat mich geschlagen,‘ schoß es ihm durch den Kopf, ‘er hat mich tatsächlich geschlagen. Bei allen Göttern, wie ich ihn hasse! Nur jetzt nicht weinen, das würde ihm Spaß machen. Nur nicht weinen!‘ Er biß die Zähne zusammen, als er erneut das Geräusch der Peitsche in der Luft hörte und wartete auf den nächsten Schlag. Das wäre die Gelegenheit für V-Mon sich davonzuschleichen, er glaubte nicht, daß der Kaiser noch auf das Digimon achtete. Aber wie sollte er V-Mon etwas mitteilen? Konnte er etwas in den Sand schreiben, ohne daß der Kaiser es merkte? Der nächste Schlag blieb aus. Er hörte, wie sein Feind die Peitsche in den Gürtel zurücksteckte und offensichtlich etwas anderes daraus hervorholte. Was immer es auch sein mochte, es würde Daisuke keine Angst machen, das nahm er sich fest vor. Eine Hand griff in seine Haare und zog seinen Kopf hoch. “Hast du denn überhaupt keinen Stolz?“ fragte die Stimme des Digimon Kaisers dicht an seinem Ohr. “Läßt du alles mit dir machen, nur wegen ein paar anderer Kinder, die dir eigentlich egal sein könnten?“ “Sie sind mir aber nicht egal!“ Daisuke spürte, wie er allmählich den Kampf gegen die Tränen verlor. “Sie sind meine Freunde und ich hab‘ sie lieb!“ “Wie rührend! Ich fang‘ gleich an zu heulen,“ verspottete ihn der Digimon Kaiser. Er hielt seine andere Hand vor Daisuke’s Gesicht und Daisuke konnte nun deutlich den Gegenstand erkennen, den er darin hielt. Es war eine Sanduhr. “Nun höre, du Wurm!“ Die Stimme hatte wieder ihren offiziellen Charakter angenommen. “In meiner unendlichen Großmut, habe ich, der Herrscher über alle Digimon, beschlossen, diesen armseligen Wichten ihr Leben zu schenken.“ Er machte eine Pause, um seine Worte auf Daisuke wirken zu lassen. “Allen – außer einem! Und da ich mich heute so gut amüsiert habe, gewähre ich dir sogar noch eine weitere Gunst.“ Seine Finger spielten mit Daisuke‘s Haar und ließen es dann ruckartig los. “Du darfst dir persönlich aussuchen, wen von deinen sogenannten Freunden du am wenigsten ‘lieb‘ hast.“ “Du meinst...“ Daisuke konnte nicht glauben, daß jemand so grausam sein konnte. “Ich meine.“ Langsam drehte sich die Sanduhr in den Händen des Digimon Kaisers. “Wenn du keine Entscheidung getroffen hast, bevor das letzte Sandkorn den Boden erreicht, werden alle sterben!“ “Das... das kannst du nicht machen.“ Daisuke versagte die Stimme. Wut, Haß und Verzweiflung mischten sich in seinem Herzen zu unbändigem Schmerz. Er würde keine, er konnte keine Entscheidung dieser Art treffen. Niemals! “Ich kann! In der Welt der Menschen magst du vielleicht Macht über mich besitzen, aber hier habe ich die alleinige Macht!“ Der Digimon Kaiser hatte plötzlich angefangen zu schreien. “Und ich werde dich diese Macht spüren lassen!“ In der Welt der Menschen? Macht über ihn? Was in aller Welt meinte er damit, Daisuke konnte sich nichts darunter vorstellen. War er dem Digimon Kaiser schon mal irgendwo begegnet? Die Rufe seiner Freunde rissen ihn in abrupt in die Wirklichkeit zurück.. “Du mußt mich wählen,“ schrie Takeru, “Iori ist noch so klein, und die Mädchen... daran darfst du nicht einmal denken!“ “Das ist doch Blödsinn,“ rief Iori. “Auf mich könnte ihr am ehesten verzichten!“ “Aber ich bin die Älteste,“ erklärte Miyako bestimmt. “Ich hab‘ schon mehr erlebt, als die anderen, es wäre nicht fair, wenn sie das nicht erleben dürften.“ “Daisuke-kun,“ Hikari’s Stimme war ruhig und sehr eindringlich, “nichts von alledem ist fair, egal was du tust. Aber bitte wähle mich, damit die anderen am Leben bleiben. Bitte.“ “Kuso!“ schrie Daisuke, “oh verdammt, verdammt, verdammt, ich kann das nicht!“ Die Tränen stürzten ihm die Wangen hinunter, alles verschwamm vor seinen Augen. Was willst du denn noch, ich mach’ doch alles, was du verlangst,“ schluchzte er, “dir geht es doch gar nicht um sie, sondern darum, daß du mich quälen willst!“ “Ach, hast du das auch schon bemerkt?“ höhnte der Digimon Kaiser, “bist ja richtig intelligent. Kommt das vielleicht von der Taucherbrille?“ Er verzog das Gesicht zu einem grausamen Lächeln. “Aber du hast vollkommen recht, eine bessere Möglichkeit, dich zu quälen, gibt es überhaupt nicht! Das ist die gerechte Strafe dafür, daß du versucht hast, in mein Reich einzudringen und mir meine Macht streitig zu machen. Quae sunt Ceasaris Ceasari!“ Er warf die Sanduhr zu Boden, der Sand war abgelaufen. “Sieh zu, wie sie sterben!“ “Töte mich,“ flehte Daisuke unter Tränen. “Laß sie gehen, und töte mich an ihrer Stelle. Du hast gesagt, du wirst alle, bis auf einen am Leben lassen. Dann nimm mich und laß die anderen frei!“ “Nicht genug damit, daß du dich für sie demütigen läßt, nun willst du auch für sie sterben.“ Kopfschüttelnd sah der Kaiser ihn an. “Soviel Dummheit läßt sich ja gar nicht mehr in Worte fassen.“ “Jeder von ihnen würde dasselbe für mich tun!“ Daisuke setzte sich auf. “Weil sie mich nämlich auch lieben. Aber jemand wie du kann das natürlich nicht begreifen! Weil dich niemand liebt und du...“ “Du wirst es nicht glauben, das wußte ich,“ Sein Feind grinste, und seine Stimme klang beinahe fröhlich. “Schon lange, bevor ich in diese Welt kam und zum Digimon Kaiser wurde!“ “...und du auch niemanden liebst. Weil du das nämlich überhaupt nicht kannst!“ “Verschon mich,“ unterbrach ihn der Digimon Kaiser. “Das Wort Liebe hab‘ ich schon vor sehr langer Zeit aus meinem Wortschatz gestrichen. Es gibt da nämlich ein paar andere Wörter, die es sehr viel genauer treffen. Wie wäre es zum Beispiel mit Abhängigkeit? Unterwerfung! Machtverlust! Jemanden zu lieben bedeutet, ihm Macht über sich zu verleihen. Sich in seine Abhängigkeit zu begeben! Ich habe mir vor langer Zeit geschworen, daß nie wieder jemand Macht über mich besitzen wird. Nie wieder! Ich habe die alleinige Macht!“ Er warf den Kopf zurück und lachte, das häßliche grausame Lachen, das Daisuke inzwischen so gut kannte. Abrupt hörte es auf und seine Augen sprühten Blitze hinter den dunklen Brillengläsern. “Und du hast es gewagt, meine Macht anzuzweifeln!“ zischte er, “du hast es gewagt, in mein Leben einzubrechen, und alles auf den Kopf zu stellen, mit deinem sentimentalen Gefasel und deinen unsinnigen Luftschlössern! Du wolltest Macht über mich und das werde ich niemals, niemals zulassen! Du hast mich gedemütigt und dafür wirst du bezahlen!“ Seine Stimme klang jetzt überhaupt nicht mehr zuversichtlich, sondern eher wie die des kleinen Jungen, der sich hinter Brille, und Umhang verbarg. ‘Wenn er nicht ein solches Arschloch wäre,‘ dachte Daisuke mit grimmiger Miene, ‘könnte er einem beinahe leid tun.‘ “Genug geredet, das Spiel ist zu Ende.“ Er schluckte heftig, anscheinend befürchtete er schon zuviel über sich verraten zu haben. “Du hast eine Bitte geäußert und ich werde sie dir gewähren.“ Er wies mit dem Finger auf Daisuke. “Töte ihn, Deltamon!“ Donnernd stapfte das riesige Digimon auf Daisuke zu und blieb nur wenige Meter vor ihm stehen. In seinen drei Rachen sammelte sich blaues Feuer. Daisuke stand auf und wischte sich das Gesicht ab. Keine Tränen mehr, Schluß damit! Auf dem Boden kriechend würde er seinem Schicksal bestimmt nicht begegnen. “Ich werd’ dich beschützen, Daisuke!“ “Natürlich wirst du das.“ Er hob V-Mon hoch und nahm es auf den Arm. Am liebsten hätte er ihm befohlen, zu fliehen und sich zu verstecken, aber er wußte, es würde nicht gehorchen. Es war sein Digimon und würde bei ihm bleiben. Bis zum bitteren Ende. Trotzig schluckte er seine Angst hinunter und sah dem Energieball entgegen, der sich vor Deltamon’s Köpfen formte. Wenigstens würde es nicht mit Zähnen und Klauen angreifen, das wäre sehr viel unangenehmer geworden. Von dieser Attacke würde er vermutlich gar nicht allzuviel mitbekommen. Tapfer widerstand er dem Drang die Augen zu schließen. Es würde gleich vorbei sein. “Big Crack!“ Unter Deltamon brach plötzlich der Boden auf, und die riesige Bestie geriet ins Wanken. Der Energieball sauste knapp an Daisuke und V-Mon vorbei, und schlug zischend und krachend in den Felsen ein. “Digmon!“ Fassungslos sah Daisuke seinem Retter entgegen. “Wie ist das möglich!“ “Sanctuary Bind!“ Seite an Seite gingen Neferitimon und Pegasmon zum Angriff über. Hikari und Takeru schmiegten sich eng an die Rücken ihrer Digimon, um von der Wucht ihrer gemeinsamen Attacke nicht heruntergeschleudert zu werden. “ Tempest Wing!“ Auch Horusmon griff in den Kampf ein, Miyako klammerte sich an seinen Rücken, ihr langes Haar wehte wie eine Fahne hinter ihr her. Ungläubig wechselte Daisuke’s Blick zwischen seinen kämpfenden Freunden und ihren gefesselten Ebenbildern an der Felsenbrücke. Was ging hier vor? “Wormmon, du nutzloses Ding!“ brüllte der Kaiser sein Digimon an. “Wie konntest du sie nur entkommen lassen!“ “Gomen, Ken-chan.“ Ängstlich duckte es sich zu Boden, doch der Kaiser beachtete es überhaupt nicht mehr, er plante bereits seinen nächsten Zug, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen. “Ihr seid dran, Bakemon!“ Bakemon! Die Geist-Digimon, die ihre Gestalt wechseln konnten. Das also war des Pudels Kern! Angewidert und zugleich fasziniert beobachtete Daisuke wie sich die Bakemon in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelten. Er war getäuscht worden! Die ganze Zeit! Und sie hatten so verdammt echt ausgesehen! Unglaublich! “Digimental Up!“ Daisuke griff nach seinem DigiVice, und hielt es in die Höhe. Es wurde höchste Zeit in den Kampf einzugreifen, er war schon lange genug untätig herumgestanden. “V-Mon Armor Shinka – Moeruna no Yuuki: FlaDramon!“ “Hilf den anderen gegen die Bakemon!“ rief Daisuke seinem Digi-Partner zu. Er selbst hatte jetzt einen anderen Kampf zu bestehen. Nicht nur tobte in ihm die Wut über die angetanen Demütigungen, er wollte die ganze Sache ein für allemal beenden. Schluß mit den Scharmützeln gegen gefangene Digimon, die nicht wußten, wie ihnen geschah. Jetzt würde er denjenigen zur Rechenschaft ziehen, der wirklich für das alles verantwortlich war. Der Digimon Kaiser hörte ihn nicht kommen, er war viel zu beschäftigt, auf den Kampf zu achten und Befehle in der Gegend herumzubrüllen. Wormmon krabbelte ihm in den Weg, aber er sprang mit einem Satz über es hinweg, dieser Winzling konnte ihn nun wirklich nicht aufhalten. Mit einem Wutschrei stürzte er sich auf seinen Feind und riß ihn zu Boden. Keuchend rollten sie den Abhang hinunter und schlugen in besinnungsloser Wut aufeinander ein. Daisuke fühlte überhaupt nicht, wohin ihn die Schläge trafen, sein Herz raste vor Rachedurst, seine Seele war nur von einem einzigen Gedanken besessen: Vergeltung für die ihm angetane Schmach. “Nun sieh mal einer an, hast endlich hassen gelernt,“ fauchte der Digimon Kaiser, “lange genug hat es ja gedauert!“ Als er die Faust hob, um nach Daisuke zu schlagen, rutschte der Ärmel seines Gewandes zurück und gab den Blick auf sein Handgelenk frei. Etwas war daran festgebunden, aber Daisuke konnte in der Hitze des Kampfes nicht genauer erkennen, was es war. Er blockte den Angriff seines Feindes mit dem eigenen Arm und traf auf etwas Hartes, das zwischen ihren Fäusten zerbrach. Der eine Teil davon baumelte immer noch am Handgelenk des Kaisers, den anderen hielt nun Daisuke in der Hand. Was immer es sein mochte, die frische Bruchstelle war messerscharf, eine bessere Waffe hätte er gar nicht finden können. “Jetzt erst ist das Spiel wirklich zu Ende!“ Er setzte dem anderen Jungen die Klinge an den Halsansatz. “Stoß zu, wenn du den Mut hast!“ Trotzig warf der Digimon Kaiser den Kopf in den Nacken, und bot seinem Feind die Kehle dar. Durch die heftige Bewegung ritzte die Spitze die Haut, und ein einzelner Blutstropfen erschien in der Halsgrube, lag auf der blassen Haut wie eine rubinrot schimmernde Perle. “Du bist doch total krank,“ sagte Daisuke verächtlich und ließ die Klinge sinken, “ hast nix im Kopf außer Kämpfen und Umbringen. Kann man mit dir überhaupt noch normal reden, du Spinner?“ Blitzschnell schnellte der Arm des Digimon Kaiser nach oben, packte Daisuke’s Hand und versuchte ihm den Gegenstand zu entwinden. “Und du bist hoffnungslos naiv! Du wirst nie begreifen, worauf es wirklich ankommt!“ Wieder bebte der Boden und Daisuke wurde von irgendetwas durch die Luft geschleudert. Benommen blieb er einige Meter entfernt liegen. Erst als er den Kopf hob, bemerkte er, daß er genau vor Deltamon’s Füße gefallen war, das regungslos dastand, und die Befehle seines Herrn abwartete. Jetzt sammelte es wieder Energie in seinen Mäulern, um für den nächsten Angriff bereit zu sein. “Du hättest mich töten sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest,“ sagte der Digimon Kaiser böse und verzog das Gesicht zu einem grausamen Lächeln. “Sayonara, Motomiya Daisuke-kun.“ Woher kannte der Kerl seinen Namen? Wie war das möglich? “So geht’s aber nicht!“ Mit einem gewaltigen Satz sprang FlaDramon vor Daisuke, und wehrte den Energieball mit seiner eigenen Attacke ab. Anschließend stürzte es sich, Kopf voraus, auf den Evil Ring des Monsters, der mit einem ohrenbetäubenden Klirren zerbrach. Deltamon brüllte laut auf, als es von der Gehirnwäsche befreit war. Zu Daisuke’s Überraschung und Erleichterung griff es jedoch niemanden an, sondern suchte so schnell wie möglich das Weite. Vermutlich hatte es ein ziemliches Trauma hinter sich und wollte sich in Sicherheit bringen, bevor ihm noch etwas zustieß. Da Deltamon nun keine Gefahr mehr für Daisuke darstellte, machte FlaDramon sich nicht die Mühe es zu verfolgen, sondern wandte sich seinem Schützling zu. “Bist du verletzt, Daisuke?“ erkundigte es sich besorgt. Etwas abwesend schüttelte Daisuke den Kopf, er versuchte immer noch verzweifelt die Teile des Puzzles zusammenzufügen. Woher kannte der Digimon Kaiser seinen Namen? Wo konnten sie sich in der realen Welt begegnet sein? Er senkte den Blick und bemerkte, daß seine Hand immer noch den zerbrochenen Gegenstand umklammert hielt. Kein Zweifel, es war ein Teil des Amuletts, das er vorgestern noch getragen hatte. Aber wie gelangte dieses Amulett in die Hände des Digimon Kaisers? Sollte das etwa bedeuten, daß... Nein, unmöglich! Viele Menschen trugen solche Amulette, es konnte auch ein Zufall sein. Es mußte ein Zufall sein! Oh bitte, laß es einen Zufall sein! “Das ist nicht möglich,“ stammelte Daisuke. “Was?“ fragte der Digimon Kaiser gelassen. “Redest du davon?“ Er hob den Arm, an dem der andere Teil des Amuletts festgebunden war. “Oder meinst du vielleicht das hier?“ Mit einem Kopfnicken deutete er nach unten und Daisuke sah den rasch größer werdenden Blutfleck auf seinem rechten Hosenbein. Am Schienbein. Etwas oberhalb des Knöchels. War das bei ihrer Rauferei passiert? Oder schon davor? So viele Zufälle auf einmal konnte es nicht geben! Oder doch? Spielte seine Phantasie ihm einen Streich? “Ich glaub’s nicht!“ Fassungslos schüttelte Daisuke den Kopf. “Ich glaub’s einfach nicht! Das ist ein Trick! Das kann einfach nicht wahr sein!“ “Glaubst du es jetzt?“ Der Digimon Kaiser nahm die Brille ab und Daisuke blickte in die spöttischen Augen von Ichijouji Ken. “Du bist der Digimon Kaiser...“ Daisuke versagte die Stimme, er konnte nicht weitersprechen. “Du hast mich... du hast mich die ganze Zeit... warum?“ Er stieß einen Wehlaut aus und preßte beide Hände gegen die Brust. “Du solltest wissen, wann ein Kampf verloren ist.“ Ken schien sich an Daisuke’s Verzweiflung zu weiden. “WEISST DU DENN NICHT, DASS DIE DUNKELHEIT IMMER TRIUMPHIEREN WIRD? SELBST ÜBER DIE AUFRICHTIGE UND REINE LIEBE EINES UNSCHULDIGEN MENSCHENHERZENS. Merk dir das für die Zukunft, mein kleiner Waldschrat!“ Er setzte die Brille wieder auf und stieß einen lauten Pfiff aus. Sofort kam ein drachenähnliches Digimon angeflogen und fiel vor ihm zu Boden, damit er auf seinen Rücken steigen konnte. “Falls du eine hast!“ Das Digimon preschte zwischen den Felsen hindurch und verschwand im Nebel. Alles was zurückblieb, war ein höhnisches Lachen, das leiser und immer leiser wurde, bis es schließlich verklang. Daisuke stand regungslos da, bis seine Beine plötzlich nachgaben und er beinahe zu Boden stürzte. Jetzt erst war es ihm möglich zu schreien, er schrie, bis er keine Luft mehr bekam und Tränen seine Stimme erstickten. Es fühlte sich an, als ob etwas in ihm zerrissen wurde. Er hatte immer geglaubt, es sei nur eine Redensart, wenn jemand behauptete, das Herz tue ihm weh. Aber jetzt wußte er, daß er sich geirrt hatte. Sein Herz schmerzte in seiner Brust wie eine tödliche Wunde. Waren Stunden oder nur Minuten vergangen? Er wußte es nicht. Irgendwann kamen die anderen angelaufen, redeten auf ihn ein, wollten wissen, ob ihm etwas passiert sei. V-Mon antwortete ihnen und erklärte in Kurzfassung, was geschehen war. Seine Freunde nickten verständnisvoll und hakten nicht weiter nach, schließlich war es ein traumatisches Erlebnis, vom Digimon Kaiser gefangengenommen, und allen möglichen grausamen Spielen unterzogen zu werden. Mehr erfuhren sie ohnehin nicht, da V-Mon selbst nicht genau wußte, was eigentlich los war. An Daisuke zogen die Gespräche der anderen vorüber wie Wolken, die der Wind über den Himmel trieb. Sie führten eine Diskussion darüber, wer sie befreit haben könnte, kamen aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Koushirou hatte einen Fernseher ausfindig gemacht, durch den sie in die reale Welt zurückkehren konnten und sie verabredeten sich für den folgenden Tag im Computerraum. Dann trennten sie sich und machten sich auf den Heimweg. Er schaffte es sogar zum Abschied zu lächeln und zu sagen, daß alles in Ordnung sei. Mechanisch ging er den gewohnten Weg nach Hause. Sein Vater war noch nicht von der Arbeit zurück, und seine Mutter telephonierte mit einer Freundin. Aus dem Zimmer seiner Schwester plärrte Nanjo Koji irgendetwas von Herz und Schmerz, bis es seiner Mutter zuviel wurde und sie seine Schwester anbrüllte, sie solle die Musik leiser drehen, von dem Krach bekäme sie Kopfschmerzen. Daisuke verkroch sich in sein Zimmer und schaltete seine eigene Anlage ein, um den Lärm zu übertönen. Er wußte nicht, wie er den Rest des Tages herumbrachte. Schularbeiten, das gemeinsame Abendessen, die anerkennenden Worte seiner Eltern, die sich über die gute Mathematiknote freuten. Die Hänseleien seiner Schwester. Die Extraportion Essen verstecken, die er für Chibimon ins Zimmer schmuggeln mußte. Und doch versuchte er das Schlafengehen hinauszuzögern. Der Gedanke, im stillen dunklen Zimmer zu liegen und auf den Schlaf zu warten, der nicht kommen würde, erschien ihm unerträglich. Er wartete, bis seine Eltern ihn zum dritten Mal ermahnt hatten, bevor er sich in sein Zimmer verzog. Erst nachdem seine Mutter ihm einen Gute-Nacht-Kuß auf die Stirn gedrückt und die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, steckte er seinen Kopf unters Kissen und begann leise zu weinen. Chibimon sagte nichts, aber es schlüpfte auch unter das Kissen und fing an, sein Gesicht zu streicheln. Daisuke drehte den Kopf auf die andere Seite. Irgendwann mußte er doch eingeschlafen sein, denn das schrille Geräusch, das ihn aufgeweckte, war nichts anderes als das Klingeln des Telephons, und Minuten später hörte er die wütende Stimme seiner Mutter: “Nein, Sie können jetzt niemanden sprechen, es ist drei Uhr morgens, und wir möchten bitte in Ruhe schlafen. Auf Wiederhören!“ Er sprang aus seinem Bett, jagte in den Flur hinaus und riß seiner überraschten Mutter den Hörer aus der Hand, bevor sie auflegen konnte. “Was soll der Krach?“ Der verschlafene Kopf seiner Schwester erschien im Türspalt ihres Zimmers. “Daisuke, wieso bist du nicht im Bett?“ schimpfte seine Mutter und versuchte ihm den Hörer wieder wegzunehmen. “Das geht wirklich nicht, um diese Zeit, du hast morgen Schule! Und...“ Daisuke flüchtete mit dem Telephon in sein Zimmer und schloß die Tür ab. Er hörte noch, wie seine Schwester beruhigend auf seine Mutter einredete und sie von seiner Zimmertür wegführte. “Das wird morgen ein Nachspiel haben,“ tönte es noch aus dem Flur, bevor sich endlich die Türen schlossen und wieder Ruhe einkehrte. Daisuke holte tief Luft. Manchmal war er richtig dankbar, daß es seine Schwester gab. Mit Sicherheit würde sie ihn morgen löchern, was dieser geheimnisvolle Anruf zu bedeuten hatte. Aber das machte nichts, bis dahin würde er sich schon etwas einfallen lassen. Jetzt gab es wichtigere Dinge. Tsuzuku... Epilog: Kizuna (Gefühlsbande) ----------------------------- Author’s Note: Mit diesem Epilog ist Ashita wa kitto abgeschlossen. Wer aber noch mehr über das Schicksal von Hikari, Takeru, Ken, Daisuke, Miyako und Iori in meinem DigiVerse erfahren möchte, kann sich an folgenden Geschichten austoben: Mukashi Mukashi Ein Märchen aus der Digiwelt. Eine alte Legende. Ein Fluch, der vor langer Zeit gebrochen wurde. Doch jetzt, drei Jahre später sind Takeru und Hikari mit drei neuen Digirittern in die Digiwelt zurückgekehrt und müssen sich neuen Gefahren stellen. Wird der Gedanke an die Vergangenheit ihnen auch diesmal genügend Kraft geben, sie zu bestehen? Digimon 24 Die folgenden Ereignisse finden am 31.Mai 2002 zwischen 12 Uhr mittags und 12 Uhr mittags des folgenden Tages statt: Eine seltsame Macht entführt Hikari ans Meer der Dunkelheit. Zur gleichen Zeit ereilt die DigiRitter aber ein Hilferuf. File Island wird vom Digimon Kaiser angegriffen. * * * Epilog: Kizuna (Gefühlsbande) Daisuke war unter seine Bettdecke gekrabbelt, damit niemand das Gespräch von draußen mithören konnte. Er lag ausgestreckt auf dem Bauch und stützte sich mit den Armen aufs Kopfkissen. Seine Hand zitterte so sehr, daß er Angst hatte, das Telephon fallenzulassen. “Was willst du?“ Verzweifelt bemühte er sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. “Nur ein Versprechen.“ Ken’s Stimme am anderen Ende der Leitung klang seltsam tonlos. “Das nächste Mal, wenn wir uns wiedersehen, egal ob in der DigiWelt oder irgendeiner anderen, darfst du nicht zögern, sondern mußt tun, was getan werden muß.“ “Ich soll was?“ Vor Schreck ließ Daisuke das Telephon fallen. Zum Glück landete es nur auf dem Kissen, und die Verbindung wurde nicht unterbrochen. “Du hast mich schon verstanden.“ “Daß bei dir ‘ne Schraube locker ist, wußte ich!“ fauchte Daisuke, “aber so wie’s aussieht, ist ja schon das ganze Getriebe im Arsch!“ “Ist es dir lieber, wenn ich dich töte? Oder deine Freunde?“ Daisuke’s Verwirrung schien Ken nicht im mindesten zu beeindrucken, offensichtlich hatte er mit einer derartigen Reaktion gerechnet. “Willst du daran schuld sein, wenn einem von deinen Freunden etwas zustößt?“ “Du versuchst schon wieder, mich mit meinen Freunden zu erpressen, langsam hab‘ ich’s aber echt satt!“ Daisuke hatte sich jetzt richtig in Fahrt geredet. Er hob das Telephon wieder auf, und schimpfte hinein: “Ich werd‘ nichts dergleichen tun, du blöder Idiot, das kannst du dir abschminken! Ich hab‘ deine Spielchen satt bis obenhin!“ “Es ist kein Spiel mehr. Schon lange nicht mehr. Das war es vielleicht am Anfang, aber inzwischen hat sich alles geändert. Das Böse ist viel zu mächtig geworden, ich kann es jetzt nicht mehr aufhalten! Deshalb hängt nun alles von dir ab, du mußt diesen Alptraum beenden! Bitte!“ “Wovon redest du überhaupt, Ichijouji-kun?“ Verzweifelt versuchte Daisuke einen Sinn in den Worten seines Gesprächspartners zu erkennen. “Ich versteh‘ nicht, was du meinst!“ “Ichijouji-kun? Ichijouji Ken gibt es längst nicht mehr, es gibt nur noch den Digimon Kaiser! Er ist durch und durch böse und wird nicht eher Ruhe geben, bis er die DigiWelt erobert hat. Er wird alle vernichten, die sich ihm dabei in den Weg stellen, ganz egal ob Mensch oder Digimon. Du mußt verhindern, daß das geschieht, du mußt ihn aufhalten! Es ist deine Pflicht als DigiRitter!“ “Ja.“ Daisuke schluckte heftig und seine Hand krallte sich ins Kopfkissen. “Ja, ich werde ihn aufhalten. Aber nicht so. Es muß doch eine andere Lösung geben!“ “Die gibt es nicht. Dafür ist es jetzt schon zu spät. Ich habe den Kampf gegen das Böse verloren, die Macht der Dunkelheit war zu stark für mich.“ Er seufzte leise. “In diesem Leben kann ich mich nicht mehr davon befreien.“ “Nein, sag‘ so was nicht“ protestierte Daisuke heftig, “du mußt weiterkämpfen! Du mußt dagegen ankämpfen. Ich hab‘ doch auch gekämpft, obwohl es von vornherein klar war, daß wir das Spiel verlieren würden, weißt du noch? Und deine letzte Torchance hab‘ ich dir vermasselt. Weil ich es immer wieder versucht hab‘! Weil ich nicht aufgegeben hab‘!“ “Ich weiß. Deine Hartnäckigkeit in solchen Dingen ist bewundernswert. Und sie ist nur eine deiner vielen liebenswerten Eigenschaften.“ Bewundernswert? Liebenswert? Daisuke glaubte, sich verhört zu haben. War das derselbe Junge, der ihn noch vor wenigen Stunden aufs ärgste gedemütigt und beinahe getötet hätte? Aber Ken ließ ihm keine Zeit sich über diese Worte zu freuen: “Alle deine Anstrengungen haben nichts an der Tatsache geändert, daß ihr das Spiel verloren habt. Manchmal sind Hartnäckigkeit und guter Wille einfach nicht genug, manchmal bräuchte man eben ein... ein Wunder.“ Er stockte, als könne er es nicht glauben, ein solches Wort in den Mund genommen zu haben. Seine Stimme klang leise und eindringlich, als er weiterredete: “Aber ich bin Stratege und deshalb glaube ich nicht an Wunder. Dieses Spiel kann nur auf zwei mögliche Arten beendet werden: Der Digimon Kaiser vernichtet die DigiRitter oder die DigiRitter vernichten den Digimon Kaiser. Eine dritte Lösung gibt es nicht und je eher du das begreifst, desto besser! Wenn du nicht mit allen Mitteln kämpfst, hast du nicht den Hauch einer Chance! Jedes Zögern kann für dich und deine Freunde den Tod bedeuten, ganz zu schweigen, was dann mit den Digimon und ihrer Welt geschieht. Und das ist keine Erpressung, Motomiya-kun, es ist einfach nur eine ganz schlichte Tatsache.“ Es gab nichts, was Daisuke darauf hätte antworten können. Was hätte er dieser Argumentation auch entgegenbringen sollen? Überzeugt war er trotzdem nicht. “Warum das alles?“ fragte er leise, “was ist bei dir schiefgelaufen? Du bist ein DigiRitter wie wir, eigentlich müßtest du an unserer Seite stehen und mit uns zusammen das Böse bekämpfen!“ “Ich bin das Böse, hast du das etwa schon vergessen? Ich bin schon mit einem bösen Herzen zur Welt gekommen, es war nur eine Frage der Zeit, bis die Dunkelheit Kontrolle über mich erlangt. Ich war noch nie so wie du oder die anderen DigiRitter! Erinnerst du dich, daß ich dir von meinem Bruder erzählt habe? Meine bösen Gedanken haben seinen Tod verursacht und damals war ich viel jünger als jetzt.“ “Du hast... deinen eigenen Bruder...“ stammelte Daisuke. “Das erschreckt dich, nicht wahr? Langsam sollte dir klar werden, daß ich zu allem fähig bin, wenn ich die Kontrolle über mich verliere. Ich bin wie ein Youma, der durch seine Blutgier immer mehr zum Monster wird, bis jede Erinnerung an die Zeit getilgt ist, in der er noch eine menschliche Seele besaß. Es gibt keine Möglichkeit den Bann zu brechen, keine Möglichkeit die Zeit zurückzudrehen, und aus dem Dämon wieder einen Menschen zu machen. Nicht einmal der Tod kann seine Seele noch der Dunkelheit entreißen, es sei denn... “ “Sag‘s nicht,“ bat Daisuke, und kämpfte gegen das trockene Schluchzen in seiner Stimme, “ich weiß was du meinst, aber es ist doch nur eine Legende. Nicht mehr als ein Märchen.“ Auch Ken hatte große Mühe, seine Stimme ruhig zu halten, aber er redete weiter, ohne auf Daisuke’s Einwurf zu achten: “Es sei denn, er stirbt durch die Hand eines Menschen, der ihn geliebt hat, bevor er zum Dämon wurde. Nur dann ist seine Seele gerettet und kann wahrhaftig frei sein.“ “Hör auf!“ schluchzte Daisuke, “ich hab‘ dir gesagt, du sollst so was nicht sagen. Ich will nicht gegen dich kämpfen. Es ist nicht fair, einfach nicht fair!“ Tränen erstickten seine Stimme. “Nein, ist es nicht. Aber...“ Ken wollte noch etwas hinzufügen, überlegte es sich jedoch anders, als er Daisuke’s herzzerreißendes Weinen hörte. “Hör zu, ich mach‘ jetzt besser Schluß, denn alles was ich sage, verletzt dich nur. Ich möchte dir nicht noch mehr Schmerz zufügen, als ich es sowieso schon getan habe. Wenn du nochmal in Ruhe über alles nachgedacht hast, wirst du hoffentlich einsehen, daß ich Recht habe, und mich aufhalten, bevor ich dir oder deinen Freunden etwas antun kann. Ich erwarte nicht, daß du mir irgend etwas versprichst, ich bitte dich nur darum. Und vielleicht... vielleicht kannst du mir irgendwann sogar verzeihen... “ “Leg‘ jetzt nicht auf, bitte!“ schluchzte Daisuke, “leg‘ bitte nicht auf. Ich hab‘ dir doch schon längst verziehen. Ich glaub‘ nicht, daß es deine Schuld ist! Es ist irgendwas anderes, aber jetzt ist es weg und deswegen rufst du mich mitten in der Nacht an, weil du mit mir reden willst, bevor es wieder zurückkommt. Vielleicht ist jetzt das letzte Mal, daß wir miteinander reden können!“ Erschrocken stockte er. “Ichijouji-kun? Bist du noch da?“ “Es ist das letzte Mal,“ flüsterte Ken, “und bitte hör‘ auf zu weinen. Sonst muß ich auch weinen...“ “Das machst du doch schon die ganze Zeit.“ Daisuke lächelte unter Tränen. “Denkst du, ich hör‘ das nicht?“ Für eine Weile schwiegen sie beide. Daisuke drehte sich auf den Rücken, schloß die Augen und horchte auf das Geräusch von Ken’s Atemzügen. Es schien so nahe zu sein. Als ob er tatsächlich da wäre und nicht irgendwo am anderen Ende der Stadt. “Kennst du einen Ort in der DigiWelt, der Hajimarinomachi heißt?“ Es schien als ob Ken nach irgendeiner Möglichkeit suchte, das Schweigen zu brechen. “Hajimari no Machi? Stadt des Anfangs?“ Daisuke überlegte angestrengt. “Nein, von so einem Ort hab‘ ich noch nie gehört. Warum fragst du?“ “Die Digimon reden davon. Die ganze Zeit. Daß sie sich dort wiedersehen werden und daß die Evil Rings dann keine Gewalt mehr über sie haben. Aber inzwischen hab‘ ich die gesamte DigiWelt kartographiert, und diese Stadt nicht gefunden. Sie muß an einem ganz besonderen Ort liegen.“ “Es gibt jemand, den ich fragen könnte und dann sag‘ ich dir...“ Daisuke stockte. “Ach, vergiß es! Das geht ja nicht!“ Verlegen senkte er die Stimme. “Jetzt hätt’ ich beinahe vergessen, daß... tut mir leid.“ Er brach ab. “Ich schätze, wir werden wohl nicht zusammen in der Nationalmannschaft spielen,“ sagte er schließlich, nur um etwas zu sagen, denn die Stille wurde ihm unerträglich. “Nein, wohl nicht. Vielleicht... vielleicht in einem anderen Leben.“ “Ja, vielleicht.“ Er kam sich so entsetzlich dumm vor. Sie würden bestimmt nicht mehr lange reden können und gerade jetzt fiel ihm überhaupt nichts ein, was er Ken sagen konnte. Er wünschte sich, durch die Leitung kriechen zu können, um ganz nah bei ihm zu sein. Dann hätte sich das Problem von selbst erledigt! Wenn man mit jemandem zusammen war, mußte man nicht die ganze Zeit reden. Nur am Telephon schienen Pausen immer so schrecklich lang zu sein. “Sag‘ mal,“ fragte Ken schließlich, “hast du einen Computer in deinem Zimmer?“ “Nein, warum?“ Etwas verwirrt verzog Daisuke das Gesicht. “Nur eine alberne Idee, reden wir nicht mehr darüber.“ Wieder schwiegen sie sich an. Daisuke wurde den Verdacht nicht los, daß Ken einen ähnlichen Gedanken verfolgt hatte, wie er selbst. “Du willst mich treffen?“ fragte er ungläubig, “ich check‘ zwar nicht so ganz, was der Computer damit zu tun hat, aber das heißt es doch, nicht wahr? Oder bilde ich mir nur was ein?“ “Nein, hast schon den richtigen Riecher gehabt. Aber, selbst wenn es möglich wäre, wir dürfen uns nicht wiedersehen. Erstens wäre es viel zu gefährlich für dich und außerdem würde es alles nur noch viel komplizierter machen. Wahrscheinlich wäre es ohnehin besser für dich gewesen, wenn wir uns nie begegnet wären. Nicht so. Nicht im wirklichen Leben. Dann wäre ich nur ein namenloser Feind und das würde vieles einfacher machen.“ “Hör auf,“ unterbrach ihn Daisuke, “es ist, wie’s ist und wir können nichts dran ändern. Es wird schon irgendeinen Grund dafür geben, daß wir uns getroffen haben. Vielleicht war’s Schicksal. Vielleicht gibt’s auch Dinge, die wir jetzt einfach noch nicht verstehen können. Du darfst nicht immer alles so hoffnungslos sehn, hab‘ doch ein bißchen Vertrauen! Vielleicht wird doch noch alles gut..“ “Es wird alles gut, Motomiya-kun. Wenn es dir und deinen Freunden gelingt, das Böse zu besiegen und die DigiWelt zu retten, bevor jemand von euch zu Schaden kommt, dann ist wirklich alles gut. Mehr wünsche ich mir gar nicht.“ Er machte eine Pause, unschlüssig ob er weitersprechen sollte, entschied sich aber dafür, es doch zu tun. “Nur eins noch, wenn es dir möglich ist. Behalt‘ mich so in Erinnerung, wie du mich beim Spiel kennengelernt hast.“ “Für mich wirst du immer Ken sein, und niemals der Digimon Kaiser,“ flüsterte Daisuke. Er griff unter sein Kopfkissen und umklammerte den zerbrochenen Anhänger, der darunter lag. Ob Ken den anderen Teil noch am Handgelenk trug? “Daisuki... ich meine, Daisuke...“ Auch Ken’s Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Er stockte verlegen, als er merkte, daß er sich versprochen hatte. “Uhm, ich meine...“ “Ja?“ fragte Daisuke, “meinst du das wirklich? “Ich... uh... du, es hilft alles nichts, wir müssen jetzt wirklich Abschied nehmen. Laß es uns nicht noch schwerer machen, als es sowieso schon ist.“ Daisuke nickte und schluckte die Tränen hinunter. “Mach’s gut, Ken.“ “Du auch, Daisuke. Ich bin froh, daß ich dich kennenlernen durfte, trotz allem was geschehen ist. Meine Gedanken werden bei dir sein, solange es mir noch möglich ist. Das verspreche ich dir.“ “Es gibt auch etwas, das ich dir versprechen möchte. Das, worum du mich vorhin gebeten hast. Aber nur, wenn du ganz sicher bist, daß es keine andere Lösung gibt, hörst du? Nur wenn du ganz sicher bist!“ “Ganz sicher, sonst hätte ich niemals darum gebeten. Ich bin dir sehr dankbar. Jetzt kann ich ruhig schlafen, denn ich weiß, daß dieser Alptraum bald ein Ende hat.“ ‘Ich glaub‘ nicht, daß ich jetzt noch schlafen kann‘, dachte Daisuke, aber das sagte er nicht. Für einen Moment glaubte er, Ken’s Geruch in der Nase zu haben, aber das war sicher nicht mehr als Einbildung. Das Telephon klickte leise. Eine Weile hielt er es noch in der Hand, bevor er es beiseite legte. Die Leuchtziffern auf seinem Wecker zeigten 3:45. “Ich dich auch, Ken“, sagte er leise in die Dunkelheit. Owari Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)