Black Hole Sun von Dels ================================================================================ Kapitel 11: [ Invisible Plan ] ------------------------------ Anstatt von der Straße zu weichen, stelle ich mich vor Juno und fuchtle heftig mit den Armen. Das ist unsere Chance! Endlich runter von der Straße in ein warmes Auto, in die Stadt und dann auf dem schnellsten Weg... Das Auto hält. Eine noble Benz-Karosse - ein schwarzer Mercedes. Was um alles in der Welt macht so ein Bonzenschlitten in dieser Einöde, will ich mich gerade fragen, da ist es schon zu spät. Die Tür geht auf und ein Russe im Anzug steigt aus, in der Hand ein Revolver. Scheisse! SCHEISSE! Das hatte ich ganz vergessen, verdammt!! "Lauf Juno!!! Versteck dich!!" brülle ich nach hinten, bevor der Riese sich ganz aus dem Auto befreit hat und wirble herum. Juno versteht nicht, wie wild schreie ich jetzt nach dem "Baum" und jetzt fängt der Junge an zu rennen. Ein Schuss knallt durch die klare Luft und ich hechte mich hinter die Baumreihe. Verdammt! Verdammt nochmal, so ein Leichtsinn!! Wo ist Juno?! Weiter hinten höre ich es leise rascheln und ich bete, dass es Juno ist, der sich aus dem Staub macht und nicht einer dieser Man in Black, der es auf mich abgesehen hat. Mit denen ist scheinbar auch nicht gut reden, also hat sich ergeben keinen Sinn. Erst schiessen, dann Fragen stellen. Das Klischee ist so verdammt gut getroffen, dass ich fast gelacht hätte, wenn ich nichts besseres vorhätte. Entkommen zum Beispiel. Fieberhaft überlege ich, wie ich uns aus dieser Lage befreien könnte, aber ich bin eben doch kein gottverdammter James Bond, zum fünfzehntausendsten Mal - und erst recht kein McGyver! Vielleicht kann ich diesen Hünen trotzdem irgendwie überrumpeln. Zum Glück stehen die Bäume dicht und dunkeln alles ab, so bin ich wenigstens schlecht zu erkennen. Leider auch die Kerle aus dem Wagen, denn ich habe gerade noch gesehen, wie ein zweiter ausgestiegen und in dem kleinen Waldstück verschwunden ist. Oh bitte lass sie Juno nicht finden! Wieder ein Rascheln! War es neben mir oder hinter mir? Vorsichtig sehe ich mich um, ein Ast wackelt. War da jemand?! Ein schreckliches Gefühl macht sich in mir breit und ich folge einfach meinem Instinkt, der mich zu Boden zieht, als auch schon eine Revolverkugel mit einem ohrenbetäubenden Donnern in den Baum über mir einschlägt. Nicht nach rechts und nach links sehend hetze ich weiter in das kleine Wäldchen, zucke hinter eine kleine Baumgruppe. Hinter mir kracht ein Schuss, jedoch nicht in meine Richtung. Das Herz schlägt mir im Hals und mir wird übel. Nicht.. nicht Juno! Gerade will ich auffahren, da gewahre ich eine Bewegung und drücke mich weiter zwischen die Bäume. Nicht atmen. Nicht bewegen. Der Riese steht genau vor mir. Mit den Augen verfolge ich jede kleinste Bewegung. Er schwenkt den Revolver durch die Bäume, blickt nach allen Seiten. Mir bleibt das Herz stehen, er sieht genau hierher. Die perfekte Zielscheibe. Ich kann schon das Abdrücken der Waffe hören. Doch er schaut vorbei, dreht sich, geht ein Stück weiter, hat mich zwischen den Ästen nicht gesehen. Ich weiss nicht, ob ich jemals in meinem Leben solche Angst hatte. Ich darf keinen Mucks machen, aber meine Lunge sticht, verlangt nach Sauerstoff, viel Sauerstoff. Ich überlege, wie ich ihn überwältigen könnte. Er hat eine Waffe, ich habe keine. Er ist gross und mindestens doppelt so stark wie ich. Keine guten Voraussetzungen. Trotzdem muss ich ihn überlisten, sonst sind wie beide verloren. Hoffentlich ist Juno entkommen und kann sich verstecken! Wie in Zeitlupe senke ich mich zum Boden und greife nach einem Stein. Gerade, als ich ihn werfen will, höre ich etwas flattern und krächzen. Der Riese zuckt zusammen und ballert wie ein Wilder in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Lärm von fliehenden Tieren verwirrt ihn. Dann geht er langsam weiter, wieder an mir vorbei, er ist viel zu nervös, um mich zu bemerken. Da! Wieder ein Geräusch! Es raschelt und quietscht aus zwei Richtungen gleichzeitig, der Hüne schreit und das Krachen der Schüsse grollt durch den ganzen Wald, so dass auch die letzten Tiere verschreckt und geräuschvoll die Bäume verlassen, der Russe weiss nicht mehr, wo er hinzielen soll und das ist meine Chance. Ich packe den Stein fester und warte, bis der verstörte Mann wieder in meine Nähe kommt. Der Stein ist nicht schwer, er würde ihn nicht verletzen, selbst wenn ich ihn mit aller Kraft werfen würde. Ich müsste eine empfindliche Stelle treffen, sein Genick oder den Kopf. Entschlossen packe ich den Stein, bis es fast wehtut, aber meine Hände sind so glitschig, wenn ich ihn nicht sofort hart treffe, ist es aus! Jetzt, er lauscht in die Finsternis, dreht sich leicht, die Pistole im Anschlag, das nächste Mal wird er mich sehen, garantiert. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und mache mich bereit zum Lauf, da knackt etwas hinter mir, der Mann zuckt in meine Richtung, ich kann mich nur noch zur Seite werfen, schon knallt der Schuss, ich pralle gegen den Baumstamm und die Wucht schleudert mich wieder zurück, dadurch entgehe ich einer weiteren Salve, ich stolpere zurück, der Stein ist immernoch in meiner Hand und ich werfe ihn blind drauflos und tatsächlich knallt es wieder, ich höre etwas schlittern. Der Revolver! Sofort jage ich der Waffe nach, doch mein Verfolger tut es mir gleich. Endlich erwachen meine Sinne vollständig. Ich renne an der Waffe vorbei, ein paar Meter und lasse mich dann fallen, der Hüne ist einen Moment vor mir dort und wirft mich von seiner Schulter, sucht in dem dunklen Laub nach seiner Waffe. Auf dem Rücken taste ich mich zurück und dort, wo ich die Pistole wirklich geschätzt habe, ertaste ich kaltes Metall. Sofort bin ich auf den Beinen, zücke die Waffe und schreie dem Kerl zu, dass er lang langsam aufstehen soll. Natürlich versteht er mich nicht, aber er bemerkt, dass ich ihn reingelegt habe und seine Knarre in den Händen halte. Oh Gott, hoffentlich merkt er nicht, wie sie zittern! Erschreckt schreie ich auf, als mein Finger zu nervös einen unbeabsichtigten Schuss abgefeuert hat, garnicht weit vor den Füssen des Kerls schlägt die Kugel ein und er bleibt auch wirklich lauernd auf Abstand. "Zurück!" Ich wedle mit der Hand. Er geht ein paar Schritte zurück und ich folge ihm, immernoch zitternd. Ich halte eine Waffe in der Hand und bedrohe jemanden damit! Mein Gott... was ist nur aus mir geworden? "Juno?! .. Juno, hörst du mich?!" schreie ich in das Dunkel, aber alles bleibt totenstill. "Juno!!!" Das darf nicht wahr sein! Haben sie ihn erwischt? Dafür werden sie bezahlen!! Nein.. nein, ich höre mich an wie der Rächer der Witwen und Waisen! Ich werde hier einfach verschwinden! "Ah.." Der Revolver hat geklickt. Ich bin wieder an den Abzug gekommen. Die.. Munition ist alle. Nervös starre ich zu dem schwarzgekleideten Kerl hinüber. Hat er es gehört? Er grinst. Er greift in seine Tasche und wedelt mit einem schwarzen Gegenstand herum. Wahrscheinlich ein Ersatz-Magazin. Uh-scheisse! Und wieder laufe ich um mein Leben. Die Pistole habe ich weit weggeworfen, so dass sie uns beiden nichts mehr nützt. Aber der Riese hat immernoch seine bloße körperliche Kraft, mit der er mit haushoch überlegen ist. Falls er mich in die Hände bekommt. Leider ist der Kerl nicht nur gross, sondern auch schnell und wird mich irgendwann eingeholt haben. Und irgendwann ist auch das Wäldchen zuende. Wie zur Hölle kann ich ihn trotzdem ausschalten? Wieder ein Trick? Mir muss etwas einfallen! Schnell! Was würde Indiana Jones jetzt machen? Ach der, der hat doch seine Peitsche für sowas.. und ich, ich kann... was... Ein Baum flackert. Bin ich jetzt schon verrückt? Oder... ist das wieder so eine komische Vision? Ach scheiss drauf. Ich setze alles auf eine Karte. Zielstrebig renne ich auf den Baum zu, der in der nächsten Sekunde komplett verschwindet. Er ist einfach weg. Als hätte dort nie ein Baum gestanden. Wie ein billiges Special-Effekt Marke Light&Magic! Einfach weg, oder.. Oder doch! Am Boden! Dort, wo der Baum gestanden hat, sind keine Blätter! Dann ist der Baum vielleicht doch noch da! Ich stolpere absichtlich ein bisschen, werde langsamer, mein Verfolger holt auf, gibt nochmal mehr Gas, weil er mich gleich hat, ich höre ihn hinter mir keuchen, in vollem Lauf schnaufend, noch ein paar Schritte! Jetzt! Auf die Seite ausweichen, wieder weiter, hinter mir ertönt plötzlich ein lautes, dumpfes Geräusch, ein Stöhnen. Ein Blick hinter mich und meine Beine kommen wie von selbst zum Stehen. Der Baum flackert wieder. Ich kann durch ihn durchsehen wie durch Glas, der Russe liegt bewegungslos auf dem Rücken, das Gesicht blutverschmiert, die Nase und die Zähne eingedrückt. Dann wird der Baum wieder sichtbar und steht trotzig auf dem Waldboden und stand schon immer dort, als ob nichts gewesen wäre. Fassungslos starre ich auf den Kerl, der ausgeschaltet von einem Baum am Waldboden liegt. Vorsichtig, als könnte er beissen, berühre ich die Baumrinde dieses Monsterbäumchens. Der ist echt. Ein echter, ganz normaler Baum. Oh, Baum.. apropros! "Juno?!" Ganz leise, aber in der Nähe höre ich jemanden schluchzen. Ein zartes, unbeholfenes Stimmchen, es kann nur Juno sein. Er sitzt auf dem Boden hinter einem Strauch, daneben liegt der andere Kerl aus dem Auto. "Juno! Alles okay?" Wieder schluchzt er, die Hände wie krampfhaft an die Schläfen gepresst, ich sehe, dass er heult. Als ich ihn vorsichtig aufsetze, rutscht das Kleid hoch, sein Bein ist voller Blut. Immernoch wimmert und weint er, selbst als er mich gesehen und erkannt hat. Er sieht mich an und mir springt ungeheure Angst entgegen, aber auch eine riesige Verzweiflung. "Komm, ist schon gut, ist ja schon vorbei.." flüstere ich leise und versuche seine Hände von den Ohren zu ziehen, aber er sträubt sich dagegen. "Ich weiss ja, du hast dich erschreckt, aber wir müssen weg hier! Komm schon!" Er schüttelt den Kopf und deutet mit dem Ellbogen auf den leblosen Kerl auf dem Boden. Ach.. "Juno.. das erklär ich dir später, aber.. warst.. warst du das mit dem Baum gerade?" Schliesslich senkt er doch die Hände, sie vibrieren. Seine Haut ist fahl und mir ist, als würde er nicht nur vor Kälte zittern. So sollte ich mich auch fühlen jetzt. Aber aus irgendeinem Grund bin ich viel zu ruhig und rational für diese Verhältnisse. "Bamm.." sagt er leise und seine roten Augen schwimmen wieder in einem Tränenmeer. Der Typ neben ihm auf dem Boden bewegt sich kein Stück. Der Boden darunter ist rot. Eine Schnur aus dornigen Brombeerranken klebt um den blutigen Hals des Mannes, verschwindet im Boden, fesselt ihn geradezu an den Walduntergrund. Der Anblick stellt mir die Nackenhaare. Hingerichtet von Waldpflanzen... brr! War Juno das auch gewesen? Ich muss sofort weg hier, solange mein Verstand noch diesen ganzen Wahnsinn ignoriert und berechnend arbeiten kann. Sonst werde ich verrückt! ***** "Halt dich fest.. na los!" Ungeduldig hebe ich den Jungen hoch und stolpere aus dem Gebüsch in das Waldstück. Den Weg zurück zur Straße legen wir fast rennend zurück. Mein Puls jagt, aber das ist Nebensache. Weg von hier, nur weg! Der schwarze Wagen wartet weit vor uns, die Zündung ist noch an, die Rücklichter leuchten uns rot entgegen. Ich habe das Gefühl, meine Lunge platzt gleich. Das Auto ist leer, ich packe den Jungen auf den Beifahrersitz und hechte ums Auto, werfe mich förmlich hinters Lenkrad und die Tür ist kaum zu, rast der Mercedes schon mit quietschenden Reifen durch die Allee. Erst, als wir fünf Minuten mit fast zweihundert Sachen die leere Straße hinuntergefegt sind, wage ich langsamer zu machen und einen Blick auf Juno zu werfen. Ich bin immernoch voller Adrenalin und kaum zu beruhigen, aber Juno hat die Augen ängstlich geschlossen und versteckt sich unter dem Sitz. Die nächste Straße kommt in Sicht, sie ist breiter und schon kurz nachdem wir abgebogen sind, kommen uns mehrere Autos entgegen, hinter uns erscheinen ebenfalls welche. Gott sei Dank. Zivilisation! Und diese Autos wollen nichts von uns. Kleine Fiats, ein Fox, ein paar Reisschüsseln. Langsam genehmige ich meinem Körper wieder etwas Entspannung und greife nicht mehr ins Lenkrad bis meine Knöchel wehtun. Jetzt wird alles gut. Wir haben ein Auto. Keiner verfolgt uns. Keine Knarren und keine Schüsse. Mein Gott. Was muss ich nicht alles mitmachen hier. "Hej.. alles okay bei dir?" Ein flüchtiger Blick auf Juno sagt mir, dass er zwar nicht schwer verletzt ist, aber sich vor Angst fast in die Hosen macht. "Keine Angst, im Auto bist du sicher. Auto, verstehst du?" Juno glubbscht ein paar Male verheulten Blickes aus der Scheibe und verzieht sich wieder in den Fussraum. Klar, wenn er das erste Mal fährt, dass es ihn ängstigt. Noch dazu mit mir als Fahrer. Vielleicht hat ihn das vorhin auch viel zu sehr mitgenommen. Kein Wunder.. aber darüber will ich jetzt garnicht nachdenken. Noch nicht. Seufzend streiche ich über den weissen Kopf, während ich den Autos folge, die sich gemächlich und stetig vor mir die Straße hinunter schieben. Wir sind unter Menschen, hier sind wir sicher. "Wir fahren in die nächste Stadt und dann besorgen wir uns neue Kleidung. Vielleicht ein neues Auto, ein unauffälligeres.." denke ich laut nach und kraule geistesabwesend den Kopf, der sich auf den Beifahrersitz gelegt hat und gerade erschöpft am Einschlafen ist. "Dann brauchen wir noch etwas zu Essen für unterwegs. Und schwarze Haarfarbe für dich. Obwohl, wenn ich recht überlege ist schwarz doch etwas heftig. Braun vielleicht. Das ist noch unauffälliger. Dunkelbraun. Und andere Schuhe auf jeden Fall. Und eine Decke, damit du im Auto schlafen kannst. Wie wir über die Grenze kommen, weiss ich noch nicht. Europa ist zwar ziemlich locker geworden an den Grenzkontrollen, aber die Gefahr ist gross, dass wir trotzdem erwischt werden. Ich habe ja noch meinen Pass, aber.." Oooooh SHIT! "Verdammt!" Albino wird kurzzeitig wach und sieht mich verängstigt an, aber ich streiche beruhigend wieder über den Kopf. "Keine Angst.. ich habe nur gerade realisiert, dass mein Pass sowie meine ganzen Unterlagen im Labor begraben liegen. Na wenigstens hab ich meinen Geldbeutel noch.." Die ewig lange Autoschlange wird immer langsamer vor der Stadt namens Serpukhov. Keine Ahnung, wo das ist und wie weit wir von Moskau weg sind. Vielleicht sollte ich mir in der Stadt auch gleich eine Strassenkarte von Europa besorgen. Es ist schon fast stockdunkel und die Beleuchtung der Strasse leuchtet nur gedämpft durch die getönten Scheiben des Mercedes. Ich bin sicher, würde Juno nicht schlafen, könnte ihn nichts von der Fensterscheibe wegbekommen. Überall bunt und laut, Leuchtreklame über Neonbanner, alles voller Werbung, die Straßen voller Menschen, die noch auf den letzten Drücker einkaufen wollen. Stimmt, ich sollte mich beeilen, wenn ich noch alles erledigen will, was auf meiner imaginären Liste steht. Aber kann ich den Wagen einfach irgendwo abstellen mit Juno drinnen? Ich biege ein paar Mal von der Hauptverkehrsstraße ab und suche mir eine unbelebte Nebengasse. Ein paar freie Parkplätze und schon steht das Gefährt still. "Juno? Hej, Juno!" Leise versuche ich den Jungen zu wecken, damit er nicht in Panik verfällt, wenn er aufwacht und mich hier nicht vorfindet. Irgendwie versuche ich ihm verständlich zu machen, dass er auf jeden Fall hier im Auto bleiben muss. "Egal was passiert! Du bleibst im Auto! Juno Auto! Okay?" Müde nickt der Kleine und wirft einen Blick nach draussen. Hier ist es dunkel und still, ideal. "So. Am Besten, du legst dich auf den Rücksitz. Na los, kletter nach hinten. So.." Jetzt noch den Mantel drüberlegen und niemand kann Juno erkennen, selbst wenn er einen Blick durch die Scheibe wirft. "Ich komme gleich wieder, versprochen!" versichere ich, aber ich merke, wie der Junge sich ängstlich zusammenrollt und mir einen entsetzten Blick zuwirft. Ach... ich würde ihn am Liebsten mitnehmen.. ihn hierlassen gefällt mir garnicht! Aber da draussen fällt er noch zu sehr auf. "Bis gleich! Ich beeile mich!" Sorgfältig schliesse ich den Wagen ab und bedeute Juno durch die Scheibe nochmal, still liegen zu bleiben, egal, was passiert. Dann mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt. ***** Ich bin spät dran, die Drogerie ist am Nächsten, dort hole ich Pflaster und die Haarfarbe. Mittelbraun. Das Mädel auf der Verpackung hatte sogar vage Ähnlichkeit mit Juno, wage ich mal zu behaupten. Dann etwas zu Essen in einem Aldi-like Supermarkt besorgen. Ich hoffe, Juno liebt Chips und Cola genauso wie ich. Zum richtig-essen können wir ja in den McDrive. Obwohl, so richtiges Essen ist das ja auch nicht, aber wird uns nicht umbringen. Wenigstens nicht sofort. Schliesslich erstehe ich für mich in einer (für mein Niveau eigentlich viel zu minderwertigen) Herrenboutique noch ein Paar neue Hosen, zwei Hemden und Pullover. Vollbepackt renne ich gerade noch zum letzten Laden auf meiner Liste. Den ich extra so weit wie möglich zurückgeschoben habe. Ein Teenie-Laden, vorzugsweise weiblich. Schon die knall-grell-fluoreszierend-pinke Reklame schreckt doch männliche Wesen auf einen Umkreis von 50 Metern ab.. und da soll ich rein? Aber ich habe keine Wahl, die Klamotten sind billig und modisch ist dieses Zeug wohl auch noch mit Ach und Krach. Da stehe ich nun bei den Mädchentops und komme mir vor wie ein Perverser zwischen all den gackernden, in Stringtanga-Kisten wühlenden Hühnern. Eine Verkäuferin, die selber noch in ihre eigene Zielgruppe zu rutschen scheint, fragt russisch-kaugimmikauend etwas, merkt dann aber, dass ich sie nicht verstehe, tippt bei meinem treudoofen Gesicht auf "dämlichen Touristen" und packt ihre besten Grundschul-Englischkenntnisse raus. "Hello, can I help you?" Na, vielleicht kann sie das ja wirklich. In diesem Gewirr aus pinken und hellblauen Schildern und diesem immensen quietschbunten Ständergewusel kommt sich auch der hartgesottenste Mann vor wie im Sektentreffpunkt der Barbie-Fanatiker. "Oh yes, sure! My niece lost her clothes at the station and she needs something to wear during her visit.." Zum Glück bin ich im Schwindeln nicht so auf den Kopf gefallen, wie bei praktischen Dingen. "Oh, eeeeeeeh.. how many years is her?" Argh, da sträubt sich doch jedem das Hirn, der jemals einen Fetzen Englisch gelernt hat.. aber nem geschenkten Gaul und so weiter. Ähm. Wie alt ist Juno wohl? Also Statur... äh.. also jetzt in weiblich.. keine Ahnung? "Ehm, she's ... oh, I think she is as tall as the girl over there!" Bingo! So eine kleine Tussi in engen Jeans und noch engerem Top beugt sich grade über eine Auslage voller farbenfroher String-Tangas. Haben Frauen eigentlich keine Hemmungen in aller Öffentlichkeit in Herren-Unterwäsche zu wühlen? Sowas würden Männer zum Beispiel nie machen. Da kauft man Unterwäsche im 5er-Pack und hofft darauf, dass sie Miss Geburtstag passen. Würden Männer das gleiche Kaufverhalten wie Frauen an den Tag legen, meinte die ganze Welt: "Guck mal da, ein Perverser, wühlt in Weiberunterhosen!" Emanzipation ist etwas Furchtbares.. Ich besehe mir noch einmal das Mädchen in den sehr unbequem aussehenden knallengen Jeans... und muss feststellen, dass sie fast diesselbe Oberweite aufweist wie Juno. Nämlich garkeine. Soviel zum Sexappeal gesteigert durch enganliegende Hosen. Ich bin mir allerdings sicher, dass Juno von solch engen Jeans nicht gerade begeistert wäre, deshalb sage ich schnell dazu: "But that's not her style.. she likes it more.... comfortable..? Leger.." Die Verkäuferin nickt kaugummikauend und denkt schon an ihren baldigen Feierabend, zeigt mir aber dennoch eine Ecke in dem Laden, wo es einigermaßen "normale" Kleidung zu geben scheint. Ich packe eine bequem aussehende Cordhose und für den femininen Notfall noch einen Wollrock, zwei ganz hübsch aussehende Oberteile und eine taillierte Steppjacke zusammen und schweife zur Kasse, wo ich noch eine Hand blind in die Socken- und Unterwäsche-Behälter tauche. Die Verkäuferin sieht mir die ganze Zeit mit hochgezogener Augenbraue zu, sagt aber nichts, als ich alles anstandslos bezahle. Dank Angie habe ich wenigstens in Frauenmode doch ein bisschen Ahnung bekommen. Ich dachte nie, dass ich dieses Wissen einmal brauchen könnte. Zum Glück haben sich meine Bedenken als überflüssig herausgestellt. Mit den ganzen prallgefüllten Plastiktüten falle ich nicht im Geringsten in der gutgelaunten Menge auf, die sich die Shopping-Meile hinunterschiebt. Hier ist die Welt eben noch in Ordnung. Hier gibt es keine Massensterben verursacht durch gerissene Hochspannungsleitungen, keine geheimen Laboratorien unter der Stadt (obwohl, wer weiss das schon so genau?). Niemand schert sich um illegale Drogenforschung, Albinos mit übernatürlichen Kräften oder sonstigen Abnormitäten. Zwischen all diesen ganzen normalen Leuten mit ihren alltäglichen, kleinen Problemchen wie "ich bin zu dick" oder "ich bin arbeitslos" komme ich mir so unwirklich vor. Im Gepäck habe ich Kleidung. WEIBLICHE Kleidung für einen wildfremden, sehr suspekten Jungen, der Bäume verschwinden lassen kann und wer-weiss-was-noch alles. Denn ich bin mit ihm auf der Flucht vor russischen Agenten im schwarzen Anzug. Das ist zum Lachen. Hätte ich das jemandem hier und jetzt erzählt, hätte er mich todsicher ausgelacht, wenn nicht noch gleich das Irrenhaus verständigt. Ja, zwischen all diesen Normalos kommt mir mein jetziges Leben eher vor wie eine zweifelhafte Hauptrolle in einem drittklassigen Spionage-Film. Und wenn wir grade dabei sind... Aus zwölf Fernsehern im Schaufenster lächelt mich eine hübsche, russische Nachrichtensprecherin an und erzählt mir und zwei anderen kurzfristigen Zuschauern auf der Strasse die aktuellen News. Natürlich ohne Ton - aber das hätte mir auch nicht viel geholfen. RTR zeigt demnach ein paar Bilder von russischen Politikern, die handshakend mit anderen hohen Tieren scheinheilig in die Kameras grinsen. Ein paar grosse Autobahnkollisionen und schliesslich das elektrische Desaster von Moskau. Brrr.. die Bilder sind erschreckend.. dabei habe ich alles selbst mitansehen müssen. In vielen Stadtteilen war es offensichtlich zu immensen Stromausfällen gekommen, der Verkehr ist völlig zusammengebrochen, doch zum Glück waren nicht halb soviel Menschen zu Schaden gekommen wie befürchtet. Der Sachschaden und vor allem die Störungen der Kommunikation waren allerdings enorm. Totalabstürze in Rechenzentren, Umspannwerke völlig überlastet, Ausfall von Funkstationen. Oh Wunder, die Fernsehübertragung haben sie wohl schon repariert. Fernsehen ist ja bekanntlich auch das Wichtigste. Allerdings, im ganzen Beitrag ist von Sladis und seinen Machenschaften keine Spur zu sehen. Nun, habe ich das etwa erwartet? Es war schliesslich auch ein Geheimlabor. Geheim, Top Secret, Sie verstehen. Trotzdem. Wer weiss, wie lange sowas unentdeckt bleibt nach so einer Katastrophe. Aber ich sollte wohl froh sein, denn sonst wäre uns womöglich auch noch der russische Geheimdienst auf den Fersen. Es tröpfelt. Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zum Auto. Am Fast-Food-Giganten BurgerKing auf zwei doppelte XXL-Whopper zum Mitnehmen vorbeischauen. King-Pommes sind immer noch die Besten. Juno wird sich freuen - das erste, was er in der Zivilisation zu essen bekommt ist Fast Food. Manchmal frage ich mich, wie es das Wort "Zivilisation" fertigbringt, mit Essen für sich zu werben, dessen Geschmack sich nur mit Mühe von gegrillen Bierdeckeln unterscheidet. Es regnet Bindfäden. Die Leute auf der Strasse drängeln sich nahe an den Häusern an anderen Leuten vorbei, die ebenfalls unter den Ladendächern Schutz suchen. Mehr oder weniger rücksichtsvoll schiebe ich mich vollbepackt durch die stockenden Menschenmassen, Schirme werden aufgespannt, Augen werden aufgespiesst. Schliesslich gelange ich aus der Einkaufsstrasse in die Seitengasse, nur noch vereinzelt flüchtende Kaufwütige, mein Schritt wird erst schneller, dann langsamer, dann bleibe ich stehen. Es giesst wie aus Eimern. Eiskaltes Wasser läuft mir den Kragen hinunter, die Taschen platschen wie Sandsäcke auf die nasse Strasse. Wie erstarrt sehe ich die Strasse hinunter. Das Auto ist weg. Und mit ihm Juno. Aber dann kommt mir der einleuchtende Gedanke. "Na klar!" Der Trick mit dem Unsichtbarmachen! Hervorragend! Das war eine gute Idee von Juno, gleich auch noch den ganzen Wagen verschwinden zu lassen. Denn kein Wagen, kein Juno - keiner kann Verdacht schöpfen, so einfach wie genial! Wie immer er das auch anstellt, darüber will ich auch garnicht nachdenken. Schnell klaube ich die Taschen wieder auf und beeile mich zu der leeren Parklücke zu kommen. Hoffentlich beobachtet mich niemand, denn das sieht bestimmt sehr seltsam aus, wenn jemand mit ausgestreckten Händen in der Luft herumwühlt und versucht etwas zu ertasten das nicht sichtbar ist. Im ersten Moment finde ich das Auto auch gar nicht, ist schon sehr verwirrend ohne Anhaltspunkte. Also noch ein Stück weiterfühlen. Komisch, hätte schwören können, dass ich es hier abgestellt habe. So angestrengt ich gucke und taste, nichts. Nichts zu sehen, nichts zu fühlen. Mein Blick fällt auf den Boden. Die Strasse ist nass, kein winziges Fleckchen trockener Asphalt. Moment. Kurz zurückspulen. Der Baum von vorhin. Ich konnte den Baumstamm, beziehungsweise seinen Abdruck am Boden zwischen den Blättern genau sehen. Er war also da, nur eben nicht sichtbar gewesen. Müsste es mit dem Auto nicht genauso sein? Dann müsste doch wie bei den anderen Autos unter dem Wagen eine trockene Stelle sein? Schlimmer noch, den Regen sollte man doch jetzt ganz deutlich von der Oberfläche abperlen sehen müssen! Aber da ist nichts. Ein leerer Parkplatz. Habe ich mich vielleicht in der Strasse geirrt? Aber an der Ecke gibt es nur diese eine Apotheke. Ich laufe in der Parklücke herum, spätestens jetzt hätte ich etwas bemerken müssen. Ein Passant schaut mir irritiert zu, wie ich in strömendem Regen, vollbepackt mit Einkaufstüten, TakeAway-Bags vom BurgerKing, orientierungslos zwischen den Autos herumirre. Ja ich irre. Denn langsam macht sich eine schleichende Erkenntnis in mir breit, zäh und heiss wie giftige Lava. Ich laufe noch einmal zur Kreuzung vor. Apotheke, Irrtum ausgeschlossen. Vielleicht falsche Parkreihe? Es gibt nur die eine. Selbst der weisse Seat steht noch da, wo er vor einer knappen Stunde stand. Das kann doch nicht sein! Ich muss irgendwie falsch sein! Vielleicht ein ganz falscher Strassenabschnitt? Aber die Apotheke! Und der Seat! Verdammt, das ist doch.. das kann doch nicht wahr sein! Ich kann das nicht glauben! Und doch scheint es zu stimmen. Nichts ist unsichtbar. Der Wagen ist einfach weg. Samt Inhalt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)