Black Hole Sun von Dels ================================================================================ Kapitel 12: [ Sound of silence ] -------------------------------- Was soll ich machen? Da steh ich nun, ich armer Tor! Was ist nur mit Juno passiert? Haben sie ihn erwischt? Aber wie das, er war doch so gut versteckt! Oder sind sie uns gefolgt? Heimlich. Oh ja, sicher. Ich könnte mich schwarz ärgern! Eigentlich ist die Sache schon glasklar. Das Auto gehörte schliesslich diesen blöden Kleiderschränken, ergo wird an dem Wagen sicher ein Peilsender gewesen sein. Am Unterboden, oder schlicht und einfach nur ein Handy im Handschuhfach, das ich vielleicht übersehen habe. So ein verdammter Mist! Sie haben gewartet, bis ich Juno allein lasse und haben ihn dann gecasht. Hätte ich mir doch auch denken können! Wenn schon Spionagefilm, dann auch mit allen Extras - Sendern und Wanzen und dem ganzen JamesBond-Equipment. Das ich eigenlich haben sollte, immerhin bin ich hier der Gute. Und was habe ich? Plastiktüten voll Frauenkleidung um die Welt zu retten. Nicht mal ein Bruce Willis-Unterhemd hab ich! Was also tun?.. Wie es ihm wohl geht? Das Prasseln gegen das Trottoir wirkt einschläfernd und ich werde immer müder, ohne es zu wollen. Stumpf starre ich durch die großen Fenster des Cafés nach draussen, wo sprichwörtlich die Welt untergeht. Es ist stockdunkel geworden, der Regen immer heftiger, der Wind pfeift durch die Gassen. Auf den Strassen nur noch ein paar flüchtende Menschen, die sich vor den Güssen in Sicherheit bringen. Das Café ist durch den Regen ziemlich voll geworden, um mich schütteln Hunde ihr Fell aus, Frauen jammern über ihre zunichte gemachte Frisur, Männer bestellen heisse Getränke mit alkoholischen Zusätzen - wobei ich fast glaube, dass das Mischverhältnis wohl umgekehrt ist. Trotz des Unwetters sind sie fröhlich und lachen, reden angeregt, warten bis der Regen abnimmt und gehen dann wieder heim. Und ich? Ich bin müde und vollgestopft mit Sorge. Wenn der Regen aufhört, werde ich nach draussen gehen und Juno suchen. Aber ich weiß nicht wo. Wahrscheinlich ist er schon gar nicht mehr in dieser Stadt. In meinem Schwarztee schwimmt eine halbe Scheibe Zitrone und trudelt im Kreis. Ja, genauso fühle ich mich auch. Ich drehe mich im Kreis, ich weiss auch nicht, was ich machen soll. Und weg kann ich auch nicht, der Tassenrand passt schon auf, dass ich nicht in die Freiheit trudle. Aber! Was, strenggenommen hält mich jetzt eigentlich noch davon ab? Mein Verstand schüttelt den Kopf und meint, dass ich schon längst in einer Maschine nach Deutschland sitzen könnte. Ein Anruf bei Angie und sie würde alles für mich klären, Flug bezahlen, Ausreisebescheinigung, wenn ich ganz lieb BitteBitte sage, holt eine ihrer Freundinnen mich vielleicht sogar vom Flughafen ab. Morgen um diese Zeit könnte ich mir einen schönen, gemütlichen Abend auf der Couch machen oder mich in die Clubs stürzen und diese zwei unschönen Tage in Russland in mein Unterbewusstsein verdrängen, das irgendwann aufbrechen würde und mich in meinen Alpträumen heimsuchen wird, Nacht für Nacht, bis ich verrückt werde und zum Psychater muss, der alles aus mir herauskitzeln wird, was hier passiert ist, mich somit für völlig plemplem erklärt und ins nächste Irrenhaus verfrachtet, wo ich sabbernd für den Rest meines Lebens auf einem Kinderstuhl vor mich hinvegetieren werde. .... Gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber im Grunde könnte ich jetzt wirklich nach Hause. Ich habe doch getan, was ich konnte, oder? Hab ich Juno nicht schon zweimal das Leben gerettet? Oder sogar dreimal? Ich kann schliesslich nicht immer aufpassen, irgendwann hätten sie ihn so oder so erwischt. Nur mit dem Unterschied, dass ich spätestens dann wohl ne hübsche kleine Metallkugel zwischen den Augen stecken hätte. Also besser so, als letzteres. Nein, niemand kann sagen ich wäre ein Feigling, immerhin habe ich mich in den letzten Tagen mehr als einmal in Lebensgefahr gestürzt für den kleinen Kerl! Und ich kann jetzt überhaupt garnichts mehr machen! Juno ist weg und ich mittellos. Ich wüsste nicht einmal, wo ich ihn suchen soll, von den Entführern hab ich keinerlei Infos. Zu wem gehören sie und wo verstecken sie sich jetzt, nachdem das Labor zerbröselt ist? Und selbst wenn ich das wüsste, ich könnte als einzelner ja doch nichts unternehmen. Pah, seien wir mal ehrlich, selbst James Bond ist ohne die Unterstützung seiner Majestry, seinem Auto und seinen vielen kleinen Spielzeuge ein Nichts! Ach, ich sollte nach Hause. Der Regen lässt langsam aber sicher nach, die Leute im Café machen sich zum Gehen fertig. Mein halber Tee ist kalt geworden. Die Zitrone schwimmt immernoch drinnen und macht überhaupt nichts. Seufzend stütze ich mich auf mein Kinn, das auch schonmal ne bessere Rasur gesehen hat. Worauf warte ich noch? Alles schreit doch nach dem Heimweg. Ich fühle mich nicht wohl hier, ich sollte alles lieber vergessen. Aber irgendwie.. "Mister? Your taxi is waiting for you!" Die Bedienung lächelt und nickt in Richtung Fenster. Irritert werfe ich einen Blick durch die getrübte Scheibe und tatsächlich steht ein Taxi direkt vor dem Café. "Miss, I think this is not my taxi, I didn't.." Sie nickt und lächelt noch breiter. "Oh, the man next to you said you need a taxi to get to the airport! He ordered the taxi for you!" Welcher Mann? Ach ja.. ich erinnere mich. Er saß mit an meinem Tisch, weil alle freien Tische schon belegt waren. Warum sollte er ein Taxi für mich bestellt haben? Zum Flughafen. Irgendwie schrillt grade eine Alarmglocke in meinem Kopf. Das war keine gütige Hilfestellung eines Hellsehers. Irgendjemand will mich so schnell wie möglich heimbringen und somit meine Entscheidung erleichtern. Ich frage die Bedienung, wo der Mann hinging, während ich bezahle. Sie schüttelt den Kopf und bedankt sich für das Trinkgeld. Der Taxifahrer wirkt gelangweilt und blättert in einer Zeitschrift. Ich versuche krampfhaft, mich an das Gesicht des Mannes zu erinnern. Es war ein älterer Herr mit strähnigem Haar, unauffällig, ganz normal. Ein russischer Opa, der einen Grog trinkt und wieder geht, nachdem der Regen aufgehört hat. Er hat mich ebensowenig angesehen wie ich ihn. Oder habe ich das bloß nicht bemerkt? Werde ich beobachtet? Wer will mich da so unerhört offensichtlich nach Deutschland zurückbringen? * * * * "Was macht er?" Es ist warm und stickig in dem engen Raum, der fast so finster ist, wie die Nacht draussen. Ein Bildschirm zeigt in grünen Tönen den Fensterausschnitt des Cafés und den Raum dahinter. "Er macht garnichts. Glotzt blöde die Tussi an." "Trottel!" flucht die Stimme aus dem Kopfhörer. "Der Kleine ist nicht wieder gekommen?" "Nichts. Scheinbar hat er ihn versteckt, ah! Jetzt steht er auf! Er geht raus!" "Zum Taxi?" "Ja, er redet mit Ralv. Er nickt. Jetzt steigt er ein!" "Gut, dann bleib an ihm dran, bis er am großen Kreuz vorbei ist. Dann übernehmen wir. Derek soll in der Nähe bleiben, falls der Kleine doch noch auftaucht!" "Alles klar!" Der junge Mann zieht den Kopfhörer von den Ohren und klopft gegen die Wand aus Blech. "Los!" Das Taxi vor ihnen setzt sich langsam in Bewegung, gleichzeitig blinkt ein verbeulter Minibus und fädelt sich hinter dem Taxi in den Verkehr ein. **** Der Taxifahrer labert gutgelaunt in einem grotesken Mischmasch aus Englisch und Deutsch auf mich ein und ich wünsche, er möge doch seine gottgegebene Klappe halten. Das Bäumchen am Rückspiegel verströmt baumelnd einen penetranten Kokosgeruch, aufdass mir vollends schlecht werde. Wenn er nur quasseln würde, könnte ich ja noch vor mich hindösen, aber nein, er muss mich ja dauernd nach irgendwelchen Dingen fragen, für die ich jetzt überhaupt keinen Nerv habe. Ob ich denn schon oft hier war, wie denn die Taxen so in Deutschland wären, wie mir der Urlaub gefallen hätte.. blabla, eigentlich typisches Frisörgelaber. Seine kleinen Augen blinzeln mich verschmitzt durch den Rückspiegel an und er schielt ein wenig. Und fluchen kann er. Und hält an Ampeln, die gerade auf Gelb schalten. Idiot. "Sie haben nicht eilig, oder? Wissen, bin nämlich eine von careful driver in ganze Stadt, habe noch kein einzig Unfall gemacht, immer careful driver, hehe!" Er lacht und glotzt durch den Rückspiegel. Genervt höre ich weg und versuche mich zu entspannen. Die Heimreise ist jetzt also sicher. Jemand will, dass ich nach Hause fliege, also werde ich das tun, ich habe keine Lust, mich mit einer organisierten Bande auseinanderzusetzen. Tja. Vorbei mit Agent-spielen. Hat irgendwie auch ne kleine Weile Spass gemacht. Solange keine Waffen im Spiel sind. Mal sehen. Was würde ein Geheimagent ihrer Majestät in dieser Situation machen? Natürlich würde er jetzt erst recht versuchen.. "Sie haben gerade die Abfahrt verpasst!" rufe ich dem Geschichten erzählenden Russen dazwischen, er stutzt kurz, dann schüttelt er lachend den Kopf. "Nein nein, das für Touristen! Taxi hat erh.. wie nennt man, wenn schnell geht..?" "Eine Abkürzung." "So, Abkurzung, ja! Is schnell." "Ah so." Komischer Kauz. Überhaupt... Ich werfe einen Blick auf das Amaturenbrett und runzle die Stirn. Die Taxiuhr läuft nicht. Der Fahrer redet nur noch mehr sinnloses Zeug. Ist er nervös? Er schielt immer öfter in den Rückspiegel. "Was ist das für ein Gebäude da vorne?" frage ich plötzlich interessiert, der Fahrer folgt meinem Blick und sucht den Horizont ab. In dem Moment drehe ich den Kopf und sehe einen verbeulten Minibus hinter uns. Sieht aus wie ein ehemaliger Hippie-FlowerPower-Bus, doch der Fahrer passt absolut nicht zum Gefährt. Während der Taxifahrer irgendetwas über das fragliche Gebäude erzählt, nimmt in meinem Kopf ein spezieller Gedanke Gestalt an. Das Taxi biegt ab, der Minibus folgt. Die Richtung ist definitiv nicht mehr als flughafentauglich zu beschreiben. Selbst mein Bauch meldet jetzt höchstes Unwohlsein. "Entschuldigung, könnten Sie dort kurz halten? Ich möchte mir noch etwas für den Flug kaufen!" Ich deute auf eine Tankstelle und der Fahrer nickt nach kurzem Zögern. "Oh, ich werde noch kurz auf die Toilette gehen! Warten Sie bitte solange!" "Okey, keine Problem! Warten auf Sie!" grinst der Fahrer und lässt mich aussteigen. Ohne Hast latsche ich in den Tankstellenshop und gehe zielstrebig in den hinteren Bereich. Sofort verschwinde ich hinter einem Ständer mit Tüchern und luge durch einen kleinen Spalt nach draussen. Mein Taxifahrer redet. Währenddessen schaut er immer wieder zum Laden rüber. Den Minibus sehe ich jetzt auch, er hat auf der gegenüberliegenden Strassenseite geparkt. So ein mieser kleiner Bastard! Meint ihr, ich bin zu blöd um zu sehen, was hier abläuft? Wir fahren nicht zum Flughafen und das ist auch kein Taxi. Und niemand hat Interesse daran, mich nach Hause zu begleiten und zuzusehen, wie ich aller Welt von Sladis' Geheimlabor und dessen Erzeugnissen erzähle. Bei der Erkenntnis wird mir heiss und kalt. Ich bin gerade Gegenstand eines x-beliebigen Thrillers geworden - ich bin zu gefährlich für die Bösen und sie wollen mich auf unauffällige Weise loswerden. Und ich Hammel glaube an das Gute in den Menschen und an hilfsbereite Russen, die mir ein Taxi bestellen. Wie konnte ich nur so blauäugig sein! Ich muss weg hier, so schnell und so weit wie nur möglich! "Gibt es hier eine Toilette? WC? Toilet?" frage ich die Kassiererin, aber sie legt den Kopf schief. "Only personal" versucht sie mir klarzumachen, aber meinem Hundeblick kann sie nicht widerstehen und deutet auf die Tür hinter der Theke. Mit einem Luftkuss verschwinde ich dahinter und sehe mich in einem kurzen Gang wieder. Rechts eine Mini-Toilette. Links das kleine Lager mit einer Tür - der perfekte Hinterausgang! Schnell bin ich nach draussen verschwunden und pirsche mich um das Tankstellengebäude herum. An einem Durchgang spähe ich zur Fahrbahn hin, wo der Taxifahrer jetzt sichtlich nervös ans Lenkrad trommelt und unablässig auf die Eingangstüre starrt. Er redet wieder, scheint sich über etwas aufzuregen. Der Minibus steht ebenfalls noch an seiner Stelle. Lange wird es nicht dauern, bis einer von beiden seinen Wagen verlässt und nach mir Suchen geht. Ich sollte schleunigst verschwinden. Und das tue ich jetzt auch. Die Rückseite der Tankstelle mündet in einem Hof, wo ein niedriger Zaun meine Flucht kaum verhindert. Weiter geht es über den Nachbarhof, durch die Einfahrt in die Seitenstrasse. Und wohin jetzt? Also gut - wir spielen Räuber und Gendarm - überleg dir deshalb gut, wo du dich verstecken gehst, Klement. Wenn sie ihren Agenten haben wollen, sollen sie ihn jetzt auch bekommen! **** Ob die Idee gut war oder nicht, wird sich noch herausstellen. Aber im Augenblick scheint sie mir geradezu fantastisch. Ich bin innerhalb von zwei Minuten komplett von der Erde verschwunden. Zwar ohne übernatürliche Hilfsmittel wie Juno das gemacht hätte, dafür durch Muskelkraft. Dunkelste Schwärze und grässlicher Gestank hüllt mich ein und ich fühle kalte Feuchtigkeit in der Luft. Trotzdem eine Eingebung des Himmels. Wieder bin ich im Untergrund, in der Kanalisation der Stadt diesmal. Das Versteck ist perfekt. Erstens würde das sicher keiner vermuten und zweitens kann ich mich in alle Richtungen bewegen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Langsam bekomme ich wirklich Übung darin, wegzulaufen und mich zu verstecken. Ich könnte fast kichern vor Schadenfreude, wenn ich an den Taxifahrer denke, der jetzt sicher schon das arme Mädchen in der Tanke zur Rede stellt, wo ich abgeblieben bin. Weg ist er, der Klement und niemand weiß, wo er ist. Der Taximensch wird wohl ganz schönen Ärger bekommen. Aber das soll mich nicht kümmern, ich habe wesentlich mehr Probleme. Das größte Problem ist kalt, nass, kniehoch, stinkt und heisst Abwasser. Durch den vielen Regen ist das Wasser gestiegen und so komme ich nur langsam voran. Das Gute daran ist, dass der ganze Dreck hier unten dadurch so verdünnt ist, dass ich nicht des Gestankes wegen nach einer Minute in Ohnmacht falle. Aber mühsam ist es. Und verdammt kalt noch dazu. Aber ich habe schon Schlimmeres durchgestanden. Mir fällt jetzt zwar grade nichts ein, aber in Anbetracht meiner derzeitigen Lage kann ich mir gut vorstellen, dass mir in nächster Zeit auch durchaus etwas ungleich Schlimmeres zustossen könnte. Also sollte ich meine missliche Lage geniessen, solange sie noch gerade so misslich ist wie jetzt. **** "Wo zur Hölle ist Richter!?" Dem Techniker kreischt das Ohr und er hebt den Kopfhöhrer einige Zentimeter vom Kopf. Die Stimme ist noch immer mehr als deutlich zu vernehmen. "Verschwunden, Sir. Wie vom Erdboden verschluckt! Er hat wahrscheinlich was gerochen und die Flucht ergriffen. Ralv sagt, er hatte auf die Toilette gewollt und wäre durch den Hinterausgang verschwunden!" "Dann sucht gefälligst die Strassen ab! Weit kann er zu Fuß doch nicht kommen!" "Wir tun unser Bestes! Aber er scheint sich zu verstecken. Würde er weiterflüchten, müssten wir ihn sehen. Ich glaube, er hat sich irgendwo verkrochen und wartet, bis wir wieder abziehen." "Da kann er warten, bis er schwarz wird! Sie suchen weiter! Und zwar solange, bis Sie ihn haben, ist das klar? Wagen Sie es nicht, ohne Richter bei uns aufzukreuzen!" Der Techniker schaltet die Verbindung ab und stöhnt hingebungsvoll. Ausgerechnet ihm muss sowas passieren! Und auch noch beim ersten Einsatz! Dabei war er doch so schon aufgeregt genug. Blöder Kerl! Was lässt er diesen Richter auch aussteigen?! Sie waren schon fast am Kreuz gewesen, aber nein! Sein erster Auftrag wäre glänzend gewesen, durch die ganze Stadt ohne Probleme und die letzten paar Meter... So ein Ärger! Jetzt blieb es an ihm und Ralv hängen, ob sie Richter fanden oder nicht. Erst das Kind und jetzt auch noch Richter. Weiß der Teufel, wie er den Sender bemerkt hat - das Auto ist quasi verschwunden. Und mit ihm der Junge. Aber wenigstens diesen Richter hatten sie aufstöbern können - und nun passiert sowas! Argh! Naja, ärgern hilft auch nichts. Sein Kollege Timo sucht schon seit einer Viertelstunde mit dem Wagen die Strassen ab, genau wie Ralv und zwei andere Autos, die er nicht kennt, aber von Richter ist keine Spur. In ein paar Minuten kommen noch vier weitere Fahrzeuge, dann werden sie ihn ganz sicher aufscheuchen. "Fahr nochmal den Block.." brummt der junge Mann, der kaum Mitte zwanzig ist, als der Fahrer des Kleinbusses fragend durch die Scheibe nach hinten streckt. "Die Anwohner gucken schon alle aus dem Fenster. Wird das langsam nicht zu auffällig, Simon? Die anderen fahren die Strasse auch schon das zehnte Mal rauf und runter!" Verflucht, er hat Recht. Das unauffällige Verschwinden von Klement Richter ist somit schonmal zunichte gemacht. Aber darauf können sie jetzt auch keine Rücksicht mehr nehmen. Dieser Richter ist unheimlich gefährlich - und vielleicht garnicht so dumm, wie sie alle gedacht haben. * * * * "Hatschiehu!" Na toll. Der heroische Agent schlägt sich durch Labyrinthe, überlebt Mordanschläge, entflieht dem Kugelhagel und krepiert schliesslich an einer ordinären Erkältung. Ich hatte noch nie etwas übrig für die Ironie des Lebens. Langsam beginne ich an der guten Idee zu zweifeln, hier heruntergestiegen zu sein. Das Wasser ist so verdammt eisig, schon nach ein paar Minuten sind meine Füße komplett eingefroren. Und ich komme alles andere als schnell voran. Aber wenigstens sehe ich, wo ich hinlaufe. Als ob mir das was bringen würde, denn Orientierung ist gleich Null. Irgendwann in nächster Zeit sollte ich wohl noch mal einen Blick an die Oberfläche werfen. Nicht, dass ich dann damit was anfangen könnte, denn ich habe auch oberirdisch keinen blassen Schimmer, wo ich bin. Im Grunde bin ich aufgeschmissen, denn ich habe keinen Plan, wie es weitergehen soll. Das Schlimmste ist wohl, dass ich meine Feinde nicht kenne. Wie weit reicht ihre Kontrolle? Moskau? Russland? Ganz Europa? Was mache ich, wenn ich es bis nach Deutschland schaffen sollte? Bin ich dann endlich in Sicherheit oder werden sie mich dort mit offenen Armen in meiner eigenen Wohnung empfangen? Ein Risiko darf ich nicht eingehen, sonst ist alles für die Katz. Also gehen wir davon aus, dass ich ihnen schon sehr wichtig bin. Zu wichtig, um an der russischen Grenze einfach aufzugeben. Dann habe ich schon im Vornherein verloren. Meine Wohnung in Deutschland ist gestorben. In was bin ich hier nur reingeraten?! Angie ist zum Glück bei ihrer Freundin und wird dort noch über eine Woche bleiben, ihr passiert also vorläufig nichts. Und meine Eltern? Meine anderen Freunde? Sind sie jetzt etwa alle in Gefahr? Und ich? Ich kann nicht mehr nach Hause, also wohin soll ich eigentlich laufen? Ich sag ja, das sind fast schon mafiaähnliche Zustände hier! Spontan bleibe ich stehen und frage mich, wohin ich mich wenden soll. Ich habe kein Ziel! In meine Wohnung kann ich nicht, meine Freunde - zu gefährlich, die haben sie sicherlich auch schon herausbekommen. Vielleicht werden sie sogar schon überwacht? Zu meinen Eltern kann ich auch nicht, das ist gleich die nächste verdächtige Adresse. Also was tun? Mal sehen... warum.. kann ich mich nicht einfach der Polizei anvertrauen? Das ist doch wohl das Naheliegendste in meiner Situation! Ich habe Juno nicht mehr bei mir, also gibt es deswegen auch keine Schwierigkeiten mehr. Und wenn die Polizei von dem Labor erfährt, kann sie vielleicht herausfinden, wer mir diese Killer auf den Hals hetzt. Andererseits wollen sie dann alles wissen. Warum der Professor und ich von Sladis eingeladen wurden. Warum ich nicht sofort zur Polizei gegangen bin, als ich hierhergeflohen bin. Würde ich von Juno erzählen? Was aus ihm geworden ist? Ich weiss es nicht. Ach.. wo steckst du, Juno? Bist du noch am Leben? * * * * "So ein Zuckerbienchen! Na komm her, gib dem lieben Onkel mal das Händchen!" "Trem, lass sie in Ruhe, mach ihr keine Angst!" "Ach, lass ihm doch den Spass. Er wird sie schon nicht kaputtmachen." "Wenn du sie angrapschst, zeig ich dich an!" "Mensch Mil, ich bin doch nicht pädophil! Ich find sie einfach nur niedlich!" "Ja, komm mal wieder runter mit deinem Moralquatsch. Ausserdem gefällt's ihr doch! Da guck wie sie lacht!" "Na und!? Ich hab zuhause auch ein 10-jähriges Mädchen und will nicht, dass irgend ein Trottel sie angrabbelt! Ich hab dich im Auge, Alter!" "Was soll die Scheisse, ich spiel doch nur mit ihr!" "Idioten! Könnt ihr mal bitte mithelfen, anstatt mit kleinen Mädchen zu spielen?!" "Mach du mal. Irgendjemand muss sich schliesslich um den Besuch kümmern, den du mit angeschleppt hast." "Konnte ich doch nicht wissen, dass auf der Rückbank ein Mädchen pennt! Ausserdem musste ich mich beeilen!" "Dann beeil dich mal. Wir setzen sie später irgendwo in der Stadt aus." "Bist du verrückt, nachher verläuft sie sich.. oder fällt irgendeinem Perversen in die Hände. So einem wie dir zum Beispiel!" "Arschloch!" Ein Schraubenschlüssel fällt klirrend zu Boden und nötigt die drei Männer nach unten zu sehen. Unter dem schwarzen Wagen rollt ein junger Bursche grinsend ins Freie. "Fertig! Hübsche Beute. Den kriegen wir schnell wieder los. Allerdings.. ich glaube nicht, dass das eine Alarmanlage war, was ihr da zerdeppert habt.." "Was denn sonst? Vielleicht ein ganz neues Modell." "Sieht mir eher nach was anderem aus.. aber sonst hab ich nichts gefunden." Der Bursche zuckt mit den Schultern und feuert die protestierenden Überreste eines hochtechnischen Gerätes flegelhaft in die Ecke. "Sehr schön, sehr schön, Lole. Hauptsache das Auto ist sauber. Den kriegen wir schon los.. äh..also! Was machen wir jetzt mit dem Mädchen?" "Hey, Kleines. Wie heisst du?" "Ist sie stumm?" "Nein, sie ist blöd." "Halt die Klappe. Sie ist vermutlich intelligenter als du. Was auch nicht schwer ist.." "Nein echt jetzt, ich glaub sie hat einen Schuß oder so.. sagt nur solche Sachen wie 'Baum' oder 'Auto'. Und irgendwas mit Klemmbrett oder sowas.." "Vielleicht ist sie geistig behindert?" "Noch ein Grund, sie nicht einfach irgendwo aus dem Auto zu schmeissen. Die verläuft sich doch und fällt irgend so einem Perv.." "Halt die Klappe, ich bin nicht pervers!!" "Und was sollen wir stattdessen mit ihr machen? Hierbehalten, bis die Eltern bei uns an der Tür klingeln und sagen: Oh, ihr unschuldigen Jungs habt ganz sicher unser Kind irgendwo aufgelesen.. und natürlich saß sie nicht in unserem Wagen, der abgeschlossen war!" säuselt Mil mit zwitschernder Stimme. "Blödmann! Man kann sie bei der Polizei abgeben!" "Sicher. Die kommt uns dann auch ne Stunde später besuchen, um unseren kleinen Fuhrpark zu begutachten. Wird uns sicher zu den ganzen Cabrios und Mercedes beglückwünschen und sagen, dass wir feine, tüchtige Kerle sind." "Dein Sarkasmus geht mir langsam auf den Sack, Mil!" "Klement!" "Da, siehst du? Klement sagt sie. Vielleicht heißt ihr Papa so!" "Oder ihr Pfleger" "Halt endlich deine Fresse Boy, sonst haste bald keine mehr!" Die vier Kerle zwischen 16 und 34 gucken etwas ratlos auf das sitzende Mädchen mit dem schneeweissen Haar, das mit ein paar Schrauben und Muttern spielt. In der Tat, es sieht schon etwas seltsam aus und verhält sich wie ein Kleinkind, wie es da sitzt und sich alles mögliche beibringen lässt. Trem, ein etwas stämmiger Kerl von 22 Jahren, weiht das Kind in alle möglichen Schraubenarten und Werkzeuge ein, die es neugierig beäugt und die Vokabeln begierig auswendig lernt. Das kleine Mädel in dem hübschen Kleidchen lacht vor Begeisterung und schlägt für einen Moment die ganze Truppe in seinen Bann. "Ich finde, wir sollten gründlich überlegen, was wir mit ihr machen. Über die Nacht kann sie ja hier bleiben." Keiner widerspricht, jeder sieht das hübsche Kind mit anderen Augen. Lole, der jüngste der Gauner, kann sich allerdings nicht so recht für die Idee erwärmen. "Und wenn sie nach ihr suchen? Dann haben wir nicht nur Autodiebstahl sondern auch Entführung auf der Liste. Ich finde, sie sollte hier verschwinden!" "Lole hat recht, ausserdem suchen ihre Eltern sicherlich schon ganz verzweifelt nach ihr! Ich würde vor Sorge um Mira sterben!" wirft Mil ein. Der Familienvater kann gut nachfühlen, wie es Klement zumindest ansatzweise geht. Allerdings ist es wirklich ein grosses Risiko, das Mädchen der Polizei zu übergeben. "Zumindest kann sie uns nicht verpfeiffen. So gescheit wird sie nicht sein.." "Also fährt irgendjemand sie morgen früh zur Polizei! Einfach vor die Tür stellen.." "Ich mach das. Wenn mich jemand fragt, sag ich, meine Tochter hat sie vom Spielen mitgebracht und dann hat sie nicht mehr nach Hause gefunden." Mil hält dem Mädchen die Hand hin und die weissen Finger greifen sofort nach der Hand des Mannes. Etwas beleidigt sieht Trem dem Engelchen nach, wie es hinter seinem Kumpel hertapst. "Hey, sieh mal! Ich glaube sie hat was am Fuß!" "Was? Wo?" Mil beugt sich nach unten und hebt den Rock etwas an. "Das ist Blut, sie hat sich verletzt!" ruft er und Trem ist sofort auf den Beinen. "Lass mich mal, ich kenn mich aus, meine Ma ist Krankenpflegerin, die..." Die vier Diebe sind starr vor Entsetzen. Trem spürt Haut unter seinen Fingern, doch seine Augen sehen nichts. Garnichts. Das Mädchen ist verschwunden. Keuchend wird Mil gewahr, dass er noch immer die Hand des Mädchens hält. Luft. Und doch spürt er die warme Haut, die Finger, die sich aus seinem Griff winden wollen. Verschreckt lässt er los, er hört davoneilende Schritte kleiner Stiefel. "Wo.. wo ist sie hin?" "Nach.. da hinten, glaub ich!" "Nein, WO ist sie hin??" "Ich werd verrückt! Ich hau ab!" "Nein, bleibt alle, wo ihr seid! Keiner macht das Tor auf!" Ein Knirschen und Quietschen ertönt, das automatische Rolltor schiebt sich nach oben, alle starren auf das Tor, keiner rührt sich. Das Tor schliesst sich wieder und zurück bleibt gespenstische Stille. * * * * Hunger und Müdigkeit sind der Feind einer jeden Unternehmung. Schon fast eine Stunde bin ich jetzt unterwegs im kalten Wasser, in irgendeine Richtung. Die Füße schwer wie Blei und kalt wie Eisbärschnauze. Raus hier! Die nächste Biegung in die Senkrechte gehört mir. Mir egal, ob sie mich mit geladenen MGs empfangen oder mit Blumenkränzen. Hier unten werd ich sonst erfrieren. Ein paar Meter weiter ist ein Ausstieg, leider sind meine Füße fast taub und müssen sich erst an das ungewohnte Steigen gewöhnen. Über mir liegt eine beruhigte Strasse still im Dunkeln. Weit entfernt rennt eine Tussi mit Stöckelschuhen über Kopfsteinpflaster, aber kein Auto unterwegs und soweit ich sehen kann auch keine Menschen, kein Laut sonst. Knapp 22 Uhr. Muss das Seniorenviertel sein. Im Schein einer altersschwachen Strassenlaterne krabbelt mein fast erfrorenes Ich aus dem Kanal und schliesst den Dol-Deckel so leise wie möglich. Der Wind ist scharf und tut meinen nassen Beinen nicht sehr gut. Stacksend schleppe ich mich von der Strasse und halte mich auf dem Weg nach irgendwo ausserhalb des Lichts. Und wohin jetzt? Ich muss vor allen Dingen schlafen und meine Beine warm bekommen. Also laufe ich ein bisschen schneller, damit sie wenigstens ein bisschen wärmer werden, während ich mich nach einer geeigneten Übernachtungsmöglichkeit umsehe. * * * * 2:1 "Der Teufel soll euch holen!" nuschelt der dickliche Herr Kruschek auf der Couch und bewirft den Fernseher mit giftigen Blicken. Diese blöden Spacken, das war doch reiner Glückstreffer! Die können doch eigentlich garnicht kicken. Ach, ach. Wo soll das nur hinführen. Ausgerechnet diese Drittligisten-Amateure! "Soweit kommt's noch!" Hinter ihm strickt Frau Kruschek wieder an einem Paar Socken. Leider kommt sie nie weit damit und muss immer wieder neu anfangen, weil sie immer vergisst, wo sie das angefangene Stück Socken hingelegt hat. Aber es macht ihr nichts aus, ihr Mann mag selbstgestrickte Socken sowieso nicht. Am Liebsten ist er nämlich barfuß, der Herr Kruschek. Wie jetzt auch vorm Fernseher. Er mag es, wenn er mit den Zehen wackeln kann, ohne drumherum Stoff zu spüren. Barfuß vor dem Fernseher mit einem Malzbier. Das macht er seit er in Rente ist und seine Frau strickt, seit sie in Rente ist. Jeden Tag dasselbe. Und einmal in der Woche, genau im unpassendsten Zeitpunkt, kommt die Frau Kruschek auf die Idee, ihren Mann rauszuschicken, um den Müll in die Tonne zu werfen. Und heute ist eben so ein Tag. "Schatzerli, könntest ned den Müll raustragen bittschen?" "Nachher" brummt Herr Kruschek und weiß schon genau, dass seine Frau darauf bestehen wird, dass es jetzt, sofort und auf der Stelle passiert. "Nein jetzt! Jetzt, sofort und auf der Stelle! Ich weiß garnimmer, wo ich sonst den Müll hintun soll und des ganze Haus riecht schon danach! Wenn morgen Besuch kommt und hier riecht des nach Abfall, was soll ich denen sagen!" Und Herr Kruschek zetert und wettert und zieht sich dann doch die Schuhe an, packt den Müll und beeilt sich nach draussen zu kommen - nicht, dass er den Ausgleich verpasst. Aber heute braucht der Herr Kruschek länger um den Müll rauszubringen, als sonst. * * * * Gerade, als die Tür hinter Herrn Kruschek wieder zufällt, betritt ein durchgefrorener junger Mann die Strasse, der sich ausserhalb der Lichtkreise der Strassenlaternen bewegt. Und während im Haus der Familie Kruschek die Hausdame einen mitleidigen Schrei ausstösst, läuft der junge Mann am Haus vorbei und wirft einen kurzen Blick auf das Gebäude. Sein Blick gleitet weiter zum Haus daneben und seine Augen bleiben an einem Schild hängen, auf dem etwas steht von: "For Sale" Und während der junge Mann den Entschluss fasst, in dem leerstehenden Haus zu übernachten, greift Frau Kruschek nach dem Händchen eines einsamen, durchgefrorenen Mädchens, das ihr Mann gerade von der Strasse aufgesammelt hat und bringt es ins ehemalige Kinderzimmer ihrer schon längst erwachsenen Tochter. Zwei einsame Menschen kuscheln sich zur gleichen Zeit in eine Decke, die bei einem muffig, beim anderen nach Lavendel duftet. Zwischen ihnen eine einzige Wand, gegen die sich der durchgefrorene junge Mann lehnt und sorgenvoll an seinen verlorenen kleinen Freund denkt. Dreissig Zentimeter weiter schmiegt sich ein schneeweißer Kopf gegen die Tapete und murmelt so lange den Namen seines großen Freundes, bis er eingeschlafen ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)